10. Die Einäscherungsarchive

 

Es glich schon fast einer heiligen Prozession, als sich die kleine Gruppe Richtung Computerraum aufmachte. Jeder hing auf dem Weg seinen eigenen Gedanken nach. Frank Wall und Nigel O’Brian vermieden es, sich anzusehen. Mildred konnte darüber nur müde den Kopf schütteln. Doktor Masters spürte wie immer ein leichtes Kribbeln. Er konnte nicht leugnen, dass ihn diese Ermittlung faszinierte. Natürlich schmerzten die Verluste, aber er hatte in seinem ganzen Leben noch keine so aufregende Woche erlebt. Das war einfach Fakt. Sergeant Milton ging es ähnlich, allerdings trieb ihn vor allem die Sorge um die Sicherheit seiner Familie an. Er war nervös, sie mussten endlich der Lösung näherkommen.

Seine Unsterblichkeit hatte ihn verändert. Paradoxerweise hatte er ständig das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Er dachte an die kurze Unterredung mit Anne Reeve. Er sah sie vor sich, wie sie ihn aus ihrer Gefängniszelle angelächelt und ihm Mut gemacht hatte. Ihre blöden Witze hatten ihm gutgetan. Alle behandelten ihn zur Zeit wie ein rohes Ei. Das war auf Dauer anstrengend.

Der Sergeant und Frank Wall waren vor zehn Minuten aus dem Einäscherungsarchiv zurückgekommen. Dort wurden alle Unterlagen und Gegenstände aufbewahrt, die den Ermittlern zur Lösung eines Aschenfalls dienen sollten. Sergeant Milton und die anderen gingen davon aus, dass der »Burnout-Fall« ein noch offener Fall war, deshalb hatten sie gehofft, darüber im Einäscherungsarchiv mehr zu erfahren.

Trotzdem war Mildred mit dem Doktor und Nigel in die Papierarchive hinabgestiegen, wo die abgeschlossenen Aschenfälle alphabetisch abgelegt wurden. Außerdem hatten die drei die Enzyklopädien der abgeschlossenen Aschenfälle durchforstet.

Abgeschlossen war ein Fall, wenn man den Grund für die Einäscherung eines Menschen oder einer Menschengruppe kannte. Eine hundertprozentige Sicherheit gab es zwar manchmal nicht, aber wenn alle Spuren auf eine bestimmte Lösung deuteten, konnte man von deren Richtigkeit ausgehen. Die Forschungsmannschaften studierten dann die Ergebnisse der Ermittlungen, um so mehr über das Phänomen der Einäscherung zu erfahren. Doch weder Mildred und ihre zwei Helfer noch der Sergeant und Frank Wall hatten einen Hinweis auf einen Aschenfall namens »Burnout« gefunden.

Nun setzten sie ihre ganze Hoffnung auf mögliche Daten im Rechner. Der Sergeant sah auf, die Gruppe war stehengeblieben. Feierlich hob Frank Wall den Schlüssel in die Höhe. Es war so weit, sie würden den Computerraum betreten. Frank ging als Erster durch die Tür und drehte das Licht an. Der Strom für den Raum kam vom Windkraftwerk des Stützpunktes. Nach ihm betrat Doktor Masters den Raum. Während Doktor Masters entzückt war, in die heiligen Hallen einzudringen, sah man dem nachfolgenden Nigel O’Brian an, dass ihn das Vorgefundene nicht wirklich beeindruckte.

Hier gab es lediglich einen Tisch mit einem Computer darauf. Daneben einen alten Schreibtisch und zwei Stühle. Trotzdem betrachtete der Doktor den Raum andächtig. Das lag vor allem daran, dass der Computerraum, im Gegensatz zu den meisten anderen Räumen, der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht wurde. Es gab nur einen Schlüssel im Büro des Sheriffs und einen weiteren am Empfang der Wache Süd. Jetzt hier zu sein, beeindruckte den Doktor daher so sehr, dass er abrupt stehenblieb.

Was wiederum aufgrund von Doktor Masters Leibesfülle nicht ohne Folgen blieb und dazu führte, dass die anderen hinter ihm ins Stolpern kamen. So entstand ein kleiner Tumult, bis endlich alle ihren Platz um das Wunderwerk der Technik eingenommen hatten.

Frank Wall wollte sie schon maßregeln, als Nigel O’Brian einen höchst unflätigen Fluch in seiner eigenen alten Sprache ausstieß: »Das darf doch nicht wahr sein, das Ding war ja schon vor 260 Jahren eine alte Kiste. Das grenzt wahrhaftig an ein Wunder, dass die Büchse noch läuft.«

Frank zog seine Augenbraue hoch und gab bissig zurück: »Ich denke, Sie sind so ein Genie, was Computer angeht? Heißt das, Sie können das Ding nicht bedienen? Das ist aber jammerschade, denn was anderes haben wir nicht.«

Frank ärgerte sich über Nigels Überheblichkeit. Es war schließlich nicht so, dass es einen Grund gegeben hätte, etwas Besseres als diesen alten Schüttler zu erwarten. Die besten Computerteile fanden nun mal ihren Einsatz bei der Kontrolle der abgeschalteten Atomkraftwerke und anderen brisanten Bereichen.

Auf der Wache Süd waren sie froh gewesen, dass ihnen überhaupt ein Computerraum eingerichtet worden war. Der Rechner diente dazu, alle Aschenfälle zu archivieren. Eigentlich wäre das nicht notwendig gewesen, da man ja ein Archiv in Papierform hatte. Außerdem wurden die Aschenfälle auch veröffentlicht. Es waren die Enzyklopädien, die sogenannten Aschentagebücher, entstanden, die nach und nach aktualisiert wurden. Die Archivierung im Computer hatte noch einen weiteren Hintergrund, hier konnte ein Ermittler schneller als im Papierarchiv auf einen Fall zugreifen.

Leider war das Archivierungssystem für den Benutzer nicht sonderlich komfortabel. Wenn man einen Fall aufrufen wollte, konnte man nur den Fallnamen eingeben. Eine andere Möglichkeit des Zugriffes gab es, zumindest für die Normalsterblichen unter den Computernutzern, nicht. Das hieß: Ohne Fallnamen fand man normalerweise keine Daten.

Frank hatte immer noch dieses ungute Gefühl. Er fühlte sich schlecht wegen Anne, vor allem weil er sich selbst mittlerweile schwere Vorwürfe machte. Seine Versuche, die gesamte Schuld auf Nigel O’Brian zu laden, funktionierten nicht, obwohl er das nie zugeben würde. Er würde ihn weiterhin mit Missachtung strafen. Umso ärgerlicherer war es da, dass sich ausgerechnet dieser O’Brian, was ihnen jetzt sehr entgegenkam, mit Computern auskannte. Wie alle gestrahlt hatten, als Nigel ihnen seine Dienste angeboten hatte, nachdem Sergeant Milton im Büro seine Bedenken geäußert hatte bezüglich der Suche in dem alten Computer.

Was für ein Angeber. Nigel O’Brian war also, neben vielem anderen, auch noch ein Computerfreak der Traurigen Zeit gewesen. Die hatte Frank schon damals nicht leiden können. Er konnte sich noch an die mitleidigen Blicke erinnern, die einem zugeworfen worden waren, wenn man nicht die Welt der Bits und Bytes sein Zuhause hatte nennen können. Wahrscheinlich war dieser O’Brian einer von denen gewesen, die mit ihrem Wissen nichts weiter zu Stande gebracht hatten, als irgendwelche Highscores zu knacken oder sich illegal Filme – mit fragwürdigem Inhalt – herunterzuladen.

Frank wollte nicht ungerecht sein, aber das misslang ihm gründlich. Er dachte an die Dienste, die ihnen der alte Computer mit seinem einfachen Programm bisher schon geleistet hatte. Ziel der Ermittler war von Anfang an gewesen, herauszufinden, wie es zu den Einäscherungen kam. Daher hatte man schon bald nach den Aschentagen damit begonnen, die Vergangenheit der Eingeäscherten und ihren Tod zu untersuchen. Sehr schnell hatte man dabei festgestellt, dass sie alle eines gemeinsam gehabt hatten, und das waren ihre Vergehen an der Menschlichkeit gewesen.

Es war natürlich unmöglich gewesen, mit den begrenzten Mitteln diese Unmengen an Eingeäscherten innerhalb kurzer Zeit zu überprüfen. Außerdem war die Identifizierung schwer gewesen. Sie war nur möglich gewesen, wenn es einen Zeugen gegeben hatte, der die Einäscherung gesehen hatte oder wenn in der Nähe des Aschenhäufchens Dinge gefunden worden waren, die Rückschlüsse auf die Identität des Eingeäscherten zugelassen hatten.

So hatte man entschieden, dass, falls eine Identifizierung gelungen war, sämtliche Unterlagen oder Gegenstände, die den Ermittlungen hätten dienen können, vorerst in den Einäscherungsarchiven zu sammeln. Später wurden sie dann bei der Falluntersuchung als Beweismittel verwendet. Manchmal waren das große Mengen an Papieren und Dingen, vor allem wenn nicht nur eine Person betroffen war, sondern eine Gruppe von Eingeäscherten, die sich gemeinsam schuldig gemacht hatten.

