13. Die Ehre

 

Sergeant Milton saß noch etwas wackelig auf seinem Stuhl. Die anderen beiden hatten ihre Becher bereits das dritte Mal geleert. Erneut forderte der Archivar den Sergeant zum Trinken auf: »Komm, trink, Junge, wir sind nicht zum Vergnügen hier!«

Daraufhin kicherte der Alte wie ein kleines Mädchen, und Nigel stimmte mit glasigen Augen und einer albernen Lache ein. Offensichtlich hatte der Archivar den Sergeant in sein Herz geschlossen, denn jetzt forderte er ihn auch noch auf, mit ihm auf die Brüderschaft und das Du anzustoßen.

Der Sergeant hielt eine Bemerkung zurück. Schließlich duzte ihn der Archivar schon die ganze Zeit wie selbstverständlich. Natürlich verstand der Sergeant das Angebot des Archivars als freundliche Geste, und unter anderen Umständen wäre er auch gerne noch eine Weile bei dem Alten sitzen geblieben, aber heute fiel es ihm schwer, nicht die Geduld zu verlieren. Nur die Höflichkeit war es, die ihn momentan davon abhielt, einfach zu gehen.

Der Archivar war aufgesprungen und trat vor Sergeant Milton: »Angus!«

Der Sergeant verstand nicht, woraufhin der Archivar wieder etwas in dieser komischen Sprache zu Nigel sagte, der daraufhin erneut seine dümmliche Lache zum Besten gab.

»Ich Angus – und du?«

Der Sergeant begriff endlich und antwortete. »Thomas!«

Daraufhin haute Angus seinen Becher gegen den des Sergeants und sagte: »Auf dich, Thomas«, und drückte Sergeant Milton einen dicken feuchten Schmatz auf die Stirn.

So geadelt, nahm jetzt auch der Sergeant einen großen Schluck, der ihn, als der Schmerz irgendwann nachließ, tatsächlich etwas entspannte.

Er richtete das Wort an den Archivar: »Angus«, noch fiel es ihm schwer, so vertraulich mit dem Archivar zu sprechen, »wie war das jetzt mit deiner Geschichte?«

Der Archivar schnaubte. Offensichtlich hatte ihm der Sergeant damit ein wenig die Stimmung verdorben, aber er hielt Wort und fing an zu erzählen: »Weißt du, Thomas, früher, also in der Traurigen Zeit, da waren die Menschen anders. Sie hatten keine Ehre.«

Angus sah zu Nigel und die beiden nickten sich verständnisvoll zu. Dann sprach er weiter: »Ohne Ehre bleibt dir nichts. Ich bin kein guter Mensch gewesen, bin es heute wahrscheinlich auch nicht, aber ich hatte meine Ehre. Ich habe gekämpft für mein Land, und ich habe sogar für mein Land getötet. Ich war ein Soldat, und ich habe geschworen, meinem Land zu dienen. Ich habe im Namen meines Landes viele Dinge getan, auch schlimme Dinge. Ich habe sie trotzdem getan. Irgendwann kam ich nach Hause. Ich hatte keine eigene Familie, keine Frau, keine Kinder. Nur eine Schwester. Sie hatte ein kleines Häuschen und versuchte, sich und ihre Kinder über die Runden zu bringen. Auch sie hatte Ehre. Sie hat mir nichts von ihren Problemen erzählt. Sie war zu stolz. Als ich nach all den Jahren nach Hause kam, war sie nicht mehr am Leben. Sie hat sich und ihre beiden Kinder erschossen. Und weißt du, warum?«

Der Sergeant war betroffen, was für eine schreckliche Geschichte … Wie konnte jemand so verzweifelt sein, seine eigenen Kinder mit ins Grab zu nehmen? Der Sergeant kämpfte mit den Tränen.

Der Archivar haute mit der Faust auf den Tisch, seine Stimme war laut: »Und weißt du, warum? Weil niemand mehr Ehre hatte.«

Er nahm einen kräftigen Schluck. Man merkte ihm die Qual an. Es kostete ihn sichtlich Mühe, diese alten Erinnerungen in Worte zu fassen.

»Sie hatten keine Ehre. Während ich für sie kämpfte, haben sie meine Schwester getötet. Sie lag in ihrem Bett, ein Kind links, eines rechts. In der Hand hielt sie einen Brief von der Bank. Sie wollten sie aus ihrem eigenen Haus werfen, weil sie vorübergehend den Kredit dafür nicht abbezahlen konnte. Ihr Mann war vor Jahren gestorben und hatte ihr nur Schulden hinterlassen. Sie konnte die Raten nicht zahlen. Es ging um nicht mal lächerliche tausend ...« Er brach ab, seine Gefühle hatten ihn übermannt.

Nigel wich dem Blick des Sergeants aus und blinzelte die Tränen weg.

»Das ist wirklich eine Traurige Zeit gewesen«, dachte Sergeant Milton.

Angus hatte sich wieder unter Kontrolle. »Ich habe dann mit ihrer Nachbarin gesprochen. Die gute Frau hat zwar versucht, meiner Schwester zu helfen, aber sie besaß selbst nicht genug zum Leben. Sie hat mir alles erzählt. Von den Bemühungen meiner Schwester, das Geld aufzutreiben ... Stell dir das vor. Die Regierungen sprachen über uns als Wohlstandsgesellschaft, und in dieser Gesellschaft hatten über fünfzig Prozent nicht einmal ausreichend zu essen.«

Er stöhnte, als hätte er körperliche Schmerzen.

»Auf jeden Fall habe ich erfahren, dass ihre Bank unnachgiebig war und ihr den Geldhahn abgedreht hat. Als wären die auf die paar Kröten von meiner Schwester angewiesen gewesen. Haben selbst Milliarden verzockt und dann das.«

Der Sergeant dachte an das Gespräch mit Nigel über die Aktienmärkte. Der Archivar kramte in seiner Hosentasche und zog ein Stofftaschentuch hervor, in das er geräuschvoll hinein schniefte.

»Bin dann zu der Bank gefahren. Wollte den Mördern meiner Schwester in die Augen sehen. Hatte meine Waffe dabei!«

Mit dem Kopf deutete er in Richtung des schwarzen Koffers.

