7. Die Verhaftung

 

Anne war immer noch mitgenommen. Der Überfall auf Sergeant Milton war eine Sache, aber der Streit mit Nigel gestern Abend machte ihr noch zu schaffen. Sie hatte trotz ihrer Müdigkeit schlecht geschlafen und wachte bereits gegen 7.00 Uhr auf. Es hatte keinen Sinn liegenzubleiben und zu grübeln, stattdessen zog sie den schrecklichen Krankenhausanzug von gestern an und suchte vergebens nach dem Arzt.

Katie saß immer noch am Bett ihres Mannes, der noch nicht wieder zu sich gekommen war. Daher beschloss Anne, sich selbst aus dem Krankenhaus zu entlassen, um zu überprüfen, was ihr Sergeant zwei Tage zuvor herausgefunden hatte. Irgendetwas musste er entdeckt haben. Irgendwie musste er dem Täter auf die Spur gekommen sein. Er hatte ihn aufgeschreckt, da war sich Anne sicher.

Da Anne wusste, dass Sergeant Milton der Schulkommission einen Besuch hatte abstatten wollen, beschloss sie, nach einem kurzen Zwischenstopp in ihrer Wohnung, dort anzufangen. Die Schulkommission war in einem sehr alten Gebäude untergebracht. Man hätte gerne das Wort prächtig hinzugefügt, aber das wäre eine glatte Lüge gewesen. Leider war dieses Gemäuer alles andere als prächtig. Wasserflecken an den Decken deuteten auf mehrere undichte Stellen hin. Auf den Fensterbänken lagen Decken, wahrscheinlich, um sich an kälteren Tagen gegen Zugluft zu schützen. Der Verputz der Wände war schäbig, und das Mobiliar hätte eine Aufhübschung vertragen können.

Anne sah das alles nicht, sie wollte schnellstmöglich zum Büro beziehungsweise zum ehemaligen Büro von Dave und Joseph Lorden.

Im Vorzimmer traf Anne das erste Mal auf Frau Wong. Anne wusste sofort, dass das ein schwieriges Gespräch werden würde. Interessanterweise dachte Frau Wong das Gleiche, als Anne Reeve ihr Hoheitsgebiet betrat. Anne fand, dass Frau Wong einem riesigen knuffigen Sofakissen glich. Verstärkt wurde der Eindruck noch durch die Puffärmel ihres rosa Oberteils. Das schwarze, glatte Haar saß wie ein Helm auf ihrem Kopf. Außerdem trug sie eine große runde Brille.

Durch die Gläser blickten Anne jetzt zwei sehr kluge Augen an: »Sie wünschen?«

Anne stellte sich vor.

»Aha«, sagte Frau Wong und Anne spürte eine Spur von Missbilligung.

Anne versuchte es erneut: »Mein Sergeant, Sergeant Milton, war vor zwei Tagen hier, und ich muss wissen, was er von Ihnen erfahren hat und welche Unterlagen er sich angesehen hat.«

Frau Wongs missbilligender Blick verstärkte sich, als sie antwortete: »Vorschlag, Chief-Sergeant, fragen Sie ihn selbst.«

Anne schnaufte: »Misses Wong, der Sergeant liegt momentan im Krankenhaus, weil ihn jemand niedergeschlagen hat. Wahrscheinlich weil er hier irgendwelche Informationen erhalten hat.«

»Schon wieder eine verzögerte Einäscherung?«

Anne war genervt. »Misses Wong, würden Sie mir jetzt bitte meine Frage beantworten?«

»Schön, Misses Reeve, was möchten Sie wissen?«

Anne war überrascht von Frau Wongs ablehnender Haltung. Aber vorerst wollte sie dies ignorieren: »Sagen Sie mir bitte, was der Sergeant hier gemacht hat?«

Frau Wong zögerte kurz, dann deutete sie auf eine Tür: »Er hat das Büro der Brüder durchsucht.«

Anne lächelte, als sie antwortete: »Na sehen Sie, Misses Wong, das Eis zwischen uns fängt langsam an zu schmelzen.«

Damit verschwand Anne im Büro von Dave und Joseph Lorden, und Frau Wong rümpfte kurz die Nase. Sie hatte die beiden Brüder sehr gemocht und trauerte noch immer. Das Ergebnis der Untersuchungen hatte sie nicht befriedigt. Sie hatte ihre Zweifel an dieser Geschichte mit der verzögerten Einäscherung, welche sie in den Nachrichten gebracht hatten. Ihre Zweifel waren bestätigt worden, als dieser Sergeant vor zwei Tagen aufgekreuzt war. Jetzt war er niedergeschlagen worden wegen Informationen aus ihrem Hause. Sie hatte den Sergeant sehr sympathisch gefunden. Dass er verletzt worden war, tat ihr aufrichtig leid. Er war wirklich sehr höflich und mitfühlend gewesen.

Was ging hier eigentlich vor? Sie arbeitete jetzt seit 28 Jahren hier. Sie mochte ihre Arbeit und die Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Außerdem hing sie an dieser schäbigen alten Burg, die ihre Bewohner ständig auf Trapp hielt. Mal regnete es hinein, mal stürzte der Kamin in sich zusammen. Trotzdem, sie kam gerne hierher. Zumindest bisher.

Zwei Kollegen, zwei Freunde, waren tot. Sie wusste natürlich, wer Anne Reeve war, und sie erinnerte sich noch an ein Gespräch der Brüder, das sie zufällig mit angehört hatte. Zu Frau Wongs Verteidigung musste man dazu sagen, dass sie wirklich zufällig Zeuge dieser Unterredung geworden war, denn Lauschen wäre gegen ihren Ehrenkodex gewesen. Sie wusste noch genau, wie die beiden darüber diskutiert hatten, in irgendeiner Angelegenheit Anne Reeve zu verständigen, und wie sie dann übereingekommen waren, dass man ihr nicht trauen könnte. Sie würde deshalb sehr zurückhaltend sein im Gespräch mit Misses Reeve.

Als Anne nach zwei Stunden aus dem Büro der Lordens kam, hatte sie nichts gefunden. Also trat sie erneut vor Frau Wong.

Diese tat zunächst so, als würde sie sie nicht bemerken: »Liebe Misses Wong, wo war der Sergeant sonst noch?«

Frau Wong sah sie mit ihren klugen Augen an und antwortete: »Hier gibt es keine verschlossenen Türen. Vermutlich hat er sich überall umgesehen.«

Anne Reeve kniff die Augen zusammen und musterte ihr Gegenüber. Sie hatte den Eindruck, dass Frau Wong etwas zurückhielt. Im ersten Moment wollte sie schon aufbrausen und Frau Wong zurechtweisen, dann überlegte sie es sich aber anders. Bei Frau Wong war Fingerspitzengefühl gefragt. Sie würde mit Frank über die Angelegenheit sprechen. Frau Wong sah Anne Reeve nach. Sie hoffte, richtig gehandelt zu haben.

 

Anne kam schlecht gelaunt in der Wache Süd an. Sie marschierte schnurstracks in das Büro von Frank Wall, um sich über Frau Wong zu beschweren. Als sie ihren Bericht beendet hatte, legte Frank den Kopf schief und fragte mit einem verschmitzten Lächeln: »Ihr seid nicht zufällig verwandt, du und Misses Wong?«

Anne war empört: »Was redest du denn da? Ich bin nie so!«

Frank zog die Augenbrauen hoch, was Anne dazu veranlasste, ihre vorherige Aussage zu korrigieren: »Also, nur ganz selten, dann habe ich auch gute Gründe dafür, das ist dann ja wohl etwas anderes.«

Frank hielt es für besser, nicht zu widersprechen. Deshalb zog er lediglich die Augenbrauen noch ein Stück höher und lächelte: »Also gut, ich werde später zur Schulkommission gehen und mit ihr reden. Vielleicht brauchen wir Misses Wong auch gar nicht mehr. Die Chancen stehen gut, dass Sergeant Milton bald aufwacht.«

Anne entspannte sich: »Oh, Gott! Frank, ich hoffe es. Der arme Sergeant, das wird nicht leicht für ihn.« Sie zögerte kurz und stellte dann mit Bedacht ihre nächste Frage: »Hast du eigentlich schon einmal daran gedacht, dass wir Überlebenden ausgewählt wurden?«

Frank sah sie erstaunt an, er wunderte sich, dass sie in der Stimmung für solche philosophischen Gespräche war. Nicht, dass ein solches Thema für sie ungewöhnlich wäre, aber normaler Weise führte er diese Unterhaltungen mit ihr nach einem guten Abendessen und einem Krug Wein.

