3. Die Einäscherung

 

Als sie bei den Ställen ankamen, waren ihre Pferde schon gesattelt.

Der Pferdepfleger, ein netter Kerl namens Oliver, erwartete sie: »Hallo Chief-Sergeant, ich habe Emil für Sie gerichtet, sie beide verstehen sich doch so gut.«

»Super, dankeschön, Mister Oliver«, sagte Anne erfreut.

Obwohl sie nun seit 260 Jahren regelmäßig auf einem Pferd saß, war sie lange nicht so eine selbstsichere Reiterin wie der schlechteste Reiter unter den Neugeborenen. Nach dem Ende der Aschentage musste die Welt in allen Bereichen neu organisiert werden. Technik war ein heikles Thema. Vielen der Überlebenden war an der Technik nichts mehr gelegen. Sie gaben ihr an allem die Schuld. Abgesehen davon waren die Folgen der Umweltverschmutzung nicht zu leugnen.

Man hatte nach den Aschentagen vor einem Scherbenhaufen gestanden. Mit viel Geschick war es gelungen, die Atomkraftwerke weltweit herunterzufahren. Zum Glück hatten Notsysteme funktioniert, und die Wissenschaftler und Fachleute unter den Überlebenden hatten Reaktorunfälle verhindern können. Die Lagerung des Atommülls und die Aufrechterhaltung der Sicherheit in den abgeschalteten Kraftwerken beschäftigte heute noch viele Menschen. Die Gemeinschaften, wie die Städte in der Neuen Welt hießen, wurden, wenn möglich, weit abseits der Atommeiler errichtet. Da die Menschheit so dezimiert worden war, fand sich ausreichend Platz in der Welt. Die Siedlungen waren dennoch meist an den Küsten errichtet worden.

Das Meer bot Nahrung. Außerdem war es ein Verkehrsweg und der richtige Standort für die Gewinnung von Windenergie. Ziel war es gewesen, dass jede Siedlung imstande war, sich selbst mit allem Nötigen zu versorgen. Daher spielte Landwirtschaft eine große Rolle. Es war schön, die Weiden und Felder hinter den Siedlungen zu durchqueren. Anne tat das immer mit einem guten Gefühl. Die gesamte Welt war auf ökologischen Anbau umgestellt worden. Für die Neugeborenen würde nichts anderes infrage kommen.

Eine typische Frage in den Schulen war immer: »Aber warum haben die Menschen in der Traurigen Zeit nicht aufgehört, die Erde zu zerstören, sie wussten doch, welche Folgen das haben würde?« Oder: »Wie kann man ein Lebewesen quälen und dann essen?«

Der Tierschutz hatte eine große Bedeutung in der Neuen Welt. Es gab kein Tier ohne Heimat. Die meisten Flächen der Welt wurden nicht genutzt. Man hatte sie der Natur einfach zurückgegeben. So konnte sich eine neue Artenvielfalt entwickeln. Tierpfleger überwachten Teile der Gebiete und betreuten die Tiere, die darin lebten. Tierheime waren überflüssig. Gewisse Arten gab es mittlerweile nicht mehr als Haustiere, sie waren ausgewildert. Vögel und Nagetiere in Käfigen und Fische in Aquarien waren in der Neuen Welt undenkbar. Hunde und Katzen gehörten wie selbstverständlich zu den Haushalten und hatten ihre alten Pflichten wieder aufgenommen, wie zum Beispiel das Hüten der Herden und das Mäusefangen. Pferde spielten eine große Rolle. Sie waren aber nicht nur das Haupttransportmittel und der wichtigste Helfer in der Landwirtschaft, sie waren zum treuen Begleiter der Menschen geworden. Die Neugeborenen lernten quasi schon vor dem Laufen das Reiten. Die Tiere gehörten zur Familie, daher war es auch selbstverständlich, dass niemand ein Tier eingeschläfert hätte, weil es seine Arbeit nicht mehr erledigen konnte.

