12. Die Neue

 

Sergeant Milton hatte kein Auge mehr zugemacht, nachdem der Depeschenbote verschwunden gewesen war. Nicht, dass er das überhaupt versucht hätte. Jetzt wirbelte er in der Küche herum und machte Frühstück. Nigel war vor einer halben Stunde zurückgekommen. Gott sei Dank war alles gut gegangen.

Sergeant Milton betrachtete den gedeckten Tisch. Hier sah es aus, als müsste er eine Hochzeit für zweihundert Gäste ausrichten. Der Sergeant war so nervös gewesen, dass er zur Beruhigung angefangen hatte, zu kochen und den Tisch zu richten.

Als Nigel mit noch nassen Haaren hereinkam, konnte er seine Freude über die Überraschung nicht verbergen und scherzte mit dem Sergeant: »Das sieht super aus, danke, Schatz!« Er gab Sergeant Milton einen Klaps auf den Hintern.

»Sehr, sehr witzig, Mister O’Brian!« Der Sergeant konnte jedoch nicht wirklich ernst bleiben. Er sah an sich herunter und bemerkte, dass er noch immer Katies Schürze trug.

Er stöhnte und dachte: »Was für ein Bild!«, dann ließ er sich schwerfällig auf einen Stuhl fallen. »Was machen wir jetzt?« Der Sergeant blickte besorgt in Nigels Richtung, der bereits dabei war, die Unmengen der angebotenen Frühstücksspeisen zu vertilgen.

Offensichtlich war er glänzender Laune und überhaupt nicht besorgt. Man merkte Nigel an, dass er jetzt lieber essen als sprechen wollte, aber ihm war auch klar, dass die Situation für den Sergeant nicht einfach war.

Nigel selbst hatte immer ein Leben am Rande der Legalität geführt. Er machte sich da nichts vor. Er war kein Engel gewesen. Solche Aktionen wie letzte Nacht entsprachen seinem Verständnis von Gerechtigkeit. Er hatte oft genug eingegriffen, wenn er der Meinung gewesen war, dass das System es nicht konnte oder wollte.

Er dachte kurz an den gewaltsamen Tod seiner Mutter. Natürlich war ein Eingreifen nach den Aschentagen bisher nicht mehr nötig gewesen. Er kannte aber noch die Anspannung, die mit solchen Aktionen einherging. Er wusste, dass er dafür vielleicht eines Tages einen Preis zu zahlen hatte. Aber heute fühlte er sich gut. Es gab kein besseres Gefühl, als zu wissen, dass man das Richtige getan hatte, auch wenn es mit Unbequemlichkeiten verbunden gewesen war.

Dann sah er Sergeant Milton an: »Du wirst nachher ganz normal zur Wache gehen und so tun, als wüsstest du von nichts.«

Die beiden Männer duzten sich mittlerweile. Nigel war der Meinung gewesen, dass für gemeinsame Gesetzesverstöße ein vertrauliches »Du« Voraussetzung wäre. Sergeant Milton hatte zwar Nigels Wortwahl als etwas unglücklich empfunden, war aber erfreut und natürlich einverstanden gewesen.

Jetzt schien der Sergeant nachdenklich: »Es ist kurz vor sechs Uhr. Warum hat mich noch niemand verständigt? Das ist kein gutes Zeichen. Die wissen etwas, oder?«

Nigel schaufelte sich erneut den Teller voll: »Glaube ich nicht. Ich denke, die haben den Richter noch nicht gefunden. Das ist ein Glücksfall für uns. Damit wissen die auch nicht, seit wann Anne weg ist. Außerdem ist fraglich, wer jetzt überhaupt zuständig ist. Der Sheriff liegt im Krankenhaus, Anne ist suspendiert ...« Er griff nach dem Brot, um sich erneut eine dicke Scheibe abzuschneiden.

Der Sergeant war nicht überzeugt: »Was ist mit dem Sergeant passiert, der den Zellentrakt bewacht hat?«

Nigel schien vollkommen entspannt: »Den wird der Richter versorgt haben. Vielleicht hat er ihn heimgeschickt?« Nigel schaufelte sich genüsslich große Portionen einer Süßspeise in den Mund.

Der Sergeant konnte nicht still sitzen: »Wie kannst du jetzt nur essen? Und vor allem so viel? Du solltest dich mit Doktor Masters zusammentun.«

Nigel leckte den Löffel ab: »Was ändert sich denn, wenn wir alle hungern? Außerdem schmeckt das hier verdammt gut.«

Der Sergeant blickte auf die Uhr. »Vielleicht sollte ich doch schon ins Büro gehen?«

Nigel schnappte sich mehrere Zutaten und fing an, sich ein großes belegtes Brot zu basteln: »Unsinn! Wir warten und gehen zur gewohnten Zeit rüber zur Wache. Wenn sie bis dahin den Richter gefunden haben, machen wir ein betroffenes Gesicht, das wird uns nicht schwer fallen. Der Richter war ein Held. Er ist für Annes Freiheit gestorben.«

Sergeant Milton seufzte. Mit Nigel konnte man in dieser Situation nicht reden. Nigel O’Brian hatte das Glück, sich in dem, was er tat, sicher zu sein. So wusste er, dass die Anzeige wegen des Umschlages ein Fehler gewesen war und die Befreiung von Anne Reeve keiner. Nigel O’Brian handelte, wie er es für richtig hielt. Stellte sich im Nachhinein heraus, dass er sich getäuscht hatte, konnte er damit leben oder seinen Fehler, falls möglich, beheben.

Sergeant Milton war ein anderer Typ. Er wog vorher ab, um Fehler möglichst zu vermeiden. Deshalb war diese Situation so unerträglich. Er hatte es nicht in der Hand. Er konnte nichts mehr daran ändern. Vor ihm lag ein schrecklicher Tag. Sie würden ihn nach Anne fragen und nach dem Richter. Er würde lügen müssen. Das erste Mal in seinem Leben würde er bewusst die Unwahrheit sagen. Es wäre keine kleine Alltagsschwindelei, nein, sondern eine richtige Lüge, die Folgen haben könnte.

Er sprach seine Befürchtungen aus: »Was, wenn wir eingeäschert werden, weil wir lügen?«

Nigel versuchte, sein eben gebasteltes Sandwich in den Mund zu schieben. Unterbrochen von Sergeant Milton, fiel es ihm auseinander und landete auf Nigels Schoß, was diesen zu einem lauten Fluch veranlasste.

Dann wandte er sich dem Sergeant zu: »Thomas, wir werden nicht eingeäschert. Wir tun das Richtige. Anne hat mit den Morden nichts zu tun. Voyou hat an sie geglaubt, sonst hätte er sie nicht befreit. Wir werden die Sache aufklären, aber wir werden das ohne Anne nicht schaffen. Außerdem lügst du nicht. Du weißt ja nicht, wo sie ist.«

»Das ist aber auch das Einzige, was ich nicht weiß, ansonsten platzt mein Kopf fast vor illegalen Informationen.«

Nigel musste sich das Grinsen verkneifen. Er verstand die Befürchtungen des Sergeants, wollte sich aber nicht über ihn lustig machen. Allerdings musste er sich wirklich sehr zusammennehmen, da der Sergeant wieder wie ein aufgescheuchtes Huhn in der Küche auf und ab rannte und dabei immer noch die Schürze seiner Frau trug.

Nigel senkte schnell den Kopf und widmete sich wieder seinem Sandwich.

»Was genau hat der Chief-Sergeant nochmals wegen des ›Bäcker-Falls‹ gesagt?«, fragte der Sergeant.

Nigel hatte dem Sergeant Annes Worte bestimmt schon drei Mal wiedergegeben, aber angesichts dessen Verfassung wiederholte er alles bereitwillig noch einmal: »Sie hat gesagt, dass ›Der Bäcker‹ kein ungewöhnlicher Fall war. In der Art hat es auf der Welt viele gegeben. Bemerkenswert im Vergleich zu anderen Fällen war nur die Tarnung für die illegalen Geschäfte. Offensichtlich hat eine Bäckerei-Kette als Fassade gedient. Neben Waffenlieferungen ging es da vor allem um Drogen. Die Bäckerei samt Backstube gab es wirklich, aber neben den ahnungslosen Brötchenkäufern, die davon nichts wussten, wurden eben auch Drogenkuriere und Großdealer beliefert. Das Zeug war nämlich in den Brotlieferungen versteckt. Sehr einfach, aber sehr effektiv. Da es sich um eine Kette handelte, konnten sie landesweit und sogar darüber hinaus operieren, ohne dass jemand etwas gemerkt hätte. Die Zentrale war aber hier im Süden. Als Anne versuchte, sich an den Fall zu erinnern, fiel ihr noch ein ungewöhnliches Detail ein. Man hatte in der Zentrale der Bäckereikette nicht nur Aschenhäufchen gefunden, sondern auch Leichen mit Einschusslöchern. Offensichtlich wurden fünf oder sechs Personen noch kurz, bevor die Aschentage, also die Einäscherungen, begannen, erschossen. Eine Identifizierung war nicht möglich gewesen. Aber die Ermittler hatten angenommen, dass es sich bei ihnen auch um Kriminelle gehandelt hatte.«

Hier hakte Sergeant Milton nach. Er kannte ja bereits Annes Bericht, aber er hoffte, dass Nigel ihm noch weitere Details liefern könnte, die er bisher vielleicht vergessen hatte: »Und die Schussopfer wurden mit einem Schuss in das Gesicht getötet? Besteht da ein Zusammenhang zu unseren Fällen?«

Nigel spülte den letzten Rest seines Brotes mit einem Glas Saft herunter.