Trotzdem antwortete er ihr: »Ich denke schon, dass wir ausgewählt wurden. Wir haben überlebt, und wir altern nicht mehr. Dafür muss es meiner Meinung nach einen Grund geben. Allerdings habe ich mich damit abgefunden, dass in der Welt Dinge passieren, deren Grund wir nicht wissen oder nicht begreifen. Die Natur geht manchmal seltsame Wege.«

Anne nickte: »Die meisten denken, dass wir die Guten sind und daher die Aschentage überlebt haben. Aber weißt du, manchmal denke ich, dass ich eigentlich gar nicht so gut war. Ich habe sicher auch Menschen verletzt, war gemein und ungerecht. Natürlich hatte ich meine Prinzipien, und ich würde auch nicht sagen, dass ich vor den Aschentagen ein schlechter Mensch war, aber ... vielleicht gab es da irgendetwas, das die Auswahl getroffen hat.«

Frank stutzte: »Was ist los? Ich kenne dich, was stimmt nicht?«

Anne seufzte: »Mir geht das mit Sergeant Milton nicht aus dem Kopf. Ich war mir sicher, dass er nicht mehr gelebt hat, als ich ihn aus dem Wasser zog. Und jetzt das. Er ist ein Überlebender. Das hat es noch nie gegeben. Du darfst das nicht falsch verstehen. Ich bin unglaublich glücklich, dass er noch lebt. Aber wie war das möglich? Und warum ist er jetzt ein Überlebender? Wir haben die Theorie, dass die Überlebenden während der Traurigen Zeit die Guten waren und daher nicht die Genkombination – oder was auch immer – hatten, die die Einäscherung auslösen konnte. Aber die hatten die überlebenden Kinder, also die Neugeborenen, auch. Aber nur bei uns Erwachsenen kam es zu dem Aussetzen des Alterungsprozesses. Warum?«

Frank antwortete, ohne zu zögern: »Unsere Wissenschaftler haben damals gesagt, dass das völlig logisch sei. Schließlich ist ein Kinderkörper noch nicht vollständig entwickelt und damit nicht für die ›Ewigkeit‹ geschaffen.«

Anne versuchte es anders: »Aber warum wurde dann, nachdem sie erwachsen waren, keiner mehr ein Überlebender? Seit Sergeant Milton wissen wir, dass das möglich ist.«

Frank stieß hörbar die Luft aus: »Ich sehe schon, das wird dir keine Ruhe lassen. Ich befürchte auch, dass unsere Wissenschaftler genauso wissbegierig sein werden wie du. Ich kann nur hoffen, dass der arme Sergeant Milton nicht zu sehr von ihnen bedrängt wird. Ich würde jedem raten, die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie sind. Warum etwas so Positives hinterfragen? Sergeant Milton hat den Anschlag auf sein Leben überlebt und ist sogar ein Überlebender geworden. Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass ich das Überleben der Aschentage nicht verdient habe. Sicherlich ist unser Sergeant Milton ein weitaus besserer Mensch, als ich es jemals war. Vielleicht hat es bei uns damals gereicht, sich trotz gemachter Fehler irgendwann noch auf das Gute zu besinnen, zu bereuen und letztendlich sein Gewissen zu aktivieren.«

Das gefiel Anne: »Du meinst, bei uns hat noch der Wille, ein guter Mensch zu sein, gereicht? Das würde sicher einiges erklären. Wenn ich mir da einige von diesen blöden Weibern im Rat ...«

»Anne«, ermahnte sie Frank, allerdings mit einem Augenzwinkern, »ich würde mein Glück nicht ausreizen. Gegen die Einäscherung sind auch wir nicht immun. Also halte deine Boshaftigkeit besser unter Kontrolle.«

Anne zuckte mit den Schultern: »Keine Sorge, ich arbeite täglich an mir.«

Frank fiel noch etwas ein: »Sag mal, was ist denn deine Theorie bezüglich der Überlebenden? Und sage nicht, du hast keine eigene, das würde mich bei Anne Reeve doch sehr enttäuschen.«

Anne zauberte ein schiefes Lächeln auf ihr Gesicht und machte eine Grimasse: »Wie immer, lieber Frank, würde dir meine Theorie nicht gefallen.«

Frank wollte etwas erwidern, als sie ein Rumoren im Vorzimmer hörten. Ganz dumpf vernahmen sie Mildreds Stimme, dann wurde die Tür zu Franks Büro aufgerissen. Rabea kam in den Raum, schön und anmutig wie immer, auch heute trug sie schwarz. Anne kam sofort der Ausdruck »Engel der Apokalypse« in den Sinn und der Gedanke, dass Ärger bevorstand. Die zwei Sergeants, die Rabea flankierten wie eine Leibgarde, verstärkten den Eindruck.

Frank Wall hob überrascht eine Augenbraue und sagte: »Rabea, was kann ich für Sie tun?«

Und als sie ihm mit sanfter Stimme antwortete, konnte man ihr unmöglich böse sein, fast hatte man den Eindruck, ihre Augen würden sich mit Tränen füllen. Sie wirkte, als hätte sie eine unglaubliche Last zu tragen: »Frank, es tut mir sehr leid, aber ich muss Sie bitten mitzukommen.«

Frank sah Rabea verständnislos an, und Anne konnte nicht anders, als sich einzumischen: »Was soll das heißen, er soll mitkommen? Ist das eine Verhaftung oder was?«

Rabea zögerte, so, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie die Einzelheiten vor Anne erläutern sollte, andererseits gehörte sie zum Ermittlerteam und würde sowieso informiert werden. »Es geht darum, dass dem Großen Rat eine Aussage vorliegt, wonach Frank Wall beschuldigt wird, Beweismittel im Fall Lorden unterschlagen zu haben. Angeblich gab es einen Umschlag, der jetzt verschwunden ist. Mehr weiß ich auch nicht, ich bin hier nur in meiner Eigenschaft als Vermittlerin. Es gab selten eine Aufgabe, die mir so schwer gefallen ist, das kannst du mir glauben, Anne. Frank, wenn Sie bitte keine Schwierigkeiten machen würden. Es geht nur um eine Anhörung vor dem Rat. Es ist Ihnen doch sicher klar, dass diesen Anschuldigungen nachgegangen werden muss. Des Weiteren ...«

Anne fuhr dazwischen: »Woher wollt ihr denn wissen, dass es irgendeinen Umschlag gab? Wer behauptet das?«

Rabea gab ihr geduldig Auskunft: »Jemand erhielt eine anonyme Nachricht, in der Beschuldigungen dieser Art gegen Frank erhoben wurden.«

Anne ließ nicht locker: »Und wo ist diese Nachricht jetzt?« Sie schäumte vor Wut.