Die älteren Tiere durften ihren Ruhestand genießen, und wenn der Abschied unumgänglich war, dann fiel er schwer. Diese Philosophie im Zusammenleben von Mensch und Tier wurde konsequent durchgezogen. Die Überlebenden hatten lange darüber diskutiert, ob man überhaupt noch tierische Lebensmittel verwerten sollte. Man hatte sich dann auf eine Formel geeinigt: So wenig wie möglich, aber wenn, dann nur unter den besten Bedingungen der Tierhaltung. So wurden Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte und andere tierische Produkte in der Neuen Welt zwar verzehrt, aber zum einen nur in Maßen und zum anderen mit dem entsprechendem Respekt vor dem Lebewesen. Ein Großteil der Nahrung bestand aber aus Gemüse, Obst und Getreide. Die Forschungsmannschaften führten die hohe Lebenserwartung der Neugeborenen unter anderem auf diese Art der Ernährung zurück.

Schadstoffe, Gifte und Geschmacksverstärker konnten den menschlichen Körper nicht mehr schädigen. Unter den Eingeäscherten waren nicht wenige aus der Lebensmittelbranche gewesen, die systematisch schädliche Produkte auf den Markt gebracht hatten. Daher war es nicht verwunderlich, dass auch die Chefetagen dieser Unternehmen am Ende der Traurigen Zeit fast nur noch von kleinen Aschenhäufchen besiedelt gewesen waren.

Anne gab Emil erst einmal einen Keks. Emil, ein absolut gemütlicher Typ, mahlte den Keks genüsslich zwischen seinem riesigen Pferdegebiss und versuchte dann vorsichtig, mit seinen weichen Lippen ein paar Kekskrümel aus Annes Haaren zu befreien. Emil war bunt gescheckt und hatte breite Fesseln, die wie kleine Stiefelchen aussahen und an denen lange Haare wuchsen. Anne schmuste noch kurz mit ihrem Liebling und versprach ihm noch mehr Kekse, wenn sie zurückkämen. Dann stiegen sie auf und machten sich auf den Weg.

 

Zur gleichen Zeit blickte Frank Wall aus seinem Panoramafenster. Als er Anne und Sergeant Milton vorbeireiten sah, fluchte er laut: »Verdammte Anne Reeve und ihre blöden Sprüche!«

Er hatte heute wirklich keinen guten Tag. Die Situation beunruhigte ihn. Was, wenn sie keine Antworten finden würden? Was, wenn das System wirklich nicht mehr funktionieren würde? Er verfolgte seit gestern alle Meldungen, die in der Zentrale eingingen. Fälle von Einäscherungen wurden mittlerweile nur noch über die normalen Kommunikationswege übermittelt. Das hieß schriftlich, entweder per Post oder Depesche. Das Postsystem entsprach dem der Traurigen Zeit, nur war es natürlich viel kleiner und langsamer.

Die einzelnen Gemeinschaften – verteilt auf der Welt – standen zwar miteinander in Verbindung, aber die Postverteilung hatte keine hohe Priorität. Sie erfolgte per Pferd oder Schiff. Damit konnte ein Brief innerhalb zweier nahegelegener Gemeinschaften rund zwei Tage unterwegs sein. Zwischen Gemeinschaften auf verschiedenen Kontinenten bis zu zwei Monaten. Die Depeschen kamen mit den sogenannten Depeschenboten. Da diese schneller als die Post waren, verständigte man sich bei eiligen Dingen meistens über Depeschen. Für offizielle Nachrichten und Mitteilungen an die Bevölkerung waren die Haushalte mit Radios ausgerüstet. Außerdem gab es die Zeitung.