Die Einäscherungsarchive waren daher in großen Hallen untergebracht. Die gesammelten Gegenstände und Unterlagen wurden in Kisten verwahrt, die sich zu großen Türmen formierten. Die Fälle wurden an die Ermittler verteilt, die dann einen Eingeäscherten oder eine ganze Gruppe davon mit Hilfe des Kisteninhalts unter die Lupe nahmen. Jede Gemeinschaft hatte ihr eigenes Einäscherungsarchiv und ihre Ermittler. Aber alle Ergebnisse wurden gemeinsam in den Enzyklopädien veröffentlicht.

Nach 260 Jahren waren die Listen der unbearbeiteten Aschenfälle immer noch sehr lang und die »Kistentürme« in den Einäscherungsarchiven sehr hoch. Außerdem kamen trotz der veränderten Welt immer mal wieder neue Eingeäscherte hinzu, wobei diese Fälle sofort bearbeitet wurden, um die frischen Spuren und Beweismittel zu nutzen. Ähnliches passierte gerade im Aschenfall »Heribert Bux«.

Bei den Eingeäscherten, die vor den Aschentagen in der Öffentlichkeit gestanden hatten, wie zum Beispiel Politiker, Kinostars oder Firmenbosse, war es noch einfach, Rückschlüsse auf ihr Fehlverhalten zu ziehen. Es gab viel Datenmaterial. Natürlich war auch das nicht mehr in einem einwandfreien Zustand, aber es genügte, um eine ungefähre Ahnung davon zu bekommen, was alles in der Traurigen Zeit passiert war.

Wenn es den Spezialisten möglich war, alte Datenträger lesbar zu machen, war man der Lösung oft schon sehr nahe. Allerdings gelang das mit den Jahren immer seltener, und die fähigen Köpfe, die dazu in der Lage waren, hatten meist nicht die Zeit dazu.

Ideal war es natürlich, wenn es Zeugen gab, so wie die Lordens im Fall »beihon«. Hatten die Verbrechen im privaten Bereich stattgefunden, war es um einiges schwieriger, Nachforschungen anzustellen. Manchmal fing ein Ermittler auch mit einem Aschenfall an, brach dann aber ab, weil er nicht weiterkam. Ergebnisse wurden im Rechner gespeichert, sowohl von den abgeschlossenen als auch von den »angefangenen«, noch unerledigten Fällen.

Nigel brummte nur und schaltete den Computer ein. Mildred stieß einen spitzen Schrei aus. Fasziniert betrachtete sie den Bildschirm, auf dem sich fremdartige Zeichen und Worte abbildeten, die kaum, dass sie erschienen waren, auch wieder verschwanden. Zu guter Letzt blieb das Bild stehen. Auf dem schwarzen Bildschirmhintergrund erschienen in giftigem Grün die Worte:

 

»1. Neue Akte anlegen«

»2. Akte bearbeiten«

 

Für Mildred war das sehr gruselig. Natürlich hatte man ihnen in den Schulen alles über Computer erzählt und ihnen die Technik erklärt. Allerdings befassten sich nur wenige der Neugeborenen darüber hinaus mit den Geräten. Die meisten hatten sogar eine regelrechte Abneigung gegen sie. Das führte dazu, dass die Neugeborenen, die bereit waren, sich in diesem Bereich ausbilden zu lassen, dafür sehr geschätzt wurden. Schließlich musste irgendwer die abgeschalteten Atomkraftwerke überwachen, die Kommunikation aufrechterhalten und die Technik, die in den Krankenhäusern und anderen wichtigen Bereichen eingesetzt wurde, instand halten. Und da keine Neuproduktion der ungeliebten Maschinen möglich war, war es noch wichtiger, einen großen Stab an Experten aufzubauen, der mit den vorhandenen Mitteln arbeiten konnte.

Wie Mildred ging es auch Doktor Masters, der nervös auf und ab wippte, als Nigel seine Finger gekonnt über die Tastatur gleiten ließ. Natürlich gab es auch im Forschungszentrum Computer, aber er bediente sie nicht. Dafür gab es besondere Mitarbeiter. Nur Sergeant Milton war gelassener. Er war den Geräten bereits an der Akademie nähergekommen. Natürlich konnte er den Rechner nicht so bedienen, wie Nigel es gerade tat, aber ihm wurde klar, dass er eines Tages ebenfalls im Umgang damit geübt sein würde. Schließlich würde er für sein ganzes Leben, wie lange das auch sein würde, Ermittler sein, genau wie Anne. Er würde also lernen müssen, dieses Gerät zu beherrschen.

In der Akademie hatte man ihnen erzählt, wie stark die Menschen der Traurigen Zeit mit diesen Maschinen verbunden gewesen waren. »Intuitive Benutzeroberfläche« war eines der Schlagwörter vor den Aschentagen. Er und seine Mitschüler hatten darüber gelacht. Was sollte das sein? Eine gefühlsmäßige Verbindung zwischen Mensch und Maschine? Der Dozent hatte einen eigenartigen Gesichtsausdruck gehabt, als er ihnen darauf geantwortet hatte. Sergeant Milton konnte sich noch an dessen Worte erinnern: »Sie würden sich wundern, wie tief diese Maschinen damals in unsere Seelen eingedrungen sind.«

»Und? Wie sieht es aus?«, fragte Frank ungeduldig. Er wollte schnellstmöglich wieder zurück in sein Büro.

Es war völlig unnötig, andere auf sich aufmerksam zu machen. Was sollte er sagen, wenn jemand jetzt hereinkäme und ihn sehen würde, wie er mit seinem Sergeant und ansonsten lauter Unbefugten vor dem Bildschirm klebte? Für seinen Geschmack kannten schon viel zu viele den Inhalt dieses verdammten Umschlages. Hoffentlich würde dieser O’Brian bald etwas finden!

Nigel hämmerte auf die Tasten, und plötzlich erschienen auf dem Bildschirm vollkommen fremde Symbole. Frank befürchtete schon, Nigel hätte das Gerät kaputt gemacht. Nigel war ungeduldig. Das Programm stellte dem Nutzer nur wenige Funktionen zur Verfügung. Man konnte einen Aschenfall aufrufen, um ihn zu lesen oder zu bearbeiten oder man hatte die Möglichkeit, einen neuen Aschenfall anzulegen.

»Fantastisch«, dachte Nigel. Er konnte sich gut vorstellen, wie auch Paul Grey fluchend vor dieser Kiste gesessen und sich überlegt hatte, wie ein neues Archivierungssystem aussehen hätte müssen, damit man den Rechner besser zum Recherchieren hätte verwenden können.

Die Ablage, beziehungsweise die Verwaltung eines Falls im Computer, wie von Paul Grey vorgeschlagen, also »Ermittler − Fallname − Fallstatus«, schien Nigel mehr als vernünftig. Damit wäre dem Benutzer auch eine komfortable Funktion für die Suche und die Bearbeitung eines Falles zur Verfügung gestanden. Nigel hatte das Programm beendet und versuchte sein Glück auf der Betriebssystemebene.

Endlich war es soweit: »Gratuliere Mister Wall, ihr Schmuckstück zeigt uns schon mal einen ›Prompt‹ an!«

Nigel versuchte, was er konnte, und hatte fast Angst, dass sich der Computer gleich für immer verabschieden würde, so mühsam zeigte er die Zeichen auf dem Bildschirm an. Die anderen sahen gebannt auf Nigels Finger. Das grenzte fast an Zauberei. Auf dem Monitor erschienen noch mehr fremdartige Zeichen und Wörter.

»Das ist Magie«, dachte Mildred, während Doktor Master noch über das »Prompt« kicherte, ohne die geringste Ahnung zu haben, was das überhaupt sein sollte.

»Na super!«, platzte Nigel sarkastisch heraus.

Die anderen rückten näher an den Rechner heran und betrachteten den Monitor.

»Was zum Teufel steht da geschrieben, Mister O’Brian?«

Frank Wall hatte Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. Nigel drehte sich um und grinste: »Wenn ich das übersetzen müsste, dann würde ich sagen, da steht: ›Pech gehabt!‹«

Nigel versuchte es wieder und wieder. Er gab alle möglichen Suchanfragen ein, die immer erfolglos blieben. Mittlerweile beteiligten sich die anderen lebhaft an der Recherche. Ständig riefen sie Nigel weitere Suchvorschläge zu. Er konnte nichts finden, was auf einen Aschenfall namens »Burnout« hindeutete. Alles, was sie fanden, waren Fälle, in denen es Opfer der Krankheit gab, weil der Eingeäscherte ihnen das Leben schwer gemacht hatte. Es gab keine Verbindung zu Anne Reeve oder Paul Grey. Einfach nichts, was sie weiterbrachte. Alle Versuche blieben erfolglos. Fast hatte man den Eindruck, dass je mehr sie sich alle bemühten, desto unbefriedigender die Rückmeldungen des Computers wurden. Nigel wollte die anderen schon genervt um Ruhe bitten, als das Gequassel von alleine verstummte. Offensichtlich gab es keine weiteren Ideen.

