6. Die Felsenbucht

 

Frank hatte nach der Besprechung in seinem Büro noch einen Gang vor sich. Es machte keinen Sinn, länger zu warten. Eigentlich hätte sie bei der Besprechung um 11.00 Uhr dabei sein müssen. Als er an diesem Abend an seinem Ziel ankam, ertappte er sich dabei, wie er hoffte, niemanden anzutreffen. Allerdings wurde ihm schon kurz nach seinem Klopfen geöffnet. Rabea sah wieder umwerfend aus, obwohl sie sehr schlicht gekleidet war. Sanft legte sie Frank ihren Arm auf die Schulter: »Komm rein, ich hatte dich nicht erwartet.«

Frank ging an ihr vorbei, offensichtlich dachte sie, es wäre ein privater Besuch, denn sie sah ihn enttäuscht an, als er sich von ihr zurückzog. »Was ist passiert, Frank, geht es dir nicht gut?«

Ja, wie ging es ihm eigentlich? Frank fiel zum ersten Mal auf, dass ihm diese Frage nie jemand stellte, außer Rabea. Sie war ernsthaft um ihn besorgt. Er hatte einen schrecklichen Tag hinter sich. Die Diskussionen mit Anne, dann dieser aufgeblasene Nigel O’Brian. Und nun musste er auch noch zugeben, dass er Rabea nicht rechtzeitig informiert hatte.

Rabea drückte ihm ein Glas in die Hand: »Schlechte Nachrichten?«

Frank riss sich zusammen: »Es geht um Karl Hobnitz.«

Rabea erschrak. Er sah Angst in ihren Augen, als er ihr von den möglichen Morden an Marie White und eventuell sogar an Doktor Calliditas erzählte. Er sah, dass sie blass wurde, als er die Zweifel an der Theorie der verzögerten Einäscherung aussprach. Er bat sie dem Großen Rat die neuen Erkenntnisse mitzuteilen, aber vorerst von einer Radiomeldung abzusehen. Über den Umschlag schwieg er auch dieses Mal.

Rabea sah ihn mit ihren großen Augen an: »Aber Frank, warum erfahre ich das erst jetzt? Du kennst die Regeln.« Es verletzte sie persönlich, dass Frank sie so spät über alles informierte. Eigentlich war es nicht ihre Art, anderen Vorwürfe zu machen, aber Franks Verhalten forderte sie geradezu heraus: »Was denkst du, was der Große Rat dazu sagen wird? Wir hätten denen längst sagen müssen, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.«

»Es tut mir leid«, war alles, was ihm dazu einfiel.

Rabea setzte sich neben Frank und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Sie wusste, dass er am Ende seiner Kräfte war, sie kannte ihn schließlich lange genug. Er drehte sich zu ihr und dachte: Meine Güte, was für eine schöne Frau. Dann schloss er sie in die Arme und küsste sie.

Sie hatten immer leidenschaftlichen Sex, wenn sie miteinander schliefen. So war es auch dieses Mal. Wie Ertrinkende klammerten sie sich aneinander, als würden sie untergehen, wenn der eine den anderen freigeben würde. Die körperliche Lust war in diesem Moment so groß, dass sie ihnen fast Schmerzen bereitete. Es war wild und rau, und doch war für einen kurzen Moment eine Zärtlichkeit zwischen ihnen, die ihre Seelen auf eine besondere Weise miteinander verband. Frank fand es jedes Mal fantastisch. Seit ihrem ersten Mal hatte es einige dieser Nächte gegeben. Aber es hatte nie zu einer festen Beziehung gereicht. Frank war froh, dass Rabea das Thema nicht erwähnte. Offensichtlich hatte sich ihre Meinung seit jener ersten Nacht nicht geändert. So waren sie für Außenstehende stets förmlich im Umgang miteinander. Niemand wusste von ihrer privaten Verbindung, nicht einmal Anne.

Frank wollte jetzt nicht an Anne denken. Er hatte keine Lust, sich den Abend zu verderben. Stattdessen küsste er Rabea sanft, drehte sich um und schlief ein.

Rabea konnte noch nicht schlafen, sie war zu aufgewühlt. Sie ging ins Nebenzimmer. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um und betrachtete den schlafenden Frank. Es war so schön, wenn er bei ihr war. Sie liebte diesen Mann von ganzem Herzen. Er war so stark und männlich. Er hatte sich nie von ihr eingeschüchtert gefühlt. Im Gegenteil, wenn überhaupt, dann war es Frank Wall, der andere einschüchtern konnte. Bei ihm war sie einfach eine Frau, der er seine Arme anbot. Sie erinnerte sich noch an ihr erstes Mal. Es war unglaublich romantisch gewesen. Es war die Hochzeitsfeier von Anne gewesen, wohlgemerkt ihre zweite Hochzeit. Rabea musste schmunzeln. Was für eine Party. Anne Reeve verstand es wahrhaft zu feiern. Aber auch sie und Frank hatten an dem Abend über die Stränge geschlagen. Irgendwann waren sie auf die Idee gekommen, nackt baden zu gehen. Es war unglaublich heiß gewesen an diesem Tag, sodass die Temperatur auch nachts noch die dreißig Grad überstiegen hatte.

Frank hatte sich einen der Krüge geschnappt, die die alkoholischen Getränke enthielten. Rabea hätte nicht mehr sagen können, was es gewesen war, es hatte auf jeden Fall scheußlich geschmeckt. Und als sie in der Bucht angekommen waren, war es dann passiert. Sie waren regelrecht übereinander hergefallen. Frank war wirklich ein unglaublicher Liebhaber. Hinterher war es überhaupt nicht peinlich zwischen ihnen gewesen. Er war sehr rücksichtsvoll und aufmerksam. Einzig seine Vorstellung vom Fortgang ihrer Beziehung hatte ihr einen Stich versetzt. Sie hatte sich einen Plan ausgedacht, sie wollte sich von ihm erobern lassen, und dazu sollte er sich erst einmal nach ihr verzehren. Sie hatte so romantische Vorstellungen gehabt. Sie hatte gedacht, wenn sie ihn zurückweisen würde, wäre sie für ihn interessanter. Sie hatte an Blumengeschenke gedacht, wie er ihr den Hof machen würde, daran, wie er sich bemühen würde, wie er sie letzten Endes um ihre Hand bitten würde. Deshalb hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie noch nicht in der Lage wäre, eine Beziehung zu führen und Zeit bräuchte, er das aber nicht falsch verstehen sollte. Sie würde ihn mögen, nur die großen Gefühle wären eben nicht da.

Heute bereute sie ihre mädchenhaften Spinnereien zutiefst. Sie fragte sich oft, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie damals den Mund gehalten hätte. Sie könnte sich immer noch ohrfeigen, wenn sie an Franks ernüchternde Antwort von damals dachte. Ohne große Worte hatte er ihr erklärt, dass er froh sei, dass sie das so unkompliziert sehen würde, da er auch kein großes Interesse an einer Beziehung hätte. Dann hatte er sie auf die Stirn geküsst und ihr gesagt, dass sie ein ganz bezauberndes Wesen sei.

Für sie war es damals so gewesen, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Um noch irgendetwas zu retten, war es aus ihr herausgesprudelt, dass sie sich gerne bei Gelegenheit wiedersehen könnten, da sie die Nacht mit ihm sehr genossen hätte und sich über eine Wiederholung freuen würde. Er hatte gelächelt und hatte ihr unverblümt mitgeteilt, wie angenehm »unanstrengend« sie doch wäre. Als hätte sie das jemals für ihn sein wollen: »unanstrengend«.

Seither kam das Thema nie mehr zur Sprache, und Rabea tröstete sich mit den wenigen gemeinsamen Stunden. Letztendlich konnte sie ihrem Arrangement auch etwas Gutes abgewinnen. Sie hatten immer wundervolle Nächte zusammen, weil kein gemeinsamer Alltag da war, der sie um ihre Leidenschaft brachte. Dass niemand von dieser Beziehung wusste, machte sie noch spannender. Trotzdem schmerzte es sie, dass sie die Liebe, die sie ihm geben wollte, nicht geben durfte. Sie seufzte und ging aus dem Zimmer. Sie musste nachdenken.

 

Sergeant Milton hatte gleich nach der Besprechung bei Frank Wall die Überprüfung von Nigel O’Brians Aussage veranlasst. Er hatte sich mit der Wache Nord in Verbindung setzen müssen. In solch einem dringenden Fall war es üblich, das Funkgerät zu verwenden. Der zuständige Sergeant im Norden hatte Erkundigungen eingezogen und sich abends zurückgemeldet. Allerdings hatte er nur die Abreise von Nigel O’Brian bestätigen können. Eine Information über seine genaue Ankunft in der Spielwelt hatten sie dadurch leider immer noch nicht.

Sergeant Milton gähnte herzhaft. Er wartete nun schon zwanzig Minuten hier in der Felsenbucht auf Anne Reeve. Heute war der 31. Mai. Gestern hatte er die Schulkommission aufgesucht. Er hatte ganz vergessen, wie groß diese Einrichtung war. Die Schulkommission entwarf die Lehrpläne. Hier wurden Empfehlungen dafür gegeben, wie und was an den Schulen und Akademien unterrichtet werden sollte. Danach wurde im Großen Rat darüber entschieden. Es gab nur eine zentrale Schulkommission, und diese hatte ihren Sitz in der Gemeinschaft im Süden. Aber die Mitarbeiter kamen aus unterschiedlichen Gemeinschaften, aus der ganzen Welt. Sie bestanden zu gleichen Teilen aus Neugeborenen und Überlebenden.