»In der Bank stand ich einem arroganten Jüngling in einem schicken, teuren Anzug gegenüber, der unaufhörlich mit seinem Schlüsselbund spielte, an dem unverkennbar das Emblem einer dieser Luxuskarossen hing. Ich werde das nie vergessen.«

Offensichtlich erschienen die Bilder von damals wieder vor dem geistigen Auge des Archivars: »Weißt du, was er gesagt hat? Er hat gesagt, so sind die Regeln, daran müssten sich alle halten.«

Der Archivar fing an zu schreien: »Ich bin fast durchgedreht und habe ihn angeschrien: ›Die Regeln, die Regeln, wer verdammt noch mal hält sich denn noch an die Regeln? Die Dummen und die Armen. Und du Drecksack stehst hier und erzählst mir von Regeln, während meine Schwester und ihre Kinder tot zu Hause liegen. Was habt ihr dadurch gewonnen? Sind das die Regeln?‹ Ich hatte meine Waffe gezogen, und ich schwöre bei Gott, ich wollte diesen Mistkerl töten. Noch nie in meinem Leben habe ich ein so mächtiges Gefühl von Bosheit, Hass und Zorn gehabt. Es war wie ein Rausch. Ich hatte die Waffe in der Hand und zielte. Und dann ...«

Der Sergeant durchlebte die gleichen Gefühle wie der Archivar. An Nigels Gesichtsausdruck konnte er sehen, dass es diesem ähnlich ging.

»Was ist dann passiert?«, flüsterte der Sergeant.

Der Archivar atmete hörbar aus: »Ich konnte es nicht. Irgendetwas hielt mich in letzter Sekunde davon ab. Ich ließ die Waffe sinken und sah das unverschämte Grinsen des Bankers.«

Jetzt mischte sich Nigel ein: »Das war alles? Er ist davongekommen?«

Der Archivar grinste in die Runde: »Nicht so ganz. Ich vergaß zu erwähnen, dass ich damals in der Bank meine erste Einäscherung gesehen habe. Zufällig war der Tag meines Bankbesuchs auch der Tag, an dem die Aschentage begannen. Keine Sekunde später, nach dem ich meine Waffe gesenkt habe, erwischte es den Typen, und bis auf eine einzige Angestellte auch alle anderen Mitarbeiter der Bank. Lauter hübsche, kleine Aschenhäufchen türmten sich um mich herum auf. Ich kann dir bis heute nicht sagen, wie das möglich war, aber ich schwöre dir, dass mich diese Waffe im richtigen Moment nicht schießen ließ. Heute bin ich ein Überlebender, und ich weiß nicht, ob ich das verdient habe. Aber du, Junge, du hast das verdient, denn du hast Ehre, das habe ich gleich gemerkt, als du das erste Mal bei mir warst.«

Er zögerte kurz, so, als wäre er nicht sicher, ob er noch mehr sagen sollte, dann fügte er noch an: »Du bist ein Überlebender geworden, weil du Ehre hast, davon bin ich überzeugt. Bei dir ist diese Waffe in guten Händen.«

Eine ganze Weile sprach keiner der drei Männer. Sergeant Milton war bewegt von der Geschichte des Alten. Er fragte sich, ob er den Mut gehabt hätte, nicht zu schießen. Sergeant Milton fühlte sich plötzlich dem Archivar sehr verbunden. Bisher hatte er in ihm nur den kauzigen, alten Haudegen gesehen, aber jetzt sah er viel mehr. Es war wie bei Nigel. Diese Überlebenden trugen alle eine Last mit sich herum und waren um so vieles verletzlicher, als er bisher angenommen hatte.

Diese Überlegungen brachten ihn auf eine Idee, und während er seinen Becher in den Händen drehte, fragte er: »Was meint ihr, wer steckt hinter den Taten? Ein Neugeborener oder ein Überlebender?«

Beide Männer starrten ihn an. Angus sprach als Erster: »Das ist wirklich eine gute Frage, mein Junge.«

Nigel nickte: »Eine verdammt gute Frage. Ohne zu überlegen, hätte ich gesagt, es war ein Überlebender. Wir Überlebenden haben die Erinnerung an die Traurige Zeit. In uns schlummert viel mehr kriminelles Potenzial. Aber wenn ich weiter darüber nachdenke, ist das eigentlich auch wieder der Grund, der gegen einen Überlebenden spricht. Schließlich sind wir Überlebende, weil wir dieses Potenzial unter Kontrolle haben. Und dann stellt sich noch die Frage, warum plötzlich ein Überlebender von der Einäscherung verschont werden sollte.«

Angus schnalzte verächtlich mit der Zunge. Ein Zeichen, dass ihm dazu keine Antwort einfiel.

Sergeant Milton richtete sich ein wenig auf. Vielleicht kamen sie so auf die richtige Spur: »Aber warum sollte bei einem Neugeborenen die Einäscherung aussetzen?«

Nigel hatte keine große Lust, seine Theorie darüber zum Besten zu geben, da er sie selbst für ein wenig absurd hielt. Aber er konnte jetzt keinen Rückzieher machen.

Also antwortete er zögernd: »Meiner Meinung nach ist es viel wahrscheinlicher, dass ein Neugeborener die Einäscherung überleben kann. Die Lösung wäre eine Mutation.«

Angus haute auf den Tisch und rief: »O’Brian, du bist ein kluger Kopf! Das ist die beste Erklärung, die ich bisher gehört habe.«

Der Sergeant musste dem Archivar Recht geben: »Stimmt, das würde einiges erklären. Eine Mutation, also eine Weiterentwicklung der Neugeborenen hin zu Menschen mit einer Immunität gegen die Einäscherungen. Wer weiß, vielleicht sind schon mehr von den Neugeborenen dagegen resistent, als wir jetzt annehmen. Das wäre …«

Der Sergeant stockte und Nigel führte den Satz zu Ende: »… eine Katastrophe. Die Geschichte würde sich innerhalb kürzester Zeit wiederholen. Willkommen, neue Traurige Zeit.« Er hob seinen Becher und nahm einen kräftigen Schluck.

Wieder schwiegen die Männer. Wieder war es der Sergeant, der die Stille unterbrach: »Wenn wir bloß die Akte finden würden.«

Angus war neugierig: »Welche Akte, Junge, die die Anne Reeve unterschlagen hat?«

Sergeant Milton lächelte: »Nein, dabei ging es um einen Umschlag. Wir suchen eine Fallakte, besser gesagt zwei Fallakten, die Paul Grey angelegt hat. Kannst du dich noch an Paul Grey erinnern?«

Die Antwort des Archivars war unerwartet, schließlich war Paul Grey einer von vielen Ermittlern gewesen und jetzt bereits seit über vierzig Jahren tot: »Klar kannte ich Paul. War ein netter Kerl. Tragische Geschichte mit seinem Unfall.«

Nigel sprach aus, was der Sergeant dachte: »Du erinnerst dich noch an ihn, wie ist das möglich?«

Angus zuckte mit den Schultern: »Ganz einfach, er war ein Freund. Freunde vergisst man nicht. Kommen wenig genug im Laufe eines Lebens zusammen. Meistens reichen die Finger einer Hand, um sie zu zählen. Anne hat uns damals vorgestellt. Da war er nicht viel älter als du jetzt, Junge. Paul war dann öfter hier unten, und er hat sich, genau wie du, immer zwingen müssen, dieses Zeugs zu trinken. Er hat es auch nicht fertiggebracht abzulehnen.«

Der Archivar stand auf und klopfte dem Sergeant auf die Schulter: »Paul Grey hatte Ehre.«

»Wenn das so ist, dann sollten wir dir vielleicht erzählen, nach was wir suchen. Vielleicht fällt dir dazu etwas ein.«

Angus antwortete dem Sergeant: »Versuch dein Glück, wer weiß, was der alte Kasten«, damit tippte er sich an die Stirn, »noch so drauf hat.«

Aus Höflichkeit gab der Sergeant dem Archivar eine kurze Zusammenfassung ihrer Ermittlungen. Schließlich sollte Angus nicht das Gefühl haben, sie würden ihm nicht trauen. Dann fing er an, ihm Fragen zu stellen: »Sagt dir der Aschenfall ›Der Bäcker‹ irgendetwas?«

Angus verneinte. Dann stellte der Sergeant ohne große Hoffnung die nächste Frage: »Sagt dir der Fall ›Burnout‹ etwas?«

Wieder verneinte der Alte.