»Getötet wurden sie durch Schüsse, die wahllos auf sie abgegeben wurden. Muss wohl ein ziemliches Massaker gewesen sein. Den Schuss ins Gesicht hat der Schütze wahrscheinlich erst abgegeben, nach dem die Männer schon tot waren, um sie unkenntlich zu machen. Ein Zusammenhang besteht sicher, aber ob sich dieser wegen der unkenntlichen Leichen ergibt, ist fraglich. Leichen unkenntlich zu machen, indem man ihnen das Gesicht wegschießt, ist nichts Ungewöhnliches!«

Nigel sah den entsetzten Blick seines Freundes und fügte schnell hinzu: »Also natürlich ist das furchtbar, aber in der Traurigen Zeit kam das vor. Vor allem innerhalb eines kriminellen Milieus.«

»Wer waren die Eingeäscherten?«

Auch das hatte ihm Nigel schon erzählt. »Die Aschenhäufchen konnten nur teilweise identifiziert werden. Außerdem konnte sich Anne noch erinnern, dass es in diesem Fall Hinweise gab, die darauf hindeuteten, dass ein gewisser oder eine gewisse ›R. M.‹ oder ›F. M.‹ seine oder ihre Finger im Spiel hatte. Es ist nie gelungen, die Person dahinter zu identifizieren. Keiner weiß genau, was ›R. M.‹ oder ›F. M.‹ in der Traurigen Zeit gemacht hat, man ist sich ja noch nicht einmal über die Initialen einig. Die Ermittler stimmen jedoch darin überein, dass er oder sie zum kriminellen Milieu gehört hat und weit oben in der Hierarchie stand. Ebenso ist es nicht gelungen festzustellen, wann und wo er oder sie eingeäschert wurde. Dass der Fall nicht in den Enzyklopädien stand, wäre Anne nicht aufgefallen, da sie selten in den Enzyklopädien blättert. Außerdem finden die Veröffentlichungen nach dem Abschluss eines Falles meist eine geraume Zeit später statt. Bei der Unmenge von Fällen wäre es da kein Wunder, dass das niemand bemerkt hat.«

Sergeant Milton nickte. Er wusste, wie Anne das gemeint hatte: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Masse an ungeklärten Fällen in den Archiven liegt. Wenn wir einen gelöst haben, dann sind wir froh. Ausreichend Zeit, um alte Fälle nachzulesen, bleibt gar nicht.«

Jetzt brachte Nigel einen Einwand: »Aber was ist mit Verbindungen zu anderen Fällen? Wie wollt ihr die finden, wenn ihr die abgeschlossenen Fälle nicht mehr in die Hand nehmt?«

Der Sergeant schmunzelte: »Du hast doch unseren Computerraum gesehen. Da können wir uns die alten Fälle ansehen. Aber unter uns: Meistens läuft das anders. Wenn wir Hinweise und Querverbindungen suchen, dann sprechen wir miteinander. So helfen sich die Ermittler gegenseitig. Anne konnte sich schließlich auch noch an den ›Bäcker-Fall‹ erinnern. Außerdem ist es im Normalfall nicht so, dass wir eine Ermittlung durchführen, um einen Täter zu finden. Den kennen wir ja bereits. Tod durch Einäscherung. Für uns ist nur das ›Warum‹ interessant. Wenn wir das haben, ist der Fall gelöst und landet im Archiv. Außerdem vergesst ihr Überlebenden immer, dass wir Neugeborenen mit den alten Sprachen zu kämpfen haben. Wir müssen die alten Unterlagen und Papiere übersetzen. Das ist viel Arbeit. Manchmal treffen wir sogar auf mehrere Sprachen. Anne ist eine der wenigen unter den Überlebenden, die als Ermittler arbeitet. Sie kann deshalb manchmal bei der Übersetzung helfen, obwohl das wenigste in ihrer eigenen alten Sprache geschrieben ist, schließlich ist sie, im Gegensatz zum Sheriff, ursprünglich nicht aus diesem Teil der Welt. Allerdings hat sie es etwas leichter, weil sie die alten Sprachen auch spricht. Das machen wir nicht. Unsere Ausbildung in den alten Sprachen konzentriert sich auf die Übersetzungsarbeit, nicht auf das Sprechen.«

Nigel lächelte versonnen. Es stimmte, Anne konnte mehrere alte Sprachen. Die des Sheriffs beherrschte sie ziemlich gut, zumindest hörte es sich für Nigel so an. Die von Nigel sprach sie gar nicht so schlecht. Sie hatte einen witzigen Akzent und eine bezaubernde Art, die Wörter zu verdrehen. Sie würde sie noch besser lernen, wenn das hier erst einmal vorbei wäre.

Natürlich war es ein Segen für die Welt, dass alle die gleiche Sprache benutzten. Nigel hatte sich anfangs sehr schwer damit getan, eine neue »Muttersprache« zu erlernen, aber heute war es für ihn selbstverständlich, sie zu sprechen. Trotz allem ging es ihm wie vielen anderen Überlebenden, man hatte eben seine Wurzeln. Deshalb genoss er es dann und wann, seine eigene alte Sprache zu sprechen. Annes Sprache müsste er natürlich auch lernen. Zumindest die Flüche. Die mochte er besonders. Er sah Anne vor sich, wie sie lachte und schimpfte.

Er sah ihre gemeinsame Zukunft und schien den Sergeant neben sich gar nicht mehr zu bemerken, bis der ihn unsanft anstieß: »Ich sagte, dass das Studium der Akten und ihre Auswertung von der Forschungsmannschaft übernommen wird, da die mehr über die Gründe für die Einäscherung erfahren will. Du siehst: So wichtig ist es für unsere Arbeit gar nicht, Verbindungen zwischen den Fällen herzustellen. Allerdings ist das bei diesen Ermittlungen anders.«

Nigel kam ein Gedanke: »Könnte die Akte nicht bei der Forschungsmannschaft sein?«

Der Sergeant winkte ab: »Nein, die nehmen die Akten nicht aus dem Archiv. Die machen sich vor Ort Notizen, wenn sie das für nötig halten. Und bevor du weiterfragst, in deren Forschungsunterlagen gibt es nichts, was uns weiterhelfen könnte. Das habe ich mit Doktor Masters bereits abgeklärt.«

Der Sergeant grübelte. Wie hing diese Geschichte mit den Morden an den Lorden-Brüdern zusammen?

Nigel sah ihm an, an was er dachte und fuhr fort: »Anne fand deine Schlussfolgerungen brillant.«

Der Sergeant wurde verlegen.

»Sie sagte, dass sie das genauso sehen würde. In seinem letzten Fall, also im Fall ›Der Bäcker‹, muss Paul Grey Hinweise auf den ›Burnout-Fall‹ gefunden haben. Dass die Akte ›Der Bäcker‹ nicht mehr da ist hält sie zwar für bedauerlich, aber gleichzeitig auch für erfreulich. Denn damit würde sich deine Theorie, dass in dieser Akte ein Hinweis auf den ›Burnout-Fall‹ steckt, bestätigen. Offensichtlich will der Täter verhindern, dass wir mehr über den ›Burnout-Fall‹ erfahren. Anne ist allerdings sehr besorgt, da der Täter uns immer wieder so nahe kommt. Dass er die Akte erst vor ein paar Tagen einfach unbemerkt löschen konnte, beunruhigt Anne sehr. Er scheint die Welt der Ermittler recht gut zu kennen. Wer auch immer seine Hände hier im Spiel hatte, der wusste, dass niemand das Fehlen des ›Bäcker-Falls‹ in den Enzyklopädien bemerken würde. Gleichzeitig hielt derjenige sich aber bis vor Kurzem damit zurück, die Computerakte zu löschen. Das heißt, erst vor wenigen Tagen wurde das Risiko für den Täter so groß, dass er handeln musste. In letzter Konsequenz hat er dann auch die Papierakte verschwinden lassen. Anne meinte daher, dass wir es mit einem Überlebenden oder einem älteren Neugeborenen zu tun hätten. Schließlich verschwand das Exemplar für die Enzyklopädien bereits vor 48 Jahren. Und außerdem fand sie es eigenartig, dass der Sheriff sich nicht mehr an den Fall erinnern konnte.«

»Wieso sollte er das, bei so vielen Fällen?« Sergeant Milton wiederholte, was ihm der Doktor zum Thema »Männer- und Frauengedächtnis« gesagt hatte, und Nigel stimmte den Theorien des Doktors nur allzu gerne zu.

Dann wandten sie sich wieder Annes Bericht zu. Das Lob seiner Chefin tat dem Sergeant gut. Er richtete sich auf und sagte: »Erzähle bitte weiter, vielleicht fällt mir dann noch etwas ein.«

Nigel tat dem Sergeant gern den Gefallen und fuhr fort: »Neben dem Handel mit Waffen und Rauschgift hatte die Organisation noch eine weitere Einnahmequelle. Da sie als Lieferanten von Backwaren zu vielen größeren Institutionen und Unternehmen Zutritt hatten, lief das Spionagegeschäft nicht schlecht. In Firmen war es für die vermeintlichen Bäcker kein Problem, Daten zu sammeln. Erstens fielen sie nicht auf, wenn sie in den Gebäuden unterwegs waren, um ihre täglichen Lieferungen zu bringen, und zweitens erfuhren sie jede Menge durch Gespräche mit den Mitarbeitern. Dazu kam, dass der Zugang zu einem Computer lange nicht so gut gesichert war, wie uns das damals die ›Datenschutzbeauftragten‹ weismachen wollten. Die Sache war äußerst lukrativ. Der Handel mit Informationen hat Millionen eingebracht.«

Der Sergeant sah zu, wie Nigel sein viertes Frühstücksei pellte. »Was kann man denn damit anfangen?«

Nigel rollte das Ei durch ein extra dafür auf seinem Teller gerichtetes Bett aus Salz, Pfeffer und Kräutern: »Ganz einfach, du kannst sie verkaufen. Zum Beispiel an die Konkurrenz. Oder du nutzt sie selbst – zum Beispiel für Aktienkäufe.«

Der Sergeant machte ein angestrengtes Gesicht. Er hatte das Wort schon einmal gehört, aber das lag lange zurück: »Aktienkäufe? Was war das noch mal?«

Jetzt unterbrach Nigel die hingebungsvolle Panierung seines Frühstückeis und blickte auf. Natürlich, die Neugeborenen konnten mit Aktien nicht viel anfangen.

Er brummte: »Hm, wie soll ich das erklären? Vielleicht sollte ich vorwegschicken, dass man in der Traurigen Zeit über sogenannte Finanzmärkte verfügte. Dort wurde unter anderem mit Aktien gehandelt. Diese wurden von Unternehmen ausgegeben. Also, ein Unternehmer sagte zum Beispiel: ›Ich biete eine Beteiligung an meinem Unternehmen in Höhe von tausend Geldeinheiten an.‹ Er verkaufte aber nicht an einen einzelnen Käufer, sondern an hundert Verschiedene. Damit erhielt jeder Käufer einen Anteil von zehn Geldeinheiten. Die Käufer gaben das Geld dem Unternehmer und erhielten sozusagen als Nachweis über ihren Besitz ein Papier auf dem stand ›Zehn Geldeinheiten‹. Dieses Papier war die Aktie. Jetzt würde man denken, dass der Käufer das Papier bei sich zu Hause in die Schublade gelegt hat und fertig. Aber bei einer Aktie ging es oft um etwas anderes.«

Der Sergeant war gespannt.