In den Räumen der Schulkommission befand sich auch das Archiv der hiesigen Schulen. Diese Archive gab es in jeder Gemeinschaft, und sie enthielten Schülerakten. Die Entstehung dieser Archive war nicht geplant gewesen, sondern hatte sich einfach so entwickelt. Aufgrund ihrer Zweckmäßigkeit wurden sie dann beibehalten. Für jedes Kind wurde mit Beginn der Schulzeit eine eigene Akte angelegt. In ihr wurden die Daten über den schulischen Werdegang eines Bewohners einer Gemeinschaft gesammelt. Da man nun schon eine Akte angelegt hatte, wurde diese nach Ende der Schulzeit einfach weitergeführt.

Es wurde dann zum Beispiel noch die aktuelle Adresse hinterlegt, und wenn jemand in eine andere Gemeinschaft umzog, meldete er das dem Schularchiv – die Bewohner kamen solchen Verpflichtungen immer gewissenhaft nach. Das Schularchiv schickte die Akte dann an das Schularchiv des neuen Wohnortes weiter. So gab es auch Notizen über Heirat und Kinder. Wer in der Spielwelt wohnte, der hatte seine Akte dort – so wie zum Beispiel Marie White. Einsicht konnte man jederzeit nehmen, allerdings interessierte sich niemand für den Inhalt der Akten. Letztendlich war so eine Akte nur eine lose Blattsammlung und hatte für die Menschen insofern Bedeutung, als sie sie zu einer Gemeinschaft zugehörig machte.

Da man mit Papier sehr sparsam umging, fand man in diesen Akten manchmal eigentümliche Dinge, denn es wurden gerne die Rückseiten bereits beschriebener Seiten verwendet. Damit die Archive nicht zu groß wurden, wurden die Akten beim Tod eines Menschen aus den Archiven geholt und dem Verstorbenen mit in sein Grab gelegt. Eine alte Tradition, die heute noch andauerte. Genauso wie die Gepflogenheit, dass es immer ein Überlebender war, der die Akte dem Toten mit in sein Grab legte. Hatte der Verstorbene oder dessen Familie keinen engeren Kontakt zu einem Überlebenden, dann übernahm diesen traurigen Gang ein Überlebender, der im Archiv oder der Schule tätig war. Dadurch wollte man vermeiden, der Familie beim Verlust eines geliebten Menschen durch diesen Akt noch mehr Kummer zuzufügen. Zumal die Unterlagen, die die Akte enthielt, den Hinterbliebenen keinen Trost spenden konnten.

Dafür hatte sich ein anderes System entwickelt. Viele der Neugeborenen und auch einige der Überlebenden, nämlich die, die sich für den Freitod entschieden hatten, hinterließen sogenannte »Letzte Briefe«. Das waren Briefe, die der Verstorbene zu seinen Lebzeiten verfasste und dann bei einem Notar hinterlegte. Der Notar der Gemeinschaft war wie auch die Wache Süd im alten Stützpunkt untergebracht. Der Notar erhielt genaue Angaben darüber, zu welchem Zeitpunkt er den Brief an eine bestimmte Person aushändigen sollte.

Manchmal erhielt ein Kind von seinem verstorbenen Vater einen Brief erst zum 20. Geburtstag. Eine Witwe bekam den Brief ihres verstorbenen Mannes dafür gleich nach dessen Tod. Oder ein Mädchen erhielt an seinem Hochzeitstag einen Brief mit Glückwünschen der verstorbenen Großeltern. Die meisten Briefe sollten trösten und den gemeinsamen Lebensabschnitt abschließen. Es ging oft darum, Mut und Hoffnung zu geben. Da sich Lebenssituationen änderten, wurden diese Briefe manchmal auch ausgetauscht oder geändert.

Sie hatten alle gehofft, dass auch Doktor Calliditas einen solchen »Letzten Brief« hinterlegt hatte. Der Sheriff war deshalb persönlich beim Notar gewesen. Leider hatte er ihnen bei der Besprechung am Vortag mitteilen müssen, dass es keinen »Letzten Brief« von Doktor Calliditas gab.

Sergeant Milton hatte schon vor langer Zeit einen Brief für Katie hinterlegt. In Gedanken schrieb er bereits einen zweiten Brief, den sein ungeborenes Kind erhalten sollte, falls er dessen Geburt aus irgendeinem Grunde nicht mehr erleben durfte. Er hoffte, dass er Katie nicht überleben würde, zu groß stellte er sich den Schmerz vor, wenn er zurückbleiben müsste. Außerdem hoffte Sergeant Milton, dass Anne Reeve eines Tages seine Akte aus dem Schularchiv holen würde, wenn seine Zeit gekommen wäre.

Nach dem Besuch bei der Schulkommission hatte sich der Sergeant auf den Weg nach Hause gemacht. Er hatte später noch bei Anne Reeves Wohnung vorbeischauen wollen, er hatte Neuigkeiten gehabt. Als er zu Hause angekommen war, hatte er die Erschöpfung gespürt, es war ein anstrengender Tag gewesen. Er hatte die Haustür geöffnet und sofort das Gefühl der Geborgenheit empfunden, das ihm sein Heim bot.

Er hatte nach Katie gerufen, doch er hatte keine Antwort erhalten. Im Wohnraum hatte Licht gebrannt. Er war beunruhigt gewesen. Wieder hatte er den Namen seiner Frau gerufen. Als er die Zimmertür geöffnet hatte, hatte er sie gesehen. Sie hatte in ihrem Lieblingssessel gesessen und ein altes Stofftier im Arm gehalten. Sie hatte geweint. Er war auf sie zugestürzt: »Katie, um Gottes Willen, was ist passiert? Geht es dir gut? Das Baby ...« Er war wie betäubt gewesen, sollte sie etwa das Baby verloren haben? Er hatte gewusst, dass das vielen Paaren passierte.

Katie hatte ihn angesehen. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht entspannt. Sie hatte ihn jetzt sogar zornig angefunkelt. Sergeant Milton war völlig überrascht gewesen, als sie ihn scharf anfuhr: »Dem Baby geht es gut. Noch. Wie es ihm aber gehen wird, wenn es ohne Vater aufwächst, das weiß ich noch nicht!«

»Katie, was soll das denn? Was ist denn in dich gefahren?«

»Wie kannst du das fragen, ich habe die Nachrichten gehört, Doktor Calliditas ist tot. Noch ein Toter. Und ich denke die ganze Zeit darüber nach, ob du noch lebst. Wie soll das nur weitergehen? Ich sitze hier seit Stunden und warte. Du bist ständig in Gefahr, und dir ist völlig egal, was aus mir und dem Baby wird.«

Sergeant Milton hatte Katie nicht verstanden: »Aber Kleines, das ist doch meine Arbeit.«

»Das ist nicht deine Arbeit. Deine Arbeit ist es, Aschenfälle zu bearbeiten. Hier sterben Menschen. Ich möchte, dass du damit aufhörst.«

Der Sergeant hatte nicht gewusst, was er hätte sagen sollen, er hatte Katies Verhalten auf ihre Schwangerschaft geschoben und hatte versucht, sie zu beschwichtigen: »Hör mal, das hier wird bald vorbei sein. Dann wird alles wieder wie früher. Du darfst dich in deinem Zustand nicht aufregen.«

Er hatte sie berühren wollen, doch sie hatte ihn grob abgewiesen: »Sag mir nicht, ich soll mich nicht aufregen. Ich war heute einkaufen. Die Menschen haben kein anderes Thema. Sie sprechen nur von den Lorden-Brüdern. Sie sind unsicher und fragen sich, ob die verzögerte Einäscherung von Karl Hobnitz wirklich eine Ausnahme war. Die Menschen verriegeln ihre Türen und bleiben zu Hause. Alle sind vorsichtiger geworden. Nur mein Mann, der muss mittendrin sein. Warum? Lass das die anderen machen. Du kommst gerade von der Akademie, wie wichtig kann es schon sein, dass du bei den Ermittlungen dabei bist!«

Katie hatte zwei Dinge gesagt, die es dem Sergeant unmöglich machen würden, sich von dem Fall zurückzuziehen. Erstens die Angst der Leute. Damit hatte er sich verpflichtet gefühlt, bei der Aufklärung zu helfen. Das war das, was er immer tun wollte: der Gemeinschaft dienen. Zweitens hatte Katie an seinem Ego gekratzt. Zu behaupten, er könne nicht helfen, zwang ihn quasi dazu, ihr das Gegenteil zu beweisen.

Unüberlegt hatte er geantwortet: »Der Chief-Sergeant zählt auf mich.« Ein Satz, mit dem er das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Katie hatte angefangen lauter zu werden: »Der Chief-Sergeant braucht dich, dann soll sie sich einen eigenen Ehemann suchen. Die hat gut reden. Mit 300 Jahren kann man sich ja bequem in solche Abenteuer stürzen. Wenn man so lange gelebt hat, ist einem vielleicht egal, wenn es zu Ende geht. Mir ist das aber nicht egal. Ich will einen Vater für mein Kind.«

Er hatte versucht, ruhig zu bleiben.