»Oh Mann, das ist aber wirklich, als würde man mit Bleisäcken Bockspringen.«

Doktor Masters rieb sich die Stirn und fuhr fort: »Wir kommen einfach nicht voran. Jede Spur führt ins Leere, und Anne sitzt immer noch in ihrer Zelle.«

Nigel war genauso enttäuscht wie Doktor Masters, und Sergeant Milton ärgerte sich, dass er keine zündende Idee hatte. Er wünschte sich, dass Anne hier wäre. Nigel war in der Lage, ihnen die Aschenfälle, die Anne und Paul bearbeitet hatten, in chronologischer Reihenfolge aufzulisten – ab dem Zeitpunkt von Pauls Tod sechs Monate zurück. Zuerst kamen die von Anne Reeve. Für diesen Zeitraum waren es zwei gewesen, die beide abgeschlossen waren. Das war ein sehr gutes Ergebnis.

Dann startete Nigel die Suche für Paul Grey. Anne und Paul waren zwar Partner gewesen, aber jeder hatte seine eigenen Fälle bearbeitet. Natürlich waren die beiden eine Art Team gewesen, sie hatten sich geholfen und ausgetauscht, außerdem hatten sie miteinander in einem Büro gesessen, aber trotzdem hatte immer jeder Ermittler seine eigenen Fälle. Jetzt listete der Rechner die Fälle von Paul Grey auf. Alle sahen gebannt auf den Bildschirm und hielten die Luft an. Die Suche ging so schleppend vor sich, dass man fast das Gefühl hatte, man müsste dem Rechner Luft zufächeln, damit er die letzten Buchstaben noch auswarf, bevor er dann für immer ins Computernirvana verschwinden würde.

Aber sie hatten Glück, und der Computer überlebte tapfer auch diese Prozedur. Auf dem Bildschirm wurde ein Aschenfall für den Zeitraum aufgelistet. Auch er war abgeschlossen. Es gab keinen Hinweis auf einen weiteren Fall.

Nigel meldete sich zu Wort: »Er hat diesen Fall zwei Wochen vor seinem Tod abgeschlossen. Was hat er dann in den folgenden Wochen gemacht?«

Frank musste sich zusammenreißen, um Nigels Worte nicht sofort als Kritik an seinem ehemaligen Ermittler aufzufassen.

Er antwortete so ruhig wie möglich: »Ich gehe nicht davon aus, dass er Däumchen gedreht hat, vielleicht hat er noch einen anderen Ermittler unterstützt. Auf jeden Fall war Paul Grey immer sehr pflichtbewusst und hätte sich niemals vor der Arbeit gedrückt.«

Sergeant Milton war nervös, er machte sich seine eigenen Gedanken und beachtete die beiden nicht: »Sheriff, wie lief die Bearbeitung der Aschenfälle damals ab? Genauso wie heute?«

Frank war sich nicht sicher, worauf der Sergeant hinauswollte, aber er merkte, dass es wichtig war und antwortete ausführlich: »Da hat sich eigentlich nichts geändert. Der Ermittler lässt sich den Fall von den Einäscherungsarchiven zuteilen. Die tragen ihn dann als zuständigen Ermittler in ihre Fallliste ein. Die Kiste mit den vorhandenen Unterlagen und Gegenständen, die den Fall betreffen, wird dem Ermittler zugänglich gemacht.«

Der Sergeant stellte eine weitere Frage: »Und wann erfasst der Ermittler in der Wache Süd normalerweise seine Ergebnisse im Rechner?«

Frank begann erneut mit seinen Erklärungen: »Wenn er den Aschenfall übernimmt, legt er eine Akte im Rechner an. Ist der Aschenfall dann abgeschlossen, werden die kompletten Ergebnisse im Rechner erfasst. Parallel dazu wird die Papierakte erstellt, die dann in das Papierarchiv kommt, und der Ermittler fertigt eine Version an, die er an die große Druckerei weitergibt, damit der Fall in den Enzyklopädien veröffentlicht werden kann.«

Der Sergeant unterbrach: »Heute legen wir das Exemplar für die Enzyklopädien in einen Sammelbehälter, der im Keller steht und ohne Probleme für jedermann zugänglich ist. Die Druckerei leert diesen Behälter dann und erstellt die neuen Enzyklopädien. War das zu Paul Greys Zeit auch so?«

»Ganz genauso, da hat sich nichts geändert. Außerdem geht der Ermittler noch zum Einäscherungsarchiv und teilt den Fallabschluss mit. Dann übergibt ihm das Einäscherungsarchiv die Papierdokumente für die Papierakte und verwertet vorhandene Gegenstände weiter. Das Einäscherungsarchiv hat einen Fall weniger und eine leere Kiste mehr, während sich unsere Archive füllen. Wenn ein Fall nicht abgeschlossen werden kann, werden die Erkenntnisse die der Ermittler gesammelt hat, im Rechner erfasst. Und zwar dann, wenn der Ermittler, normalerweise in Absprache mit Anne oder mir, entschieden hat, dass es vorerst keinen Sinn macht, weiter an dem Fall zu arbeiten. Ansonsten passiert dann nichts, die Einäscherungsarchive führen den Fall weiter, bis eines Tages der gleiche Ermittler oder ein anderer eine brauchbare Spur findet und der Fall erneut bearbeitet wird.«

»Und wer, Sheriff, vergibt die Fallnamen?«

Wie bei einem Tennismatch sahen die drei anderen jetzt vom Sergeant zum Sheriff: »Das Einäscherungsarchiv. Normalerweise entspricht der Fallname dem Namen des Eingeäscherten. Handelte es sich um größere Fälle, wie zum Beispiel damals der Fall ›beihon‹ bei Dave Lorden, dann kann man nicht einen einzelnen Namen damit verbinden, da viele Personen eingeäschert wurden. Hier hat man zum Beispiel den Namen des Unternehmens genommen.«

Wieder wanderten die Köpfe Richtung Sergeant Milton.

Dieser machte ein angestrengtes Gesicht: »Das heißt also, dass sich Paul Grey normalerweise einen Fall aus dem Einäscherungsarchiv geholt und dann eine Akte im Computer dafür angelegt hätte. Danach hätte er mit den Ermittlungen begonnen?«

Frank nickte und sagte: »Genau so ist es. Dieser ›Burnout-Fall‹ hätte unabhängig davon, ob er abgeschlossen war oder nicht, im Computer erscheinen müssen.«

Der Sergeant ließ den Kopf hängen: »Also haben wir alles überprüft, und trotzdem finden wir nirgendwo einen Hinweis auf den ›Burnout‹-Aschenfall.«

Mildred war die Erste, die sprach: »Aber das ergibt keinen Sinn, es muss einen Fall mit dem Namen gegeben haben. Mein Vater hat ihn doch nicht erfunden. Er muss vor seinem Tod daran gearbeitet haben, da bin ich mir fast sicher.«

Sergeant Miltons Kopf schoss in die Höhe, und er sagte lauter als beabsichtigt: »Das ist es!« Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

»Was ist, Mann, los, reden Sie schon!«, blaffte Nigel. Er schwitzte und fühlte sich elend. Er wünschte sich so sehr, alles wieder gut zu machen und hoffte daher inständig, dass der Sergeant etwas gefunden hatte.

Sergeant Milton räusperte sich und fuhr fort: »Na ja, wie Mildred ganz richtig sagt, hat es einen Fall namens ›Burnout‹ gegeben, aber wir suchen an der falschen Stelle. Der Fall kann unmöglich abgeschlossen sein, sonst hätten wir ihn in den Papierarchiven, im Computer oder sogar in den Enzyklopädien gefunden. Dagegen haben wir im Computer und im Einäscherungsarchiv auch keinen offenen Fall unter diesem Namen gefunden. Und da kein Zweifel an Paul Greys Pflichtbewusstsein besteht, bleibt also nur eine Schlussfolgerung: Paul Grey hat zwar an einem Fall gearbeitet – aber nicht an einem, der ihm zugeteilt worden war. Er ist auf irgendetwas gestoßen und hat daraus selbst einen Fall gemacht. Offensichtlich hielt er es für wichtig, in diesem Zusammenhang Ermittlungen anzustellen. Das würde dann auch die Lücke von zwei Wochen vor seinem Tod erklären, in der er offiziell keinen Aschenfall übernommen hat.«

Doktor Masters pfiff anerkennend: »Wow, Junge, das macht Sinn.«

Nigel O’Brian schnaubte: »Das mag Sinn machen, aber diese Erkenntnis macht alles noch viel schlimmer. Wo sollen wir denn ansetzen, wenn es keinerlei Unterlagen gibt?«

Frank wollte ihm schon antworten, dass sie alle nicht hier sein müssten, wenn er sich nicht eingemischt hätte, er wurde aber von Sergeant Milton unterbrochen: »Ganz einfach, wir müssen rekonstruieren, wie Paul Grey zu diesem Fall kam.«

Sergeant Miltons letzter Satz löste ein Gruppenstöhnen aus.

»Du lieber Himmel, Sergeant, wie stellen Sie sich das vor?« Frank klang genervt.