»Bei einer Aktie ging es oft darum, dass man mit ihr spekulierte.«

Der Sergeant unterbrach Nigel nicht.

»Es gab also in der Traurigen Zeit einen extra Marktplatz, die Finanzmärkte, an dem das Papier zum Verkauf angeboten wurde. Allerdings nicht für zehn Geldeinheiten, sondern für mehr.«

Jetzt platzte der Sergeant heraus: »Aber wer hat das denn gekauft, das Papier war doch gar nicht mehr wert?«

Nigel verzog das Gesicht: »Das war genau das Problem. Die Aktie fand einen Käufer, der mehr dafür bezahlte, weil der wiederum dachte, er kann die Aktie für noch mehr verkaufen.«

»Was? Das ist doch Unsinn, wie soll das denn gehen?«

»Na ja, man ging davon aus, dass sich der Wert des Unternehmens und damit der Beteiligung, also der Aktie, erhöhen würde. Ein Stück weit war das sicher ein nachvollziehbarer Gedanke. Wer investierte, mehr produzierte und mehr verkaufte, konnte natürlich auch den Wert seines Unternehmens steigern. Aber irgendwann uferte die ganze Sache total aus. Eines Tages wurde der Wert eines Unternehmens nicht mehr aufgrund von echten Geschäftszahlen festgestellt, sondern aufgrund von Gerüchten, Hoffnungen und Meinungen. Das ging so weit, dass zum Beispiel eine Aktie im Wert stieg, wenn ein Geschäftsführer entlassen wurde und ein Neuer kam. Nur die Hoffnung darauf, dass der Nächste seinen Job richtig machen würde, trieb den Aktienpreis in die Höhe. Oder wenn zum Beispiel schlechtes Wetter angesagt war und man mit einer Missernte rechnen musste, dann konnte derjenige, der über diese Information verfügte, rechtzeitig seine Aktien von der entsprechenden Produktionsfirma verkaufen. Aktien stiegen oder fielen auch nur aufgrund einer geäußerten Prognose irgendeines Managers oder selbsternannten Experten.«

Der Sergeant grinste: »Ah! Jetzt verstehe ich, das Ganze war eine Art dieser Wettbüros, die es in der Traurigen Zeit gab.«

Nigel erwiderte sein Grinsen: »Ganz genau, man könnte es nicht besser formulieren. Der Finanzmarkt war damals das größte Wettbüro der Welt. Und eines Tages wurde dieses Wettbüro zum Mittelpunkt des Universums. Alles hing nur noch davon ab. Das Wettbüro steuerte die Wirtschaft, diese steuerte die Regierungen. Jede politische Entscheidung wurde im Interesse des Wettbüros getroffen. Irgendwann gab es keine unabhängigen Regierungen mehr, sondern nur noch eine allmächtige Wirtschaft.«

»Aber warum wurde das denn geduldet, so was kann doch gar nicht funktionieren?«

»Gute Frage! Erstens wurde den Menschen eingeredet, dass die Aktienmärkte eine unheimlich wichtige Sache seien. Niemand erklärte die Komplexität des Systems. Niemand gab zu, dass einige wenige, weitab der guten Sitten, ihre Geschäfte machten und mit abartigen Konstrukten alles ins Schwanken brachten – und dabei Milliarden verdienten, während andere ruiniert wurden. Nein, stattdessen hatte man darauf das Etikett ›Macht alle schön mit – werdet reich, ohne zu arbeiten! Verständnis nicht notwendig!‹ geklebt und fertig.

Zweitens hingen die Staaten selbst irgendwann viel zu tief in diesem ganzen System drin, um dem noch einen Riegel vorzuschieben. Das Problem war, dass jeder ein Stück vom Kuchen abhaben wollte und dabei einfach darauf vertraute, am Schluss nicht derjenige zu sein, der das wertlose Papier in den Händen hielt. Drittens hingen auch alle anderen Menschen in diesem System, und zwar ohne, dass es ihnen bewusst war. Wer sein Geld bei einer Bank oder Versicherung hatte, und das hatten damals die meisten, musste damit rechnen, dass damit an den Aktienmärkten spekuliert wurde. Es gab noch weit kompliziertere Papiere, aber das Prinzip war immer das Gleiche: Hoffen auf das Beste, rechtzeitig jemanden finden, der das faule Ei übernimmt und keine Skrupel haben. Nun, du kennst die Geschichtsbücher.

Die Krisen blieben nicht aus, die Banken und Versicherungen gingen pleite, die Regierungen der Staaten versuchten, sie zu retten, dann gingen die Staaten pleite – bis alles zusammenbrach. Übrigens, wenn du damals jemandem den Aktienhandel als Wettbüro erklärt hättest, wärst du nur müde belächelt worden. Wahrscheinlich hätte jemand mit einer arroganten Bemerkung deine Unkenntnis bemängelt. Das ist so ähnlich wie bei der Geschichte mit dem Nackten – keiner traut sich, es offen auszusprechen. Erst dieses Kind deutet mit dem Finger drauf.«

Dem Sergeant rutschte gerade »Was für ein Nackter?« über die Lippen, als es an der Tür klopfte.

 

Anne saß auf ihrem provisorischen Lager und hörte auf die Geräusche, die von draußen in die Hütte drangen. Nigel war vor Sonnenaufgang aufgebrochen und hatte sie hier mit Vorräten, Decken und Emil zurückgelassen. Emil lag gemütlich in seinem Bett aus Stroh und Heu. Sebastian und Peter hatten wirklich an alles gedacht.

»Na, Emil, du scheinst dich ja auf der Flucht ganz wohl zu fühlen.«

Emil bedachte sie mit einem kurzen Blick, dann mümmelte er, ohne seine Position zu verändern, wieder an einem Strohhalm. Anne sah sich in ihrer neuen Behausung um. Es handelte sich um eine alte Steinhütte, die nahe an einen Felsen gebaut war. Zwischen Felsen und Hüttenrückwand gab es einen größeren Eingang, der allerdings nur schwer zugänglich war. Wahrscheinlich war das früher eine alte Scheune gewesen. An der Vorderseite gab es ein schmutziges Fenster und eine Tür. Nigel hatte ihr gezeigt, wie man ein Feuer machen konnte. Außerdem gab es neben der Hütte einen Bachlauf.

Sebastian und Peter hatten Unmengen von Lebensmittelvorräten für sie deponiert. Hier könnte sie sich also eine Weile verstecken. Die zwei hatten gestern noch spät eine Depesche von Nigel erhalten, in der er sich etwas kryptisch auf sein Gespräch mit Sebastian bezogen hatte, worin dieser Hilfe angeboten hatte. Nigel hatte einen Treffpunkt angegeben und um eine Unterstellmöglichkeit für ein Pferd gebeten. Es hatte alles wie am Schnürchen geklappt. Sebastian und Peter hatten keinen Augenblick gezögert und alles zusammengepackt, was ihnen notwendig erschienen war. Sicher hatte die langjährige Campingerfahrung der beiden geholfen.

Anne lauschte wieder nach draußen. Sie hätte es niemals zugegeben, aber die Geräusche waren ihr unheimlich. Sie rutschte näher an Emil heran. Gott sei Dank war sie hier nicht völlig alleine. Die Hütte befand sich weit außerhalb der Gemeinschaft. Zur Spielwelt brauchte man mit dem Pferd bei normalem Tempo eine gute Stunde. Das hier war wildes Land, in dem nur die Natur herrschte. Sie befand sich in einem Gebiet, das lediglich von den Expeditionsmannschaften aufgesucht wurde. Selten kamen Tierpfleger hierher. Diese Gebiete überließ man sich selbst. Die Menschen hatten zum Glück erkannt, dass es eigentlich nicht nötig war einzugreifen. Die Natur konnte ganz gut auf sich selbst aufpassen. Die Artenvielfalt und die Ausgeglichenheit der Tier- und Pflanzenbestände bewies das deutlich.

Anne vermutete, dass die Hütte früher zu einem kleinen Dorf gehört hatte. Obwohl vieles zugewachsen oder verfallen war, konnte man noch Spuren der ehemaligen Zivilisation erkennen. Die Hütte hatten sich Sebastian und Peter wohl in früheren Tagen einmal ein bisschen hergerichtet. Sebastian hatte ihr voller Stolz erzählt, wie er in den Jahren seiner Jugend mit Peter öfter Campingausflüge hierher gemacht hatte. Es war ein geheimer Ort gewesen, mit dem die beiden viele schöne Erinnerungen verbanden. Anne grinste. Sie dachte an Peters Kommentar zu diesen Ausflügen, als Sebastian kurz außer Hörweite gewesen war.

Er hatte Anne zugeflüstert: »Ehrlich gesagt, habe ich nie wirklich verstanden, wie erwachsene Menschen Spaß daran haben, sich auf zwei Quadratmeter Ackerboden ein Nest für die Nacht zu bauen, um dann frierend vor einer Streichholzflamme, die sie als Lagerfeuer bezeichnen, zu sitzen. Die Krönung ist dann eine halbgare selbstgekochte Pampe, die man mit einer Suppenkelle aus einem Fingerhut löffeln muss. Und wehe, man hat einen empfindlichen Magen, dann viel Spaß im Grünen. Letztendlich finden diese Ausflüge doch nur statt, um dieses herrliche Gefühl heraufzubeschwören, das man hat, wenn man dann wieder seine eigenen vier Wände betritt und sich endlich waschen und desinfizieren kann. Anschließend kuriert man die eingefangene Erkältung aus und nimmt Nahrung zu sich, die auch für den menschlichen Körper geeignet ist.«

Dann hatte er kurz gezögert und alle Ironie war verschwunden, als er sie anblickte und sagte: »Anne, das sind für mich wunderbare Erinnerungen!«

Es würde für Peter eines Tages schwer werden. Aber Anne schob diese düsteren Gedanken beiseite und widmete sich wieder ihrer Furcht. Fast ärgerte sie sich über Nigel, der sie hier in der Einsamkeit hatte sitzen lassen. Nur schwer gestand sie sich ein, dass sie in manchen Dingen ein »richtiges Mädchen« war. Jetzt hatte sie Angst und fühlte sich unwohl. Sie wollte gerne baden und frische Kleider anziehen, ihre Haare frisieren und sich mit einem guten Duft besprühen.