Sie hatte Angst um ihn, das hatte er verstehen können: »Ich werde vorsichtig sein, das verspreche ich dir. Ich werde ...«

»Keine Versprechungen, ich will, dass du dich von dem Fall zurückziehst. Deine Vorgesetzten werden sicher dafür Verständnis haben.«

»Katie, das kann ich nicht, das ist meine Arbeit. Ich will diesen Fall aufklären, damit wir alle wieder in Sicherheit und Frieden leben können.«

»Du kannst nicht oder du willst nicht?«

Sergeant Milton hatte ihr nicht die Antwort geben können, die sie hatte hören wollen: »Ich flehe dich an, sei doch vernünftig. Der Chief-Sergeant wird ...«

»Der Chief-Sergeant, der Chief-Sergeant ...« Sie war verärgert aufgesprungen und hatte ihn nachgeäfft. »Was wird der Chief-Sergeant? Mit mir das Kind großziehen, nach dem wir dich beerdigt haben? Ich will nichts mehr von dieser Frau hören. Seit Tagen dreht sich alles nur noch um die Morde und den Chief-Sergeant. Du wirst dich entscheiden müssen, entweder ich und dein Kind, oder der Chief-Sergeant und die Morde!«

Damit hatte sie sich umgedreht und das Zimmer verlassen. Er hatte gehört, wie sie die Schlafzimmertür zugeknallt hatte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er hatte noch nie einen solchen Streit mit Katie gehabt. War sie etwa eifersüchtig auf Anne Reeve? Das war absurd. Das musste an den vielen Schwangerschaftshormonen liegen …

Der Sergeant war mit sich und seinen Schlussfolgerungen zufrieden gewesen. Er hatte sie erst einmal in Ruhe gelassen, damit sie sich würde beruhigen können. Am nächsten Tag würde ihr der Streit sicher peinlich sein, und sie würden sich versöhnen. Da er der Meinung gewesen war, momentan nichts weiter ausrichten zu können, hatte er versucht, Anne Reeve zu finden. Er hatte ihr unbedingt von seinem Besuch bei der Schulkommission erzählen wollen. Er hatte seine Jacke genommen und die Treppe hochgerufen: »Katie, ich muss noch mal kurz weg. Bin aber gleich wieder zurück.«

Er hatte keine Antwort erhalten, mit den Schultern gezuckt und sich auf den Weg zu Anne Reeve gemacht. Unterwegs hatte er dann ein komisches Gefühl gehabt, das er nicht einordnen konnte. Er hatte sich gefragt, ob er beobachtet wurde. Sergeant Milton hatte sich mehrmals umgedreht, hatte einmal sogar geglaubt, Schritte zu hören. Aber er hatte in der Dunkelheit niemanden sehen können. Er hatte sich wohl getäuscht. Sicher hatten ihm seine strapazierten Nerven einen Streich gespielt.

An der Haustür von Anne Reeve war er enttäuscht worden, sie war nicht zu Hause gewesen. Also hatte er einen Zettel mit einer Nachricht unter der Tür hindurchgeschoben. Der Sergeant wollte sich am nächsten Morgen um 8.00 Uhr mit ihr in der Bucht unten bei den Felsen treffen. Anne hatte ihm die Bucht an einem seiner ersten Arbeitstage gezeigt, als sie sich über Sport unterhalten hatten. Sie ging dort nach dem Joggen für gewöhnlich schwimmen, wenn es das Wetter zuließ. Sie würde also wissen, was er mit der Felsenbucht meinte.

Dann hatte er sich wieder auf den Heimweg gemacht. Das Gefühl, verfolgt zu werden, war verschwunden gewesen. Er hatte es sich also wirklich nur eingebildet. Als er zu Hause angekommen war, hatte er gehofft, dass Katie auf ihn warten würde, aber sie schien immer noch im Schlafzimmer zu sein. Der Sergeant war einfach zu erschöpft gewesen. Er hatte es sich auf der Couch im Wohnzimmer bequem gemacht und war sofort eingeschlafen. Einmal hatte er geglaubt, das Öffnen und Schließen der Haustür zu hören, dann war er wieder in einen tiefen Schlaf gefallen. Am Morgen hatte er sich früh auf den Weg gemacht. Katie war noch immer im Schlafzimmer gewesen. Er hatte sie nicht gestört, er hatte ihr Zeit lassen wollen.

 

Sergeant Milton blickte erneut auf seine Uhr. Mittlerweile war es bereits 8.30 Uhr. Er befürchtete, dass Anne seine Nachricht nicht erhalten hatte. Hatte er doch übertrieben mit dem Treffpunkt hier unten am Meer? Aber das, was er herausgefunden hatte, war unglaublich. Zumindest glaubte er, dass es unglaublich war. Er kam ins Grübeln. Unsicherheit machte sich breit. Er hätte Anne die Neuigkeiten ebenso im Büro mitteilen können, aber von ihrem Gespräch noch vollkommen bewegt, nahm er das mit der Geheimhaltung sehr ernst. Also wollte er erst einmal ein »Vier-Augen-Gespräch«. Die Stelle am Meer war perfekt, von der Straße her war die Bucht schlecht einsehbar, da die Felsen einen guten Sichtschutz boten. Anne machte ganz in der Nähe gelegentlich ihren Morgenlauf, also wäre alles ganz unauffällig gewesen – und nun kam sie nicht ...

Er dachte bereits ernsthaft daran, auf die Wache zurückzukehren, als er meinte, zwischen den Felsen ein Geräusch zu hören. Er wollte gerade den Kopf drehen, als ein lautes Knacken an sein Ohr drang. In dem kurzen Moment, bevor er das Bewusstsein verlor, dachte er noch, wie schmerzhaft sich das Knacken angefühlt hatte. Dann verschlang ihn die Dunkelheit. Das kalte Wasser, das seinen Körper umspülte, nahm er genauso wenig wahr wie den Moment, als sein Herz zu schlagen aufhörte.

 

»Bereust du es?« Nigel stand auf dem Balkon und rauchte, er sah sie an und hatte ein wenig Angst vor ihrer Antwort. Er trug kein Oberteil, und man konnte einige Narben sehen, die sicher auch die Folgen der einen oder anderen Dummheit gewesen waren. Die Narben auf seiner Seele, die konnte Anne in seinen Augen sehen.

»Sei nicht albern.« Anne rekelte sich verschlafen, und er musste lächeln. In diesem Moment war sie sein Mädchen.

Anne blickte auf die Uhr. »Um Gottes Willen, ich muss zurück zur Gemeinschaft. Mein Sergeant wird schon auf mich warten, ich ...« Sie sah Nigel die Enttäuschung an, und auch sie wäre jetzt lieber bei ihm geblieben.

»Ich weiß, Anne, mache dir keine Gedanken, die Sache muss erledigt werden, lass uns später Pläne machen.«

Anne lächelte ihn dankbar an. Das war die Verbindung unter Überlebenden, sie wussten einander Raum zu lassen. Wer so lange gelebt hatte, konnte sich nicht von heute auf morgen umstellen. Als Anne an diesem Morgen die Spielwelt verließ, war sie glücklich. Alles schien ihr in diesem Moment möglich.

 

Als sie gegen 10.00 Uhr endlich bei sich zu Hause ankam, war sie immer noch in einem richtigen Glücksrausch. Nicht einmal der leichte Kater, der sie sanft plagte, konnte ihr das verderben. Als sie die Tür öffnete, stellte sie fest, dass sie nicht abgeschlossen war. Das war für sie normalerweise nicht ungewöhnlich, aber heute fing sofort ihr Puls zu rasen an. Sergeant Milton hatte gestern für sie abgeschlossen, und er war hundertprozentig sorgfältig gewesen, da war sie sich sicher.

Sie war nach der Besprechung bei Frank Wall nicht mehr nach Hause gegangen. Jemand war also in ihrer Wohnung gewesen. Das einfache Schloss hätte selbst ein Kind mit einem Draht öffnen können. Aber warum? Weiter kam sie nicht, denn dann sah sie die Nachricht von Sergeant Milton auf dem Boden. Panik löste ihr Glücksgefühl ab, jetzt wusste sie, was die unverschlossene Tür bedeutete. Der Mörder war hier gewesen und hatte Sergeant Miltons Nachricht gelesen. Das Treffen wäre vor zwei Stunden gewesen.

Sie riss den Telefonhörer von der Gabel und wählte die Nummer der Wache Süd. Da Telefonanrufe immer etwas Schlimmes bedeuteten, wurde der Anruf schnell entgegengenommen. Als der Sergeant am anderen Ende der Leitung die Abwesenheit von Sergeant Milton in der Wache bestätigte, schlug Anne sofort Alarm. Sie beschrieb genau den Platz an der Küste und forderte Verstärkung an. Dann rannte sie los. Sie machte sich Vorwürfe, hoffentlich war nichts passiert. Sie hatte eine schreckliche Vorahnung, ihre Lungen schmerzten, die Beine versagten ihr fast den Dienst, aber sie rannte und rannte, bis sie die Felsen erreichte. Beim Abstieg kam sie nur langsam voran, denn an dieser Stelle war es furchtbar steil und unwegsam.

Als sie unten ankam, sah sie den leblosen Körper im Wasser. Sie sprang ins Meer, stürzte mehrmals, das Salzwasser drang in Mund und Nase, aber sie bemerkte all das nicht.

Eine Welle erfasste sie, und sie wurde grob über das Kiesufer geschleift, sie kämpfte gegen die kalte Flut, bis sie endlich Sergeant Milton erreicht hatte. Der Körper hatte sich an einem vorstehenden Felsen verkeilt. Sie rief immer wieder seinen Namen. Unter unglaublichen Anstrengungen schaffte sie es mit Sergeant Milton zurück ans Ufer. Sie unternahm alle Wiederbelebungsmaßnahmen, die möglich waren. Sie konnte bei ihm keinen Puls spüren, keinen Herzschlag, er musste mindestens schon eine Stunde im Wasser gelegen haben. Ihre Hände und Lippen waren ganz blau, sie zitterte, aber sie spürte nichts außer den Schmerz des Verlustes. Sie wusste, dass er tot war. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und sie schrie immer wieder nach Hilfe. Sie wäre in diesem Moment bereit gewesen zu sterben, wenn sie ihn damit hätte retten können. Das Wissen um die Endgültigkeit raubte ihr fast den Verstand. Sie wollte nicht mehr leben, keinen Tag länger diesen Schmerz spüren müssen. Diese Welt war nicht mehr die Ihre.