Es war Mildred, die für den Sergeant einsprang: »Aber der Sergeant hat recht, man muss rückwärts denken. Wo hätte mein Vater auf einen weiteren Fall stoßen können?«

Sie blickte den Sergeant an, und beide hatten die Lösung vor Augen: »In einem anderen Aschenfall!«, riefen Mildred und Sergeant Milton, und sie schenkten sich gegenseitig ein wissendes Lächeln.

»Halloho! Das Trio der Unwissenden würde gerne eingeweiht werden!«, meldete Frank Wall sich zu Wort.

Der Sergeant strahlte noch immer: »Sheriff, das Naheliegendste ist doch, dass Paul Grey durch Zufall auf Material gestoßen ist, das ihn veranlasste, Untersuchungen in einem neuen Fall durchzuführen.«

Dieses Mal waren sich sogar Nigel und Frank einig, was sich in einem gemeinsamen Ächzen widerspiegelte.

»Sergeant, reißen Sie sich zusammen, wie sollte uns diese Erkenntnis weiterhelfen?« Frank war ungehalten, weil er sich so hilflos fühlte.

Der Sergeant fuhr überzeugt fort: »Ja, der Zufall! Sehen Sie, Sheriff, es gibt doch nur eine Möglichkeit, in welcher Form der Zufall zugeschlagen haben kann: Paul Grey ist auf diese ›Burnout-Sache‹ gestoßen, als er einen offiziellen Aschenfall bearbeitet hat.«

Wieder pfiff Doktor Masters anerkennend.

»Herrgott, Doktor Masters, hören Sie endlich mit diesem Gepfeife auf, ich komme mir schon vor, als würde ich in einer Vogelvoliere stehen!« Frank war gereizt, er musste sich konzentrieren.

»Aber Paul Grey hat im letzten halben Jahr nur einen Fall bearbeitet«, sagte Nigel O’Brian, er klang jedoch nicht mehr ganz so pessimistisch wie am Anfang. »Was schlagen Sie also vor, Sergeant?«

Jetzt war der Sergeant schon ein kleines bisschen stolz auf sich, als er antwortete: »Wir sollten als Erstes den letzten Fall von Paul Grey gründlich studieren. Dann sehen wir weiter.«

Sergeant Milton blickte erneut auf den Bildschirm und las den Fallnamen laut vor: »Der Bäcker − ws«, sagte der Sergeant, »was für ein eigenartiger Fallname, das deutet auf mehrere Eingeäscherte hin.«

Hier war Sergeant Milton in seinem Element. Für diese Art von Arbeit war er ausgebildet worden. Deshalb fiel ihm sofort auf, dass der Fall nicht nur eine Person betreffen konnte, denn dann wäre lediglich ein Familienname angegeben worden. Dazu gegebenenfalls noch ein Vorname oder eine Nummer, um bei gleichlautendem Namen unterscheiden zu können. Hinter dem Namen gab es dann noch ein Kürzel, hier »ws«, für Wache Süd.

Sergeant Miltons Kommentar ließ die anderen aufhorchen.

Nigel war der Erste, der nachfragte: »Haben Sie eine Idee?« Seine Stimme war voller Hoffnung.

Der Sergeant war sich nicht sicher, ob er darauf etwas sagen sollte, er wollte nicht unnötig falsche Erwartungen wecken. Schweigen half allerdings auch nicht, deshalb räusperte er sich und antwortete: »Das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber ...«

Er sah hilfesuchend zu Frank Wall, der jedoch, wie es schien, gerade dabei war, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Deshalb entschloss sich der Sergeant fortzufahren: »Bei komplexen Fällen mit mehreren Eingeäscherten haben uns die Erfahrungen der letzten 260 Jahre gezeigt, dass sich meist weitere Aschenfälle anschließen.«

Mildred wusste sofort, auf was er hinauswollte, sie arbeitete schließlich schon lange genug für Frank Wall. Der Doktor und Nigel sahen jedoch noch etwas verwirrt drein.

Der Sergeant erklärte weiter: »Wenn man an einem größeren Fall arbeitet, erhält man meist Hinweise auf andere Fälle. Das liegt in der Natur der Sache. Menschen umgeben sich gerne mit ihresgleichen. So sucht das Gute das Gute und das Schlechte das Schlechte. Nimmt man zum Beispiel einen Aschenfall wie ›beihon‹, so können Sie davon ausgehen, dass Sie bei der Untersuchung auf dutzende Verbindungen zu anderen Aschenfällen stoßen. Mister O’Brian, wären Sie so gut, die letzte Fallakte von Paul Grey zu öffnen?«

Nigel tat, um was er gebeten wurde. Wieder hielten alle den Atem an, fast so, als wollte man dem gebrechlichen Computer-Kollegen auf dem Tisch vor ihnen allen vorhanden Sauerstoff überlassen, damit dieser besser in der Lage wäre, seine Aufgabe zu erfüllen. Die Gruppe atmete gemeinsam scharf aus, als sie das Ergebnis auf dem Monitor sahen. Sie beugten sich weiter vor Richtung Bildschirm, sodass Nigel O’Brian viele schwere Körper auf sich spürte und zu allem Übel noch eine unangenehme Knoblauchnote wahrnahm.

»Leer!« Es war Doktor Masters, der als Erster sprach: »Sie ist leer!«

 

Es war ein schweigsamer Ritt, den Frank Wall zusammen mit Mildred und Nigel O’Brian zurücklegte. Die drei hatten sich Richtung Spielwelt aufgemacht. Nach der Enttäuschung im Computerraum waren die Aufgaben neu verteilt worden. Das war sehr einvernehmlich geschehen. Zu groß war die Resignation gewesen, zu groß, um zu streiten. Sergeant Milton blieb mit Doktor Masters in der Wache Süd, die beiden wollten Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mehr über den Aschenfall »Der Bäcker« herauszufinden. In der Zwischenzeit wollte Frank Wall selbst mit Misses Wong sprechen. Da Mildred mit Misses Wong gut bekannt war, sollte sie als moralische Stütze mitkommen. Der Sheriff wollte Nigel O’Brian ungern aus den Augen lassen, deshalb sollte auch er mit in die Spielwelt.

Mildred war eine exzellente Reiterin, und die beiden Männer konnten nur mühsam mithalten. Nigel O’Brian, der jeden Knochen spürte, dachte gerade: »Bei dem Tempo werden wir wahrscheinlich gleich einen Zeitsprung machen«, als sie auch schon die Tore der Spielwelt vor sich sahen. Es war kurz nach Mittag, sodass die Spielwelt fast einer Geisterstadt glich. Als sie endlich am abseits gelegenen Haus von Peter und Sebastian ankamen, waren zumindest die beiden Männer froh, von ihren Pferden absteigen zu können.

Sebastian öffnete ihnen die Tür, und ein freundliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Da er den Sheriff und Nigel kannte, wurde ihm nur Mildred vorgestellt. Dann gingen sie gemeinsam in das große Wohnzimmer, in dem sie auf Misses Wong und Katie trafen. Während Misses Wong ihre Freude über Nigel O’Brians Anblick nicht verbergen konnte, sah man Katie die Enttäuschung über das Fehlen ihres Mannes an. Frank Wall fühlte sich deswegen unbehaglich. Sie hatten die Aufgaben sinnvoll aufgeteilt. Der Sergeant war damit einverstanden gewesen. Die Aufklärung des Falles hatte für ihn momentan oberste Priorität. Nur so konnte er seine Frau auf Dauer schützen.

Frank Wall ging auf Katie zu und ergriff ihre Hände: »Misses Milton, es tut mir aufrichtig leid, dass ihr Mann nicht kommen konnte, aber er muss sich um dringende Angelegenheiten bezüglich dieser ganzen Geschichte kümmern. Je schneller wir das hier alles abgeschlossen haben, desto schneller können Sie in Ihr Zuhause zurück und alles geht wieder seinen gewohnten Gang.«

Katie zog zornig ihre Hände zurück. In ihren Augen standen Tränen, und ihre Stimme war von Wut erfüllt: »Sie haben gut reden, nichts wird wieder seinen gewohnten Gang gehen. Sagen Sie mir nicht solche Dinge.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand nach oben.

Frank seufzte. Er war wirklich nie ein besonders guter Redner gewesen, aber er hätte unmöglich vorhersehen können, dass die Worte, die er an Katie gerichtet hatte, diese Reaktion bei ihr auslösen würden. Andererseits kannte er sich nicht mit schwangeren Frauen aus.

Sebastian entspannte die Situation, indem er allen Getränke brachte und sie dazu aufforderte, Platz zu nehmen. Mildred setzte sich zu Misses Wong, die sofort die letzten Ereignisse wiedergab. Nigel nutzte die Gelegenheit, aus Misses Wongs Einzugsbereich zu entkommen und schlenderte mit dem Glas in der Hand in den hinteren Teil des Hauses. Über eine Hintertür kam er in einen kleinen Garten, in dem das Thema »Wildwuchs« kultiviert wurde. Das gefiel ihm. Dieses kleine Stückchen wilde Natur erinnerte ihn an sein Zuhause.