Der Sergeant machte ein enttäuschtes Gesicht. Mehr Fragen hatte er nicht.

Angus sah ihn jedoch erwartungsvoll an: »Das war’s?«

»Ja, sieht so aus!«

Auch Nigel konnte seine Enttäuschung kaum verbergen.

Der Archivar trank einen Schluck und murmelte: »Also diesen ›Burnout-Fall‹ kenne ich nicht, aber ich erinnere mich an etwas Ähnliches. Kurz vor seinem Tod kam Paul zu mir und brachte ein kleines Tütchen mit. Die Aufschrift könnte euch vielleicht interessieren.«

Nigel und Sergeant Milton fuhren in die Höhe, ihre Körper versteiften sich und nahmen eine gerade Haltung an: »Was für ein Tütchen? Was für eine Aufschrift?«

Die Wangen des Sergeants fingen an zu glühen. Nigel schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Der Archivar sah die beiden erstaunt an: »Ist das wichtig?«

Wie aus einem Mund ertönte ein entschlossenes »Ja!«

Der Archivar richtete sich nun ebenfalls auf: »Nun, Paul Grey kam zu mir. Es war kurz vor seinem Unfall. Er hatte dieses Tütchen bei sich.«

Der Sergeant dachte an sein letztes Gespräch mit dem Archivar und musste sich schwer zusammenreißen, nicht die Geduld zu verlieren. Vorsorglich bedachte er Nigel mit einem entsprechenden Blick. Er konnte jetzt keine unsensiblen Einmischungen gebrauchen.

Möglichst ruhig sagte er daher: »Und weißt du noch, was auf dem Tütchen stand?«

»Ja!«

Nigel rückte geräuschvoll auf seinem Stuhl hin und her.

Der Sergeant blickte ihn erneut streng an und hakte beim Archivar nach: »Was stand denn nun auf dem Tütchen?«

Der Archivar räusperte sich und antwortete in feierlichem Ton: »Da stand ›6x Anti-Burnout‹, sonst nichts.«

Der Sergeant sah das Tütchen vor sich: »Was bedeutet das denn? Und was heißt ›sechs Mal‹?«

Angus fühlte sich angesprochen und antwortete prompt. »Na, ich bin zwar kein Ermittler, aber ich vermute mal, damit waren die sechs kleinen Kapseln in dem Tütchen gemeint!«

Die beiden Männer sahen den Archivar an, als hätte er soeben die größte Weisheit des Planeten von sich gegeben. Wieder herrschte kurzes Schweigen, dann sprang der Sergeant auf und drückte seinerseits dem Archivar einen dicken Schmatz auf die runzlige Stirn.

Angus rieb sich verlegen die Stelle und fragte kleinlaut: »Hat das geholfen?«

Der Sergeant merkte, wie er neue Energie gewann und die Kraft zurückkam. Er war hellwach: »Endlich! Angus, das ist fantastisch. Endlich passt einmal irgendetwas zusammen.«

Nigel schien es ähnlich zu gehen: »Natürlich, im ›Bäcker-Fall‹ geht es um Drogen. Dann findet Paul Grey ein Tütchen in den Fallunterlagen mit sechs kleinen Pillen und der Aufschrift ›Anti-Burnout‹. Wir alle wissen, was es mit der Burnout-Krankheit auf sich hat. Vielleicht haben die Drogendealer im ›Bäcker-Fall‹ ihre Ware so genannt. Und ›Anti-Burnout‹ ist eine Droge.«

Sergeant Milton dachte darüber nach. Ja, das würde Sinn machen. Er dachte an seine Kenntnisse, die er über die Krankheit Burnout hatte. Er wusste, dass das eine schlimme Sache gewesen war. Umso mehr, weil die Menschen auch noch dafür kämpfen hatten müssen, dass diese Krankheit überhaupt als solche anerkannt worden war. Körperliche und geistige Erschöpfung aufgrund von Stress, manchmal verbunden mit starken Depressionen, die bis hin zur völligen Selbstaufgabe gehen konnten. Als Drogenname wäre »Anti-Burnout« also gut geeignet.

»Glaube nicht, dass das eine Droge war.« Der Archivar unterbrach ihren Gedankenaustausch, und die beiden sahen ihn fragend an. Der Archivar fuhr fort: »Denke eher, das war ein Medikament.«

»Ist das in dem Fall nicht dasselbe?« Der Sergeant wusste, dass Medikamente als Drogen verwendet werden konnten und umgekehrt. War da die Bezeichnung nicht gleichgültig?

Angus grinste: »Im Prinzip hast du recht, aber nicht, wenn es um die Frage geht, woher das Zeug stammte.«

Der Sergeant blickte verblüfft zu dem Archivar. Nigel hatte schon begriffen, worauf der Alte hinauswollte und stieß hörbar die Luft aus.

Als der Archivar sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein konnte, fuhr er fort: »Was denkst du, warum Paul mir das Tütchen gezeigt hat?«

Der Sergeant zuckte hektisch mit den Schultern und hätte am liebsten vor Ungeduld geflucht.