 

Frank Wall saß neben Annes Bett im Krankenhaus. Sie war bisher noch nicht richtig zu sich gekommen. Stattdessen murmelte sie immer wieder die gleichen Worte vor sich hin. Frank konnte sich darauf keinen Reim machen. Ständig wiederholte sie den Satz: »Er wurde für dich gerettet, nun rette uns. Er wurde für dich gerettet, nun rette uns.« Frank Wall hatte einen der schlimmsten Augenblicke seines Lebens erlebt, als ihm der Sergeant vom Empfang Annes Nachricht übermittelt hatte. Er hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu dem beschriebenen Küstenabschnitt am Meer zu kommen. Mehrmals verfluchte er die altmodischen Transportmittel und wünschte sich die hohe Technik der Traurigen Zeit zurück. Selbst die schrecklichen Missstände von damals hätte er akzeptiert, nur um rechtzeitig bei Anne zu sein.

Als er und das Team angekommen waren, gefolgt von den Sanitätern, hatte er das Schlimmste befürchtet. In den beiden Körpern, die leblos am Strand lagen, hatte er sofort Anne und Sergeant Milton erkannt. Der Schock steckte ihm noch in den Knochen. Er hatte sich über Anne gebeugt, sie im Arm gehalten. An die Fahrt ins Krankenhaus konnte er sich nicht erinnern. Er hatte gebetet, das erste Mal seit langer Zeit ohne Demut, dafür mit Zorn und Angst. Jetzt saß er an ihrem Bett und wartete auf den Arzt.

»Herrgott nochmal, wo bleibt der denn ...?«

Es war normalerweise nicht Franks Art, zu fluchen, aber in dieser Situation konnte er nicht anders. Dumm nur, dass er ausgerechnet diesen Fluch laut ausgesprochen hatte und noch dümmer, dass in diesem Moment der Arzt das Zimmer betrat.

Der Doktor war Ungeduld wohl gewohnt, denn er sprach mit beschwingter Stimme: »Und da ist er auch schon!« Dabei zwinkerte er Frank Wall zu und betrachtete ihn belustigt.

Frank Wall kam ins Stottern, wollte sich entschuldigen, brachte aber keinen geraden Satz heraus.

Der Arzt schmunzelte erneut: »Bleiben Sie ganz ruhig, setzen Sie sich, entspannen Sie sich, und atmen Sie tief durch.«

Frank Wall ließ es zu, dass der Arzt ihn wie ein Kleinkind behandelte.

Der Arzt setzte sich ihm gegenüber. »Also Sheriff, ihre Mitarbeiterin wird bald wieder auf den Beinen sein. Sie hat keine Verletzungen, keine Gehirnerschütterung, alles ist in Ordnung.«

Frank Wall war nicht überzeugt: »Aber Sie sehen doch, sie ist nicht sie selbst. Und was redet sie da?«

»Was wir sehen, sind die Folgen eines Schocks und eine leichte Unterkühlung. Das Gehirn hat seine eigenen Methoden, mit Stress umzugehen. Momentan verarbeitet sie das Erlebte. Wir warten, bis sie aufwacht, was sicher in den nächsten Stunden passieren wird, dann machen wir noch einige Tests und behalten sie zur Sicherheit ein oder zwei Tage hier. Wie gesagt, kein Grund zur Besorgnis.«

Frank stiegen Tränen der Erleichterung in die Augen, der Arzt klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und ließ ihn mit Anne alleine.

 

Anne konnte sich nicht bewegen. Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen, aber es gelang ihr nicht. Dann tauchten Bilder auf wie in einem Traum. Sie hörte eine Stimme. Es war eigenartig. Anne wusste genau, dass die Stimme in einer fremden Sprache redete, die Anne nicht kannte, trotzdem konnte sie das Gesagte verstehen.

Jetzt bekam die Stimme ein Gesicht. Es schien fast durchsichtig zu sein. Sie sah zwei Augen, eine Nase und einen Mund. Sie sah den Kopf, dann den Körper, die Arme und Beine wie bei einem Menschen. Und doch wusste Anne, dass das Wesen kein Mensch war. Die Gestalt schwebte und blickte Anne an. Anne hatte das Gefühl tiefster Zufriedenheit. Dieses Glücksgefühl, das man wahrnahm, wenn man etwas Unmögliches geschafft hatte. Etwas, was einem zuvor keiner zugetraut hatte. Ein Gefühl wie der erste Kuss, die erste Berührung. Ein Gefühl wie Vanille. Ja, Anne konnte Vanille riechen. Sie liebte Vanille. Anne war nun ganz eingehüllt von diesem Gefühl. Sie wollte es festhalten. Die Gestalt gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, ganz ruhig zu bleiben. Dafür legte sie einen schmalen Finger auf die fast durchsichtigen Lippen.

Anne sah jetzt Sergeant Milton am Strand liegen – nass und leblos. Schon fing das Gefühl an nachzulassen, als wieder das Geschöpf auftauchte und ihr ganz sanft über die Stirn streichelte. Was für ein wunderschöner Traum, ich möchte nie wieder aufwachen. Anne fühlte sich wie in einem Kokon. Dann sah sie wieder Sergeant Milton. Das Wesen hatte ihn ebenfalls berührt, er öffnete die Augen und lächelte. Anne sah wieder das Wesen an und hatte das Gefühl, dass sie das alles schon einmal erlebt hatte, aber sie wusste nicht mehr, wann und wo. Dann hörte sie wieder die Stimme. Wie angenehm ihr Klang war. Und dann hörte sie noch eine andere Stimme, eine Stimme die sie kannte, die ihr vertraut war. Langsam verflog die Vanille, sie nahm wieder andere Gerüche war, andere Gefühle. Sie kämpfte dagegen an, wollte zurück in ihren Traum, aber es gelang ihr nicht. Sie hörte, wie ihr Name gerufen wurde. Mühsam öffnete sie die Augen, es war, als hätte sie Gewichte darauf liegen.

Als sie langsam zu sich kam, erkannte sie Frank Walls besorgtes Gesicht. Sie musste blinzeln und sich orientieren. Ihr Mund war trocken, sie hatte keine genaue Erinnerung. Was war passiert?

Plötzlich tauchte ein Arzt auf, fragte sie nach ihrem Namen und stellte ihr Rechenaufgaben. Das ging eine Weile hin und her, bis Anne die Geduld verlor: »Oh mein Gott, hören Sie mit diesem Gefrage auf, ich bin doch kein Buchhalter!«

Der Arzt, der gleiche, der auch schon mit Frank Wall gesprochen hatte, lachte auf: »Genau wie meine Frau, die ist nach dem Aufwachen auch immer schlecht gelaunt. Na dann, Misses Reeve, ich denke, die Welt hat sie zurück. Wir behalten Sie noch über Nacht hier, dann ...«

Plötzlich war Anne hellwach, alles fiel ihr wieder ein. Die Nacht mit Nigel, die Nachricht von Sergeant Milton, der Treffpunkt, sein toter Körper – sie hatte ihn nicht retten können.

Der Arzt musste die Veränderung in ihr bemerkt haben, behutsam sprach er sie an: »Misses Reeve, ist alles in Ordnung?«

»Nichts ist in Ordnung, Sergeant Milton ...« Weiter kam sie nicht, denn die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie fing an zu schluchzen.

»Ja, das war knapp, aber zum Glück waren Sie rechtzeitig da, der Sergeant wird bald wieder auf den Beinen sein. Die Kopfverletzung ist nicht so schlimm, wie wir ursprünglich annahmen, und die Folgen der Unterkühlung haben wir im Griff. Allerdings darf er noch keinen Besuch empfangen.«

»Soll das heißen, er lebt?« Anne hatte das Gefühl, nicht wirklich Teil dieses Gespräches zu sein. Sie kam sich vor, als würde sie ein Theaterstück ansehen und nur sie, die Zuschauerin, wusste um die Wahrheit. »Aber Doktor, sind Sie sicher, ich meine ...«

Jetzt schaltete sich Frank Wall ein: »Anne, was redest du denn da, du hast ihn aus dem Wasser gezogen und gerettet. Er ist bald wieder gesund. Alles ist in Ordnung.«

Der Doktor hatte ihr ein Glas mit einer Flüssigkeit in die Hand gedrückt, die sie mechanisch trank. Dann überkam sie eine unglaubliche Müdigkeit und kurz glaubte sie, der Duft von Vanille würde sie wieder einhüllen, dann schlief sie sanft ein.

 

Nigel hatte gegen Mittag die Spielwelt verlassen. Er fühlte sich anders, freier, fast ein bisschen beschwingt. Natürlich war er schon mit einigen Frauen zusammen gewesen, aber keine war wie Anne. Keine war ihm jemals so nahe gekommen. Er musste sie einfach sehen, deshalb hatte er beschlossen, sie auf der Wache zu besuchen. Sie könnten etwas essen gehen und über ihre Zukunft sprechen. Vielleicht würde sie mit ihm in den Norden kommen. Zumindest eine Zeit lang. Später könnten sie dann zurück in den Süden gehen. Oder sie würden pendeln. Ein halbes Jahr im Süden, ein halbes Jahr im Norden. Er bekam ein schlechtes Gewissen. Eigentlich hatte er jedes Interesse an der Aufklärung des Falles und damit an dem Tod von Marie verloren. Er schämte sich. Andererseits hatte schließlich auch er einmal das Recht, glücklich zu sein. Außerdem würde er natürlich trotzdem zusammen mit Anne an der Lösung des Falls arbeiten, aber er spürte deutlich, wie sich seine Prioritäten verschoben hatten. Momentan zählte nur seine Beziehung zu Anne.