Aber stattdessen war sie auf der Flucht und musste tapfer sein. Immerhin hatte sie großspurig erklärt, dass sie überhaupt keine Probleme hier draußen haben würde. Von daher konnte Nigel natürlich nichts dafür, aber einer musste schließlich am Ende der Kausalkette stehen. Natürlich wäre jeder, der bei ihr geblieben wäre, ein Risiko eingegangen, schließlich würden die Beamten der Wache Süd nach ihr suchen. Außerdem musste Nigel Sergeant Milton helfen. Sebastian sollte dann später bei ihr vorbeikommen, um ihr die Neuigkeiten des Tages zu bringen.

Peter war besorgt gewesen, als Sebastian diesen Vorschlag gemacht hatte, hatte es aber unterlassen, ihn davon abzuhalten. Für Sebastian war das ein Abenteuer, dem er sich unbedingt stellen wollte. Peter hatte gesehen, wie sein Partner aufgeblüht war bei der Vorstellung, all diese geheimen Dinge zu tun, um Anne Reeve zu retten. Niemals hätte er es über das Herz gebracht, ihm das zu verderben. Obwohl Peter nichts von seinen Befürchtungen ausgesprochen hatte, hatte Sebastian gewusst, was in ihm vorging.

Sein Gruß zum Abschied hatte das allzu offensichtlich gemacht: »Liebe Anne, ihr müsst diese Sache so schnell wie möglich aufklären, bevor mein geliebter Peter noch vor Sorge um mich einen Kollaps bekommt.«

Peter hatte daraufhin nur schwach widersprochen. Anne hoffte, eines Tages mit Nigel ebenso vertraut zu sein. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Ermittlungen und versuchte, das Knacken und Tapsen, das aus dem Dickicht vor der Hüte kam, zu ignorieren. Der »Bäcker-Fall« war einer von vielen Fällen gewesen. Organisiertes Verbrechen, Rauschgift, eben das Übliche. Die Gründe für die Einäscherungen lagen auf der Hand. Es gab keine Intrigen oder sonstige Boshaftigkeiten, die man erst auf den zweiten Blick entdeckt hatte. Hier hatte es sich um »saubere Verbrechen« gehandelt. Nigel hatte versucht, ihr alles haargenau wiederzugeben, was sie die letzten Stunden in Erfahrung gebracht hatten. Anne war stolz auf Sergeant Milton. Er war unermüdlich.

Sie dachte an dessen Frau Katie und Misses Wong. An Letztere dachte sie allerdings mit weniger Herzlichkeit. Die beiden waren immer noch Hausgäste von Sebastian und Peter und durften nichts von Annes Aufenthaltsort erfahren.

Sie waren übereingekommen, dass auch alle anderen nicht eingeweiht werden sollten. Anne dachte weiter nach und nahm endlich den Gedanken auf, den sie nach Nigels Bericht so erfolgreich verdrängt hatte. Er saß wie ein Stachel im Fleisch. Es würde nichts helfen, sie musste sich ein paar Fragen stellen. Und sie kannte die Antworten. Jetzt ging es eigentlich nur darum, was sie mit ihrer Erkenntnis anfangen sollte. Aber auch das hatte sie schon längst beschlossen.

Sie drehte sich wieder zu Emil um und sagte: »Na mein Freund, hast du Lust, mir bei einem Einbruch zu assistieren?« Das Tier wieherte kurz, und Anne fasste das als ein »Ja« auf. Deshalb klopfte sie Emil sanft auf den Hals und sagte: »Gutes Pferd!«

 

Nigel und Sergeant Milton waren vor zehn Minuten in der Wache Süd angekommen. Sie waren mehr als überrascht gewesen, als Mildred plötzlich vor Sergeant Miltons Haustür gestanden hatte. Sie hatte sie aufgeregt über Annes Flucht und den Tod des Richters informiert.

Als sie die beiden von oben bis unten gemustert hatte, hatte sie nur gesagt: »Ich sehe, ich bringe keine Neuigkeiten! Gut, dass ich die Erste bin, die Ihnen offiziell diese Informationen gibt.«

Als sie sich dann gemeinsam auf den Weg zur Wache Süd gemacht hatten, hatte Mildred das Thema zwar nicht vertieft, aber eine entsprechende Bemerkung über mangelndes schauspielerisches Talent hatten sich der Sergeant und Nigel dennoch gefallen lassen müssen. Die beiden hatten nicht glauben können, wie leicht sie von Mildred durchschaut worden waren.

Im Foyer der Wache Süd ging es zu wie nach einer Naturkatastrophe. Keiner schien auch nur im Ansatz fähig, vernünftig seiner Arbeit nachzugehen. Die Räte, die Annes Anhörung beigewohnt hatten, waren im Büro von Sheriff Wall versammelt, ebenso wie Rabea und Doktor Masters. Während Nigel im Büro von Sergeant Milton saß, hatte dieser einen schweren Gang vor sich. Die Räte wollten mit ihm sprechen. Es wäre völlig unvernünftig gewesen, wenn Nigel ihn begleitet hätte. Obwohl dieser gerne dazu bereit gewesen war, waren sie sich einig gewesen, dass das mehr als leichtsinnig gewesen wäre. Warum sollte man die Aufmerksamkeit auf Nigel lenken?

Sergeant Milton atmete tief durch. Gott sei Dank hatte Mildred ihn genau über den aktuellen Stand der Untersuchung informiert. Daher wusste er, dass Richter Voyou den Sergeant am Zellentrakt, so, wie Nigel es bereits vermutet hatte, früher nach Hause geschickt hatte. Angegriffen worden war der Richter in seinem Büro, von wo er sich dann zum Zellentrakt geschleppt hatte. Es gab dafür ausreichend Blutspuren, die das belegten. Der Richter hatte den kürzesten Weg genommen. Dieser führte durch ein altes Treppenhaus, das heute kaum mehr benutzt wurde. Deshalb hatte ihn auch keiner gesehen.

Das Büro des Richters sah aus, als hätte es einen Kampf gegeben. Sergeant Milton wusste, was er zu tun hatte. Als er vor der Tür des Sheriff-Büros ankam, klopfte er kurz und trat unaufgefordert ein. Er war angespannt, aber nicht ängstlich. Die anderen blickten auf, als er durch die Tür trat. Es gab eine kurze Begrüßung und ein Nicken in Richtung Doktor Masters.

Einer der Räte sprach ihn an: »Sergeant Milton, Sie wissen, was passiert ist?«

Der Sergeant wich dem Blick des anderen nicht aus und antwortete: »Ja, Misses Grey hat mich darüber informiert. Richter Voyou ist ermordet worden, und Misses Reeve ist nicht mehr in ihrer Zelle.«

»Interessante Wortwahl.« Das war der Psychologe.

Der Sergeant konnte mit dieser Bemerkung nichts anfangen und beschloss deshalb, nicht darauf zu reagieren. Instinktiv hielt er es für besser, sich nicht in Rechtfertigungen zu verlieren.

Dann sagte niemand etwas. Sergeant Milton, der in diesem Moment eine unglaubliche Selbstsicherheit ausstrahlte, ergriff das Wort: »Wenn es das schon war, dann würde ich jetzt gerne gehen, um mich um die weiteren Ermittlungen zu kümmern.«

Jetzt wurde es unruhig im Raum. Damit hatte wohl niemand gerechnet. Doktor Masters sah den Sergeant mit wohlwollender Mine an und dachte: »Das machst du gut, Junge, lass’ dich nicht unterkriegen.«

Seine Gedanken wurden jedoch von dem Gekreische eines weiblichen Ratsmitgliedes unterbrochen. Die Dame rief völlig hysterisch: »Sie wollen weiter ermitteln? Wie stellen Sie sich das vor? Sie sind Anne Reeves Verbündeter. Der Verbündete einer Mörderin. Wie können wir Ihnen trauen? Vielleicht haben Sie ihr sogar bei der Flucht geholfen? Man sollte Sie einsperren.«

Diesen Vorwürfen folgte zustimmendes Gemurmel der anderen Räte. Rabea wollte schon widersprechen, aber der Sergeant war schneller.

Seine Stimme war laut und deutlich und hatte eine gewisse Schärfe, die einen Zuhörer davor warnte, ihn zu unterbrechen: »So, Sie alle glauben also, dass Misses Reeve den Richter ermordet hat? Gut, dann rekonstruieren wir das Ganze. Richter Voyou schreibt eine Anweisung für den wachhabenden Sergeant. Diese übergibt er in einem verschlossenen Umschlag an seinen Sekretär, und dieser wiederum drückt die Anweisung dem Sergeant vor dem Zellentrakt in die Hand. Darin steht, dass die nächtliche Bewachung von Misses Reeve nicht nötig sei und der Sergeant seine Schicht um 22 Uhr beenden kann. Dann wird der Richter in seinem Büro angegriffen und niedergestochen. Das steht laut den Untersuchungen von Doktor Masters fest. Im Büro des Richters gibt es dafür genug Blutspuren, und auch auf dem Weg von dort zum Zellentrakt. Also, der Richter wird schwer verletzt, und alles, was ihm in seinen letzten Minuten einfällt, ist, sich in den Zellentrakt zu schleppen und die Zellentür von Anne Reeve zu öffnen. Dort wurde er dann heute Morgen, mit den Schlüsseln in der Hand, gefunden. Man könnte jetzt natürlich annehmen, dass der Richter es als äußerst wichtig erachtete, Misses Reeve schnellstmöglich ihre Freiheit zurückzugeben. Vermutlich war ihm klar, dass die Gemeinschaft bei der Ergreifung des Täters auf Misses Reeves Fähigkeiten angewiesen sein würde, und eine Zelle daher der falsche Platz für sie war. Man könnte daraus auch schließen, dass er Misses Reeve voll und ganz vertraute und sich sogar für sie geopfert hat.«

Der Sergeant war jetzt so in Fahrt, dass er nicht merkte, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde. Er war kein Freund von unausgesprochenen Wahrheiten, und deshalb fuhr er fort: »Aber Sie alle hier wissen es besser. Sie alle folgern aus diesen Tatsachen messerscharf, dass Anne Reeve Richter Voyou umgebracht hat. Wie hat sie das nur gemacht? Stimmt –«, der Sergeant sprach jetzt etwas gedehnter, »da haben wir ja die Theorie von der Hexerei.«

Der Sergeant blickte in die Runde und holte zum letzten Schlag aus: »Bei allem gebotenen Respekt, das Letzte, was Sie sich jetzt erlauben können, ist, mich von den Ermittlungen abzuziehen!«

Doktor Masters hätte beinahe Beifall geklatscht, so hatte ihm der Sergeant aus der Seele gesprochen.