Angus nuckelte an seinem Becher, bevor er sich endlich bequemte weiterzusprechen: »Habe dir ja schon gesagt, die meisten halten mich für einen Experten, wenn es um Waffen, Militär und gefährliche Menschen geht. Ich war seine erste Wahl, weil er wohl annahm, dass das Militär dahinterstecken könnte. Paul hat mich nämlich danach gefragt. Er wollte wissen, ob ich mir vorstellen könnte, dass es zwischen dem Militär und der Burnout-Krankheit einen Zusammenhang gegeben hat. Er fragte mich, ob es möglich sei, dass diese Kapseln eine militärische Entwicklung wären. Ich habe Paul damals erklärt, dass Soldaten nach ihren Einsätzen manchmal mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten. Von daher könnte ich mir das sogar sehr gut vorstellen. Also, wenn ich jetzt Pauls Fragen von damals und eure Ermittlungen von heute nehme und ihr mich fragen würdet, was ich davon halte, dann würde ich sagen, diese ›Anti-Burnout-Kapseln‹ waren irgendeine Entwicklung der Mediziner und nicht der Drogenbarone der Traurigen Zeit. Und wenn ich außerdem daran denke, wie gering die staatlichen Ausgaben damals für medizinische Forschung waren und wie gut die Regierungen dahingegen ihre Militäretats ausgestattet haben, würde es mich nicht wundern, wenn die Schöpfer dieser ›Anti-Burnout-Kapseln‹ Uniformen getragen hätten. Das war ungefähr auch das, was ich zu Paul gesagt habe.«

Der Sergeant war hellwach, es schien alles einleuchtend, was Angus ihnen gerade erzählt hatte. Trotzdem blieb noch eine Frage: »Aber welches Interesse hätte das Militär an der Entwicklung gehabt?«

Dieses Mal meldete sich Nigel, mit einem spöttischen Zug um den Mund, zu Wort: »Na, die wollten ihre Soldaten leistungsfähiger machen. Alte Geschichte.«

Angus nickte.

»Etwas muss ich noch wissen …« Den Sergeant verfolgte eine dunkle Ahnung. »Hat Paul auch noch mit anderen über das Tütchen und seine Vermutungen gesprochen? Was hat er noch erzählt?«

»Keine Ahnung, mit wem er noch gesprochen hat! Wenn ich es mir recht überlege, schien er sowieso ziemlich nervös an dem Tag. Wollte auch nichts trinken. Habe ihm geraten, sich noch mit Doktor Calliditas zu unterhalten.«

»Calliditas?« Dem Sergeant brummte der Schädel. Schon wieder Doktor Calliditas. Er musste mehr gewusst haben, als sie bisher angenommen hatten. Das wäre zumindest ein gutes Motiv gewesen, ihn zu beseitigen. Warum hatte Doktor Calliditas ihnen sein Wissen nicht anvertraut? Vielleicht würde er heute noch leben ... Sergeant Milton hatte das Gefühl, dass alles, was er gerade erfuhr, zusammenpasste, aber er konnte trotzdem noch nicht das ganze Bild erkennen.

Paul Grey hatte den »Bäcker-Fall« untersucht und war dabei auf dieses Tütchen gestoßen mit den sechs »Anti-Burnout-Kapseln«. Vermutlich hatte er noch irgendeinen Hinweis gefunden, der ihn auf die Idee gebracht hatte, dass das Militär etwas mit dem Inhalt des Tütchens zu tun haben könnte. Er war zu dem Archivar gegangen und vielleicht auch noch zu Doktor Calliditas. Irgendwann während seinen Ermittlungen war ihm klar geworden, dass er sich in Gefahr begeben hatte. Vielleicht war ihm das schon bewusst gewesen, als er mit dem Archivar Kontakt aufgenommen hatte. Paul hatte dann im Laufe seiner Recherchen vermutet, dass die Gefahr so groß geworden war, dass nicht einmal mehr seine Familie sicher sein würde. Also hatte er sich entschlossen, Anne Reeve nicht einzuweihen, sondern ihr einen Hinweis zu hinterlassen, den sie erst nach Mildreds Tod finden sollte. Dave Lorden war Anne aber zuvorgekommen, und das Ergebnis zeigten die letzten Tage.

Was hatte Paul im Zusammenhang mit diesem »Burnout-Fall« noch herausgefunden? Wieso hatten ihn diese Ermittlungen überhaupt in Gefahr bringen können? Was sollte jemanden veranlassen, mit Mord auf die Entdeckung zu reagieren, dass das Militär in der Traurigen Zeit Tabletten gegen die Burnout-Krankheit entwickelt hatte?

Schön, das war natürlich eine eigennützige Forschung gewesen und nicht dazu gedacht, der Allgemeinheit zu helfen. Außerdem hätte natürlich das Ziel sein müssen, die Auslöser der Krankheit zu bekämpfen und nicht die Symptome. Aber was war wirklich so schlimm daran? Wo waren diese Kapseln mittlerweile, oder hatte sie Paul Grey vernichtet? Und wie hing das alles mit den aktuellen Todesfällen zusammen?

Nigels Stimme unterbrach seine Überlegungen, denn er hörte ihn fragen: »Hat er denn mit Doktor Calliditas gesprochen?«

Der Archivar sah ihn ungeduldig an: »Darüber habe ich nie nachgedacht. Ich weiß es nicht. Paul war ein Ermittler, der einen Fall bearbeitet hat: Militär und der Einsatz von Antidepressiva zur Motivation der Soldaten. Das war ja nicht wirklich etwas Neues. Ich habe ihm dazu halt ein paar Fragen beantwortet. Wenn Paul nicht kurz darauf seinen Unfall gehabt hätte und wir nicht so gute Freunde gewesen wären, hätte ich diese kleine Episode sicher schon längst vergessen.«

Der Sergeant griff dieses Mal beherzt zu seinem Becher. Der Tag fing an, anstrengend zu werden, denn der letzte Satz des Archivars nährte ein Misstrauen, das der Sergeant schon seit einiger Zeit erfolglos zu verdrängen versuchte. Ihm ging eine Sache nicht aus dem Kopf: Warum konnte sich Anne Reeve an Pauls letzten Fall erinnern? Warum war dem Archivar seine letzte Begegnung mit Paul Grey noch im Gedächtnis geblieben? Und warum hatte ausgerechnet Frank Wall, der Oberste Sheriff, der einen seiner Männer verloren hatte, so überhaupt keine Erinnerung mehr an irgendetwas bezüglich Paul Greys Arbeit?

Die Erklärung von Doktor Masters für Frank Walls schlechtes Gedächtnis reichte dem Sergeant, je mehr er darüber nachdachte, nicht mehr aus. Ihm fielen die zurückgehaltenen Informationen bezüglich der fehlenden Munition ein und dieser mysteriöse Umschlag, dessen Inhalt niemand gesehen hatte außer Frank Wall selbst. Sie alle hatten nur Frank Walls Wort in dieser Sache.

Der Sergeant wusste, was er zu tun hatte. Allerdings würde er dafür den Abend abwarten, zuvor gab es noch etwas anderes für ihn zu erledigen.

 

Es war mittlerweile Nachmittag. Sergeant Milton war froh, dass Mildred sich bereit erklärt hatte, ihn zu begleiten. Sie konnte sich um Misses Wong kümmern, damit der Sergeant die Möglichkeit hatte, ungestört Zeit mit Katie zu verbringen. Er freute sich auf die Begegnung mit seiner Frau. Zu lange hatte es zwischen ihnen keinen vertrauten Moment mehr gegeben. Er wollte sich mit ihr aussprechen. Es war ihm ein Bedürfnis, ihre Nähe zu spüren. Er war jetzt bereit, mit ihr über die künftigen Veränderungen zu sprechen. Er wollte ihr versichern, wie sehr er sie liebte und dass sich daran nie etwas ändern würde. Er wollte ihr sagen, dass seine Gefühle für sie immer noch die gleichen waren, dass er immer noch der gleiche war, auch wenn er nun zu den Überlebenden gehörte.