Rabea fuhr mechanisch fort: »Nun, der Zeuge hat sie mündlich empfangen.«

Annes Stimme überschlug sich: »Mündlich!«, sagte sie spitz, »Und von wem?«

Rabea kam ins Stottern: »Na ja, eine Gestalt in der Dunkelheit.«

Anne war vollkommen außer sich: »Eine Gestalt in der Dunkelheit? Tickt ihr nicht mehr richtig? Und das wird einfach so geglaubt, eine Gestalt in der Dunkelheit sucht sich irgendeinen vorbeihuschenden Idioten, um ihm einen wichtigen Hinweis in einer Mordermittlung zu geben? Huhu, wie unheimlich.«

Rabea räusperte sich: »Ich denke nicht, dass das witzig ist, Anne. Wir haben mehrere Todesfälle, einen Angriff auf einen Sergeant ...«

Wieder unterbrach Anne: »Und ihr glaubt, dass Frank etwas damit zu tun hat? So ein Unsinn, er wäre doch längst eingeäschert worden.«

Rabea warf Anne einen eigentümlichen Blick zu, dann antwortete sie: »Du selbst vermutest doch, dass wir einen Täter haben, dem es gelungen ist, die Einäscherung zu umgehen ...«

Weiter kam sie nicht, Anne trat auf sie zu: »Und jetzt denkt ihr, das ist Frank. Sieh mich an und sag mir, dass du Frank ernsthaft verdächtigst, bloß weil irgendein Wichtigtuer daherkommt und eine Anschuldigung erhebt. Wer weiß, vielleicht war die Gestalt in der Dunkelheit unser Täter, ihm würde ja bei so einer heftigen Verleumdung nicht die Einäscherung drohen, er könnte also alles Mögliche behaupten. Warum kommt die Gestalt nicht selbst und macht ihre Aussage, nein, da sucht sie sich lieber einen Spaziergänger ...«

Dieses Mal war es Rabea, die Anne unterbrach: »Die Frage ist doch, ob es einen Umschlag gab oder nicht? Und in Anbetracht der Tatsache, wer Joseph und Dave Lorden waren und dass sie irgendwer tot sehen wollte, dass ihr aber diesen Hobnitz als Täter ausschließt und dass ihr überhaupt nichts gefunden habt, was ansonsten auf ein Motiv schließen lässt, könnte man doch durchaus zu dem Schluss kommen, dass es irgendwo einen Umschlag gab, der vielleicht Aufschluss gegeben hätte? Oder wie sehen Sie das, Frank?«

Frank wollte antworten, aber wieder war es Anne, die sich einmischte. Anne musste schnell handeln. Dieser verfluchte Umschlag, wie konnte jemand davon erfahren haben? Sie konnte Frank unmöglich dem Rat überlassen. Sie würden ihn natürlich wegen des Inhaltes befragen. Würde er lügen und alles abstreiten, dann könnte das für ihn die Einäscherung bedeuten, würde er die Wahrheit sagen, würde man sie beide verurteilen und von dem Fall abziehen. Schließlich hatte sich Frank mitschuldig gemacht, weil er Anne gedeckt hatte. Sie würden das ganze Team abziehen und den Fall schließen.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Frank hatte Unrecht. Es wäre viel einfacher, den Fall weiterzuverfolgen, wenn Frank der Oberste Sheriff bliebe. Säße sie selbst in einer Zelle, würde Frank wenigstens weitere Untersuchungen anstellen können, umgekehrt wäre das fast unmöglich. Frank musste sein Amt behalten, er musste vollkommen unbeschadet aus der Sache herausgehen, daher gab es nur eine Möglichkeit.

Anne atmete hörbar aus: »Schluss damit, ich war es, ich habe den Umschlag genommen, Frank ist unschuldig.«

Frank Wall fuhr herum: »Anne!«

Weiter kam er nicht, Rabea ging dazwischen: »Anne, du warst das? Du hast Beweismittel unterschlagen? Das hätte ich niemals von dir gedacht.«

Anne hatte das Gefühl, dass Rabea erleichtert war, dass nicht Frank Wall der Übeltäter war. Allerdings konnte sie mit dieser Wahrnehmung im Moment nichts anfangen. Rabeas Stimme unterbrach Annes Gedanken.

Mit ungewohnter Schärfe fuhr Rabea fort: »Wo ist dieser Umschlag? Anne, das ist wichtig, wir ermitteln in einem Mordfall.«

Anne sah sie trotzig an: »Wer ist dein Zeuge? Ich habe ein Recht, meinem Ankläger gegenüberzutreten. Wer ist es?«

Rabea sah sich um, hinter ihr trat Nigel O’Brian in Franks Büro.

»Nigel!« Anne fühlte sich, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen, wie hatte er das tun können?

»Nun, Mister O’Brian, offensichtlich hat sich Ihre Quelle in einem Detail geirrt, so, wie es aussieht, war es nicht Frank Wall, der das Beweisstück unterschlagen hat, sondern Misses Reeve.«

Rabea beobachtete Nigels Reaktion. Dieser zuckte nur genervt mit den Schultern und schwieg. Aber Nigels Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sein erster Gedanke war, sich nur nichts anmerken zu lassen, das würde alles nur noch schlimmer machen. Damit hatte er nicht gerechnet. Annes Loyalität gegenüber Frank erschreckte ihn. Sollte sie so starke Gefühle für ihn haben, dass sie bereit war, für ihn ins Gefängnis zu gehen? Er hatte sich alles so hübsch zurechtgelegt. Frank wäre erst einmal aus dem Weg gewesen, und er und Anne hätten zusammen den Fall aufklären können. Wie konnte sie sich so für Frank Wall einsetzen? Sie wusste doch genau, dass er den Umschlag genommen hatte.

Nigel hatte gedacht, dass Anne ihm letztendlich dankbar für seine Aussage gewesen wäre. Er war sich sicher gewesen, dass Anne innerlich einen Konflikt ausfocht. Sie konnte Franks Verhalten unmöglich billigen. Das passte überhaupt nicht zu ihrem Verständnis von Recht und Ordnung. Sicher, sie mochte Frank und empfand die Verpflichtung, ihm gegenüber loyal zu sein, aber auf Dauer konnte sie ihn nicht decken. Sie würde doch niemals jemanden beschützen, der sich gegen das System stellen würde. Genau das hatte Frank Wall doch mit seiner Unterschlagung getan. Er hatte es doch selbst gehört, als er vor zwei Tagen vor Franks Büro gestanden hatte.

Anne hatte Frank deswegen angegriffen. Sie hätte also früher oder später handeln müssen. Dann, gestern dieser schreckliche Streit mit Anne, Nigel war in Panik geraten. Er hatte einen unbändigen Hass auf Frank Wall empfunden. Warum musste sie ihn auch immer in Schutz nehmen? Frank Wall würde immer zwischen ihnen stehen.

Außerdem hatte Nigel eine Verpflichtung. Man musste sich vor einem verlogenen System schützen. Bei seinem Entschluss, den Rat zu informieren war ihm natürlich längst klar gewesen, dass dieser Beweggrund zweitrangig gewesen war. Jetzt wusste er, dass er aufgrund seiner dummen Eifersucht alles nur noch viel schlimmer gemacht hatte. Er war ein solcher Idiot. Anne machte sich ähnliche Gedanken, wenn auch mit mehr Idiot und weniger Verständnis.

Als sie Nigel in der Tür sah, hatte sie sofort eine ungefähre Ahnung von dem, was eben passiert war. Nigel hatte sicher den Anfang ihres Gespräches mit Frank vor zwei Tagen gehört. Sie erinnerte sich an das Geräusch, das sie damals in Mildreds Büro gehört hatten. Außerdem fiel ihr Nigels Bemerkung über Frank Wall bei ihrem gestrigen Streit ein. Es war dabei um zurückgehaltene Informationen gegangen. Über Nigels Gefühle gegenüber Frank war sie sich seit gestern im Klaren. Nur um sie, Anne, nicht mit hineinzuziehen, hatte er diesen Schwachsinn mit der anonymen Nachricht von der Gestalt im Dunkeln erfunden. Er wusste schließlich durch sein Lauschen genau, dass sie Kenntnis von dem Umschlag hatte.

Was er nicht wusste, war, dass der Inhalt des Umschlages Anne schaden könnte. Aber Anne verfolgte noch einen weiteren Gedanken, sie fragte sich nämlich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie, Nigel oder Frank eingeäschert würden. Denn eines war klar: In diesem Raum machten gerade jede Menge Lügen ihre Runde. Sie fand, dass das schon fast einer Verschwörung gleichkam. Als Anne sich im Raum umsah, fühlte sie sich schrecklich. Sie hatte den Eindruck, Enttäuschung in den Gesichtern von Mildred, den anwesenden Sergeants und Rabea zu sehen.

»Anne, du hast die Ermittlungen behindert. Die Ermittlungen in einem Mordfall, ist dir das überhaupt klar? Weißt du denn nicht, dass dich das zur Hauptverdächtigen macht? Anne, bitte antworte mir, was hat es mit dem Umschlag auf sich?«

Rabea sah sie jetzt fast flehend an.

Anne straffte die Schultern: »Der Umschlag wurde vernichtet. Ansonsten habe ich nichts dazu zu sagen«.