Sergeant Milton hatte das Gefühl, dass ihm eine unheimliche Last von den Schultern fiel. Er hatte gesagt, was es zu sagen gab. Vor sich sah er ungläubige Gesichter. Sie starrten den Sergeant an. Offensichtlich hatte sie die Klarheit seiner Worte überrascht, aber auch wachgerüttelt. Man sah einigen Räten an, wie sie erneut die Tatsachen abwägten. Wieder wollte sich Rabea für den Sergeant einsetzen, aber sie wurde erneut unterbrochen. Dieses Mal von einer hübschen Frau Ende 20.

Sergeant Milton drehte sich abrupt um und sah in ein sympathisches Gesicht. Sein erster Gedanke war: Die sieht so aus, als würde sie gerne backen. Wie kam er nur auf solche Gedanken? Er runzelte die Stirn. Wahrscheinlich weil ihn Backen immer an ein gemütliches Zuhause erinnerte. An Frieden und Harmonie. Backen verband er mit Glücklichsein, und diese Frau sah wie eine Meisterbäckerin aus.

Die Unbekannte sah Sergeant Miltons Stirnfalten und deutete sie als Reaktion auf ihr plötzliches Auftauchen. Sie lächelte freundlich, was sie ein bisschen pausbäckig aussehen ließ. Dann sprach sie ganz ruhig: »Mein Name ist Madeleine Rose.«

Sergeant Milton dachte schon wieder an das Backen. Er sah die Auslagen von Bäckermeister Beigel vor sich und bildete sich ein, plötzlich leise Musik zu hören. Es war etwas Klassisches, vermutlich ein Ballett. Sergeant Milton tauchte für eine Sekunde in eine andere Welt ein. Er war jetzt zu einem begeisterten Zuschauer seines eigenen Fantasiegebildes geworden. Und er genoss die Show. Verzaubert beobachtete er vor seinem geistigen Auge die großen runden Brote aus dem Holzofen, die sich wie Kinder munter im Kreis drehten. Die langen, knusprigen Baguettes hüpften dazu fröhlich auf und ab, während die leckeren Blätterteigteilchen in den vorderen Regalen nur behäbig von links nach rechts wippten. Mehr Bewegung gestattete ihnen der schwere Zuckerguss auf ihren Schultern nicht. Sergeant Milton seufzte und fragte sich, warum er heute morgen nicht auch ein paar kleine Törtchen gebacken hatte. Dann schüttelte er den Kopf, um diese unnützen Gedanken zu verdrängen.

Das deutete Misses Rose als Unverständnis ihrer Person gegenüber und fuhr fort, sich zu erklären: »Ich vertrete den Sheriff, bis es ihm wieder besser geht.«

Das kam unerwartet. Mit diesem Thema hatte sich bisher niemand auseinandergesetzt. Misses Rose strahlte fröhlich in die Runde: »Oh! Sie scheinen überrascht. Mister Wall hat natürlich für einen solchen Fall Vorkehrungen getroffen. Wir alle tun das für gewöhnlich. Ich bin Sheriff Rose aus der Gemeinschaft in den Samtbergen.«

Sergeant Milton wusste, wovon Misses Rose – oder Sheriff Rose – sprach. Die Gemeinschaft lag im Gebirge in Richtung des Landesinneren. Die Berge dort hatten eine fast rotbraune Farbe und sahen im Sonnenuntergang wie Samt aus, daher der Name. Allerdings war dem Sergeant, wie auch den anderen Anwesenden, nicht klar, was sie mit Vorkehrungen meinte. Neben Misses Rose stand Mildred.

Sie räusperte sich kurz und ergriff das Wort: »Vielleicht sollte ich den Herrschaften erklären, warum Sheriff Rose hier ist.«

Doktor Masters gab ein fröhliches »Ja, aber gerne!« von sich, was ihm einen pikierten Blick von seiner Nachbarin einbrachte.

Mildred räusperte sich erneut und begann: »Nachdem Sheriff Wall gestern krankheitsbedingt ausgefallen ist, habe ich einen Funkspruch an die umliegenden Gemeinschaften abgesetzt, damit diese informiert sind. Grundsätzlich hat jede Gemeinschaft einen Sheriff. Frank Wall ist aber nicht nur der Sheriff der Gemeinschaft Süd, er ist gleichzeitig auch der Oberste Sheriff. Deshalb kann dieses Amt nicht einfach von einem x-beliebigen Stellvertreter besetzt werden. An diesem Amt hängt mehr als nur das Wohl der eigenen Gemeinschaft. Mister Wall hat daher für den Fall, dass er sein Amt nicht ausüben kann, eine Vertretung bestimmt. Der Vertreter ist immer für zwei Jahre berufen, und dieses Jahr ist Sheriff Rose die Glückliche. Misses Rose ist schon seit fünf Jahren Sheriff in ihrer Gemeinschaft. Sie konnte kurzfristig ihre Angelegenheiten zu Hause regeln, um hier zu übernehmen.«

Rabea war aufgestanden und trat jetzt auf Misses Rose zu: »Herzlich Willkommen bei uns, Sheriff Rose – Sie treten ein schweres Erbe an. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann ...«

Rabea suchte nach Worten, aber Misses Rose sprang ein: »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, ich werde schon zurechtkommen.«

Dann wandte sie sich an die anderen Anwesenden: »Sie brauchen keine Bedenken wegen meines Alters zu haben. Sie wissen ja: Man darf sich von Äußerlichkeiten nicht täuschen lassen. Ich bin für dieses Amt ausgebildet worden, Mister Wall persönlich hat dafür gesorgt, dass ich ihn im Notfall adäquat ersetzen kann.«

Wieder zeichnete sich ein Lächeln auf ihrem pausbäckigen Gesicht ab, als sie weitersprach: »Ich sehe, wir haben jede Menge Arbeit vor uns, und wir sollten gleich beginnen. Meine werten Räte, ich denke, ich kann ab hier übernehmen.«

Sie sagte das so freundlich, dass keiner der Anwesenden beleidigt sein konnte. Also standen die Räte auf und verabschiedeten sich aus dem Büro. Mildred konnte eine gewisse Genugtuung nicht verbergen, als sie den Damen und Herren zuvorkommend die Tür aufhielt. Rabea zögerte, verließ aber dann mit den anderen den Raum. Mildred schloss die Tür.

»So, Sie sind also der berühmte Sergeant Milton, auf dessen Ermittlungen zu verzichten wir uns nicht erlauben können.«

Jetzt lief der Sergeant rot an und wollte sich erklären. Sheriff Rose hob die Hand und sprach: »Schon gut, Sie waren vollkommen im Recht. Wenn Dummheit spricht, muss man sie aufhalten.«

Es war Doktor Masters, der als Erster losprustete. Dann stimmten der Sergeant und Mildred mit ein. Die Spannung fiel von ihnen ab.

Beim nachfolgenden Gespräch erwies sich Misses Rose als kompetenter Ersatz für Frank Wall. Sergeant Milton sah keine andere Möglichkeit, als ihr gegenüber aufrichtig zu sein. Sie sprachen fast zwei Stunden über die Ereignisse. Sheriff Rose machte sich Notizen. Der Doktor und Mildred ergänzten Sergeant Miltons Bericht. Wieder durchlebten sie alle die letzten Tage. Die Morde an den Lordens und an Marie White, die Einäscherung von Karl Hobnitz, der Tod von Doktor Calliditas und die Anschläge auf Misses Wong und Sergeant Milton.

Madeleine Rose unterbrach den Sergeant nicht. Nur bei dem Bericht über den Anschlag auf ihn in der Felsenbucht sah sie ihn voller Mitgefühl an. Der Sergeant zögerte, wie sollte er jetzt weiter verfahren? Das Thema Umschlag konnte er nicht ausklammern.

Er entschloss sich, ehrlich zu sein: »Der Umschlag war problematisch.«

Sheriff Rose hob die Brauen, fast so, wie es Frank Wall getan hätte. »Offensichtlich! Sergeant, ich bin gespannt.«

Der Sergeant blickte zu Doktor Masters, dann zu Mildred. Beide sahen betreten aus, nickten ihm aber zu und signalisierten so ihre Bereitschaft seine Entscheidung mitzutragen.

Der Sergeant richtete sich auf und sprach: »Der Umschlag wurde von einem Mitglied unseres Teams gefunden und zurückgehalten, weil der Finder glaubte, er würde ansonsten Misses Reeve in Gefahr bringen. Mister O’Brian hat irgendwie davon erfahren, dass es diesen Umschlag gab und hielt es für seine Pflicht, das zu melden.«

Bei der letzten Äußerung hüstelte der Doktor ein wenig. Der Sergeant warf ihm einen warnenden Blick zu, so, als wollte er sagen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, sein Missfallen über Nigel O’Brians Verhalten zum Ausdruck zu bringen.

Der Sergeant sprach weiter: »Um den Finder nicht in Verlegenheit zu bringen, stellte sich Misses Reeve den Behörden, indem sie zugab, dass sie den Umschlag genommen hatte.«

Sheriff Rose klopfte ungeduldig mit einem Stift auf den großen Schreibtisch: »Sergeant, kommen wir doch endlich zu dem Punkt, an dem Sie mir sagen, was in diesem Umschlag war. Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie das hinter sich haben.«

Der Sergeant bezweifelte, dass er sich überhaupt je wieder besser fühlen würde, aber es gab ohnehin kein Zurück mehr. Also erzählte er von Dave Lordens Notizen und dessen Fehlinterpretation bezüglich des versteckten Hinweises, den Paul Grey in Mildreds Schulakte hinterlegt hatte. Alle drei erzählten nacheinander, was sie bis heute erfahren hatten. In stiller Übereinkunft vermieden sie es, den Namen von Nigel O’Brian zu erwähnen. Auch wenn Doktor Masters und Mildred nicht in Annes Flucht eingeweiht gewesen waren, so konnten sie sich an einer Hand abzählen, dass Nigel O’Brian ihr geholfen hatte unterzutauchen.