Er fühlte sich elend, weil er sie und das Baby vernachlässigt hatte. Er wollte seinen Frieden wiederfinden. Die Ermittlungen waren noch nicht vorbei, und er befürchtete, dass ihr Ende unerfreuliche Wahrheiten bereithalten würde.

Mildred neben ihm schien gut gelaunt. Sie war wirklich eine gute Reiterin mit ihren sechzig Jahren. Jetzt blickte sie ihn an und sagte vergnügt: »Ich denke, der neue Sheriff ist ein Glück für uns.«

Als Mildred seinen fragenden Blick auffing, fügte sie geheimnisvoll hinzu: »Ich habe so eine Ahnung, dass uns Anne bald wieder mit ihrer Anwesenheit erfreuen wird.«

Jetzt war der Sergeant doch überrascht und bohrte nach: »Was soll das jetzt schon wieder heißen? Bitte Mildred, der Tag war schon schwer genug, lassen Sie mich nicht unwissend in den Abend reiten.«

Mildred lachte vergnügt: »Ja ja, der alte Angus und sein ›Kopfwehgebräu‹. Ich muss sagen, Mister O’Brian sah vorhin fast so schlecht aus wie nach seinem Nasenbeinbruch.«

Jetzt musste auch Sergeant Milton lachen. Es stimmte. Nigel hatte die Wirkung des letzten Bechers wohl tatsächlich unterschätzt. Das Zusammentreffen seines Blutkreislaufes mit der frischen Luft hatte eine erstaunliche Wirkung auf den armen Nigel gehabt. Nur mit Mühe hatte der Sergeant ihn nach Hause transportieren können.

Auf dem Weg hatte Nigel kaum gesprochen, und als er im Gästezimmer auf das Bett geplumpst war, hatte er nur kurz den Kopf gehoben und mit schwerer Zunge gesagt: »Sergeant Thomas, ich liebe dich!«

Danach war er in eine Art Koma gefallen, aus dem er auch eine Stunde später noch nicht erwacht war. Der Sergeant hatte ihm eine kurze Notiz hinterlassen und freute sich schon spitzbübisch darauf, ihn wegen seines Zustandes am nächsten Tag aufzuziehen.

Der Sergeant spielte den Unglücklichen und jammerte: »Bitte, bitte Mildred, verraten Sie mir das Geheimnis?«

Mildred musste über den Sergeant lachen: »Also schön, aber vorerst kein Wort zu den anderen.«

Der Sergeant beteuerte sein Stillschweigen, und Mildred verriet ihm, was sie heute erfahren hatte: »Sheriff Rose trifft sich noch heute mit den Räten, die bei Annes Anhörung dabei waren. Sie ist sehr fleißig gewesen und hat alles zusammengetragen, was Anne entlasten könnte. Sie wird Ihnen sagen, dass Anne den Umschlag aus gutem Grund zurückgehalten hat und dass sie unschuldig ist. Der Anschlag auf Misses Wong, den Sheriff und Richter Voyou bestätigen das ohnehin.«

Der Sergeant schien nicht so euphorisch: »Die werden vielleicht behaupten, dass sie nicht alleine gehandelt hat.«

Mildred seufzte: »Schon möglich, aber Misses Rose kann ziemlich überzeugend sein, ich denke, die kriegt das hin.«

Der Sergeant dachte mit großer Sympathie an Sheriff Rose. Hoffentlich hatte Mildred recht.

Endlich erreichten sie das Haus von Peter und Sebastian. Gleich bei der Begrüßung überreichte der Sergeant den beiden unbemerkt von den anderen seinen Brief für Anne. Er wusste zwar immer noch nicht, wo Anne war, aber dafür hatte ihm Nigel zwischenzeitlich gesagt, dass Sebastian und Peter Nachrichten an Anne weiterleiten würden. Er hatte einen ausführlichen Bericht für sie angefertigt. Einzig seine Überlegungen wegen Frank Wall hatte er weggelassen.

Die Freude von Katie war groß. Sie umarmte ihren Mann stürmisch, und er entspannte sich merklich, als er die Wärme ihres Körpers spürte und ihren süßen Duft wahrnahm.

Mildred verschwand mit Misses Wong im großen Wohnzimmer und beantwortete geduldig deren Fragen nach Nigel O’Brian.

Sergeant Milton und Katie zogen sich in das Gästezimmer zurück. Erst waren beide zurückhaltend, es standen so viele ungesagte Dinge zwischen ihnen, dann sprach der Sergeant. Erst zögerlich, dann immer klarer. Er sprach von seinen Gefühlen, seinen Ängsten und seinen Hoffnungen. Es folgten Entschuldigungen und Liebesbekundungen.

Katie schämte sich immer noch für ihren letzten Streit. Sie erzählte ihm von ihrer Angst, ihn zu verlieren. Und von ihrer Angst vor der Zukunft, in der sie immer älter würde und er für immer ein junger Mann bliebe. Alles war gesagt, und es war, als wäre damit eine Mauer zwischen ihnen eingerissen worden.

Der Sergeant fühlte sich glücklich. Er hatte seine Katie zurück. Sie sprachen von dem Baby und wie es wohl sein würde, zu dritt zu sein. Dann wurde es Zeit, sich zu verabschieden. Mildred hatte an der Tür geklopft und ihn daran erinnert, dass sie noch vor Sonnenuntergang aufbrechen wollten. Der Sergeant hatte die Tür geöffnet und versichert, dass er gleich kommen würde.

Mildred unterhielt sich im Flur mit Sebastian. Das Haus war wirklich hübsch eingerichtet. Mildred entdeckte in einer lustigen Vase, die aussah wie ein Kinderstiefel, den man mit Stoff verschönert hatte, ein paar hübsche rosa Blümchen.

Da die schönen Blüten Mildred so begeisterten, wickelte ihr Sebastian kurzer Hand den ganzen Strauß in Papier und überreichte ihn ihr als Geschenk: »Die wachsen hinter dem Haus, Katie hat sie entdeckt, da gibt es noch jede Menge, wir holen uns morgen Frische.«

Er wollte noch etwas sagen, als sie einen wütenden Schrei von oben hörten. Sie konnten die Worte deutlich verstehen. Es war Katie.