Lässig zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Das Rauchen galt heutzutage als Spleen der Überlebenden. Neugeborene rauchten selten, dafür waren sie zu gut über die Folgen aufgeklärt. Die meisten von ihnen empfanden das Rauchen als eine Art selbstzugeführte Vergiftung. So ähnlich, als würde man bewusst giftige Pilze essen. Trotzdem wurde es akzeptiert. Das war ein Gebot der Toleranz, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Keine Stigmatisierung auf der einen Seite, keine Belästigung auf der anderen. Nigel hatte trotzdem immer wieder den Wunsch, damit aufzuhören. Er würde es erneut versuchen, wenn Anne erst einmal wieder in Freiheit wäre.

Während er sich mit seinen guten Vorsätzen für die Zeit nach Abschluss des Falles beschäftigte, hörte er hinter sich Schritte. Als er sich umdrehte, sah er in die lebhaften Augen von Sebastian. Er mochte ihn und seinen Partner Peter. Die beiden waren ihm schon bei seinem ersten Besuch sympathisch gewesen. Außerdem waren es gute Freunde von Anne.

Sebastian kam gleich zur Sache: »Hören Sie, Mister O’Brian ...«

Nigel unterbrach ihn: »Nigel!«

Sebastian lächelte freundlich und nickte, dann fuhr er fort: »Nigel! Sie sollten wissen, dass Peter und ich helfen werden, wann immer es nötig sein wird. Sie wissen, wo Sie uns finden.«

Nigel betrachtete den alten Mann. Man merkte, dass ihm das Alter zu schaffen machte, er stand ein wenig krumm, um seine müden Knochen zu entlasten. Aber sein Gesicht mit den vielen Lachfalten strahlte so eine Lebendigkeit aus, dass Nigel keine Sekunde daran zweifelte, dass Sebastian jederzeit zu allem bereit wäre. Deshalb klopfte er ihm auf die Schulter und nickte dankbar. Nigel war sich im Klaren darüber, dass er vielleicht schneller auf dieses Angebot zurückkommen musste, als ihm lieb war. Aber so, wie sich der ganze Fall mittlerweile entwickelt hatte, konnte man ungewöhnliche Maßnahmen nicht mehr ausschließen.

Sebastian wandte sich zum Gehen: »Wir richten gerade eine Kleinigkeit zu essen, ich hoffe, Sie haben ein bisschen Appetit.«

Nigel merkte erst jetzt, dass ihm der Magen knurrte und antwortete ohne große Umschweife: »Ich bin am Verhungern.«

Sebastian lachte und verschwand im Haus.

 

Sebastian stand in der Küche und dachte daran, wie Katie kurze Zeit nach ihrem Gefühlsausbruch wieder im Aufenthaltsraum erschienen war und freundlich in die Runde geblickt hatte.

Sie hatte ein verlegenes Gesicht gemacht, und Frank Wall war ihr zur Hilfe gekommen, indem er gesagt hatte: »Es tut mir leid, Misses Milton, ich wollte Sie nicht beleidigen oder verletzen.«

Katie hatte, dankbar für seine Bemerkung, abgewunken: »Ich bin zur Zeit etwas überreizt.«

Dann hatte sie sich unbewusst über ihren Bauch gestrichen.

»Aber Kindchen, das ist doch ganz normal!« Misses Wong hatte das Gespräch an sich gerissen: »In deinem Zustand ist diese ganze Aufregung Gift.« Dann hatte sie den Sheriff mit einem vorwurfsvollen Blick bedacht.

Katie hatte gelächelt und sich an den Sheriff gewandt: »Es würde mich sehr freuen, wenn Sie und Ihre Begleiter zum Essen bleiben würden.«

Der Sheriff hatte nicht anders gekonnt, als ihr zuzustimmen. Er hatte auf keinen Fall ein weiteres Mal die Gefühle von Sergeant Miltons Frau verletzen wollen.

Sebastian hatte sich zwar ein wenig über Katies Einladung gewundert, eigentlich war sie ja Gast in seinem Haus, andererseits hatte er sich über Besuch gefreut. Da er ein leidenschaftlicher Koch war – schließlich war er bis vor wenigen Jahren noch der Star des »Badezimmers« gewesen – genoss er es, wieder einmal andere mit seinen Kochkünsten zu verwöhnen. Im »Badezimmer« stand er nur noch selten in der Küche. Das machte sein Rücken nicht mehr mit. Aber er hatte die jungen Köche gut ausgebildet, sodass das Restaurant auch heute noch erstklassig war.

Er warf einen Blick auf Katie, die darauf bestanden hatte, den Vorspeisensalat zu richten. Vergnügt schnitt sie die Wildkräuter und Blüten klein, die sie gerade eben extra am Hang neben dem Haus gesammelt hatte. Sebastian war froh, dass sie langsam aufblühte. Jetzt sah sie zu ihm herüber und zwinkerte ihm schelmisch zu. Sebastian hoffte sehr, dass sie genauso glücklich werden würde, wie er es mit Peter war.

Als dann alle am Tisch saßen, servierte Katie den ersten Gang. Frank Wall hasste Salat. Dabei spielte es keine Rolle, welche Sorte er vorgesetzt bekam, Salat war einfach nichts für ihn. Nachdem Sebastian jedoch betont hatte, dass der Salat Katies Werk war, konnte er nicht anders, als den Inhalt des Tellers, den sie vor ihn gestellt hatte, aufzuessen. Alle lobten Katies Kreation in den höchsten Tönen.

Frank fragte sich, ob das nur Höflichkeit war oder ob allen der Geschmacksinn abhanden gekommen war. Für ihn schmeckte der Salat, als würde er auf einem Stück Rollrasen herumkauen. Er konnte gar nicht so viel trinken, wie nötig gewesen wäre, um die Blumenwiese seine Speiseröhre hinunterrutschen zu lassen. Danach – endlich – gab es die Hauptspeise. Sebastian hatte sich selbst übertroffen. Er war wirklich ein begnadeter Koch. Alle langten kräftig zu, Frank genoss jeden Bissen. Selbst Mildred füllte sich zwei Mal ihren Teller.

Aber keiner konnte solche Portionen essen wie Nigel O’Brian. Frank Wall hätte gerne mit im gleichgezogen, aber er spürte bereits, wie sein Magen streikte. Sebastian strahlte über das ganze Gesicht. Für ihn gab es nichts Schöneres als gute Esser. Misses Wong hatte sich den Platz neben Nigel gesichert und war ständig bemüht, ihm nachzulegen, wobei sie unaufhörlich darauf hinwies, dass richtige Männer viel essen müssten. Offensichtlich schien Nigel das nicht zu stören, und Frank malte sich mit einem Grinsen aus, welchen Kommentar er für diese Szene von Anne geerntet hätte.

Dann packte ihn wieder das schlechte Gewissen. Sie sollten hier nicht gemütlich herumsitzen und sich die Bäuche füllen, während Anne als Hauptverdächtige in einer Zelle saß.

Misses Wong war keine große Hilfe gewesen. Sie hatte alles wieder und wieder erzählt, ohne irgendwelche Neuigkeiten. Deshalb verabschiedeten sich die drei auch gleich nach dem fantastischen Schokoladensoufflee, von dem Nigel drei Stücke verdrückte. Die Verabschiedung war herzlich, und Sebastian und Nigel umarmten sich wie zwei alte Freunde.

 

Anne war unruhig. Seit heute Morgen hatte sie nichts mehr von der Außenwelt erfahren. Ihr einziger Besucher war der Sergeant gewesen, der Posten am Zugang zum Zellentrakt bezogen hatte. Und er war nur gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. Endlich wurde der arme Kerl abgelöst. Seinen Ersatzmann hatte Anne noch nicht zu Gesicht bekommen. Weit entfernt konnte sie Schritte vernehmen. Hoffentlich würde sich endlich einmal jemand bequemen, sie zu besuchen.

Anne hasste es, so abgeschnitten zu sein. Überrascht musterte sie ihren Besucher. Mit ihm hatte sie hier unten am wenigsten gerechnet.

Nicht ohne Spott sagte sie: »Richter Voyou, Sie kommen aber herum!«, worauf der Richter mit einem: »Was man nicht alles für die Kundschaft tut!« konterte.

Sie lächelten beide entspannt. Unter anderen Umständen wäre dies sicher der Beginn einer soliden Freundschaft gewesen. Der Richter räusperte sich und sah Anne an.