Sheriff Rose blickte auf: »Wir wissen also, dass die Unterlagen zum ›Bäcker-Fall‹ verschwunden sind, und wir vermuten, dass es darin eine Verbindung zu diesem ›Burnout-Fall‹ gibt. Der ›Burnout-Fall‹ wiederum birgt eine große Gefahr, die es zu beseitigen gilt. Den Hinweis von Paul Grey haben wir nicht, sondern nur eine Fehlinterpretation der Lorden-Brüder. Hm … Wenn wir nicht so viele Tote hätten und einen vergifteten Obersten Sheriff, dann würde ich das für Spinnerei halten, aber so ...« Sie schien nachdenklich und überlegte: »Was ist mit dem Richter passiert?«

Der Sergeant antwortete ihr: »Misses Reeve hat dem Richter von dem Umschlag erzählt, und er hat dem Chief-Sergeant geglaubt.«

Sheriff Rose lächelte: »So so, der Chief-Sergeant. Sie sind wirklich ein loyaler Mitarbeiter.«

Sheriff Rose fragte den Sergeant nicht, woher dieser von dem Gespräch zwischen dem Richter und Anne Reeve wusste.

Als Sergeant Milton weitersprach, schaute er verlegen zur Seite: »Richter Voyou hat ihre Flucht organisiert und ist dabei von unserem Täter überrascht worden. Und der hat ihn dann heimtückisch erstochen. Fragt sich nur, warum?«

Auch dieses Mal wollte Madeleine Rose nicht wissen, woher der Sergeant seine Informationen hatte. Stattdessen hob sie erneut die Brauen: »Ich denke, das liegt doch auf der Hand. Oder nicht?«

Die drei sahen sie erstaunt an. Darüber hatten sie sich noch gar keine Gedanken gemacht. Der neue Sheriff sprach weiter: »Der Täter wollte vom Richter wissen, was in dem Umschlag war.«

 

Rabea sah vorsichtig zu Frank Wall. Er ähnelte kaum dem starken Mann, den sie kannte. Sein Gesicht sah eingefallen aus, und er war sehr blass, fast durchsichtig. Sie griff nach seiner Hand. Er hatte die Augen geschlossen. Der Arzt hatte ihr einen kurzen Besuch gestattet. Rabea fühlte sich schrecklich einsam. Anne war fort, und Frank lag hier im Krankenhaus. Sie machte sich Gedanken um Anne und die anderen. Natürlich wussten der Sergeant und Doktor Masters über Annes Flucht Bescheid. Sicherlich hatte auch dieser Nigel O’Brian seine Finger mit im Spiel. Sie war ja nicht blind. Aber es verletzte sie, dass die anderen sie nicht eingeweiht hatten, denn das vermittelte ihr das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Dann dachte sie an den Richter. Armer Voyou, er war wirklich ein gut aussehender Mann gewesen!

Frank rührte sich und öffnete ein wenig die Augen: »Rabea? Wo bin ich hier? Was ist passiert?« Seine Stimme war schwach.

Rabea beugte sich näher zu ihm und beantwortete seine Fragen. Der sanfte Klang ihrer Stimme beruhigte Frank. Er war froh, dass sie bei ihm war. Nur langsam kam die Erinnerung zurück. Die Erinnerung an den körperlichen Schmerz, den er am Tag zuvor in seinem Büro gefühlt hatte und an die furchtbare Angst, ersticken zu müssen. Rabea sprach von einer Vergiftung. Wie konnte ihm das nur passieren? Sein Gehirn versuchte, die Arbeit wieder aufzunehmen. Er war der Oberste Sheriff und lag hier im Krankenhaus. Er brauchte keinen Arzt, um zu wissen, dass Liegen im Moment das Einzige war, was er noch konnte.

Dann dachte er weiter zurück: »Anne!« Mit einem Schlag waren die Ereignisse der letzten Tage wieder in seinem Kopf.

Rabea zögerte – was sollte sie ihm sagen? Er würde sich unnötig aufregen. Sie versuchte einen anderen Weg: »Deine Vertretung ist heute eingetroffen. Ich komme gerade aus dem Büro. Madeleine Rose ist eine sehr nette Frau, und sie wird sich um alles kümmern. Du brauchst dir also keine Gedanken zu machen. Wichtig ist nur, dass du bald wieder gesund wirst.«

Frank Wall hatte immer noch Schmerzen. Und obwohl Rabea es sicher gut meinte, wusste er es besser. In seinem Leben war es bisher immer so gewesen, dass es immer dann Gründe gegeben hatte, sich Sorgen zu machen, wenn ihm zuvor jemand gesagt hatte, es gäbe dazu keine.

Es half nichts. Auch wenn er hier lag, konnte er nicht einfach die Augen verschließen vor den Dingen, die außerhalb dieses Krankenzimmers passierten.

»Rabea, keine langen Geschichten, was ist los?«

Rabeas Wangen röteten sich leicht, es gab keine Möglichkeit, ihm Annes Flucht und den Tod des Richters zu verheimlichen. Mit ihrer Engelsstimme versuchte sie daher, Frank die letzten Neuigkeiten so schonend wie möglich beizubringen. Insgeheim verfluchte sie Anne dafür, dass sie es wieder einmal geschafft hatte, den Puls des armen Franks in die Höhe zu treiben. Ausgerechnet jetzt, wo es ihm so schlecht ging.

Frank reagierte auf Rabeas Ausführungen wie erwartet: »Um Gottes Willen, der Richter … Und ist Anne denn jetzt total verrückt geworden?«

Allerdings blieb Frank Walls Reaktion auf diese Nachrichten aufgrund der medizinischen Messgeräte nicht unbemerkt. Schon öffnete sich die Tür, und ein Arzt betrat den Raum. Er stellte sich ans Fußende, verschränkte die Arme und blickte auf seinen Patienten. Frank stöhnte auf. Es war der gleiche Arzt, der auch Sergeant Milton behandelt hatte.

Als er die vertraute Stimme hörte, hätte Frank fast gelächelt, wenn er sich nicht so elend gefühlt hätte: »Sieh an, sieh an, Mister Wall, wir werden keine schöne Zeit miteinander haben, wenn Sie sich nicht anstrengen, gesund zu werden. Im Klartext heißt das: nicht aufregen! Offensichtlich bekommen Ihnen Besuche von hübschen Damen nicht. So ist das, wenn man in die Jahre kommt!«

Frank stöhnte erneut und wollte widersprechen. Er wollte mehr erfahren. Er musste sich schließlich noch um so vieles kümmern, aber er war zu schwach. Der Arzt überprüfte die Apparaturen und fühlte Franks Puls. Dann gab er Frank eine Spritze.

Als er fertig war, lächelte er Rabea an und sagte: »Ich denke, das war genug für heute, Sie sollten sich verabschieden, er wird auch gleich schlafen.«

Dann legte er ihr kurz die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Der Arzt hatte ihr die Sorge und die Angst, die sie um Frank hatte, angesehen. Wie bei allen Ärzten der Neuen Welt war die medizinische Betreuung von Menschen auch für ihn eine Berufung. Unter anderen Umständen hätte er Rabea gegenüber Distanz gewahrt. Aber in dieser Situation war sie nicht die Präsidentin der Neuen Welt, sondern eine Angehörige seines Patienten. Es war für ihn selbstverständlich, auch Trost zu spenden, denn manchmal war das das einzige Medikament, das er geben konnte. Rabea war ihm dafür sehr dankbar.

 

Sergeant Milton war erleichtert aus dem Büro des Obersten Sheriffs getreten. Misses Rose hatte grünes Licht für weitere Ermittlungen gegeben. Sie ließ ihm freie Hand. Er sollte dort weitermachen, wo er unter Frank Walls Führung aufgehört hatte. Als er nun sein Büro betrat, konnte er dem immer noch wartenden Nigel O’Brian ansehen, wie dieser vor Ungeduld fast platzte.

»Gute Nachrichten!« Der Sergeant grinste zufrieden. »Wir haben einen neuen Obersten Sheriff, und sie lässt mich weiter ermitteln.«

Nigel atmete auf und stutzte: »Sie?«

Sergeant Milton nickte: »Sie, Madeleine Rose. Die Vertretung von Frank Wall. Wir sind den ganzen Fall noch einmal durchgegangen.«

Der Sergeant erzählte Nigel von seiner Unterhaltung mit Misses Rose. Gerade als er geendet hatte, klopfte es an der Bürotür. Der Sergeant öffnete und sah überrascht in das Gesicht des Büroboten.

Der junge Mann hatte einen schmuddeligen Zettel dabei, den er jetzt dem Sergeant entgegenstreckte mit der Bemerkung: »Soll ich abgeben, ist vom Waffenarchiv, bitteschön.« Der junge Mann machte eine höfliche Verbeugung und verschwand.

Sergeant Milton entfaltete neugierig den Zettel, der so aussah, als hätte jemand ein Butterbrot darin eingewickelt. Auf dem Zettel stand: »Habe Neuigkeiten wegen der Waffe.« Der Sergeant faltete den Zettel wieder zusammen und ließ ihn in seine Tasche gleiten.

Dann blickte er zu Nigel: »Mein Freund, wir haben eine Verabredung. Gehen wir.« Als Nigel ihn fragte, mit wem sie sich treffen würden, antwortete der Sergeant nur: »Oh! Mit jemandem, der dir gefallen wird.«

Dann durchquerten sie die langen Gänge bis zu der Tür, an der »Waffen- und Sprengstoffarchiv« stand. Der Sergeant klopfte und dachte an seine erste Begegnung mit dem Archivar vor ein paar Tagen. Es dauerte eine Weile, bis sich die Tür einen Spalt öffnete. Dieses Mal wusste der Sergeant, was ihn erwartete, und er war wesentlich entspannter beim Anblick des grimmigen Gesichtes des Archivars. Neugierig betrachtete der Archivar Nigel.