Misses Wong, die bei ihnen stand, flüsterte: »Das ist ihr Zustand, sie kann ihre Gefühle nicht beherrschen.«

Sie hörten Katies zornige Stimme. Offensichtlich beklagte sie sich über den frühen Aufbruch ihres Mannes. Sie schimpfte über den Sheriff, der ihn mit Arbeit überhäufen würde und über Anne Reeve, die ihn im Stich gelassen hätte. Sie hörten, wie oben die Zimmertür geschlossen wurde. Man verstand nicht mehr, was gesprochen wurde, konnte aber immer noch Katies Zorn heraushören.

Die zweite Stimme war die des Sergeants, welcher versuchte, seine Frau zu beschwichtigen. Als der Sergeant nach weiteren fünf Minuten die Treppe herunterkam, sah er elend aus. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Sie hörten, wie Katie oben die Tür zuschlug.

Die Verabschiedung war kurz, und bald saßen der Sergeant und Mildred wieder auf ihren Pferden. Nach einer Weile sagte Mildred: »Eine Schwangerschaft ist nicht einfach, da können auch den feinsten Damen mal die Gäule durchgehen.«

Der Sergeant lächelte ihr dankbar zu. Mildred hatte es verstanden, das peinliche Schweigen zu beenden, ohne dass er jetzt gezwungen war, auf ihre Bemerkung zu antworten. Stattdessen sagte er nur: »Schöne Blümchen.«

»Ja«, sagte Mildred, »die kommen ins Büro.«

Auch den Rest des Weges sprachen sie nur noch über belanglose Themen, was der Sergeant als äußerst angenehm empfand.

 

Anne war steif vom langen Sitzen. Ungeduldig hatte sie auf die Dunkelheit gewartet. Jetzt war es nach Mitternacht. Sebastian hatte sich vor einigen Stunden von ihr verabschiedet. Um nicht unhöflich zu sein, hatte sie erst nach Sebastians Verabschiedung den Brief von ihrem Sergeant gelesen. Der Wunsch, schnellstmöglich wieder an den Ermittlungen teilzuhaben, war mittlerweile fast unerträglich stark.

Sie betrachtete Emil und ihre kläglichen Versuche, ihn mit etwas Schlamm zu tarnen. Seine bunten Flecken traten selbst im schwachen Mondlicht immer wieder hervor, und der Dreck hielt nicht richtig. Sie hatte sich für ihre nächtliche Unternehmung wirklich den auffälligsten Komplizen ausgesucht. Sie seufzte. Emil schien das Spiel zu gefallen. Offensichtlich empfand er den kühlen Schlamm auf seiner Haut als angenehm.

»Wir werden eine Spur aus bröseligem Dreck hinterlassen. Und vor Sonnenaufgang sitzen wir wieder in der Zelle.«

Emil gab ihr einen Stümper.

»Schon gut, mein Freund, ich werde sagen, ich habe dich dazu gezwungen.«

Emil wieherte kurz, als würde er damit sein Einverständnis ausdrücken wollen.

Anne saß auf und machte sich langsam auf den Weg. Sie erreichte die Grenzen der Spielwelt und brauchte dann mehr Zeit als gewöhnlich bis zur Gemeinschaft, da es in der Dunkelheit nicht einfach war, die Spielwelt weiträumig zu umreiten. Sie konnte ja schlecht mittendurch und riskieren, dass andere sie erkannten.

Eigentümlicherweise fürchtete sie sich nicht so sehr vor einer erneuten Verhaftung wie vor den angstvollen Gesichtern der Menschen, die sie erkennen und für eine Mörderin halten würden. Nein, das wollte sie nicht erleben.

Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Das Haus lag im Dunkeln. Zum Glück kannte sie sich in der Gemeinschaft hervorragend aus. Nach all den Jahren war das kein Wunder. Sie hatte für Emil ein gutes Versteck gefunden und machte sich die letzten Meter zu Fuß, im Schutze der Dunkelheit, auf den Weg. Vorsichtig versuchte sie, am hinteren Teil des Gebäudes eines der Fenster zu öffnen. Das war der Vorteil, wenn man in einer idealen Welt lebte: Niemand war gezwungen, seine Türen und Fenster zu verschließen. Die Menschen respektierten das Eigentum des anderen. Das wiederum ersparte dem Eigentümer die ständige Angst um seinen Besitz.

Anne dachte, während sie sich durch das Fenster zwängte, daran, wie sich die Menschen in der Traurigen Zeit verbarrikadiert hatten. Hohe Mauern, Zäune und Stacheldraht waren mit teuren Alarm- und Überwachungssystemen kombiniert worden. Eingangsbereiche hatten den Stahlschränken von Großbanken geglichen, und der Antrieb war immer die Angst gewesen. Anne erinnerte sich nicht gerne daran. Das alte System hatte in der Angst einen mächtigen Verbündeten gehabt. Aus Angst waren die meisten wie gelähmt gewesen und hatten daher dem System nicht entfliehen können. Die Angst zu versagen und die Angst vor der Zukunft hatten die Bereitschaft der Menschen unterdrückt, etwas zu riskieren und neue Wege zu gehen. Die Angst hatte die Menschen beherrscht.

Hatte es zum Beispiel eine hohe Arbeitslosigkeit gegeben, dann war das ein perfektes Druckmittel gewesen, denjenigen, die Arbeit gehabt hatten, katastrophale Bedingungen aufzuzwingen. Aus Angst, ihren Job zu verlieren, hatten die Menschen alles akzeptiert.

Außerdem hatte das System die Angst vor Krankheiten gehegt und gepflegt, sodass die Menschen gehorsam alles geschluckt hatten, was ihnen vorgesetzt worden war – im wörtlichen und im übertragenden Sinn. Irgendwann war es dann so weit gewesen, und die Menschen hatten gleichzeitig Angst zu leben und Angst zu sterben. Damit waren sie die perfekten Marionetten in einem System gewesen, das von rücksichtslosen Egoisten beherrscht worden war.

Anne schüttelte diesen unangenehmen Gedanken ab und sah sich im Zimmer um. Es war zu dunkel, um etwas zu sehen. Vorsichtig begann sie, die Vorhänge zu schließen, bevor sie ihre kleine Laterne entzünden wollte. Dann hörte sie im Nebenzimmer ein Geräusch. Ihr blieb fast das Herz stehen. Sie war nicht allein. Langsam schlich sie zur Wand und drückte sich fest an die Mauer. Schon wurde unter leisem Quietschen die Zimmertür geöffnet.

Anne hatte das Gefühl zu ersticken, bis ihr auffiel, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Verzweifelt machte sie einen Atemzug und befürchtete schon, der andere würde das hören.

Draußen wieherte ein Pferd. Emil, dachte Anne, die Warnung kommt ein bisschen spät.

Sie hörte Schritte, die sich in ihre Richtung bewegten. Was sollte sie nur tun? Wenn sie hier auf den Täter treffen würde, dann würde sie heute Nacht sterben, davon war sie überzeugt. Gleichzeitig weckte diese Erkenntnis in ihr den Überlebenswillen. Es hatte keinen Zweck, sie konnte nicht warten, bis er sie finden würde, sie musste zuerst angreifen und so den Überraschungsmoment nutzen.