Rabea gab den beiden Sergeants durch ein leichtes Kopfnicken das Zeichen, Anne abzuführen. Den Sergeants war ihre Aufgabe offensichtlich sehr unangenehm. Sie fesselten Anne die Hände auf dem Rücken und führten sie zur Tür.

Nigel, der die Szene mit zusammengepressten Lippen betrachtet hatte, löste sich aus seiner Erstarrung und versperrte den Weg. »Anne, das ist doch nicht wahr, was ...«

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment war im Raum das unangenehme Geräusch eines brechenden Knochens zu hören, das bei den Anwesenden ein Schaudern auslöste, während Nigel sich die Hände vor sein Gesicht hielt, um die Blutfontäne zu stoppen, die aus seiner Nase schoss.

Anne war selten in ihrem Leben so wütend gewesen wie in diesem Moment. Dieser verfluchte Nigel O’Brian, sie hatte ihm vertraut, und so hatte er es ihr gedankt. Es war einfach ein Reflex des Zorns gewesen, als sie ihm ihre Stirn mitten ins Gesicht rammte und ihm damit seine Nase brach. Sie spürte, wie ihr eigenes Blut durch die Adern gepumpt wurde, wie sich ihr Kiefer verkrampfte und ihre Temperatur anstieg. Aber das waren nicht die Vorboten der Einäscherung, sondern nur ein simpler Adrenalinschub.

 

Sergeant Milton hörte das Echo seiner Schritte. Hier unten war er nur einmal gewesen, und zwar während einer geführten Besichtigung der Wache Süd. Der Zellentrakt, wie dieser Abschnitt der Wache genannt wurde, war ein verwaister Teil des Komplexes. Der Sergeant hatte ein Gefühl von Unwirklichkeit. Dieser leere, ungemütliche Gang wollte kein Ende nehmen. Das schaffte wieder Zeit zum Nachdenken. Aber eigentlich war das genau das, was Sergeant Milton jetzt nicht wollte.

Er war heute Mittag erwacht und hatte sich ausgezeichnet gefühlt. Deshalb war er umso erschrockener gewesen, als er festgestellt hatte, dass er in einem Krankenzimmer lag. Instinktiv hatte er versucht, seine Arme und Beine zu bewegen. Er hatte schnell sein Gesicht betastet, alles war ihm normal vorgekommen. Dann hatte er Katie gesehen. Ihr warmes Lächeln und die Freude über sein Erwachen. Er hatte ihr aber auch die Verzweiflung ansehen können. Das Gefühl der Angst hatte sich seiner bemächtigt. Was war passiert?

Schnell war ein Arzt erschienen. Nachdem dieser das Zimmer verlassen hatte, war der Sergeant wie gelähmt gewesen. Er hatte nicht klar denken können. Er war ein Überlebender geworden … Ewiges Leben, was würde das für ihn bedeuten?

Seltsamerweise hatte er in diesem Moment keinerlei Gefühle gehabt. Er hatte Katie angesehen und gewusst, welche Sorgen sie belasteten. Er war nicht in der Lage gewesen, mit ihr darüber zu sprechen. Er hatte allein sein wollen, sich aber nicht getraut, etwas zu sagen.

Katie war so bemüht gewesen. Sie hatte sich extrem fröhlich und gut gelaunt gegeben. Er hatte gewusst, dass sie schauspielerte. Sie hatte ihm nicht mit ihren Ängsten auf die Nerven gehen wollen. Dafür war er ihr im Nachhinein zwar dankbar, aber er fühlte sich auch auf eine gewisse Weise ausgeschlossen. Sie hatten sich immer alles offen gesagt, und jetzt hatte sich etwas verändert. Daher waren beide mehr als erleichtert gewesen, als es an der Krankenzimmertür geklopft hatte und Frank Wall eingetreten war. Der Arzt hatte ihn wohl umgehend unterrichtet, als Sergeant Milton das Bewusstsein wieder erlangt hatte. Auch Frank Wall war für seine Verhältnisse behutsam im Umgang mit seinem Sergeant gewesen. Und wieder hatte dieser das Gefühl gehabt, ausgeschlossen zu sein. Natürlich hatte der Sheriff wissen wollen, was in der Bucht passiert war und vor allem, warum er sich mit Anne Reeve dort hatte treffen wollen.

Für einen kurzen Moment hatte der Sergeant seine neue Lebenssituation vergessen und war wieder ganz der Ermittler gewesen. Er hatte die Morde vor sich gesehen, die Ermittlungen und den Angriff, bei dem er leider niemanden hatte erkennen können, weil er überraschend von hinten niedergeschlagen worden war. Er hatte Anne Reeve gesehen, wie sie sich über ihn gebeugt hatte. Er hatte ihre Verzweiflung gespürt.

»Wo ist der Chief-Sergeant?« Sergeant Milton hatte mit ihr sprechen wollen, er hatte an ihre Unterhaltung über Geheimhaltung und Vertrauen gedacht. Der Sheriff hatte gezögert, sodass Sergeant Milton im ersten Moment völlig geschockt angenommen hatte, dass sie schwer verletzt sei oder ihr sogar etwas noch Schlimmeres zugestoßen sei. Das wiederum hatte sich entsprechend auf die Gerätschaften ausgewirkt, die Sergeant Miltons Vitalfunktionen überwachen sollten.

Als die Geräte angefangen hatten zu quicken, war auch umgehend der Arzt zur Stelle gewesen, der den Sheriff angeblafft hatte: »Hören Sie sofort auf, meine Patienten aufzuregen!«

Frank Wall hatte diesem Vorwurf heftig widersprochen, und alle schienen plötzlich den Sergeant im Bett vergessen zu haben.

Dieser hatte sich zwei Finger in den Mund gesteckt und einen so schrillen Pfiff ausgestoßen, dass die drei Besucher zusammengezuckt waren: »Würde mir jetzt bitte endlich jemand sagen, was mit Anne Reeve ist? Lebt sie? Geht es ihr gut?«

Endlich hatte Frank Wall die Erlösung gebracht: »Ja, ja es geht ihr gut, sie wurde nur verhaftet!«

Wieder hatten die Geräte im Zimmer gequiekt. Der Arzt hatte schon erneut über Frank herfallen wollen, hatte seine Schimpftirade aber vergessen, als er bemerkte, dass sein Patient aus dem Bett gesprungen war. Das hatte bei allen Anwesenden einen Sturm des Protestes ausgelöst, den der Sergeant jedoch ignorierte.

Stattdessen hatte er sich an den Sheriff gewandt: »Welche Vorsichtsmaßnahmen gibt es für meine Frau?«

»Es ist alles veranlasst, der Chief-Sergeant hat sich gestern schon darum gekümmert.«

Katie hatte widersprechen wollen, aber der Sergeant hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass es bei diesem Thema keinen Raum für Diskussionen gäbe. Ebenso hatte er sich über die ärztliche Anordnung, im Bett zu bleiben, hinweggesetzt. Frank Wall hatte ihn dann bis zur Wache Süd begleitet und ihn alleine in den Zellentrakt gelassen. Die beiden Männer hatten auf dem Weg nicht viel gesprochen. Frank Wall hatte seinen Sergeant nicht gedrängt, ihm Informationen zugeben. Dafür hatte der Sergeant einige Details von Frank Wall über die Verhaftung erfahren. Zugegeben – er war mehr als gespannt, die Hintergründe dieser Verhaftung zu erfahren. Offensichtlich war dieser Nigel O’Brian ein Verräter.

Dem Sergeant rutschte in der Stille des Zellentraktes ein glucksender Laut heraus, als er sich vorstellte, wie er dafür von Anne die Nase gebrochen bekommen hatte. Die trockene Darstellung des Sheriffs hatte die belustigende Wirkung noch verstärkt. Er hätte alles dafür gegeben, dabei sein zu können. Als er um die Ecke bog, sah er im Vorraum einen Sergeant sitzen.

»Guten Tag«, begrüßte er den Kollegen.