Nigel O’Brian erreichte die Wache Süd mit bester Laune. Die Nachrichten von Annes Einlieferung ins Krankenhaus und vom Zustand des Sergeants trafen ihn wie ein Faustschlag. Er trieb sein Pferd wie ein Wahnsinniger an, um schnellstmöglich ins Krankenhaus zu gelangen. Er spürte, wie die Wut in ihm hochkochte, das alles war die Schuld von Frank Wall. Er hatte die Ermittlungen nicht ernsthaft geleitet und seine Mitarbeiter daher unnötigen Gefahren ausgesetzt. Dass ihm der Sergeant von der Wache mitgeteilt hatte, dass Anne den Umständen entsprechend in einem guten Zustand wäre, interessierte ihn nicht. Was wusste dieser Eierkopf schon! Nigel raste die Stufen des Krankenhauses hinauf, um dort direkt in die Arme von Frank Wall zu laufen.

»Wo ist sie? Ich will sofort zu ihr.«

Nigel wollte sich an Frank vorbeidrücken, aber dieser hielt ihn am Arm fest: »Sie können sie jetzt nicht besuchen. Sie braucht ihre Ruhe. Außerdem gehören Sie nicht zur Familie.«

Frank wusste in diesem Moment selbst, dass das Blödsinn war. Ihm war klar, dass Anne den Kerl mochte und sicher mit seinem Besuch einverstanden gewesen wäre, aber er, Frank, wollte diesen Kerl nicht in Annes Nähe haben und schreckte heute nicht davor zurück, ein klein wenig sein Amt zu missbrauchen.

Nigel schäumte vor Wut: »Nicht zur Familie? Was bilden Sie sich eigentlich ein, sie war heute Nacht bei mir, und wir haben nicht den Fall besprochen – ich werde bald mehr Familie für sie sein, als Sie sich überhaupt vorstellen können, und jetzt geben Sie den Weg frei, bevor ich mich vergesse.«

Frank war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte die Nacht mit diesem Vollidioten verbracht. Er hätte ihn am liebsten dafür geschlagen. Erfreulicherweise lieferte ihm Nigel schon im nächsten Moment die Gelegenheit. Da Frank seinen Griff um Nigels Arm nicht lockerte, begann ein Gerangel und Gezerre. Innerhalb von Sekunden kam eine richtige Schlägerei in Gang. Die Sergeants, die Frank Wall begleiteten, mussten eingreifen und die beiden trennen.

Von Frank Walls Lippe tropfte etwas Blut, als er seinen Männern zuschrie: »Schafft diesen Typen sofort hier raus, und sorgt dafür, dass er das Gebäude nicht wieder betritt.«

Während die Sergeants Nigel O’Brian nur mit vereinten Kräften aus dem Gebäude zerren konnten, brüllte dieser zurück: »Ich mach dich fertig, Wall, das schwöre ich dir!«

Die umstehenden Passanten und Krankenhausmitarbeiter waren geschockt von dieser Szene und starrten Frank Wall mit großen Augen und aufgerissenen Mündern an. Erst jetzt wurde sich Frank dieser peinlichen Aktion bewusst.

Er räusperte sich und sagte ruhig zu der kleinen Menge von Zeugen: »Kein Grund zur Beunruhigung, alles in Ordnung. Bitte geben sie den Flur wieder frei.«

Als sich der Gang leerte, blieb ein einsamer Frank Wall zurück.

 

Als Anne dieses Mal erwachte, war sie allein im Zimmer. Sie fühlte sich ausgeruhter und versuchte, sich zu erinnern. Sie sah Sergeant Milton tot am Ufer, dann ein seltsames Wesen, Frank an ihrem Bett, einen Arzt, der ihr Fragen stellte – dann war da noch etwas. Annes Gehirn arbeitete fieberhaft. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Der Arzt, er hatte gesagt, dass Sergeant Milton noch am Leben wäre. Sie musste das prüfen. Sie hatte schreckliche Angst, dass sie sich die Aussage des Arztes nur eingebildet hatte.

Dann folgte eine weitere Erinnerung – sie hatte eine Stimme gehört, die immer den gleichen Satz wiederholt hatte: »Er wurde für dich gerettet, nun rette uns.« Was hatte das alles zu bedeuten? Außerdem glaubte sie, dass sie auch Nigels Stimme gehört hatte.

Sie musste raus aus diesem Bett. Vorsichtig richtete sie sich auf. Zuerst war ihr ein bisschen schwindelig, aber nach den ersten Schritten ging es besser. Sie öffnete die Schränke in ihrem Zimmer und fand eine Art Jogginganzug mit der Aufschrift »Krankenhaus«. Das musste reichen. Im Spiegel sah sie ihr Gesicht, was sie mit dem Kommentar quittierte: »Selbst mit 303 Jahren sollte man nicht so aussehen.« Dann öffnete sie die Tür und betrat den Flur.

Im Krankenhaus selbst herrschte momentan angenehme Ruhe. Anne versuchte sich zu orientieren. Wo war Sergeant Milton wohl untergebracht? Sie musste nicht lange suchen. Eine Ecke weiter sah sie Frank Wall mit dem Arzt sprechen.

Als er sich umdrehte und sie erblickte, war er vollkommen überrascht: »Anne, was tust du hier ...?«

Schon mischte sich der Arzt ein: »Um Gottes Willen, Misses Reeve, was soll das, Sie müssen zurück in Ihr Bett.«

Anne war genervt: »Warum? Ich denke, mir fehlt nichts.«

»Misses Reeve …« Der Arzt war jetzt wieder ganz behutsam, »Sie sind vollkommen gesund, aber Sie haben trotzdem einen Schock erlitten, und deshalb möchten wir Sie zur Sicherheit hierbehalten. Nur eine Nacht zur Beobachtung.«

Anne rollte mit den Augen: »So leid mir das tut, und ich weiß ihr Angebot wirklich zu schätzen, aber das mit heute Nacht wird nichts. Sie müssen mich ein anderes Mal beobachten. Ich will jetzt sofort meinen Sergeant sehen und wissen, wie es ihm geht.«

Der Arzt sah ein bisschen betreten zu Frank Wall hinüber. Dieser war jedoch so in Gedanken versunken, dass er die Blicke des Arztes nicht registrierte.

»Was ist los, Doktor?« Anne hingegen hatte das Verhalten des Arztes durchaus bemerkt. »Was ist los, wo ist mein Sergeant?« Anne wurde lauter als beabsichtigt. Sie sah wieder den Leichnam von Sergeant Milton vor sich. Schrill rief sie aus: »Er ist also doch tot!«

Der Arzt fing langsam an, sich über Frank Wall zu ärgern, warum sagte er denn nichts? Er war schließlich der Vorgesetzte von dieser Nervensäge. Damit wäre es auch seine Aufgabe, ihr die Sachlage zu erklären. Anne wiederholte ihre Frage, diesmal eine Oktave höher.

»Ist schon gut, ich werde es Ihnen erklären.«

 

Katie war unglaublich angespannt. Sie saß seit der Einlieferung ihres Mannes an seinem Bett. Erst hatte ihr keiner etwas sagen können, sie hatte nur gewusst, dass er fast ertrunken wäre. Anne Reeve hatte ihn rechtzeitig gefunden. Jetzt würde er schlafen, sich vom Schock erholen, waren die Aussagen des Arztes. Keiner wusste, was passiert war. Chief-Sergeant Anne Reeve hatte eine Nachricht von Thomas erhalten, in der er sie um 8.00 Uhr zu einem Treffpunkt am Meer bestellt hatte. Als Anne dann die Nachricht gefunden hatte, war es viel später gewesen. Sie hatte sich vergewissert, dass er nicht zwischenzeitlich wieder auf der Wache aufgetaucht war und hatte dann Alarm geschlagen. Frank Wall und seine Leute hatten die beiden schließlich ohnmächtig am Strand gefunden. Thomas hatte eine Kopfverletzung, vermutlich war er angegriffen worden.

Katie hatte die ganze Zeit, als der Arzt mit ihr gesprochen hatte, geschwiegen. Wie glücklich sie gewesen war, als er ihr gesagt hatte, dass er wieder völlig gesund werden würde. Sie war unendlich erleichtert gewesen.

Während sie an seinem Bett saß, hatte sie seine Hand gehalten und ein Lied gesummt. Sie wusste, dass er ihre Stimme mochte. Dann, vor einer knappen Stunde, war der Arzt noch einmal gekommen, zusammen mit Frank Wall und Doktor Masters.

Katie hatte gleich ein ungutes Gefühl gehabt. Das Aufgebot war zu groß gewesen für gute Nachrichten. Sie hatte auch dieses Mal nichts gesagt, als die drei mit ihr sprachen. Was hätte sie auch sagen können, das war alles so unglaublich. Ihr ganzes Leben würde dadurch verändert werden. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Ihre Gedanken wurden durch ein leichtes Klopfen unterbrochen. Katie drehte den Kopf nicht. Sie sagte nur leise: »Bitte keine weiteren Nachrichten.«

Dann hörte sie eine unbekannte Stimme: »Misses Milton, ich denke, wir beide kennen uns noch nicht.«

Nun drehte Katie sich doch um. Sie wusste sofort, wer da vor ihr stand. Barfuß, mit zerzausten Wuschelhaaren. Um die Augen zahlreiche Lachfalten.