»Misses Reeve, ich wollte noch einmal mit Ihnen über den Umschlag sprechen.«

Anne kam gleich zur Sache: »Hat der Große Rat Ihrem Vorschlag zugstimmt?«

Der Richter zögerte: »Nein, ich habe noch keine Rückmeldung.«

Anne legte den Kopf schief: »Was tun Sie dann hier unten? Natürlich freue ich mich über ein hübsches Gesicht, aber Ihnen müsste klar sein, dass ich Ihnen erst dann etwas sagen werde, wenn der Große Rat zugestimmt hat, Ihnen die Entscheidung über mein Schicksal zu überlassen. Also warum sind Sie hier?«

Das männliche Gesicht des Richters sah gequält aus, als er antwortete. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich das erklären soll. Ich bin hier, um zu helfen, das müssen Sie mir glauben. Ich bin nicht Ihr Feind, und ich lasse mich nicht gerne von anderen beeinflussen.«

Wie aus der Pistole geschossen, rief Anne: »Wer beeinflusst Sie?«

Der Richter winkte ab: »Das tut jetzt nichts zur Sache. Ich denke aber, ich kann helfen, auch wenn der Große Rat noch keine Entscheidung getroffen hat.«

Anne trat näher an das Gitter heran und sah jetzt in das markante Gesicht ihres Gegenübers: »Wie?«

Der Richter kam ebenfalls ein Stück näher: »Sagen Sie mir, was es mit dem Umschlag auf sich hat, und ich werde mich für Sie einsetzen. Ich muss wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann. Das weiß ich aber erst, wenn ich etwas über den Umschlag erfahre. Geben Sie mir die Chance, diese Sache zu beenden. Auch wenn ich kein Überlebender bin, so habe ich doch eine gute Vorstellung davon, wie die Welt ohne die Einäscherungen wäre. Ich will verhindern, dass es so weit kommt. Ich habe viel über Sie gelesen, ich habe sogar einmal einen Vortrag von Ihnen an meiner Akademie gehört. Ich will helfen.«

Anne dachte angestrengt nach. Sie hatte keine Ahnung, ob sie den Worten des Richters Glauben schenken konnte. Wollte er wirklich nur die Welt retten, oder hatte er eigene Ziele?

»Sie lehnen sich aber ziemlich weit aus dem Fenster. Wenn Sie gegen die Regeln verstoßen, droht Ihnen vielleicht die Einäscherung, oder schlimmer, die Ungnade des Großen Rates.« Anne sagte die letzten Worte nicht ohne ironischen Unterton.

Der Richter ließ sich darauf ein und zitierte: »Es gibt Menschen, die eine Einbahnstraße überqueren und dabei nur in die Richtung sehen, aus der es den Fahrzeugen erlaubt ist, die Straße zu befahren. Und dann gibt es die, die in beide Richtungen schauen, weil sie Angst haben, jemand könnte das Schild nicht gesehen haben und deshalb mit seinem Gefährt aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Sie sehen also, es gibt immer Momente im Leben, da muss man sich überlegen, wie viel Sicherheit man braucht, um von A nach B zu gelangen.«

Anne grinste: »Wer das gesagt hat, ist ein Trottel!«

Voyou grinste zurück. »Ich halte Sie für vieles, Misses Reeve, aber der Begriff des Trottels ist nicht darunter. Ich erinnere mich noch genau an Ihre Vorlesung und diesen Vergleich. Und ich bin bisher immer gut damit gefahren, mir dann und wann die Frage zu stellen, wie ich die Einbahnstraße überqueren will. Heute ist ein Tag, an dem ich zu den Menschen gehöre, die nur in eine Richtung blicken, deshalb biete ich Ihnen erneut meine Hilfe an. Sagen Sie mir, was in dem Umschlag war. Und wenn ihre Antwort es meinem Gewissen erlaubt, werde ich Ihnen helfen, hier herauszukommen!« Dann setzte er nach: »Einen Falschfahrer nehme ich dafür in Kauf.«

 

Sergeant Milton hatte ein schlechtes Gewissen. Er hätte mit dem Sheriff in die Spielwelt zu Katie reiten sollen. Stattdessen hatte er andere Aufgaben übernommen. Natürlich hatte er das Bedürfnis gehabt, Katie zu sehen, aber gleichzeitig wollte er diesen Fall lösen. Er hatte gespürt, wie das Jagdfieber von ihm Besitz ergriffen hatte. Sein erster Weg nach der Besprechung im Computerraum hatte ihn daher in das Wissensarchiv geführt. Dort standen die aktuellen Aschentagebücher, also die Enzyklopädien. Als er dort aber keinen Eintrag zum Fall »Der Bäcker« gefunden hatte, war seine Hoffnung gleich Null, noch etwas im Papierarchiv zu finden. Trotzdem hatte er sich mit Doktor Masters auf den Weg gemacht. Da sie dabei auch bei den Forschungsmannschaften vorbeigekommen waren, hatte der Sergeant die Gelegenheit genutzt, dort nachzufragen, ob in deren Aufzeichnungen noch etwas über den Fall »Der Bäcker« zu finden sei.

Eine grauhaarige ältere Dame hatte bereitwillig alle Unterlagen durchforstet, um ihnen dann mit betrübter Mine mitzuteilen, dass sie ihnen nicht weiterhelfen könne. Das lag natürlich auch in der Natur der Sache. Die Forschungsmannschaften benutzten lediglich die Ergebnisse der Ermittlungen für ihre Auswertungen. Die Identität der Eingeäscherten oder Fallnamen spielten dabei keine Rolle. Sie interessierten sich nur für deren Taten und die damit verbundenen Folgen. Deshalb hatte Sergeant Milton dann auch, wie zu erwarten, auf seine Frage nach dem Fall »Burnout« keine positive Antwort erhalten. Natürlich war diese Anfrage eine reine Verzweiflungstat des Sergeants gewesen. Als sie dann wieder auf dem Gang gewesen waren, war der Sergeant beinahe Richtung Papierarchiv gerannt, und Doktor Masters hatte ihm fast nicht folgen können.

Der Doktor war außer Atem gewesen und ließ sich geräuschvoll auf einen der wackeligen Stühle im Archiv fallen. Das alte Möbelstück hatte empört unter der schweren Last geächzt. Der Sergeant war in den hinteren Reihen des Archivs verschwunden, um nach der Akte zu suchen. Es hatte keine zwei Minuten gedauert, und er hatte sie auf dem dafür vorgesehenen Platz gefunden. Jetzt hielt er sie tatsächlich in den Händen. In sauberer Handschrift stand »Der Bäcker« darauf.

Als der Sergeant den Aktendeckel aufklappte, fluchte er so laut, dass Doktor Masters, der mittlerweile eingenickt war, erschreckt aufsprang. Dieses Mal quittierte der Stuhl das mit einem quietschenden Geräusch, aus dem man fast hätte Erleichterung heraushören können. Die Akte war, genauso wie die Computerakte, leer. Anschließend durchsuchten sie gemeinsam alle Akten daneben, in der Hoffnung, der Inhalt wäre versehentlich woanders abgelegt worden, aber sie hatten kein Glück.

Der Sergeant saß auf dem Boden und fühlte sich elend. Er dachte an Katie, an das Baby und die ungelösten Morde. Der Doktor fühlte sich ebenfalls schlecht. Er hätte gerne mehr zur Klärung beigetragen, aber das war einfach nicht sein Gebiet. Er sah den armen Sergeant an, der wie ein Häufchen Elend da unten auf dem Boden saß. Wenn er dem Jungen doch nur helfen könnte. Anne hätte sicher eine Idee.

Dann schlug sich der Doktor mit der flachen Hand auf die eigene Stirn und rief: »Natürlich, da hätte ich auch gleich drauf kommen können.«

Der Sergeant sah ihn erwartungsvoll an. Wie immer teilte der Doktor nur nach Aufforderung die zweite Hälfte seiner Gedanken mit der restlichen Welt.

Endlich fuhr er fort: »Na, Anne müsste doch etwas über den Fall wissen.«

Der Sergeant ärgerte sich darüber, dass er nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen war, trotzdem blieb er skeptisch: »Nach der langen Zeit? Der Sheriff konnte sich nicht mehr an den Fall erinnern.«

Der Doktor sah den Sergeant fast mitleidig an: »Der Sheriff ist ein Mann, der sich so etwas nicht merkt. Warten Sie mal ab, wie das wird, wenn Sie noch etwas länger verheiratet sind. Frauen haben ein ganz anderes Gedächtnis, das werden Sie noch zu spüren bekommen. Die sind manchmal wie Schwämme und saugen alles auf. Man denkt, Dinge sind vergeben und vergessen, aber dann, vollkommen unerwartet, pressen sie den Schwamm aus und zack, wird eine alte Geschichte hochgekocht, an die man sich selbst gar nicht mehr erinnern kann.«

Sergeant Milton musste schmunzeln. Er hatte nach Doktor Masters kurzem Ausflug in dessen Eheleben ein paar sehr amüsante Bilder vor Augen. Er kämpfte gegen den Impuls an, laut zu lachen und fragte stattdessen: »Sie meinen, der Chief-Sergeant erinnert sich noch an den Fall?«

Doktor Masters streichelte wieder einmal seinen dicken Bauch und seufzte: »Mit Sicherheit! Paul Grey war ihr Partner. ›Der Bäcker‹ sein letzter Fall. Sie haben sich ein Büro geteilt. Er hat ihr sicher von dem Fall erzählt. Und sie wird diese Erinnerung schon aus sentimentalen Gründen in ihrem ›Schwamm‹ bewahren.«

Der Sergeant fand das Argument durchaus schlüssig, hatte aber noch einen anderen Gedanken: »Aber warum hat sie dann nicht gemerkt, dass die Akten leer sind? Und warum hat keiner gemerkt, dass dieser Fall nie in die Enzyklopädien kam?«