Ohne diesen zu begrüßen, richtete er das Wort an Sergeant Milton: »Wer ist denn das?«

Der Sergeant musste ein Lachen unterdrücken. Dann stellte er Nigel O’Brian vor. Bei der Erwähnung seines Namens horchte der Archivar auf. Dann folgte ein Redeschwall in einer alten Sprache, die der Sergeant noch nie zuvor gehört hatte. Nigel antwortete dem Alten und sie schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Dann schob der Archivar seine Gäste eilig durch die Tür und holte drei alte Becher aus der Schublade. Bei Sergeant Milton löste schon der pure Gedanke an das braune Gesöff, das jetzt wahrscheinlich gleich in die Becher gefüllt werden sollte, einen heftigen Speichelfluss aus. Er dachte daran, dass er, im Gegensatz zu Nigel, nicht gefrühstückt hatte. Die beiden Männer quatschten wie zwei alte Waschweiber. Sie hatten den Sergeant offensichtlich ganz vergessen. Schon füllte der Archivar die Becher und prostete seinem neuen besten Freund zu.

Während Sergeant Milton vorsichtig nippte, schienen seine Mitstreiter Speiseröhren aus Edelstahl zu besitzen. Der Sergeant kämpfte wieder mit dem Brechreiz und den Tränen und ließ ihnen daher noch ein paar Minuten Zeit, ihre Kindheitserinnerungen – oder was auch immer – auszutauschen.

Dann räusperte er sich: »Meine Herren, tut mir leid, aber ich habe einen Fall zu lösen.«

Der Archivar blickte mit einem Zwinkern zu Nigel und sagte etwas, was diesen zu einem blöden Gekicher veranlasste. Sergeant Milton fing an, sich über die beiden Kindsköpfe zu ärgern.

Offensichtlich sah man ihm das an, denn der Archivar legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter: »Schon gut, mein Junge, du hast ja recht. Das muss aufhören mit den Anschlägen und Todesfällen. Kommt mal mit, ich will euch etwas zeigen.«

Der Archivar führte sie durch eine weitere Tür. Auf einer Art Theke hatte er zwei Waffen liegen. Wie er dem Sergeant erklärte, für Nigel O’Brian schienen die Ausführungen des Alten keine Neuigkeiten zu sein, handelte es sich bei den Waffen um Schrotgewehre.

»Die Längere der beiden ist die Waffe, die ihr bei diesem Hobnitz gefunden habt und von der wir annehmen, dass mit ihr beziehungsweise mit so einem Modell die Lorden-Brüder erschossen wurden.«

Die Kürzere war eine abgesägte Schrotflinte, die mit ihren höchstens hundert Zentimetern neben der Langen wie ein Stummel wirkte.

»Mit so einer kurzen Waffe wurde aber vermutlich auf eure Zeugin, Misses Wong, geschossen. Da wir die Originalwaffe bisher nicht gefunden haben, muss diese hier als Muster dienen.«

Dann hob er ein speckiges Blatt Papier in die Höhe. Die Abbildung darauf sah aus wie die auf Papier festgehaltenen Bewegungen eines Ameisenvolkes. Dem Sergeant kam allerdings das Bild eines Kuchens in Erinnerung, der ungleichmäßig mit Puderzucker bestäubt war. Der Sergeant fragte sich ernsthaft, warum sich für ihn heute alles um Backwerk drehte. Er musste sich konzentrieren, um den Erklärungen des Archivars folgen zu können.

»Das ist eine Kopie von der Streuung der Schrotmunition im Büro von Misses Wong. Habe mir die Wand angesehen und danach diese Zeichnung angefertigt. Dieses Muster, zusammen mit dem Abstand vom Fenster, durch das geschossen wurde, bis zu den Einschlägen in der Wand lässt darauf schließen, dass der Schütze eine solche kurze Waffe benutzt hat.«

Als er das fragende Gesicht des Sergeants sah, ergänzte er: »Na, was glaubst du, dass ich mich als Waffenarchivar nicht dafür interessiere, wenn in meiner Gemeinschaft irgendwo Schüsse abgegeben werden? Ich kann dir so viel sagen: Die Munition kann bei beiden Waffen die gleiche gewesen sein. Zum Beispiel die, die hier im Archiv geklaut wurde. Die Waffen sind aber nicht die gleichen. Siehst du, eine Kurze und eine Lange. Leider kann ich dir nicht mehr dazu sagen. Vielleicht hilft’s trotzdem. Die Waffen selbst stammen vermutlich aus einem der Schrottlager, aber das ist ja bekannt.«

Der Sergeant schaute zu Nigel. Sie hatten wohl die gleichen Gedanken. Das war wirklich kein Durchbruch. So, wie die Dinge standen, konnten sie damit den Täter unmöglich identifizieren. Der Archivar sah selbst ein bisschen unglücklich aus. Er hätte gerne mehr geholfen. Umständlich füllte er erneut die Becher und sah den Sergeant fragend an, als er dessen noch vollen Becher bemerkte.

Der Sergeant wollte jetzt nicht über seine Trinkgewohnheiten diskutieren und wechselte das Thema: »Sagen Sie, wäre es vielleicht möglich, eine Waffe zu bekommen? Ich meine ...« Der Sergeant kam sich dumm vor. Er wusste nichts über Waffen, er hatte sogar Angst vor ihnen. Er wollte seine Frage schon zurückziehen und rechnete mit dem Spott der beiden Männer, aber das Gegenteil passierte.

Der Archivar blickte den Sergeant ernst an und verschwand eine kleine Ewigkeit in den hinteren Räumen. Dann kam er mit einem Köfferchen zurück, das er behutsam auf den Tisch stellte. Fast andächtig öffnete er den Deckel: »Hier, nimm die, die hat mir immer gute Dienste geleistet – und im richtigen Moment auch nicht.«

Der Sergeant verstand das Gesagte nicht, schwieg aber. Er blickte auf das fremde Metall vor sich. Nigel trat näher heran und pfiff anerkennend: »Oh, wow, das ist ja ein alter Kipplaufrevolver. Von der Insel, was?«

»Genau«, antwortete der Archivar.

Dann forderte er die beiden auf, ihm weiter nach hinten zu folgen: »Willkommen im Allerheiligsten, dem Schießstand. Oder das, was ich dazu gemacht habe.« Schließlich zeigte er dem Sergeant, wie man die Waffe bediente und gab einen Schuss auf eine Zielscheibe an der gegenüberliegenden Wand ab.

Es war das erste Mal, dass der Sergeant das Geräusch eines abgefeuerten Revolvers hörte. Ihm blieb fast das Herz stehen, und er war dankbar für die Ohrenschützer, die der Archivar zuvor verteilt hatte.

»In so einem kleinen Raum ist das besonders laut«, sagte der Archivar.

Der Sergeant hielt das für die Untertreibung des Jahres. Der Lärm war infernalisch gewesen, und einen kurzen Moment hatte der Sergeant das Gefühl gehabt, seine Hose würde flattern.

Während Nigel den Volltreffer des Archivars auf der Zielscheibe bewunderte, drückte der Archivar dem Sergeant die Waffe in die Hand und signalisierte ihm, ebenfalls einen Schuss abzugeben: »Du musst wissen, was dich erwartet, wenn du sie im Ernstfall benutzen willst. Also los, schieß.«

Nigel hatte den Einschuss des Archivars auf der Zielscheibe überklebt und kam wieder zu den Männern zurück. Der Sergeant war überrascht, welches Gewicht da plötzlich in seiner Hand lag. Dann hörte er ein klapperndes Geräusch. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass das die Waffe in seinen zitternden Fingern war.

Der Archivar nahm die andere Hand des Sergeants und sagte: »Halte sie mit zwei Händen, das wird einfacher.«

Der Sergeant befolgte die Anweisungen. Nur mit Mühe konnte er den Abzug durchziehen, dann löste sich der Schuss. Die Arme des Sergeants wurden mit Wucht nach oben gerissen, und er glaubte schon, der Revolver würde ihm aus den Händen fallen. Sein Magen rebellierte, und er hatte für einen kurzen Moment das flaue Gefühl, ins Leere zu stürzen. Aus der Waffe kam Rauch, der sich überall ausbreitete.

Der Sergeant wünschte sich in diesem Moment weit weg. Am anderen Ende des Raumes konnte er langsam die Zielscheibe erkennen. Von seinem Schuss schien jede Spur zu fehlen. Nigel war nach vorne getrottet und deutete jetzt auf einen kleinen Krater weit abseits der Zielscheibe. Was für ein schreckliches Werkzeug, das er da in den Händen hielt. Alles in ihm sträubte sich dagegen, die Waffe an sich zu nehmen. Wie weit waren sie alle gekommen, dass ein Sergeant der Neuen Welt zu seinem Schutz eine Waffe bei sich führen musste? Der Sergeant legte die Waffe hin. Ihm war schlecht.

Nigel O’Brian nahm die Waffe in die Hand und verwickelte den Archivar in ein Gespräch darüber. Nigel hatte Sergeant Milton die ganze Zeit beobachtet. Er hatte gesehen, wie schwer es diesem gefallen war, die Waffe überhaupt in die Hand zu nehmen. Als er die Reaktion des Sergeants gesehen hatte, hatte er das allererste Mal seit 260 Jahren wirklich das Gefühl gehabt, dass die Welt besser geworden war. Anne hatte also doch recht. Es war eine neue Welt entstanden. Die Überlebenden waren nur Fossile aus längst vergangenen Zeiten, aber die Neugeborenen hatten eine bessere Welt geschaffen, und Sergeant Milton war der Beweis dafür.

Seine Gedanken wurden durch die Stimme von Sergeant Milton unterbrochen. Nigel und der Archivar drehten sich wieder zu ihm um.

»Was haben Sie damit gemeint, sie hat Ihnen immer gute Dienste geleistet und im richtigen Moment auch nicht?«

Der Archivar schwieg, und fast sah es so aus, als würde er dem Sergeant nicht antworten. Dann nahm er die Waffe an sich und legte sie zurück in den Koffer: »Wir sollten etwas trinken, hier ist die Luft so trocken. Dann erzähl ich dir meine Geschichte.«

 

Madeleine Rose war erleichtert. Endlich war sie alleine. Sie sah sich andächtig in dem beeindruckenden Büro von Frank Wall um. Dann lief sie hinüber zum großen Panoramafenster und genoss einen Moment lang die Aussicht. Die Nachricht, die Vertretung von Frank Wall zu übernehmen, hatte sie wie ein Blitzschlag getroffen. Der Oberste Sheriff war vergiftet worden und schwebte in Lebensgefahr. Und sie war jetzt hier und sollte alles regeln. Natürlich, hatte sie gedacht. So was muss ausgerechnet dann passieren, wenn ich mit der Vertretung an der Reihe bin.