Der sah ihn mit großen Augen an und erwiderte den Gruß: »Möchten Sie zum Chief-Sergeant? Ich meine, zu Misses Reeve?«

Er war verlegen. Durch die Verhaftung war Anne natürlich nicht mehr Chief-Sergeant. Es war jedoch offensichtlich, dass der Sergeant Annes Verhaftung als unangemessen empfand. Sergeant Milton ging darauf nicht ein, sondern ließ sich die Tür zu den Zellen aufschließen. Wieder befand er sich in einem Gang. Da die Zellen im Untergeschoss lagen, gab es kein Tageslicht.

Sergeant Milton war mit einer Laterne ausgerüstet. Er schlich langsam den Gang entlang. Was würde ihn jetzt erwarten? Die Stille, die in diesem modernen Kerker herrschte, wurde plötzlich durchbrochen. Eine vertraute Stimme stieß einen kleinen Fluch aus. Sergeant Milton bewegte sich auf das Geräusch zu.

»Chief-Sergeant?«

Endlich hatte Sergeant Milton die Zelle von Anne erreicht.

»Thomas!«

Es war das erste Mal, dass ihn Anne beim Vornamen nannte. Sie strahlte, als sie ihn sah. Ihre Freude war echt, und der Sergeant spürte plötzlich ein Gefühl tiefer Vertrautheit.

Kurz herrschte eine angenehme Stille, dann räusperte sich Anne: »Sieh an, sieh an! Schön, dass Sie zurück sind. Habe gehört, wir haben noch einige Jahre als Kollegen vor uns, vorausgesetzt, ich kann diese gastlichen Gemächer irgendwann einmal wieder verlassen.« Anne grinste.

Der Sergeant betrachtete Anne durch die Gitterstäbe. Obwohl Kerzenschein normalerweise eine behagliche Atmosphäre schaffte, war es hier unten ungemütlich.

Anne bemerkte seinen Blick und zeigte auf die hintere Ecke ihrer Zelle: »Sehen Sie, so schlimm ist es gar nicht.«

Jetzt musste auch der Sergeant schmunzeln. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke türmten sich Unmengen von Süßigkeiten und Knabberzeugs. Anscheinend hatte Anne eine Anhängerschaft, die fürchtete, sie würde hier unten verhungern.

»Wie geht es Ihnen, Chief-Sergeant? Ich habe gehört, Sie hatten intensiven Kontakt mit Mister O’Brian.«

Anne winkte ab: »Sie sollten niemals jemandem einen Kopfstoß versetzen, denn wenn das Gefühl der Genugtuung nachlässt, bleiben Ihnen nur schreckliche Kopfschmerzen.«

Der Sergeant lachte aus vollem Herzen, um sich gleich darauf für seine Taktlosigkeit zu entschuldigen.

»Vergessen Sie das, Thomas. Im Fall Nigel O’Brian gibt es niemanden, der taktloser sein könnte, als ich selbst. Sagen Sie mir wenigstens, dass er als Verdächtiger ausscheidet.«

Der Sergeant konnte ihr zumindest dazu eine Auskunft geben: »Ich habe die Rückmeldung aus dem Norden noch am Abend des 30. Mai erhalten. Also vor dem Angriff auf mich am nächsten Morgen. Nigel O’Brians Aussage bezüglich seiner Abreise im Norden war korrekt gewesen.

»Na, Gott sei Dank.« Anne war erleichtert.

Sergeant Milton konnte sich schon denken, weshalb sie so erleichtert war. Ihm war nicht entgangen wie die beiden zueinander standen, trotzdem musste er ihre Erleichterung etwas dämpfen: »Allerdings können wir ihn nicht von der Liste streichen. Die Reisedauer können wir nicht hundertprozentig bestimmen. Wenn er keine Zeugen hat, die ihn am 27. Mai um Mitternacht außerhalb unserer Gemeinschaft gesehen haben, hätte er auch mit einem schnellen Pferd bereits während den Morden hier sein können. Wir haben nur seine Aussage, dass er erst gegen Mittag des 28. Mai angekommen ist.«

Anne antwortete nicht. Sie lief zu ihrem Nahrungsmitteldepot und holte ein Körbchen mit selbstgebackenen Keksen. Sie bot dem Sergeant davon an.

»Nehmen Sie nur, der Sergeant im Vorraum ist ganz verrückt danach.«

Sergeant Milton griff zu und zog sich einen kleinen Hocker, der einsam in einer der offenen Zellen stand, vor Annes Zellentür.

»Ich denke, ich sollte anfangen.« Und Anne erzählte ihm alles, was sich seit ihrer letzten Begegnung ereignet hatte. Sie erzählte von ihrem Besuch bei Frank. Wie sie ihn wegen der Munition ausgefragt hatte, und schließlich erzählte sie dem Sergeant von diesem verflixten Umschlag.

Sie vertraute Thomas Milton hundertprozentig, deshalb gab es auch keinen Grund, etwas zu verheimlichen. Sie atmete schwer aus, bevor sie ihm von dem Verdacht der Lordens gegen ihre Person erzählte. Der Sergeant hörte ihr mit offenem Mund zu. Das machte Sinn. Deshalb hatte Frank Wall den Fall so schnell vom Tisch haben wollen. Er hatte Anne beschützen wollen. Aber diese Anschuldigungen der Lordens waren Unsinn. Sergeant Milton würde für Anne Reeve durchs Feuer gehen. Sie war niemals in irgendetwas Unrechtes verwickelt. Sie in Verbindung mit dem Tod ihres ehemaligen Partners Paul Grey zu bringen, war absurd.

Anne sprach weiter, sie erzählte von ihrem Kneipenbesuch in der Spielwelt und wie dort plötzlich Nigel auftaucht war. Als sie erwähnte, dass sie mit ihm die Nacht verbracht hatte, konnte man trotz des trüben Lichtes erkennen, dass sie errötete. Sie erklärte dem Sergeant, dass sie deshalb am nächsten Morgen so spät in ihrer Wohnung angekommen war und bemerkt hatte, dass jemand eingedrungen war, weil die Tür nicht mehr verschlossen gewesen war. Sie erzählte ihm, wie sie die Nachricht gefunden und schließlich Alarm gegeben hatte. Sie räusperte sich einige Male, als sie davon sprach, wie sie seinen Körper an den Strand gezogen und gedacht hatte, sie könnte ihn nicht mehr retten. Dann zögerte sie.

Jetzt war es der Sergeant, der sprach: »Hören Sie, Chief-Sergeant – Anne – ich versichere Ihnen, dass ich alles tun werde, um Sie hier rauszuholen. Ich weiß, dass Sie nichts mit den Morden zu tun haben. Egal, was es ist, sagen Sie es mir. Wir müssen jetzt zusammen arbeiten. Es steht zu viel auf dem Spiel. Zu viele Menschen könnten in Gefahr sein, Katie ...« Er brach ab.

Anne wusste, welche Gedanken ihn beschäftigten. »Sie werden ein wundervolles Leben miteinander führen. Glauben Sie mir. Sie wird lernen, damit umzugehen, geben Sie ihr ein wenig Zeit, und vor allem geben Sie sich selbst ein wenig Zeit.«

Sie nickten einander zu, und Anne fasste den Entschluss, offen zu sprechen: »Also schön, im Krankenhaus sagte mir der Arzt, dass Sie sich bald wieder erholen würden. So leid es mir tut, ich hätte jeden Eid geschworen, dass ich Sie an der Bucht nicht hatte retten können. Als ich Sie aus dem Wasser gezogen habe, hatten Sie schon keinen Puls mehr. Sie mussten schon lange in den Fluten getrieben haben. Ich war so verzweifelt und fühlte mich so hilflos. Die Kälte war überall, und dann muss ich ohnmächtig geworden sein. Tja und dann ...« Anne stockte.

Der Sergeant hatte ihr gebannt zugehört und beugte sich weiter nach vorne: »Und dann?«

»Und dann hatte ich eine eigenartige Vision.«

Jetzt war es raus. Anne erzählte ihm, an was sie sich erinnern konnte. Sie erzählte von dem fremden Wesen, das sich über den Sergeant gebeugt hatte, von dem Gefühl der Zufriedenheit, vom Vanilleduft und der fremden Sprache. Sie erzählte ihm von dem Satz, den sie immer wieder im Schlaf wiederholt hatte: »Er wurde für dich gerettet, nun rette uns«. Als sie endete, war der Sergeant wider Erwarten ganz ruhig.