Frank Wall erinnerte sich noch gut an die langen Diskussionen darüber, wie viel Technik in der Neuen Welt Platz finden sollte. Auch bei diesem Punkt galt die Idee »So wenig wie möglich, nur das Notwendigste«. So hatte man sich darauf geeinigt, dass alle Neugeborenen ein möglichst großes Spektrum des technischen Standards zum Ende des 21. Jahrhunderts kennenlernen und verstehen sollten. Sie alle sollten in der Lage sein, im Notfall davon Gebrauch machen zu können. Man kam zu dem Schluss, dass alles andere töricht wäre. Schließlich bräuchte man für viele Probleme, die noch aus der Traurigen Zeit stammten, schnelle Lösungen.

Die künftigen Naturwissenschaftler, wie zum Beispiel die Physiker, Chemiker und Ärzte sollten deshalb nicht erst das Rad neu erfinden, sondern unter den besten Bedingungen arbeiten können. Neben gut ausgerüsteten Forschungseinrichtungen musste auch die Kommunikation funktionieren. Die Technik selbst, wie zum Beispiel die verlegten Telefonkabel, konnte aus der Traurigen Zeit übernommen werden. Die Einstellung dazu hatte sich aber vollkommen geändert. So hatte zwar jeder Haushalt ein Telefon, dieses wurde aber nur in Notfällen wie bei Krankheiten oder Unfällen benutzt.

Es galt sogar als extrem unhöflich, jemanden anzurufen, wenn es nicht um Leben und Tod ging. Die Menschen sendeten sich also künftig Depeschen oder Briefe, oder sie besuchten sich gegenseitig. Für viele Studenten an den Akademien war es ein köstliches Vergnügen, alte Aufzeichnungen über Jugendliche in der Traurigen Zeit zu sehen, die sich gegenseitig SMS schickten oder in Chatrooms miteinander kommunizierten, obwohl sie nebeneinander saßen. Die Vorstellung, ein soziales Leben nur vor einem Computer stattfinden zu lassen, war für die Neugeborenen nicht nachvollziehbar. Genauso unverständlich fanden sie es, sich ein Leben als Sportler, Sänger oder Mannequin zu wünschen. Wörter wie Multimillionär und Superstar gab es gar nicht in der neuen Sprache.

Die Neue Welt sorgte für ihre Kinder. Das System der Gemeinschaften war ein sehr soziales System. Für alle war gesorgt. Niemand musste Not leiden, und es gab keine großen Unterschiede. Sicher hatten manche etwas mehr – der eine war Chef, der andere war Angestellter – aber dabei ging es nie um Macht und Habgier. Jede Tätigkeit war gleich wichtig und wurde geschätzt. Das System beschützte alle und versuchte, die größtmögliche Gerechtigkeit zu erreichen. Im Gegenzug brachte sich jeder gerne ein. Ein Leben als Teil des Systems zu führen, das war das Ziel. Mitzugestalten und mitzuhelfen, dass diese sozialen, menschlichen Strukturen auch für die nächste Generation erhalten blieben, das war eine Aufgabe, ein Lebensinhalt, mit dem sich die Neugeborenen identifizieren konnten.

Das System war von den Überlebenden erdacht, von den Neugeborenen wurde ihm aber das Leben eingehaucht. Viele der Überlebenden waren skeptisch gewesen, ob eine nahezu ideale Welt auf Dauer existieren könnte. Die Realität hatte sie eines Besseren belehrt. Das vorgegebene System wurde sogar ständig verbessert. Den Grund für das Funktionieren konnte man unter anderem mit dem Werteverständnis der Neugeborenen erklären. Gegenseitige Wertschätzung, Respekt, Mitgefühl und Barmherzigkeit trieben die Menschen an. Nicht Gewinnsucht, Neid und Egoismus. Die richtige Triebfeder, das war der Schlüssel.