»Ich bin Anne Reeve«, Anne sah an sich herunter, »und egal, was Sie über mich gehört haben, ein bisschen geschmackvoller ziehe ich mich normalerweise schon an. Wie geht es Ihnen, Misses Milton?«

Katie musste lächeln. Anne Reeve war genau so, wie Thomas sie beschrieben hatte. »Nennen Sie mich Katie. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann, Chief-Sergeant, Sie haben mir Thomas zurückgebracht.« Katies Stimme versagte, in diesem Moment kamen alle ihre Gefühle hoch. Die Angst, als sie die Nachricht von der Einlieferung ihres Mannes bekommen hatte, die Schuldgefühle wegen des Streits. Sie konnte sich ihr Verhalten nicht vergeben. Dann die erste Erleichterung und weitere Nachrichten, der Gedanke an das Baby …

Es gelang ihr nicht, sich zu beherrschen, und sie schluchzte wie ein kleines Kind in Annes Armen. Als sie langsam wieder zur Ruhe kam, war ihr der Gefühlsausbruch peinlich. Sie wollte sich entschuldigen, aber Anne schnitt ihr das Wort ab.

»Nennen Sie mich Anne. Niemand, der mich in diesem Aufzug gesehen hat, muss mich noch mit Chief-Sergeant anreden.« Anne zwinkerte ihr zu und schenkte ihr ein Glas Wasser ein, die Karaffe stand auf dem Nachttisch des Sergeants. Dabei trat sie das erste Mal näher an das Krankenbett. Seltsamerweise hatte sie das Gefühl, sie könne den Duft von Blumen ausmachen, obwohl keine im Raum waren.

Sie berührte den schlafenden Sergeant sanft an der Schulter und sagte: »Ich bin froh, Sie zu sehen, Sergeant Milton.« Dann musste sie erst einmal den Kloß im Hals hinunterschlucken. Sie straffte ihren Rücken und drehte sich zu Katie um: »Sie haben es Ihnen also schon gesagt?« Katie nickte und tupfte sich die Augen. Anne war wie immer sehr direkt: »Scheiße, oder?«

Katie sah Anne erstaunt an. Sie hatte jetzt mit vielen Kommentaren und Ratschlägen gerechnet, aber nicht damit. Die letzte Anspannung löste sich bei ihr. Sie lächelte breiter und erwiderte im Brustton der Überzeugung: »Und ob das scheiße ist …«

Dann mussten beide lachen, vielleicht ein bisschen hysterisch, aber es half.

»Ich habe keine Ahnung, was nun wird, wie soll ich mich verhalten, wie wird das mit dem Baby sein? Wenn er aufwacht, ist er nicht mehr der gleiche Mann, den ich geheiratet habe. Der einzige Plan, den wir hatten, war, zusammen alt zu werden. Das ist jetzt alles vorbei.«

Anne seufzte: »Katie, es ist nicht alles vorbei, es wird nur anders sein!«

Katie widersprach: »Er wird aufhören, mich zu lieben, wenn ich ...«

Anne unterbrach sie: »Er wird Sie stärker lieben als je zuvor, er wird Sie über alle Maßen lieben. Ihm wird immer bewusst sein, dass Ihnen zusammen nur eine bestimmte Zeit gegeben ist, und er wird diese Zeit nutzen. Es wird keine verschenkten Momente geben, niemals.« Anne sah Katie direkt an: »Sie werden sich seiner Liebe immer gewiss sein können, glauben Sie mir. Sie dürfen ihm nicht seinen Lebensinhalt nehmen. Sie und das Baby sind die wichtigsten Menschen in seinem Leben, und das werden Sie immer sein. Er wird ihre ganze Kraft brauchen, wenn er aufwacht. Er weiß schließlich noch nicht, dass er ein Überlebender geworden ist.«

 

Anne war erschöpft. Nachdem sie im Krankenzimmer mit Katie gesprochen hatte, war ihre ganze Kraft und Entschlossenheit von ihr abgefallen. Obwohl sie eigentlich nach Hause gewollt hatte, hatte sie sich ohne große Mühe dazu überreden lassen, diese Nacht im Krankenhaus zu bleiben. Mit Frank hatte sie vereinbart, dass zwei Sergeants Wache vor Sergeant Miltons Zimmer halten sollten. Anne war klar, dass der Angriff auf ihn nicht ohne Grund erfolgt war. Vermutlich war er dem Täter zu nahe gekommen.

Anne musste unbedingt mit ihm sprechen, sobald er aufwachen würde. Die Ärzte sprachen aber davon, dass dies noch ein bis zwei Tage dauern könnte. Sie wollte unabhängig davon versuchen, Sergeant Miltons Nachforschungen zu rekonstruieren. Gleich morgen würde sie zur Schulkommission gehen.

Sie streckte sich im Bett aus. Sie konnte es kaum glauben: Sergeant Milton war ein Überlebender geworden – das hatte es noch nie gegeben. Bisher waren sich alle Wissenschaftler darüber einig, dass das Aussetzen des Alterungsprozesses eine direkte Folge der Aschentage war. Sie erinnerte sich daran, wie es damals gewesen war, als sie alle erfahren hatten, dass ihr Leben nicht mehr durch den natürlichen Tod begrenzt war. Natürlich hatten sie das nicht sofort bemerkt – wie auch?

Die erste Zeit nach den Aschentagen hatte ganz im Zeichen der Neuorganisation gestanden. Erst ein paar Jahre später war ihnen aufgefallen, dass es keine Veränderungen mehr gegeben hatte. Ihre optische Erscheinung war gleich geblieben. Es hatte unter den Überlebenden keine natürlichen Todesfälle mehr gegeben. Schließlich waren unter ihnen auch einige ältere Kandidaten, wie zum Beispiel Doktor Calliditas, gewesen.

Mit der Zeit war immer klarer geworden, dass sie sich alle verändert hatten, indem sie sich eben nicht verändert hatten. Man sprach heute von Mutation oder Evolution, aber letztendlich konnte niemand genau sagen, wie das Ganze möglich gewesen war. Eines war jedoch schnell klar geworden: Man hatte diesen Prozess bisher nicht nachbilden können. Anne gab sich ihren Gedanken hin. Zugegeben, die Erfahrung der Unsterblichkeit war nicht so angenehm, wie sie im ersten Moment schien. Unendlichkeit konnte sich der menschliche Geist nur schwer vorstellen.

Wie fühlte sich Endlosigkeit an? Das Leben, wie sie es eigentlich kannte, hatte einen Start- und einen Endpunkt. Die Entscheidung, wann das Ende erreicht war, musste man nicht selbst treffen. Das war, so gesehen, eine riesige Erleichterung. Andererseits war das Ende etwas, das man nicht verhindern konnte – und dies machte allen Angst. Innerhalb dieses begrenzten Zeitraumes, von der Geburt bis zum Tod, führte man sein Leben. Alle Entscheidungen, die zu Handlungen führten, fanden letztendlich unter dem Aspekt der vorübergehenden Verweildauer statt.

Jede Generation sowie jeder Einzelne nahmen sich, was sie brauchten. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was wohl in der Zukunft für Folgen auftreten würden. Die Sterblichkeit schmälerte quasi das Verantwortungsgefühl der Menschen. Der falsche Weg, die falsche Entscheidung, war mit dem Tod vergessen: »Was soll’s, man lebt nur einmal.«

Anne hatte oft genauso gedacht, obwohl sie sich der Welt und ihren Geschöpfen doch weit mehr verpflichtet gefühlt hatte als viele andere vor den Aschentagen. Trotzdem war sie keine Heilige gewesen. Das Geschenk der Unsterblichkeit gab ihr daher auch die Möglichkeit, ein wenig Buße zu tun.

Mittlerweile hatten die Überlebenden gelernt, dass sie die Folgen ihres Handelns ewig vor Augen haben würden. Das forderte unglaublich viel Umsichtigkeit und Weitblick. Daher war schnell die Euphorie verschwunden, die man anfänglich wegen der Unsterblichkeit empfunden hatte, denn was anfangs als neugewonnene Freiheit gepriesen worden war, hatte sich bald ins Gegenteil verwandelt. Unsterblichkeit war zur Last geworden. Die daraus entstandene Verantwortung überforderte viele. Abgesehen davon stand nicht nur das eigene Gewissen ständig mit erhobenem Zeigefinger in irgendeinem Winkel des Gehirns, nein, auch der Gedanke an die Einäscherung schlich unaufhörlich durch die Verästelungen des Gedankenapparates.

Anne hatte ihren Frieden mit der Situation gemacht. Sie hatte für sich beschlossen, einfach das zu tun, was sie für richtig hielt. Die Werte dieser Neuen Welt waren auch die Ihren, also konnte nicht viel schiefgehen. Und sollte sie eines Tages – warum auch immer – die Einäscherung treffen, dann sollte es eben so sein.

Anne dachte an Sergeant Milton und seufzte. Wie würde er die Nachricht aufnehmen? Sie sah Katie vor sich und deren Angst, neben ihm alt zu werden. Sie erinnerte sich an die Ausführungen des Arztes. Die Bestandteile des Blutes der Überlebenden entsprachen nicht ganz denen der Neugeborenen. Anhand einer kleinen Blutuntersuchung konnte man daher bei der Einlieferung eines Patienten schnell feststellen, ob er Überlebender oder Neugeborener war. Diese Untersuchung wurde routinemäßig gemacht.

Der behandelnde Arzt war mehr als überrascht gewesen, als das Ergebnis der Untersuchung gezeigt hatte, dass im Blut von Sergeant Milton die Bestandteile waren, die man sonst nur im Blut der Überlebenden fand. Schließlich war bei seiner Einlieferung angegeben worden, dass er zu den Neugeborenen gehörte.

Der Arzt hatte den Test mehrmals wiederholt und andere Mediziner hinzugezogen. Doktor Masters war ins Krankenhaus zitiert worden. Er hatte sich gleich an die Arbeit gemacht und weitere Untersuchungen im Forschungszentrum veranlasst.