All das Selbstbewusstsein, das sie den anderen eben noch signalisiert hatte, war wie weggeblasen, und sie fühlte sich überfordert. Sie dachte an die Hauptakteure. Da gab es Anne Reeve. Sie war ihr nur einmal in der Akademie begegnet. Obwohl begegnet zu viel gesagt war. Anne Reeve hatte eine Vorlesung gehalten und war ihr damals jedenfalls nicht wie eine wahnsinnige Killerin vorgekommen. Es hatte Spaß gemacht, Misses Reeve zuzuhören. Nichts, was sie gesagt hatte, war hochtrabend gewesen. Alles hatte Hand und Fuß gehabt. Anne Reeve war berühmt. Viele Ermittler hatten sie sich als Vorbild ausgewählt. Sollten sie sich alle geirrt haben?

Dann war sie heute das erste Mal der Präsidentin begegnet. Es war ein eigenartiges Gefühl gewesen. Alle Geschichten, die man sich über sie erzählte, schienen zu stimmen. Sie war wunderschön und freundlich. Wie es sich wohl lebte, wenn man von allen wie ein überirdisches Geschöpf behandelt wurde?

Sie dachte an Frank Wall. Seit sie ihn kannte, war er immer distanziert gewesen. Aber er hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er Madeleine sehr schätzte. Er hatte ihre Laufbahn immer aufmerksam verfolgt, und er war es auch gewesen, der sie für den Sheriffposten in der Gemeinschaft Samtbergen vorgeschlagen hatte. Madeleine wusste, dass sie sich nicht zu verstecken brauchte. Sie liebte ihre Arbeit und hatte bisher hervorragende Ergebnisse erzielt. Sie wurde trotz ihrer Jugend von ihren Mitarbeitern respektiert und geschätzt.

Sheriff Rose war also eine kluge Wahl von Frank Wall gewesen. Niemand würde ihre Fähigkeiten anzweifeln, das wusste Madeleine. In der Neuen Welt gab es so ein Verhalten nicht. Jeder würde sie unterstützen und versuchen, ihr bei der neuen Aufgabe zu helfen.

Mildred Grey war rührend gewesen. Sie hatte sie mit Getränken und Kuchen versorgt und ihr bereits eine Liste mit allen nötigen Informationen zusammengestellt. Nachher würde sie die Ermittler der Wache Süd begrüßen. Die Sergeants würden ihren Beistand brauchen. Sie musste dafür sorgen, dass alle wieder zur Ruhe kamen und ihren Aufgaben nachgehen konnten.

Madeleine Rose hatte die Angst in ihren Gesichtern gesehen, als sie vorhin die großen Räume der Wache Süd durchquert hatte. Sie hatte selbst Angst. Diese Morde und Angriffe waren etwas, auf das die Neugeborenen nicht vorbereitet waren. Falls man das überhaupt sein konnte. Dann dachte sie an den Doktor. Sie hatte bereits erfahren, dass nur er der Grund dafür gewesen war, dass Frank Wall überhaupt noch lebte. Sie mochte den Doktor. Obwohl er ihr fast alle süßen Stückchen weggegessen hatte, die Mildred eigentlich für sie gerichtet hatte.

Doktor Masters und Mildred waren von Anne Reeves Unschuld überzeugt. Das hatte sie sofort bei ihrem Gespräch gemerkt. An Sergeant Miltons Einstellung diesbezüglich gab es sowieso keine Zweifel.

Sie hatte vorhin eine Entscheidung getroffen und hoffte nun, dass das kein Fehler gewesen war. Mit ihrem Einverständnis, die Ermittlungen wie bisher weiterzuführen, riskierte sie auch weitere Opfer. Das war ihr bewusst gewesen. Allerdings hatte sie keine andere Alternative gesehen. Diese Fälle mussten aufgeklärt werden.

Dann schmunzelte sie. Sie war zwar noch jung, hatte aber eine gute Menschenkenntnis. Deshalb war ihr bereits bei ihrer ersten Begegnung mit Sergeant Milton klar gewesen, dass er sich weitere Ermittlungen niemals hätte verbieten lassen. Ein Verbot wäre also nur eine unnötige Machtprobe gewesen und hätte niemandem gedient. Sie musste herzhaft gähnen. Sergeant Milton war ein guter Mann. In jeder Hinsicht. Er hatte bei ihrem Gespräch erwähnt, wie sehr er um seine Familie fürchtete, und dass er alles tun würde, um sie zu beschützen. Das hatte sie sehr beeindruckt.

Dann widmete sie sich wieder den Notizen und Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Es dauerte eine gute Stunde, bis sie alles durchgesehen hatte. Sie las die medizinischen Berichte und die bisherigen Ermittlungsergebnisse. Dann studierte sie ihre eigenen Aufzeichnungen. Danach beschloss sie, einen Rundgang durch die Behörde zu machen und eine kurze Ansprache zu halten.

Die Mitarbeiter hörten ihr aufmerksam zu und schienen von der ruhigen Art und dem netten Wesen ihres neuen Sheriffs angetan zu sein. Man konnte förmlich spüren, wie die gesamte Wache Süd aufatmete und wieder zur Ruhe kam.

Bevor sie zurück an den Schreibtisch ging, wollte Madeleine kurz frische Luft schnappen. Mildred, die treu an ihrer Seite war, empfahl ihr einen Spaziergang zu den Pferdeunterkünften. Da Madeleine Rose eine große Tierliebhaberin war, nahm sie den Vorschlag gerne an, verzichtete aber auf Mildreds Begleitung und bat sie stattdessen, selbst eine kleine Pause einzulegen. Mildred verabschiedete sich dankbar, und Madeleine stand nun alleine auf einer der Grünflächen.

Etwas abseits begann der Weg zu den Ställen. Schon von Weitem konnte sie das vertraute Schnauben der Pferdenüstern hören. Ansonsten war es sehr still. Der Weg war links und rechts mit großen Bäumen gesäumt, die an den vielen Sonnentagen in der Gemeinschaft Süd einen guten Schutz vor der Hitze boten. Der schöne Stall mit angrenzenden Weideflächen, die so groß waren, dass man die Endmarkierungen nicht sehen konnte, ließ Madeleines Herz höher schlagen.

Als sie an die Gebäude herantrat, begrüßte sie auch schon der erste Vierbeiner. Eine Katze sprang auf und bedachte sie mit einem empörten Blick, da sie sich offensichtlich in ihrem Mittagsschläfchen gestört fühlte. Durch eines der Fenster schob sich neugierig ein Pferdekopf. Madeleine ging auf das Tier zu und streichelte es liebevoll.

Sie war so sehr mit dem Pferd beschäftigt, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte, als sie eine freundliche Stimme hinter sich hörte: »Hallo Misses, das ist unsere Doll, sie hat ein bisschen Liebeskummer.«

Madeleine Rose drehte sich um und sah in die gutmütigen Augen des Pferdebetreuers. Überrascht antwortete sie: »Liebeskummer?«

Mister Oliver grinste. »Sie sind der neue Sheriff, nicht wahr? Ich bin Mister Oliver, ich kümmere mich um unsere Pferde.«

Madeleine lächelte: »Ja, mein Name ist Madeleine Rose, freut mich, Sie kennenzulernen. Wie ich sehe, sind die Tiere bei Ihnen bestens versorgt.«

Mister Oliver freute sich über das Lob. »Ja, sind wie meine Kinder. Jedes ist anders.«

Madeleine erhielt einen Nasenstupser von Doll, weil sie die Streicheleinheiten unterbrochen hatte. Mechanisch fing sie wieder an, den Hals des Tieres zu tätscheln: »Was heißt, sie hat Liebeskummer?«

Jetzt schien es Mister Oliver leid zu tun, dass er so unüberlegt losgeplappert hatte. Er zögerte, dann entschied er sich doch dafür zu sprechen: »Ist wegen Emil!«

Madeleine Rose machte große Augen. »Wer ist Emil?«

Mister Oliver zögerte erneut, aber es war nicht mehr nötig, seine Antwort abzuwarten.

Madeleine Rose erinnerte sich an die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch und sagte: »Emil also! Das Pferd, das sich Misses Reeve ausgeliehen hat.« Dann wandte sie sich an Doll und sagte: »Weißt du, ich bin mir sicher, dass dein Emil bald wieder da sein wird.«

Mister Oliver konnte nicht einschätzen, wie er diese Bemerkung zu verstehen hatte, fasste sich aber ein Herz und hielt seine Gedanken nicht länger zurück: »Hören Sie Misses, Sheriff Rose, ich bin zwar kein Sergeant, aber ich kenne den Chief-Sergeant schon lange genug. Das, was Sie ihr da vorwerfen, das hat sie niemals getan. Sie macht vielleicht manchmal komische Dinge, aber niemals würde sie einem anderen schaden. Sie ist ein guter Mensch. Die Tiere mögen sie. Meine Pferde, die spüren gleich, wie jemand ist. Und ich sage Ihnen noch etwas: Wenn ich in der Nacht, in der Misses Reeve geflohen ist, da gewesen wäre, ich hätte ihr Emil höchstpersönlich gesattelt.« Damit verschränkte er die Arme vor der Brust, so, als wollte er dem Gesagten noch mehr Nachdruck verleihen und blickte Sheriff Rose trotzig an.

Madeleine drehte sich nochmals zu Doll: »Bis bald, meine Kleine.« Dann wandte sie sich Mister Oliver zu: »Danke für Ihre Hilfe. Ich hoffe, wir haben bald wieder einmal die Gelegenheit für einen Plausch.« Sie lächelte und ging zurück zur Wache.

Auf ihrem Rückweg zum Büro unterhielt sie sich noch mit ein paar Kollegen, dann setzte sie sich erneut an ihren neuen Schreibtisch. Eine weitere Stunde benötigte sie, um die Informationen auszuwerten, die sie bisher erhalten hatte. Dann hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Sie würde einige Gespräche führen müssen. Ihr stand ein langer Arbeitstag bevor, und es würde nicht leicht werden, aber sie wollte auf keinen Fall scheitern.