Dieses Mal hatten die Menschen aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Allein die Geschichte der letzten 2000 Jahre machte die Neugeborenen zu Weisen. Der Wunsch, die Fehler der Vorfahren zu vermeiden und die Angst vor der Einäscherung waren ein eingespieltes Team. Jugendliche, die alle gleich aussahen, da sie einem extremen Gruppenzwang unterworfen waren, Eltern, die ihr persönliches Scheitern kompensieren wollten, indem sie ihre bereits vereinsamten Kinder unter einen enormen Erfolgsdruck setzten, waren Schatten der Vergangenheit. In der Neuen Welt durften Kinder wieder Kinder sein und mussten nicht mit drei Jahren den ersten Sprachkurs besuchen.

Kein vorgegebenes Leben mit vollem Terminkalender: Tennisstunden, Musikschule, Auslandsaufenthalt, Studium. Kein Erziehen hin zum Egoismus. Keine hilflosen Eltern, die als letzte Rettung auf Ersatzkindermädchen wie Fernsehen und Computer zurückgreifen mussten.

In der Neuen Welt galt der Computer als reines Arbeitsgerät, das ausschließlich von der Forschungsmannschaft, den Wachen und den Krankenhäusern benutzt wurde. Ansonsten war er nicht erwünscht. Privatpersonen schrieben grundsätzlich, wie die Firmen und öffentlichen Einrichtungen, Briefe von Hand. Wozu alles schneller machen, hatten sich damals die Überlebenden gefragt. Allerdings waren sich die Überlebenden auch darüber im Klaren gewesen, dass sie nach den Aschentagen lediglich in der Lage gewesen waren, die vorhandene Technik aus der Traurigen Zeit zu verwenden.

Denn was die Computertechnik anging, wäre es in der Neuen Welt gar nicht möglich gewesen, hoch entwickelte technische Geräte herzustellen. Die riesigen Energiemengen, die man zum Beispiel für die Produktion von Computerchips benötigt hätte, und die notwendigen Produktionsanlagen selbst standen den Überlebenden überhaupt nicht zur Verfügung. Ziel hatte es daher lediglich sein können, die vorhandenen Gerätschaften sinnvoll und sparsam zu nutzen. Man versuchte, sie zu warten und am Laufen zu halten. Dazu trug man die in der ganzen Welt verteilte Technik zusammen und lagerte sie relativ zentral, um sich daraus notwendige Ersatzteile beschaffen oder Umbauten vornehmen zu können. Findige Tüftler waren gefragt, und es war immer wieder erstaunlich, was sie mit den gegebenen Mitteln leisteten.

Die meisten waren der Meinung, dass der Punkt, an dem die Technik das Leben besser gemacht hatte, im Jahre 2018 längst überschritten gewesen war. Schon Jahre vorher war der Höhepunkt erreicht worden, danach brachte die Technik keine Verbesserung mehr. Die Welt war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wie ein Uhrwerk gelaufen, sondern wie ein Rührgerät. Jeder war untergemengt worden, der das Tempo nicht hatte halten können. Die Erfindungen der Traurigen Zeit, wie Handy, E-Mail, PC und Internet, waren zwar nicht die Schuldigen an der Entfremdung voneinander und am Verschwinden des Mitgefühls und der Menschlichkeit gewesen, aber sie waren in die Hände von Menschen gelangt, die dafür nicht bereit gewesen waren.

Frank musste sich eingestehen, dass er unrecht gehabt hatte. Er war sich sicher gewesen, dass innerhalb kürzester Zeit die Welt diese Techniken wieder fordern würde. Zu seiner Erleichterung war das weit gefehlt. Die letzten 260 Jahre entwickelte sich der technische Verzicht fast zu einem sportlichen Wettkampf.

 

Frank Wall sah noch die letzten Umrisse von Anne, wie sie Richtung Berge ritt. Anne Reeve, sein persönlicher Sargnagel. Allein diese Unverschämtheit von vorhin. Er musste schmunzeln, das war so typisch. Er hätte es sich denken können, dass sie ihm seine schlechte Laune nicht durchgehen lassen würde. Was hatte er erwartet, ihm war klar, dass sie ihm noch keine Neuigkeiten hatte mitteilen können. Anne Reeve und ihre Sprüche. So hatte er sie vor 260 Jahren kennengelernt, und sie hatte sich nicht verändert. Gott sei Dank. Er dachte an ihre erste Begegnung.