Für den Doktor schien es da keine Erklärungsnöte zu geben. »Wir wissen doch gar nicht, wann die Akten geleert wurden, es wäre vielleicht wichtig, das herauszufinden. Und außerdem: Warum hätte sie den Fall nachlesen sollen? Der war doch schon zwei Wochen vor seinem Tod abgeschlossen gewesen. Was die Enzyklopädien angeht, wenn der Fall nicht zur Veröffentlichung weitergegeben wurde, wie sollte er dann in die Enzyklopädien kommen?«

Der Sergeant dachte laut: »Aber dann muss schon vor achtundvierzig Jahren jemand verhindert haben, dass der Fall in die Enzyklopädien kommt!«

Der Doktor wirkte angestrengt: »Offensichtlich, aber wer hätte das schon bemerkt? Die Veröffentlichungen erfolgen schließlich nicht unmittelbar nach Fallabschluss.« Jetzt machten sich die vielen Stunden bezahlt, die Doktor Masters in den letzten Jahren mit dem Studium der Aschenfälle verbracht hatte. Er wusste über die Abläufe Bescheid. Er führte seine Erklärungen weiter aus: »Sie wissen doch selbst, dass manchmal zwei Jahre und mehr vergehen können, bis die neuen Versionen der Enzyklopädien bereitstehen.«

»Stimmt!«, gab ihm der Sergeant Recht.

»Und noch etwas«, sagte Doktor Masters, »selbst wenn irgendjemand bemerkt hätte, dass der Fall in den Enzyklopädien fehlt, was hätte das denn für Folgen gehabt?«

Der Sergeant stimmte dem Doktor erneut zu. Er wusste selbst, dass man dies dann für ein Versehen gehalten hätte. Bei der Menge an Daten und Fällen hätte sich niemand darüber gewundert. Eines war zumindest sicher: Alarm wäre deswegen nicht ausgelöst worden. Denn niemand wäre auf die Idee gekommen, dass das Exemplar für die Druckereien absichtlich entwendet worden wäre. Der Doktor hatte recht, er musste mit Anne sprechen. Laut fügte er hinzu: »Wir sollten versuchen festzustellen, wann die Computerakte gelöscht wurde. Vielleicht hilft uns das weiter.«

 

Als Richter Voyou sich nach dem Gespräch mit Anne auf den Rückweg machte, hörte er zwar vor dem Zellentrakt laute Stimmen, schenkte ihnen aber zunächst keine Beachtung. Zu sehr war er noch in Gedanken versunken. Erfreulicherweise hatte ihm Anne Reeve den Inhalt des Umschlages mitgeteilt. Ebenso ihre Schlussfolgerungen. Dave Lorden war also auf einen Hinweis von Paul Grey gestoßen, der eigentlich für Anne bestimmt gewesen war. Aber er hatte daraus die falschen Schlussfolgerungen gezogen und Anne bezüglich Paul Greys Tod verdächtigt. Dann wurde er ermordet. Richter Voyou glaubte nicht, dass Anne Reeve die Täterin war.

Schließlich hatte sie ihm plausibel erklären können, wie Dave Lorden zu seiner Fehleinschätzung gekommen war. Allerdings hatte sie sehr ausweichend geantwortet, als er sie nach dem Umschlag selbst und dessen Vernichtung gefragt hatte. Offen blieb weiterhin, wo der Originalhinweis oder die Originalbotschaft von Paul Grey war. Der Richter hatte Anne aus gutem Grund nicht danach gefragt, wer sonst noch von dem Inhalt des Umschlages wusste. Er ging sowieso davon aus, dass zumindest Frank Wall und Sergeant Milton informiert waren. Ihm war außerdem klar, dass die beiden nach wie vor in dieser Angelegenheit ermittelten. Aber da er darüber nicht offiziell informiert war, musste er dem Großen Rat gegenüber keine Rechenschaft ablegen. Außerdem wollte er Anne nicht in die Situation bringen, lügen zu müssen. Wer wusste schon, was dann passieren würde? Immerhin stand sie auch in ihrer Zelle unter Eid.

Ihm war es wichtig, dass die Morde schnell aufgeklärt würden. Er war ein Idealist. Das war er immer schon gewesen, und das würde er immer sein. Deshalb hatte er die alten Rechtssysteme studiert, und deshalb widmete er seine ganze Zeit der Suche nach mehr Gerechtigkeit. Die Welt durfte sich nicht ändern. Sie hatten ein fast perfektes System, und er wollte nicht, dass Zustände wie in der Traurigen Zeit herrschen würden.

Den Vorsitz bei Anne Reeves Anhörung zu übernehmen, hatte eine große Verantwortung mit sich gebracht. Aber er war fast versucht, an Schicksal zu glauben, denn wie anders war es möglich gewesen, dass gerade er nun hier war? Er würde helfen und für Gerechtigkeit sorgen, und er würde dafür Risiken eingehen. Immer klarer wurde sein Blick für die Dinge, die bereits passiert waren und gerade passierten. Er musste an verschiedene Gespräche denken, die mit ihm geführt worden waren. Er dachte an seinen ersten Morgen in der Gemeinschaft, die erste Anhörung und an das eben geführte Gespräch mit Anne Reeve. Er dachte an die Akten zu dem Fall Anne Reeve.

Er dachte an die Notiz darin bezüglich der Aussage eines Nigel O’Brian, der ausdrücklich Frank Wall beschuldigt hatte, den Umschlag unterschlagen zu haben. Dieser O’Brian hatte nie Anne Reeve beschuldigt. Der Richter strich sich über seinen geschorenen Kopf. Was trieben die da nur? Als er den Ausgang erreichte, sah er einen ziemlich verunsicherten Sergeant und einen wütenden zweiten Mann. Offensichtlich gab es einen Disput. Der Richter trat näher heran und räusperte sich. Der fremde Mann drehte sich um, und der Richter konnte in ein rebellisches Augenpaar sehen. Richter Voyou war einen Moment lang fasziniert von der Entschlusskraft, die er auf dem Gesicht seines Gegenübers wahrnahm. Er hatte schon immer Freude an Menschen mit starkem Charakter gehabt, sie brachten die Würze in das soziale Leben. Er fühlte sich durch sie bereichert. Daher war er gespannt, wie der Fremde auf seine flapsige Anrede reagieren würde: »Junger Mann, was kann ich für Sie tun?«

Zur Überraschung des Richters bildete sich unter den rebellischen Augen ein Grinsen ab und die Antwort kam prompt: »Ich denke, Sie haben Jugend mit Schönheit verwechselt. Und Sie, mein alter Freund, sind ...?«

Voyou lachte schallend: »Schon gut, Lektion verstanden. Ich bin Richter Voyou, und ich würde gerne wissen, was Ihnen der arme Sergeant hier getan hat?«

Der »arme« Sergeant war mehr als erleichtert, dass sich der Richter um den Schreihals kümmerte. In solchen Situationen fühlten sich die meisten Sergeants überfordert. Sie hatten selten mit Aggressivität zu tun, genauso wenig wie mit körperlicher Gewalt. Auch das war etwas, was ihnen vor allem im Zusammenhang mit der Traurigen Zeit bekannt war. Höflichkeit ging den Menschen in der Neuen Welt über alles. »Abweichler« gab es selten, und wenn doch, dann waren es leider meistens Überlebende.

Das Grinsen verschwand aus dem Gesicht des Fremden, und er kniff seine Augen zusammen, als er scharf antwortete: »Mein Name ist Nigel O’Brian, und ich will zu Anne, zu Anne Reeve!«

Der Richter machte große Augen. Das war ja interessant: »Sieh an, vermutlich hat Ihnen der Sergeant hier bereits mitgeteilt, dass der Große Rat momentan ein Besuchsverbot ausgesprochen hat. Wir sollten uns vielleicht kurz unterhalten.«

Damit legte der Richter eine Hand auf Nigels Arm und schob ihn weiter den Gang entlang: »Lassen Sie uns nach draußen gehen, ich brauche ein bisschen frische Luft!«

Der Richter wartete keine Antwort ab, sondern lief auf die nächste Tür zu, die ins Freie führte. Vor der Wache Süd gab es lauter grüne Flächen, und man fand mühelos einen Flecken, an dem man ungestört sprechen konnte. Nigel folgte dem Richter ohne Widerworte. Der Mann war ihm auf Anhieb sympathisch, und er würde sich schon alleine Anne zuliebe anhören, was er zu sagen hatte.