Sie verfluchte ihre eigene Unzulänglichkeit. Warum hatte sie keine Waffe dabei? Irgendetwas zum Draufschlagen. Stattdessen stand sie da wie ein zu groß geratenes Schulkind mit einer winzigen Kinderlaterne.

Sie hatte keine Zeit, sich weitere Vorwürfe zu machen, denn der andere war schon fast auf gleicher Höhe mit ihr. Anne presste die Lippen zusammen, holte mit der zwanzig Zentimeter hohen Laterne aus und schlug mit aller Wucht zu. Sie hörte einen dumpfen Laut und dann einen Fluch.

»Was zum Teufel ...?«

Sie wollte schon erneut in Richtung der Stimme zuschlagen, als sie innehielt. Das war doch nicht möglich: »Sergeant Milton?«

Der andere antwortete: »Chief-Sergeant? Was? Ich ...«

Anne bewegte sich in Richtung Sergeant Milton: »Mein Gott, Thomas, sind Sie verletzt?«

Im Raum war es immer noch dunkel, sodass sie bei ihren Bemühungen, dem Sergeant zu helfen, diesen grob anrempelte.

Das wiederum entlockte dem Sergeant einen erneuten Schmerzensschrei: »Stopp, Chief-Sergeant, Sie bleiben stehen und rühren sich nicht. Ich will dieses Haus aufrecht und am Stück verlassen.«

Anne unterdrückte ein Kichern. Sie hörte noch einige Flüche, bis es dem Sergeant gelang, seine eigene Laterne zu entzünden. Die Flüche kamen Anne bekannt vor und klangen aus dem Mund des Sergeants irgendwie goldig.

Endlich erhellte sich der Raum, und Anne zog die letzten Vorhänge zu. Dann zündeten sie zwei Kerzenleuchter an, die auf einem Tisch standen. Als sich die beiden jetzt gegenüberstanden, überkam sie ein wenig die Verlegenheit. Schuldbewusst sahen sie einander an.

Der Sergeant ergriff das Wort: »Chief-Sergeant, was tun Sie hier?«

Anne verzog ein wenig das Gesicht. Was gab es da noch zu erklären?

Der Sergeant fing an wütend zu werden: »Wissen Sie eigentlich, in was für eine Gefahr Sie uns bringen? Was, wenn Sie jemand hier erwischt? Jetzt, nachdem alle so viel für Sie riskiert haben.«

Der Sergeant konnte nicht anders, er musste seinem Ärger Luft machen. Er dachte an die letzten Tage, an seinen Streit mit Katie und dass alles auch wegen Anne Reeve passiert war. Und jetzt schlich diese Frau in der Gemeinschaft herum und legte es quasi darauf an, dass man sie erwischte.

»Das ist mit Abstand das ...«, er rang nach Worten, » ... Leichtsinnigste, was Sie jemals getan haben.«

Anne sah das zwar anders, und es wären ihr viele Anekdoten aus ihrem Leben eingefallen, die die Bemerkung des Sergeants widerlegen würden, aber sie hielt es für klüger, zu schweigen. Auch sie wusste von dem Streit, den der Sergeant mit seiner Frau gehabt hatte. Sebastian hatte es ihr erzählt. Sie fühlte sich Sergeant Milton gegenüber schuldig. Sie war sich durchaus bewusst, was er im Moment leistete und welchen Preis er dafür bezahlen musste. Er hatte sich das Recht verdient, sie zu beschimpfen.

Also blies sie die Backen auf, atmete hörbar aus und sagte: »Es tut mir leid. Sie haben absolut recht. Aber ich hatte keine andere Wahl.«

Der Sergeant war versucht, wild mit dem Fuß aufzustampfen, stattdessen zischte er: »Sie hätten mir doch sagen können, was Sie vorhaben. Was wäre daran denn so schwierig gewesen?«

Anne sah die Anspannung in Sergeant Miltons Gesicht. »Ja, sicher, das hätte ich tun können. Aber dann hätte ich Sie in Verlegenheit gebracht. Das wollte ich nicht.«

Der Sergeant wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Das stimmte natürlich, sie konnte nicht wissen, dass er den gleichen Verdacht gehabt hatte. Zumindest hoffte er, dass sie aus den gleichen Gründen wie er hier war. Deshalb hakte der Sergeant nach: »Wie sind Sie darauf gekommen?«

Anne entspannte sich und fing an, im Zimmer hin und her zu laufen, während sie antwortete. Gleichzeitig begann sie mit der Durchsuchung der Schränke.

»Vermutlich genauso wie Sie. Die Zurückhaltung von Informationen, der Umschlag, nicht die kleinste Erinnerung an irgendetwas, dieser Termin, den Dave Lorden vereinbaren wollte – und da ist noch etwas …« Sie öffnete eine weitere Schublade: »Ich hoffe aber, dass ich mich diesbezüglich irre.«

Der Sergeant ging seine eigenen Überlegungen noch einmal durch, konnte aber nicht nachvollziehen, was sie mit ihrer letzten Bemerkung meinte. Er fing ebenfalls an, die Möbel zu durchsuchen: »Denken Sie tatsächlich, er könnte für all das, was passiert ist, verantwortlich sein?«

Anne unterbrach ihre Arbeit. Sie sah bekümmert aus: »Nein, ehrlich gesagt, nein!« Sie versuchte, ihre Gefühle zu erklären: »Aber irgendetwas stimmt nicht.«

Der erste Zorn des Sergeants war verraucht. Er sah Anne Reeves Gesicht und die Spuren, die die letzten Tage darauf hinterlassen hatten. Das erste Mal, seit sie einander kannten, hatte er den Wunsch, sie zu beschützen. In diesem Moment, im Halbdunkel, sah er eine Seite an ihr, die ihm neu war. Anne hatte Angst. Und es war nicht die Angst, erwischt zu werden, sondern sie hatte Angst vor dem, was sie hier finden würden, hier in Frank Walls Haus.

»Hören Sie, Chief-Sergeant, vielleicht sollte ich das machen. Mister Wall ist ihr Freund, Sie könnten später sagen, dass Sie nichts angerührt haben und ...«

Der Sergeant brach ab, was sollte er auch weiter sagen. Anne lächelte und ließ sich an der Wand heruntergleiten, bis sie bequem auf dem Boden saß: »Ach, Thomas, es tut gut, Sie zu sehen. Ich wünschte, wir hätten die Ermittlungen bald abgeschlossen und könnten irgendeinen Unbekannten für alles verantwortlich machen.«

Der Sergeant kam ins Stocken. Anne hatte etwas Entscheidendes gesagt. Natürlich mussten sie damit rechnen, dass der Täter jemand aus ihrem näheren Umfeld war. Genau genommen kam überhaupt niemand sonst infrage.