Er sah sogar etwas erleichtert aus. »Hm, wissen Sie, Chief-Sergeant, als ich im Krankenhaus erwachte, erinnerte ich mich an einen Traum, der dem ihren nicht unähnlich war. Ich dachte auch, ich hätte eine Gestalt in der Felsenbucht gesehen. Wie wahrscheinlich ist es, dass wir beide die gleiche Sinnestäuschung hatten? Das Erstaunliche war, dass dieser ›Traum‹ unglaublich real war. Und die ganze Zeit hatte ich den Duft von Lavendel in der Nase.«

Jetzt erlebte der Sergeant einen der wenigen Momente, in denen Anne Reeve sprachlos war. Kurze Zeit schwiegen sie.

»Wow, das ist wirklich unglaublich. Wenn einer verrücktes Zeug sieht, ist es Fantasie, wenn zwei das gleiche verrückte Zeug sehen, ist es dann Realität?«

Der Sergeant zuckte mit den Schultern und fragte: »Was fangen wir mit dieser Erkenntnis jetzt bloß an?«

Anne war sich ebenfalls unsicher. »Vielleicht haben wir dort am Strand tatsächlich jemanden gesehen. Vielleicht war es der Täter, aber unser Unterbewusstsein spielt uns einen Streich und wir sehen fremde Wesen, wo es in Wirklichkeit eine echte Person in wallenden Gewändern und mit wehenden Haaren gab?«

Der Sergeant konnte sich mit dieser Theorie anfreunden: »Das würde manches erklären.«

Anne gefiel der Gedanke nicht, einem vermeintlichen Mörder so nahe gekommen zu sein: »Ich denke, diese Geschichte halten wir noch etwas zurück. Sollte der Täter davon erfahren, dass wir eine Erinnerung an ihn haben, sind wir in noch größerer Gefahr.«

Der Sergeant war einverstanden und sie gingen die jüngsten Ereignisse durch. Anne erklärte zunächst, wie sie den Tag des Sergeants rekonstruieren wollte und dass sie Misses Wong von der Schulkommission besucht hatte, die wenig hilfsbereit gewesen war.

»Danach wurde ich in Franks Büro verhaftet.«

Sie erzählte ihrem Sergeant von ihrer plötzlichen Eingebung, Frank aus der Geschichte mit dem Umschlag herauszuhalten, damit der Fall unter seiner Obhut weiter untersucht werden konnte. Dann sprach sie über ihre Vermutungen bezüglich Nigel O’Brians Anschuldigung und erwähnte den Streit mit ihm im Krankenhaus.

Den Brief von Marie, der mittlerweile im Büro von Frank Wall lag, gab sie ihm möglichst wortgetreu wieder, damit auch der Sergeant eine Ahnung von Maries Gemütswelt hatte. Außerdem hatte der Brief gezeigt, dass Marie zumindest teilweise von Daves Befürchtungen oder Verdächtigungen gewusst hatte. Denn sonst hätte sie seine Zweifel am System nicht erwähnt. Schließlich ließ sie die Geschichte mit dem berühmten Kopfstoß, der ihr mittlerweile ein bisschen peinlich war, ausklingen.

Sergeant Milton hatte die Ohren gespitzt, als Anne über Misses Wong gesprochen hatte.

Anne sah ihn direkt an und beugte sich vor wie eine Katze vor dem Sprung: »Was ist los? Sie haben in der Schulkommission etwas herausgefunden, nicht wahr? Es war diese Wong. Ich wusste, dass sie etwas verheimlicht hat. Los, los!«

Der Sergeant war aufgeregt. Endlich konnte er mit Anne über seine Entdeckungen sprechen: »Es stimmt, ich denke, ich habe da etwas gefunden. Als ich ins Büro der Schulkommission kam, hatte ich eigentlich keine großen Erwartungen. Ich habe mir die Schreibtische und den Büroraum der Lordens gründlich angesehen. Aber dort gab es überhaupt nichts Auffälliges. Keine Geheimverstecke, keine verschlüsselten Notizen, einfach gar nichts. Dann dachte ich mir, dass es vielleicht gut wäre, mit der Assistentin zu sprechen. Ich muss sagen, die war schon ein harter Brocken. Ziemlich zurückhaltend, um es freundlich auszudrücken.«

Anne seufzte. Sie sah Misses Wong genau vor sich. Mit ihren knappen Antworten und ihrem schnippischen Verhalten, das ihr Gegenüber leicht zu körperlicher Gewalt provozieren konnte.

Der Sergeant fuhr fort: »Ich fragte sie nach ungewöhnlichem Verhalten, Wesensveränderungen. Ich war sehr eindringlich, bat sie, selbst die kleinste Kleinigkeit nicht zurück zu halten. Offensichtlich war sie bis zu diesem Zeitpunkt enttäuscht über die Ermittlungsergebnisse. Sie hatte die Lordens sehr gemocht und glaubte nicht an die Schuld von Karl Hobnitz. Die Theorie von der verzögerten Einäscherung gefiel ihr nicht. Erst als ich ihr sagte, dass ich persönlich den Fall auch noch nicht für abgeschlossen halten würde, war sie kooperativ und bereit, mir – unter dem Siegel der Verschwiegenheit – weitere Informationen zu geben.«

Der Sergeant machte eine kleine Pause und Anne brachte mit einem undefinierbaren Laut ihre Ungeduld zum Ausdruck. Der Sergeant beeilte sich fortzufahren: »Dave Lorden hatte sie am Tage vor seinem Tod gebeten, einen Termin mit Frank Wall zu vereinbaren.«

»Was?« Anne war überrascht. »Davon hat Frank kein Wort gesagt. Für wann wurde der Termin vereinbart?«

Der Sergeant lehnte sich zurück: »Das ist es ja. Nachdem er sie gebeten hatte, den Termin zu vereinbaren, sprach er sie zehn Minuten später erneut darauf an. Dieses Mal zog er seine Anweisung zurück mit der Begründung, dass er sich selbst um ein Treffen mit dem Sheriff kümmern wolle. Misses Wong fand das zuerst nicht sehr ungewöhnlich, aber in Anbetracht der Umstände ...«

Anne lief in ihrer Zelle auf und ab: »Das gefällt mir nicht. Warum taucht immer wieder Franks Name bei der Untersuchung auf?«

Sergeant Milton blickte zu Boden. Er fand das auch seltsam, hielt sich aber mit Kommentaren zurück. Er vertraute in dieser Angelegenheit Anne Reeve.

»Ihnen gefällt das auch nicht? Nicht wahr, Sergeant?«

Der Sergeant hob unbeholfen die Schultern.

Anne fuhr fort: »Das kann natürlich Zufall sein, aber ich würde meine Kehrseite darauf verwetten, dass Dave ihn wegen mir und Paul Grey sprechen wollte.«

Der Sergeant nickte zustimmend. Allerdings versuchte er sich zusammenzureimen, was Anne mit dem Verwetten ihrer Kehrseite meinte. Er tat ihren Satz dann aber als einen dieser typischen schrulligen Ausdrücke der Überlebenden ab. Wenn der Fall abgeschlossen wäre, würde er vielleicht einmal anfangen, sich diesbezüglich ein kleines Nachschlagewerk anzulegen. Über die Jahre wäre es sicher hilfreich, die anderen Überlebenden noch besser zu verstehen.