Als der Richter einen Platz fand, an dem er sich unbeobachtet fühlte, drehte er sich zu Nigel um: »Mister O’Brian, könnten Sie mir bitte sagen, was Sie hier treiben? Und ich meine Sie alle … Erst sorgen Sie dafür, dass Anne Reeve im Gefängnis landet, dann wollen Sie sie besuchen?«

Nigel wollte etwas einwenden, aber Voyou war schneller: »Ich weiß schon, Sie wollten, dass Frank Wall im Gefängnis landet. Und kommen Sie mir jetzt nicht mit diesem anonymen Hinweis. Also, was bedeutet das alles?«

Nigel war rot angelaufen. So, wie es der Richter zusammenfasste, hörte sich das, was er getan hatte, noch übler an, als er es sowieso schon empfand. Er kaute auf seiner Unterlippe, dann antwortete er: »Anne und ich, wir sind ...«

Bevor er seine Beziehung zu Anne in Worte fassen konnte, hatte Voyou schon begriffen und stöhnte: »Oh je! Das passt ja! Und dann bringen Sie sie ins Gefängnis?«

Wieder wollte Nigel Einspruch erheben, und wieder fiel ihm der Richter ins Wort: »Hat Sie Ihnen das schon verziehen?«

Nigel nickte und ärgerte sich darüber, dass er dastand wie ein Schuljunge, der gerade zurechtgewiesen wurde.

Der Richter hörte aber nicht auf: »Was sollte das mit Ihrer Aussage gegen Frank Wall?«

Erneut stöhnte der Richter. »Also, wenn es das war, was ich denke ...«.

Voyou konnte an Nigels Gesicht ablesen, dass er richtig lag und vollendete den Satz mit: »Ganz ehrlich, wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich behaupten, dass sich hier drei Überlebende, die zusammen tausend Jahre alt sind, aufführen wie Kinder!«

Die Standpauke hatte gesessen. Nigel konnte nichts dagegen halten. Der Mann war wirklich zum Richter geboren. Es kam einem nicht in den Sinn, zu widersprechen. Wie alt mochte dieser Voyou sein? Höchstens dreißig. Dafür hatte er bereits eine unglaubliche Persönlichkeit. Nigel betrachtete den Mann genauer und wünschte sich, sie hätten in ihm einen Verbündeten.

Er wagte einen Vorstoß: »Richter, ich schwöre Ihnen, das war alles ein Missverständnis. Der Umschlag hätte Anne nicht belastet. Anne ist unschuldig, sie würde nie ...«

Der Richter hob die Hand: »Ich sehe schon, auch Sie sind über alles bestens informiert. Tun Sie mir einen Gefallen, und erzählen Sie mir nichts darüber, dann bin ich auch nicht verpflichtet, etwas dagegen zu unternehmen.«

Nigel begann wieder zu sprechen: »Hören Sie, Richter, Sie müssen uns helfen. Diese Geschichte wird immer verworrener, Anne darf nicht länger in der Zelle bleiben. Das ist Gift für sie. Außerdem brauchen wir sie als Ermittlerin.«

Der Richter sah in das Gesicht von Nigel O’Brian. Er sah die Schuldgefühle und dachte: »Tja, manchmal kommt das dabei heraus, wenn man nicht in beide Richtungen sieht.« Dann schob er den Gedanken beiseite. Er hatte sich ja bereits entschieden, die Straße schnell zu überqueren, jetzt folgten die Taten.

»Mister O’Brian, ich muss verschiedene Dinge klären. Der Große Rat hat bisher noch keine Entscheidung getroffen, aber ich werde mich für Misses Reeve einsetzen. Davon abgesehen würde ich Sie bitten, mir zu sagen, wo ich Sie erreichen kann. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich mich bei Ihnen melden werde, sowie ich Sie zu Misses Reeve lassen kann oder es sonstige Neuigkeiten gibt. Halten Sie sich bereit, mehr kann ich im Moment nicht für Sie tun.«

Nigel hatte vorübergehend bei Sergeant Milton Quartier bezogen, so war er schneller in der Wache und damit bei Anne. Er gab dem Richter die Adresse von Sergeant Miltons Haus.

Als der Richter sich verabschiedete, hielt ihn Nigel noch kurz zurück: »Richter, Sie lehnen sich weit aus dem Fenster ...«

Der Richter grinste und sagte: »Genau das Gleiche hat Misses Reeve auch gesagt.«

Aber Nigel blieb ernst: »Ich denke Sie sind ein guter Mann. Und gute Menschen sind hier im Moment in Gefahr. Deshalb: Seien Sie besonders vorsichtig, und wenn Sie Hilfe brauchen, dann wissen Sie, wo Sie mich finden.«

Voyou nickte stumm und ging nachdenklich zurück in sein Büro, während Nigel sich entschlossen hatte den Sheriff aufzusuchen, um mit ihm über Sicherheitsmaßnahmen für den Richter zu sprechen.

 

Als Nigel sich wieder in die Wache Süd begab und in Richtung des Büros des Sheriffs lief, traf er auf Sergeant Milton, Mildred und Doktor Masters.

»Ah! Gut, Sie hier zu treffen, Mister O’Brian, wir müssen noch mal in den Computerraum. Besser, wenn Sie sich an dem Gerät zu schaffen machen, bei mir würde das wahrscheinlich länger dauern.«

Der Sergeant hob den Schlüssel in die Höhe, den er bereits von Frank Wall geholt hatte. Er sah müde aus. Nigel brauchte nicht nach Neuigkeiten zu fragen, er sah den beiden an, dass sie nichts entdeckt hatten.

Der Doktor bestätigte diese Einschätzung: »Wir haben nur einen leeren Aktendeckel gefunden. Wie der Sheriff uns gerade gesagt hat, war auch ihr Ausflug erfolglos − bis auf ein fantastisches Essen.«

Der Doktor sagte das nicht, ohne einen beleidigten Seitenblick auf den Sergeant zu werfen, der es abgelehnt hatte, eine Mittagspause in der Kantine zu machen und stattdessen dem Doktor ein paar trockene Kekse aus seinem Büro in die Hand gedrückt hatte. Nigel entging das nicht, und er musste trotz der unerfreulichen Ereignisse des Tages lächeln. Nigel wunderte sich, dass der Sheriff die anderen nicht begleitete.

Als er diesbezüglich eine Bemerkung machte, sagte Mildred: »Er fühlt sich nicht so wohl, wahrscheinlich ein voller Magen.«

Diese Bemerkung veranlasste den Doktor, erneut einen unwirschen Blick auf Sergeant Milton zu werfen.

Als sie beim Computerraum ankamen und der Sergeant aufschloss, sagte Nigel: »Ja, auch mein unverwechselbarer Charme konnte Misses Wong keine neuen Geheimnisse entlocken.«

Er zwinkerte Mildred zu, die vergnügt lächelte, als sie noch einmal an Misses Wong und deren Bemühungen um Nigel beim Mittagessen dachte. Als sie eingetreten waren und die Tür wieder geschlossen hatten, berichtete ihnen Nigel von seinem Gespräch mit Richter Voyou.

»Das ist gut«, sagte Sergeant Milton, »wir müssen unbedingt mit Anne sprechen.« Und der Sergeant berichtete seinerseits von ihren Vermutungen. Er endete mit dem Satz: »Und deshalb dachten wir, wir könnten herausfinden, wann die Datei ›Der Bäcker‹ gelöscht wurde.«

Nigel biss sich auf die Lippen. Er hatte schwere Zweifel daran, dass es den Dreien gelungen wäre, das herauszufinden, aber er sagte nichts und war voller echter Bewunderung für Sergeant Miltons Kampfgeist. Erneut warf er den alten Kasten an. Im Dauerbetrieb wollte man ihn, um Strom zu sparen, nicht laufen lassen. Wieder versammelten sich die anderen hinter Nigels Rücken. Wieder tanzten dessen Finger über die Tastatur. Er konnte das Ergebnis schnell liefern. Alle vier waren jedoch über die Rückmeldung verwundert.

Mildred schluckte schwer, und der Sergeant hatte das Gefühl, gleich fürchterliche Kopfschmerzen zu bekommen. Der Doktor konnte nichts mit diesem Ergebnis anfangen, schob seine eigene Unzulänglichkeit allerdings darauf, dass er seinen Körper heute noch nicht ordentlich mit Nahrung versorgt hatte.

Nigel sprach dann als Erster: »Der Inhalt der Datei wurde am 30. Mai gelöscht, heute haben wir den 02. Juni. Was hat das denn nun schon wieder zu bedeuten?«

Der Sergeant hatte sich wieder unter Kontrolle: »Am 29. Mai wurde Karl Hobnitz eingeäschert. Das war, als wir im Haus der Lordens waren. Einen Tag später, also am 30. Mai, wurde die Akte gelöscht. Ich schlage vor, wir gehen gleich zum Sheriff; er muss mit Anne sprechen, sonst kommen wir mit dieser ›Der Bäcker‹-Geschichte nie weiter.«

Nigel warf dem Sergeant einen fragenden Blick zu. Der Sergeant wusste, welche unausgesprochene Frage hier im Raum stand. Wer konnte unbemerkt in den Computerraum eindringen und, einfach so, eine Akte löschen? Es war die Antwort, die den Sergeant erschreckte, denn so wie es aussah, konnte es nur jemand aus ihren eigenen Reihen sein. Jemand, der sich in der Wache Süd auskannte und sich Zugang zum Computerraum verschafft hatte. Entweder mit dem Schlüssel aus Frank Walls Büro oder mit dem, der am Empfang hinterlegt war. Der Sergeant musste unbedingt mit Frank Wall sprechen.