Der Sergeant seufzte: »Aber Frank Wall? Ich weiß nicht. Vielleicht hat er eine gute Erklärung für sein Verhalten?«

»Im Moment hoffe ich vor allem, dass er noch irgendwelche Erklärungen abgeben kann.« Es sollte abgebrüht klingen, tat es aber nicht, und Annes Augen füllten sich mit Tränen.

Der Sergeant konnte ihr diesbezüglich keine tröstenden Worte entgegenbringen. Die Ärzte hatten noch keine Entwarnung gegeben. Dann fiel ihm doch etwas ein: »Wir sollten die Sache vielleicht so angehen, als ob wir versuchen würden, Beweise zu finden, die den Sheriff entlasten.«

Anne lächelte in die Richtung von Sergeant Milton und sagte: »Ich habe Sie wirklich nicht verdient.«

Der Sergeant streckte Anne die Hand entgegen, um ihr hoch zu helfen, und gerade, als sie sich aufrichten wollte, verharrte sie mitten in der Bewegung. Sie kniff ihre Augen zusammen und ließ die Hand des Sergeants los. Unsanft landete sie auf ihrem Hinterteil, dann richtete sie sich auf und krabbelte zur gegenüberliegenden Wand: »Bringen Sie mal die Kerzen hierher.«

Der Sergeant folgte ihr mit dem Leuchter: »Das ist ein ›Wohin-Damit‹. Was haben Sie entdeckt?«

»Probieren Sie, es zu bewegen.«

Der Sergeant tat, wie ihm geheißen wurde, aber das »Wohin-Damit« ließ sich nicht wegrollen.

»Wohin-Damit« war eine Wortschöpfung der Neuen Welt. Im Zuge des Gedankens der Wiederverwertung gab es in vielen Häusern gebrauchte Möbel, die sich die Menschen an ihre Bedürfnisse anpassten oder auch komplett umarbeiteten. Das ermöglichte einen sparsamen Umgang mit Rohstoffen, verlangte den Menschen aber einiges an Improvisationstalent ab.

Das »Wohin-Damit« war eine Folge davon. Gerne erzählte man sich die Geschichte, dass eines Tages eine Frau für ihr Zuhause ein kleines Schränkchen gebraucht hatte. Sie hatte genaue Maße gehabt und sich damit auf den Weg zu den Möbellagern gemacht. Als sie mit dem Archivar durch die Reihen gegangen war, hatte sie ein herrliches Stück Möbel in einer der Ecken entdeckt. Die Frau hatte sofort tausend Ideen gehabt, was sie alles mit dem hübschen Schrank anfangen könnte, aber leider war er viel zu groß für den freien Platz in ihrem Haus gewesen. Die Frau hatte deshalb zu dem Archivar gesagt: »Der ist wunderschön, aber wohin damit?«

Darauf hatte der Archivar geantwortet: »Wie wäre es mit Rollen darunter? Dann kannst du für dein ›Wohin-Damit‹ überall einen Platz finden. Wenn es sein muss, sogar jeden Tag einen Neuen.«

Das »Wohin-Damit« war geboren. Ein Möbelstück, das man auf Rollen gesetzt hatte, um es einfach hin und her zu schieben, falls es augenblicklich im Weg war. Ab dieser Geschichte in dem Möbelarchiv war das »Wohin-Damit« nicht mehr aus den Haushalten wegzudenken. Und genau so ein »Wohin-Damit« nahm Anne jetzt unter die Lupe. Es handelte sich um einen kleinen Schubladenschrank, der sich aber nicht schieben ließ. Anne versuchte, so gut es ging, unter das Möbelstück zu blicken.

Von der anderen Zimmerseite aus hatte sie für einen kurzen Moment den Eindruck gehabt, als würde eine heller Zipfel unter dem Möbelstück hervorschauen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Sie konnte den Zipfel fassen und zog daran. Irgendetwas war da unten befestigt, und das hatte eine Rolle blockiert.

Anne tastete vorsichtig danach: »Da klebt irgendetwas drunter. Scheint ein kleiner Umschlag zu sein.«

Anne zog fester und löste die Ecken des versteckten Umschlags, bis sie ihn endlich hervorziehen konnte. Sie öffnete ihn vorsichtig. Sollten sie ungerechtfertigter Weise in Franks Privatsphäre eingedrungen sein, dann könnte sie vielleicht alles wieder an seinen Platz legen, und Frank müsste niemals davon erfahren.

Sergeant Milton hatte sich ihr gegenüber auf den Boden gesetzt. Der warme Schein der Kerzen konnte keine wohlige Stimmung erzeugen. Beide waren angespannt. Endlich hatte Anne es geschafft. Sie drehte den Umschlag um und ließ dessen Inhalt auf den Boden gleiten. Vor ihnen lag ein kleines Büchlein.

»Was ist das?« Sergeant Milton konnte mit dem bordeauxroten Heftchen nichts anfangen, Anne dagegen schon.

Mit zittrigen Händen öffnete sie es, um es daraufhin mit einem leisen Fluch gleich wieder zu schließen. Der Sergeant wusste, dass sie das gefunden hatte, weshalb sie hier war. Und er wusste auch, dass sie deshalb enttäuscht war. Dann reichte sie dem Sergeant das ungewöhnliche Büchlein.

Der Sergeant blätterte vorsichtig darin, dann zuckte er kurz zurück und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen: »Das ist ja ein Bild von Mister Wall. Sieht irgendwie …«, er machte eine kurze Pause, »… komisch aus?«

Anne konnte die Belustigung des Sergeants über das Bild nachvollziehen: »Sie hätten mal meins sehen sollen.«

Der Sergeant verstand nicht.

Anne klärte ihn auf: »Das ist ein Pass. So etwas hatten wir vor den Aschentagen, um uns zu identifizieren. Ein Pass entsprach in der Traurigen Zeit dem, was wir heute als ›Papiere‹ bezeichnen. Nur, dass wir damit heute irgendwelche Briefe, Zettel oder Schlüsselanhänger meinen. Eben alles, was sich in unseren Taschen befindet und einem Fremden helfen würde, Rückschlüsse auf unseren Namen zu ziehen. In der traurigen Zeit gab es dafür den Pass: ein teuer gefertigtes, offizielles Dokument. Scheint auch ein echter zu sein.«

Der Sergeant blätterte weiter in dem Pass und fragte erstaunt: »Gab es denn auch unechte?«

Anne rieb sich die Stirn. »Ja, die gab es, aber der ist echt. Lesen Sie den Namen.«

Der Sergeant folgte der Anweisung, er starrte auf das Bild – und den Namen. Es dauerte einen kurzen Moment, dann hatte er das Rätsel ebenfalls gelöst. Er sah zu Anne: »Das gibt es doch nicht!«