Anne blickte auf ihren Sergeant, der offensichtlich seinen eigenen Gedanken nachhing: »Thomas? Ist alles in Ordnung?«

Der Sergeant zuckte zusammen: »Tut mir leid Chief-Sergeant, ich ...«

Anne winkte ab: »So richtig weiter bringt uns diese Information leider auch nicht.«

Der Sergeant war jetzt wieder ganz bei der Sache: »Das ist noch nicht alles.«

Anne blickte ihn gespannt an: »Was? Erzählen Sie!«

Und der Sergeant erzählte ihr eifrig von der zweiten Information, die er von Misses Wong erhalten hatte: »Misses Wong konnte sich noch an einen anderen seltsamen Vorfall erinnern. Der hing direkt mit Dave Lordens Arbeit bei der Schulkommission zusammen. Wie Misses Wong betonte, war Dave Lorden immer sehr gewissenhaft. Unter anderem bestanden seine Aufgaben auch darin, bei einem Todesfall die Akte des Verstorbenen aus dem Archiv zu holen.«

Anne unterbrach ihn: »Das hat er gemacht? Wie traurig.«

»Misses Wong sagte, dass er diese Arbeit immer ganz besonders ernst nahm. Er fand es wichtig, den Toten den nötigen Respekt zu zollen. Also holte er, sobald die Meldung über den Todesfall kam, die Akte aus dem Archiv und legte sie zur Abholung bereit. Er sprach den Familien stets sein Beileid aus, und falls die betroffene Familie keinen Überlebenden kannte, der die Aufgabe übernahm, war er es stets gewesen, der die Akte dem Toten mit in den Sarg legte.«

Anne seufzte. Sie konnte sich Dave Lorden genau vorstellen. Seine traurigen Augen waren ihr noch in Erinnerung. Offensichtlich hatte er all die Jahre einen schrecklichen Schmerz mit sich getragen. Was sonst hätte ihn dazu veranlasst, sich den Toten so verpflichtet zu fühlen?

Der Sergeant fuhr fort: »Nun, vor circa zwei Wochen gab es wieder einen Todesfall. Der Name war gemeldet worden und die Akte sollte zur Abholung bereit gelegt werden. Dave Lorden betrat wie gewöhnlich das Archiv. Laut Misses Wong war er viel länger in dem Archiv, als eigentlich nötig gewesen wäre. Und als er dann aus dem Archiv herauskam, war er kreidebleich, und er hatte nicht einmal die Akte dabei.« Der Sergeant lehnte sich triumphierend zurück.

»Er war kreidebleich? Thomas, sagen Sie mir jetzt nicht, dass das unser Durchbruch ist. Ein Wechsel der Gesichtsfarbe von Dave Lorden wird mich hier nicht herausholen, und wer weiß ob Misses Wong sich das nicht nur eingebildet hat.«

Der Sergeant grinste: »Hat sie nicht. Am nächsten Tag wollte man die Akte abholen, aber sie war immer noch nicht gerichtet. Was sagen Sie jetzt?«

»Schlamperei? Was soll ich dazu sagen? Das kann passieren, wie soll uns das weiterhelfen?« Anne begann zu verzweifeln.

Das Grinsen des Sergeants wurde noch breiter: »Wir haben einen Mann, der seine Arbeit immer gewissenhaft erledigt. Einen Mann, der so viel Respekt vor den Toten hat, dass er sich selbst immer bereit erklärt, die Akten den Toten in den Sarg zu legen, falls es niemanden sonst gibt, der das erledigen kann. Und eines Tages will dieser Mann eine Akte holen, bleibt länger als gewöhnlich dafür im Archiv, ist kreidebleich, als er zurückkommt, und es stellt sich heraus, dass die Akte, die er hätte holen sollen, noch immer im Archiv liegt. Das heißt doch, dass in dem Archiv etwas vorgefallen ist, das ihn ...«

Anne unterbrach ihn «... erbleichen ließ?«

Der Sergeant ignorierte ihren ironischen Unterton: »Genau! Also habe ich Misses Wong nach dem Namen des Verstorbenen gefragt, dessen Akte an dem besagten Tag hätte aus dem Archiv geholt werden müssen, und sie gebeten, mir genau zu zeigen, wo sich diese Akte befunden hat. Misses Wong konnte sich natürlich noch genau erinnern, weil es so ein Versäumnis von Dave Lorden noch nie gegeben hatte. Und jetzt halten Sie sich fest, der Name des Verstorbenen war Lucas Grant!«

»Lucas Grant? Wer zum Teufel ist das?«

»Keine Ahnung, wer das ist, aber das spielt auch keine Rolle.«

Anne legte ihre Stirn in Falten, irgendwie blockierte die »gemütliche« Atmosphäre ihres neuen Domizils ihren Denkapparat. Sie hoffte, dass zumindest der Sergeant eine brauchbare Schlussfolgerung hatte. Anne wurde nicht enttäuscht.

»Viel wichtiger ist doch, dass Lucas Grants Akte sich in der gleichen Aktenbox befand, in der auch Mildred Greys Akte aufbewahrt wird.« Jetzt strahlte der Sergeant über das ganze Gesicht.

Anne rutschte ein nicht sehr damenhafter Fluch über die Lippen: »Das gibt es ja nicht. Sie denken, er hat etwas in der Akte von Mildred gefunden, die er versehentlich herausgezogen hat, als er nach Lucas Grants Akte gegriffen hat?«

»So oder so ähnlich. Misses Wong hat mir das Ablagesystem erklärt. Die sogenannten Boxen sind aus Karton. Dave Lorden hat sie wohl als Schuhschachteln bezeichnet, was auch immer er damit gemeint hat.«

Anne musste schmunzeln. Es war stets amüsant, wenn einem auf diese Weise vorgeführt wurde, wie viele unnötige Dinge es in der Traurigen Zeit gegeben hatte. Dinge wie zum Beispiel Schuhschachteln.

Der Sergeant sprach weiter: »In diesen Schachteln können circa zehn Schulakten aufbewahrt werden. Außen stehen dann die Namen. Stirbt jemand, wird seine Akte entnommen und sein Name durchgestrichen. Wie dem auch sei, nachdem Lucas Grants Akte aus der Box entnommen wurde, war nur noch Mildreds Akte darin. Ich habe sie mir angesehen. Sie sah so aus, als hätte sie erst kürzlich jemand sehr ordentlich sortiert. Vielleicht ist ihm der Karton heruntergefallen oder die Akten hingen ineinander. Diese sind wegen des Recyclings oft unterschiedlich groß. Das macht es schwieriger, sie im Karton sauber zu stapeln. Also, Dave Lorden will die Akte von Lucas Grant entnehmen, die Akte von Mildred hängt dazwischen oder ihm fällt die ganze Box herunter. Gewissenhaft, wie er ist, sortiert er alles ordentlich ein und stößt auf etwas, das seine Aufmerksamkeit erregt. Offensichtlich wühlt ihn sein Fund so auf, dass er die Akte von Lucas Grant ganz vergisst und im Archiv zurücklässt. Was er gefunden hat, wissen wir nicht. Es war etwas, das mit Paul Grey zu tun hat, und dass Sie – Chief-Sergeant – belastete.« Schnell verbesserte sich der Sergeant: »Nicht belastete, sondern für Dave Lorden so aussah, als würde es Sie belasten.«

Anne atmete geräuschvoll aus. Endlich hatten sie eine Spur. Sie spürte förmlich, wie die Zahnräder in ihrem Gehirn los ratterten: »Natürlich, damit hätten wir die Verbindung zu Paul Grey, Mildreds Vater. Aber warum hinterlegt jemand etwas Belastendes über mich ausgerechnet in Mildreds Akte? Das verstehe ich nicht.«

Jetzt war es der Sergeant, der Anne einen fragenden Blick zuwarf.