Offensichtlich erklärte man Sergeant Miltons Wandlung mit den schweren Traumata, die er an diesem Morgen durchlitten hatte. Die Einwirkung von Gewalt und Kälte auf seinen Körper, der Schock und die damit verbundenen physischen Belastungen hätten ihn wahrscheinlich umgebracht. Als nun Anne ihn während einer bestimmten Phase seines »Todeskampfes« aus dem Wasser gezogen und wiederbelebt hatte, hatte das, wohl in Kombination mit dem »richtigen« Nahtod-Zeitpunkt und der positiven Genkombination des Sergeants, die Verwandlung bewirkt. Das würde auch erklären, warum Anne geglaubt hatte, keinen Puls zu fühlen – weil der Sergeant fast tot gewesen war.

Anne hatte den Arzt gefragt, ob nicht irgendjemand von außen dafür verantwortlich sein könnte. Der Arzt hatte müde den Kopf geschüttelt: »Das ist unmöglich, wie sollte das gehen?«

Nun, Anne hatte da ihre eigene Theorie, und ihr waren all die Bilder von schwebenden Wesen durch den Kopf gegangen, die mit ihr in einer fremden Sprache kommuniziert hatten. Als sie dem Arzt ihre wirre Erinnerung an diese Vision angedeutet hatte, hatte sie dieser beruhigt und ihr versichert, dass das nur eine Folge des Schocks gewesen war. Anne hatte es daher vorgezogen, weitere Details ihrer Geistesentgleisungen für sich zu behalten.

 

Anne war schon fast eingeschlafen, als sie ein leichtes Klopfen vernahm. Neugierig hob sie den Kopf. Als die Tür aufging, konnte man ihr die Freude anmerken. Sie sprang schnell aus dem Bett und stürmte auf Nigel zu. Er drückte sie fest an sich und flüsterte Zärtlichkeiten in seiner alten Sprache in ihr Ohr. Sie verstand genug, um zu wissen, wie sehr er ihr verbunden war. Ein kleiner Redeschwall ergoss sich über ihn, als Anne ihm die Ereignisse der letzten Stunden erklärte. Dann weihte sie Nigel in ihre Pläne ein, die Nachforschungen von Sergeant Milton zu rekonstruieren, solange dieser noch nicht wieder bei Bewusstsein sein würde. Sie wollte sich entschuldigen und ihm versichern, dass sie ihn nicht vergessen hatte.

Er lächelte sie an: »Hauptsache, ich bin jetzt hier. Was allerdings nicht ganz so einfach war ...«

Und Nigel erzählte ihr von seiner Auseinandersetzung mit Frank Wall. Anne war erstaunt. So kannte sie Frank überhaupt nicht. Gleichzeitig kannte sie ihn aber lange genug, um nun das Gefühl zu haben, ihn in Schutz nehmen zu müssen.

Deshalb sagte sie sanft: »Es war für uns alle ein schrecklicher Tag, vergiss es einfach, ich denke, er wollte nur das Beste für mich.«

Nigel trat einen Schritt zurück und sah sie an: »Mir scheint so langsam, dass Mister Wall eine ganze Menge mehr möchte als nur dein Bestes.«

Anne war überrascht: »Was soll das denn jetzt? Das ist doch Unsinn. Es geht darum, unsere Welt zu retten. Wir haben gewaltsame Todesfälle. Menschen sind ermordet worden, und niemand wurde dafür eingeäschert. Wir müssen den Täter finden, um das System zu retten, und du nervst mich mit Franks Absichten.« Anne war lauter geworden.

Nigel wurde sauer. Er sah Anne streng an, dann wandte er sich ab und durchquerte den Raum. Er stand mit dem Rücken zu Anne, als er sich eine Zigarette drehte und schließlich anzündete. Ihn störte die Verbindung zwischen Frank Wall und Anne. Sie hatten etwas, dem er nichts entgegenzustellen hatte, nämlich eine gemeinsame Vergangenheit. Natürlich waren die beiden miteinander vertraut, aber es gab Grenzen, und Anne gehörte nun zu ihm. Was glaubte sie eigentlich? Er war schließlich kein Idiot. Männer konnten ihre Rivalen normalerweise sehr gut erkennen.

Natürlich hatte Anne kein Verständnis für seine Vorwürfe. Und obwohl Nigel sie nur in die Arme nehmen wollte, um mit ihr glücklich zu sein, konnte er nicht aus seiner Haut. Er war unsicher. Alte Ängste stiegen in ihm auf. Sein Misstrauen meldete sich zurück. Er wollte sich auseinandersetzen, der Ärger war zu groß. Allerdings bewegte er sich auf dem unsicheren Terrain der Beziehungswelten, damit kannte er sich nicht so gut aus. Darum wählte er unbewusst ein Thema, dem er sich immer schon verpflichtet gefühlt hatte. Er hatte das System, in dem sie lebten, stets hinterfragt und tat es auch jetzt noch. Er misstraute ihm sogar. Die letzten Tage hatten ihn darin mehr und mehr bestätigt. Immer häufiger stellte er sich eine Frage. Diese Frage stellte er jetzt auch Anne.

Er konnte sich nicht zurückhalten, obwohl er ganz tief in seinem Inneren wusste, dass das einem Kamikaze-Flug gleichkam, aber er brauchte ein Ventil für seine Wut, also suchte er Streit: »In Ordnung, Anne, was würdest du tun, wenn du den Täter finden würdest und damit dann auch wüsstest, wie man die Einäscherung verhindern könnte?«

»Was?« Anne war wie vom Donner gerührt. »Was ich tun würde? Ich kann dir darauf keine Antwort geben!«

»Du kannst darauf keine Antwort geben?«

»Nein, das kann ich nicht. Kannst du diese Frage denn beantworten?«

Nigel zögerte kurz, aber es spielte keine Rolle mehr, er selbst hatte die Sache ins Rollen gebracht, jetzt gab es kein Zurück: »Es gibt nur eine Möglichkeit, die unserem Selbstverständnis gerecht wird, und das weißt du selbst, Anne.«

Anne funkelte ihn an: »Das ist jetzt nicht dein Ernst? Du würdest die Einäscherung abschaffen?«

»Siehst du, genau das ist das Problem. Es werden Gesellschaftssysteme von Menschen geschaffen, und sie funktionieren nicht. Also setzt man sie mit Gewalt durch. Man beschneidet den Einzelnen in seiner Freiheit und nennt das dann Rechtsstaat. Sollte es eine Möglichkeit geben, die Einäscherung zu umgehen, und du gibst sie nicht der Allgemeinheit preis, wäre das genau dasselbe. Jetzt sieh mich nicht so an.«

Nigel wollte wieder einen Schritt auf sie zugehen, aber Anne wich zurück. Er versuchte es mit weiteren Erklärungen: »Was ist das denn für ein Leben, das wir führen? Wir sind verdammt zu leben oder uns selbst zu töten. Aber wie leben wir? In ständiger Angst. Fragst du dich nicht auch manchmal, wie es wäre, ohne diese Angst zu leben? Wenn wir nicht jede unserer Handlungen auf ihre moralische Verwerflichkeit überprüfen müssten? Denn wenn mein Handeln den Stempel ›nicht einwandfrei‹ erhält, dann stehe ich ja sofort in Flammen. Angst, das ist das Zauberwort. Wie würdest du leben, wenn es die Einäscherung nicht gäbe? Wie würden die anderen leben? All das freundliche Getue, das Verständnis, die Toleranz. Das ist doch nur künstlich erzeugt. Aber was kommt noch von hier und hier?« Nigel klopfte sich mit der Faust auf Herz und Kopf.

Anne konnte es nicht fassen: »Aber wir beide haben doch erlebt, wie es war ohne die Einäscherung. Herz und Verstand? Ich bitte dich, wann hast du das letzte Mal ein Geschichtsbuch in der Hand gehabt? Wann haben die Menschen denn mit Herz und Verstand ihr Leben gelebt? Das ist doch alles Blödsinn. Die Einäscherung ist zwar ein Kontrollmittel, aber glaubst du wirklich, die Menschen, also wir, die Überlebenden und die Neugeborenen, leben in dauernder Angst davor? Also, ich lebe nur in der Angst, dass wir eines Tages wieder die gleichen Zustände wie in der Traurigen Zeit haben. Warum glaubst du, ist es für mich so wichtig, diesen Fall aufzuklären? Wenn die Einäscherung verschwindet, dann stehe uns Gott bei ...«

Nigel unterbrach sie: »Aber den anderen ein Mittel gegen die Einäscherung vorenthalten?«

Anne ärgerte sich jetzt maßlos. Umso mehr, weil sie genau wusste, dass er recht hatte. Sollte es so ein Mittel wirklich geben, könnten sie das der Öffentlichkeit nicht verschweigen, das würde sich tatsächlich nicht mit ihrem Verständnis der Neuen Welt vereinbaren lassen.

Trotzdem konnte sie nicht einlenken: »Bis jetzt ist es überhaupt nicht gesagt, dass es ein Mittel gegen die Einäscherung gibt. Und überhaupt, was würdest du denn so gerne tun, was dir wegen der Einäscherung nicht möglich ist? Massenmord?«

Nigel schnaubte verächtlich: »Du verstehst es nicht, ich bin, wie ich bin. Menschen sind Menschen, und sie haben Fehler. Oder denkst du, man kann einfach irgendwo den Befehl ›world: reset‹ eingeben und alles ändert sich? Einfach ein Neuanfang, und dazu entzieht man den Menschen ihre Freiheiten ... «

Anne unterbrach ihn: »Aber niemand tut das. Es steht doch niemand an einer Schalttafel und drückt von Zeit zu Zeit willkürlich auf einen Knopf, um unbeugsame Mitmenschen einzuäschern!«

Nigel trat direkt vor sie und sah ihr in die Augen: »Und woher weißt du das?«

Nigel sprach diese Worte so eindringlich aus, dass Anne nicht gleich eine Antwort geben konnte. Langsam wandte sie den Kopf und lief im Zimmer hin und her, bevor sie zu sprechen begann: »Jetzt verstehe ich, du glaubst, hier läuft eine große Verschwörung ab?! Gut, betrachten wir deine Theorie einmal ernsthaft.«

Anne war äußerst unglücklich über den Verlauf des Gesprächs. Sie erinnerte sich an die gemeinsame Nacht. Es war wie ein Rausch gewesen, sie waren sich so nah gekommen – und jetzt das. Er ging ihr auf die Nerven mit seiner »Systemkritik«. Was für ein Ignorant, immerhin hatte er die Traurige Zeit selbst erlebt.