»Sehen Sie, Sergeant, eines Tages hätte ich Mildreds Akte im Archiv abholen und ihr damit den letzten Dienst erweisen sollen, Paul Grey hatte mich schon vor langer Zeit darum gebeten. Das heißt, ich hätte die komplette Akte nach Mildreds Tod erhalten.«

Der Sergeant führte den Gedanken fort: »Derjenige wusste vielleicht nicht, dass Paul Sie dafür bestimmt hat. Schließlich gibt es keine offiziellen Listen darüber.«

Anne lächelte: »Das würde aber auch bedeuten, das Dave Lorden vielleicht an meinen Worten gezweifelt hätte. Und Mildred wäre als Zeugin ausgefallen. Sie weiß nur durch mich von dem Wunsch ihres Vaters. Paul hat mit ihr nicht darüber gesprochen. Trotzdem, wenn Dave zu mir gekommen wäre, hätte ich wenigstens die Chance gehabt, seinen Verdacht auszuräumen. Aber das passt alles nicht so richtig zusammen. Eventuell haben wir den falschen Ansatz ... «

Sergeant Milton schien eine Idee zu haben. Er schnalzte mit der Zunge: »Aber natürlich, genau das ist es! Was auch immer in Mildreds Akte war, das war ganz sicher nicht für Dave Lorden bestimmt, sondern für Sie, Anne. Es ging nie darum, Sie zu belasten. Es ist doch viel wahrscheinlicher, dass derjenige, der das Material hinterlegt hat, Sie informieren wollte. Aber wer ...?«

Wie aus einem Mund riefen beide: »Paul Grey!«

Kurze Zeit sprach keiner, dann war es Sergeant Milton, der den Faden wieder aufnahm: »Wissen Sie, Chief-Sergeant, eines ist merkwürdig. Warum hinterlegt Paul Grey eine Nachricht in Mildreds Akte? Zugegeben, das war ein Platz, an dem niemand suchen würde, aber es hätte auch sein können, dass diese Nachricht verloren gegangen wäre. Das sind nur Papierarchive, wie schnell flattert da mal ein Zettel davon. Es hätte auch sein können, dass die Archive umorganisiert worden wären. Vielleicht hätte man die Dokumente überarbeitet. Wäre vielleicht jemand anderes auf seine Nachricht gestoßen, hätte er sie gar nicht als solche erkannt. Dave Lorden war eben jemand, der durch seine Vergangenheit geprägt war und den Dingen im Allgemeinen mehr Aufmerksamkeit schenkte als vielleicht jemand anderes.«

»Sie haben recht, Sergeant, warum so kompliziert? Paul hätte es mir doch einfach sagen können. Warum so lange warten? Vielleicht sind wir doch nicht auf dem richtigen Weg?«

»Oh, doch!«, sagte der Sergeant, der das Gefühl hatte, dass in seinem Kopf gerade ein kleines Feuerwerk veranstaltet wurde. »Richtiger geht es gar nicht. Paul ist auf etwas gestoßen, das, wie wir glauben – seit es Dave Lorden in den Händen hatte –, bereits fünf Menschen das Leben gekostet hat, wenn wir Karl Hobnitz und Doktor Calliditas mitzählen. Vielleicht war sich Paul Grey bewusst, wie gefährlich das Material war, vielleicht wurde er sogar bedroht. Ich kann mir genau vorstellen, was in Paul Grey vorging.«

Anne sah ihn zweifelnd an, aber der Sergeant ließ sich nicht beirren: »Er wollte Mildred schützen. Deshalb hat er die Nachricht in ihrer Akte versteckt. Erst nach ihrem Tod würden Sie, Anne, die Nachricht finden, dann würde aber für Mildred keine Gefahr mehr bestehen. Ich würde es genauso machen. Er war Ermittler, er konnte das, was er fand, nicht einfach vergessen, aber sein Kind zu schützen, hatte Vorrang. So konnte er beides. Für Gerechtigkeit und für Mildreds Sicherheit sorgen. Ein zufälliger Verlust des Materials musste er eben in Kauf nehmen.«

Anne runzelte die Stirn: »Das wäre eine Erklärung. Allerdings hätte er mir auch beim Notar einen ›Letzten Brief‹ hinterlassen können, den ich erst nach Mildreds Tod erhalten hätte.«

Dem Sergeant gefiel seine Theorie besser, deshalb suchte er auch dafür nach einer Begründung. Zufrieden offenbarte er seine Schlussfolgerung: »Vielleicht war ihm das Notariat zu unsicher?«

Auf Annes Gesicht machte sich Skepsis breit, aber der Sergeant sprach schnell weiter, bevor sie etwas sagen konnte: »Im Notariat werden Bücher geführt. Der Notar weiß von dem hinterlegten Brief. Jemand hätte Paul bei der Abgabe sehen können. Zum Schularchiv hatte Paul Grey viel leichter unbeobachtet Zugang.«

Anne war nicht überzeugt, allerdings fiel ihr im Moment keine bessere Lösung ein, deshalb sponn sie den Faden weiter: »Hat Ihre Misses Wong denn gesehen, dass Dave Lorden etwas bei sich hatte, als er das Archiv verließ?«

Der Sergeant schüttelte den Kopf: »Nein, sie konnte sich nicht daran erinnern.«

Anne brummte vor sich hin: »Groß kann es nicht sein, sonst hätte es nicht in die Schulakte gepasst. Allerdings denke ich, dass – was auch immer Paul hinterlegt hatte – es auf keinen Fall etwas war, das einen eindeutigen Hinweis geliefert hat, sonst hätten es die Lordens nicht falsch interpretiert. Andererseits war es für Dave wiederum so eindeutig, dass es bei ihm eine Reaktion verursachte. Er war bleich, als er aus dem Archiv kam und vergaß, die Akte von Lucas Grant mitzunehmen. Offensichtlich hat er sein Versäumnis auch später nicht nachgeholt, oder?«

Der Sergeant antwortete: »Nein, das hat er nicht. Und ja, er war bleich, als er das Archiv verließ. Aber ganz gleich, was er in der Akte von Mildred gefunden hat, warum wundert Sie seine Reaktion? Denken Sie an den beihon-Fall. Dieser Mann hat in der Traurigen Zeit alles verloren. Er hat versucht, ein guter Mensch zu sein und wurde bestraft. Dann kamen die Aschentage. Vielleicht brachten sie ein bisschen Genugtuung. Der Tod seiner Frau wurde aufgeklärt, er wusste, wer die Schuldigen waren, aber er konnte nichts mehr rückgängig machen. Wozu lohnte es sich also noch, zu leben? Es gibt nur eine Antwort. Es lohnte sich für ihn, genauso wie für viele andere, nur deshalb, weil sie in einer besseren Welt leben konnten. Weil sie eine bessere Welt erschaffen konnten. Aber was ist, wenn diese Welt zusammenbricht? Dave Lorden fand eine Botschaft von Paul Grey. Paul Grey, der bei einem Unfall starb. Völlig unerwartet. Paul Grey, der eine Botschaft versteckt hat. Eine Botschaft, die man so deuten konnte, als hätten Sie, Chief-Sergeant, etwas mit Paul Greys Tod zu tun. Dave Lorden, der sich eine neue heile Welt gewünscht hat, der Vertrauen hatte in das neue System. Dieser Dave Lorden musste erleben, wie dieses neue System stürzte. Anne Reeve brachte es zu Fall. Die gleiche Anne Reeve, die seinen Aschenfall aufgeklärt hat, die gleiche Anne Reeve, der er vertraut hat. Denken Sie nicht, Chief-Sergeant, dass ein Mann wie Dave Lorden daran zerbrechen könnte? Dass ihn diese Information erbleichen lassen würde? Dass er vor Schock seinen Aufgaben nicht mehr ordentlich nachkäme? Natürlich riss er sich dann zusammen und führte Ermittlungen durch. Aber alleine schon die Tatsache, dass er dazu gezwungen war, hat seine Welt zum Einstürzen gebracht. Chief-Sergeant, Ihnen ist es doch genauso gegangen, als wir die Leiche von Joseph Lorden fanden.«

Anne riss die Augen auf, sie hatte dem Sergeant sehr genau zugehört. Als sie jetzt sprach, war ihre Stimme fest: »Sergeant Milton, Sie sind wirklich, neben Paul Grey, der beste Sergeant, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.«

Thomas Miltons Gesicht glühte vor Stolz.

Dann räusperte sich Anne: »Wir müssen mit Frank Wall sprechen. Er muss sich genau erinnern, was in diesem Umschlag war. Wir brauchen den genauen Wortlaut der Aufzeichnungen von Dave Lorden. Außerdem müssen wir wissen, ob der Sheriff von Dave Lorden um einen Termin gebeten wurde. Alles führt uns wieder zu Frank Wall.«

Dann rüttelte Anne wie ein kleines Zirkusäffchen an dem Gitter: »Diese verdammte Zelle, hier drin bin ich nutzlos.«

Plötzlich erstarrte sie: »Wir haben etwas übersehen.«

Der Sergeant fühlte Panik in sich aufsteigen. Etwas an Annes Gesichtsausdruck beunruhigte ihn.

»Sergeant: Misses Wong!«

Der Sergeant begriff. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und rannte Richtung Ausgang. Er hoffte, dass er nicht zu spät kommen würde.