Sie sah ihn wieder an und fuhr fort: »Aber mit welchem Ziel? Wer sollte davon profitieren? Kannst du mir das auch erklären?«

Anne hielt ihren Ärger nicht zurück, und Nigel fühlte erneut Wut in sich aufsteigen: »Du nimmst mir das übel? Du klammerst dich an diese Neue Welt, an das System der Einäscherung, ohne es zu hinterfragen. Du willst wissen, wer profitiert? Das ist doch immer das Gleiche. Es geht um Macht und Vorteilsnahme.«

Als Nigel den Satz beendete, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Warum hatte er davon nur angefangen? Der Streit würde alles verändern. Auch er dachte an die gemeinsame Nacht und die Tage davor. Anne sollte ein Teil seines Lebens werden. Stattdessen standen sie schon jetzt vor einer Zerreißprobe. Wie konnte er mit einem Menschen zusammen sein, der so blind war für die Dinge, die um ihn herum passierten?

»Meine Liebe, darf ich dich daran erinnern, dass wir Morde haben und keinen Täter!«

»Daran brauchst du mich nicht zu erinnern. Außerdem bestätigt das noch lange nicht deine Theorie. Eher im Gegenteil. Hätte jemand die Macht, über die Einäscherung zu entscheiden, dann wären die Lorden-Brüder und Marie daran gestorben. Bei einer Einäscherung wäre nämlich jeder davon ausgegangen, dass sie durch grobes Fehlverhalten verursacht wurde. Welchen Sinn macht es, sie zu ermorden und komplizierte falsche Spuren zu legen, zum Beispiel zu Karl Hobnitz? Warum nicht den einfachen Weg wählen?«

Mittlerweile war aus dem Gespräch ein lautstarker Streit geworden. Beide, sowohl Anne als auch Nigel, fingen an, in ihren ursprünglichen Muttersprachen zu fluchen.

Nigel schrie zurück: »Wenn ich alle Fragen beantworten könnte, würde dir vielleicht ein Licht aufgehen. Wie kannst du so blind darauf vertrauen, dass diese ganze Sache mit der Einäscherung nicht von Menschen gesteuert wird? Wer soll denn sonst dahinter stecken? Gott?«

Annes Stimme überschlug sich: »Wie kann man nur so fanatisch sein? Die Evolution lehrt uns doch, dass die Natur immer Wege findet, sich gegen Parasiten zu wehren – die Einäscherung ist nur ein weiteres Beispiel. Außerdem ist sie gerecht, sie trifft immer die Richtigen. Ich bearbeite die Aschenfälle seit 260 Jahren, und es hat nie einen Unschuldigen getroffen. Das System funktioniert. Wir leben in einer perfekten Welt. Was willst du mehr?«

»Ich will mir sicher sein, verdammt nochmal, ich will mir sicher sein, dass nicht irgendjemand mein Leben manipuliert. Ist das so schwer zu verstehen? Du und diese Utopie einer Welt! Und sage mir nicht, dass das System funktioniert, offensichtlich funktioniert es nämlich nicht, und das sollte auch dich ins Grübeln bringen. Wenn ich recht habe, dann werden wir alle seit Jahren wie Sklaven behandelt. Dann sind wir Gefangene.«

Anne war vollkommen aus dem Häuschen: »Nigel, sag mir jetzt und hier ins Gesicht, dass du der Meinung bist, wir wären ohne die Einäscherung besser dran. Sag es!«

»Du verstehst es nicht, Anne. Die Einäscherung ist nur die Folge des Problems. Das Problem ist das System, das vermutlich gesteuert wird, um uns zu manipulieren und sich der Einäscherung bedient.«

»Nigel, es tut mir leid, aber das macht keinen Sinn. Die Einäscherung ist die Voraussetzung für das System. Das System ist die Folge. Es ist genau umgekehrt. Und niemand steht dahinter, um uns zu manipulieren.«

Nigel bemerkte, wie ihm der Kopf schmerzte, er dachte Dieses sture Weib! und sagte: »Aber selbst du wirst doch zugeben, dass irgendetwas hier nicht stimmt.«

Nigel war jetzt besonders schnippisch, was Anne noch mehr aufbrachte: »Genau, hier stimmt etwas nicht, und was das ist, das will ich herausfinden. Und dazu untersuche ich nicht deine Animositäten gegenüber Frank Wall. Schließlich hält er keine Informationen zurück. Im Gegensatz zu dir!«

»So! Der heilige Frank Wall hält keine Informationen zurück!« Anne hatte bei seinem Blick sofort ein ungutes Gefühl, und sie wusste, dass sie etwas verbockt hatte, aber Nigel war nicht mehr zu stoppen: »Du willst wissen, warum ich hierhergekommen bin? Ich kann es dir sagen! Genau aus diesen Gründen ...« Nigel griff in die Innentasche seines Mantels und zog ein Stück Papier heraus. Er wedelte damit vor Annes Nase und warf es ihr mit den Worten vor die Füße: »Deshalb bin ich hier, weil ich offensichtlich nicht der Einzige bin, der dein ach so perfektes System infrage stellt.«

Die Tür flog hinter ihm mit einem lauten Knall ins Schloss. Anne sah ihm verdattert hinterher. Sie ärgerte sich über sich selbst. Das Letzte, was sie gewollt hatte, war ein Streit mit Nigel gewesen. Sie musste erst einmal ihre Gedanken ordnen. Nigel glaubte also, dass es jemanden gab, der die Einäscherung steuerte. Das wäre sicher eine Erklärung dafür, warum Morde möglich waren, aber sicher nicht die intelligenteste. Sie seufzte und hob das Papier auf, das ihr Nigel vor die Füße geworfen hatte.

Es war ein Brief von Marie White an Nigel O’Brian. Die Handschrift war fast kindlich. Anne versetze es einen Stich, das zu sehen. Kleine Herzchen schmückten den Buchstaben »i«, und an den Rand des Briefes hatte sie Gänseblümchen gezeichnet. Anne hatte das Gefühl, ein kleines Mädchen hätte diesen Brief verfasst, so unschuldig und naiv wirkte er auf sie. Dann las sie die Zeilen, die Marie geschrieben hatte:

 

»Lieber Nigel,

endlich habe ich Zeit, Dir zu schreiben. Hier ist es fantastisch, und ich bin unglaublich glücklich. Meine Wohnung habe ich in rosa eingerichtet. Alle sind sehr nett zu mir. Gestern habe ich eine neue Freundin gefunden ...

 

Anne gähnte, bei allem Respekt vor den Toten, das war der langweiligste Brief, den sie jemals gelesen hatte. Auch auf dem Rest der Seite hatte es Marie geschafft, dem Leser die Schlaftabletten zu ersparen. Erst das Post Skriptum ließ Anne wieder wach werden:

 

PS: Lieber Nigel, jetzt möchte ich Dir noch ein Geheimnis verraten. Aber Du musst es bitte, bitte für dich behalten. Ich habe einen tollen Mann kennengelernt. Eigentlich kannte ich ihn schon vor meinem Umzug. Ja, ich bin eigentlich seinetwegen umgezogen. So, jetzt weißt Du das auch! Er will mich sogar heiraten. Sicher würdest du ihn mögen. Er ist sogar ein bisschen wie Du. Neulich hat er sogar das Gleiche gesagt wie Du. Nämlich, dass man dem System nicht vertrauen könnte. Ist das nicht lustig? Also Du darfst aber keinem etwas davon erzählen!«

 

Anne gab einen Laut der Überraschung von sich. Da sie Nigel mittlerweile ein wenig kannte, wusste sie, dass ihm das genügen würde, um seine Sachen zu packen und in den Süden zu reisen. Natürlich hatte er einen Seelenverwandten kennenlernen wollen. Außerdem war er sicher um das Mädchen besorgt gewesen. Ihrem Schreibstil nach zu urteilen, hatte er dazu auch allen Grund. Anne fragte sich ernsthaft, wie dieses Mädchen auch nur eines der Rätsel in den Rätselheften in ihrer Wohnung hatte lösen können.

Was Dave in ihr gesehen hatte, war Anne klar. Zum einen war da die große Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau gewesen, und zum anderen hatte er Maries naive kindliche Art sicher als erfrischend empfunden. Wahrscheinlich hatte sie ihm aus seiner Schwermütigkeit geholfen. Sie wären bestimmt beide sehr glücklich miteinander geworden.

Für Anne war es keine Frage mehr, dass Marie und Dave Lorden ein Paar gewesen waren. Auch wenn Marie seinen Namen nicht erwähnt hatte. Eigentümlich war lediglich, dass sie bisher keine Beweise dafür gefunden hatten. In der Wohnung von Dave hatte es keine Spuren von Marie gegeben. Und umgekehrt, in Maries Wohnung hatten sie auch nichts gefunden. Vielleicht hatte Dave bewusst dafür gesorgt, dass ein Außenstehender keine Verbindung zwischen ihm und Marie finden würde. Sie mussten dem noch einmal nachgehen. Dave hatte Marie vielleicht etwas über seine Ermittlungen und Befürchtungen anvertraut. Hatte der Mörder das gewusst, und sie musste deshalb sterben ...?