Er hatte einen alten Kleinbus gefahren und damit die Menschen eingesammelt, die nach den Aschentagen und den Kämpfen noch am Leben gewesen waren. Er war Richtung Küste gefahren. Der Bus war voller Kleinkinder gewesen. Außerdem hatten darin noch fünf ältere Damen gesessen. Über das Radio war die Nachricht verbreitet worden, dass sich Menschen an der Küste sammeln würden – dort wären Unterkünfte und Essen. Wer gekonnt hatte, hatte sich auf den Weg gemacht. Niemand hatte zu diesem Zeitpunkt gewusst, was eigentlich passiert war.

Die Welt hatte in Trümmern gelegen. Was als Straßenkämpfe begonnen hatte, um sich gegen Armut und Ungerechtigkeit zu wehren, hatte in einem weltweiten Bürgerkrieg geendet. Als sich die Lage zugespitzt hatte, hatte sich das Militär eingeschaltet. Man hatte die Städte zerbombt, rücksichtslos auf Zivilisten gefeuert. Bruder hatte auf Bruder geschossen – wieder einmal. Dann waren die Aschentage gekommen, und plötzlich war alles ganz still geworden.

Frank erinnerte sich noch gut an seine Gefühle. Einerseits war er in einer Art Schockzustand gewesen, der ihn hätte lähmen müssen, aber andererseits waren in ihm ungeahnte Energien erwacht. Er war nie ein auffälliger Mensch gewesen, und hätte man ihm gesagt, dass er andere mit kühlem Kopf und klarem Verstand durch die Apokalypse führen würde, dann hätte er das für den Witz des Jahrhunderts gehalten. So hatte Anne es genannt, als sie plötzlich auf dem Weg zur Küste vor seinem Bus aufgetaucht war. Sie und dieser schrecklich verzottelte Hund, Boobo, der nicht von ihrer Seite gewichen war.

Als er angehalten und die Tür geöffnet hatte, hatte sie ihn angelächelt und gesagt: »Ah, sind Sie der Anführer, der uns sicher durch die Apokalypse bringt?«

Frank hatte widersprechen wollen, er sei wohl kaum ein Anführer.

Sie hatte ihm geantwortet: »Na, immerhin fahren Sie einen vollbesetzten Bus durch eine vollkommen zerstörte Welt, das genügt mir als Qualifikationsnachweis.«

Damit war sie mit Boobo eingestiegen und hatte die Damen mit »Hallo Mädels« begrüßt. Mit der Bemerkung, dass sich große Anführer immer schon gerne mit dem weiblichen Geschlecht umgeben hätten, hatte sie dann erneut Gelächter geerntet. Die Stimmung war gleich vergnügter gewesen.

Anne hatte damals schon die Gabe gehabt, Menschen zu unterhalten und ihnen Mut zu machen. Er hätte nicht sagen können, was genau es war, aber irgendwie fühlten sich die anderen bei ihr wohl.

Als er sie gefragt hatte, ob sie keine persönlichen Sachen hätte, hatte sie empört geantwortet: »Das ist Boobo, wir haben uns vor 10 Tagen getroffen, und seither ist es nur noch bergauf gegangen. Das ist wohl persönlich genug.«

Boobo hatte dann auch im Bus dafür gesorgt, dass es bergauf gegangen war, denn die mitreisenden Kleinkinder hatten sichtlich Freude an dem Fellungetüm gehabt. Damit waren Hunger und Heimweh erst einmal vergessen gewesen und die Fahrt vergleichsweise entspannt verlaufen.

 

Anne Reeve, er machte sich ihretwegen Sorgen. Er drehte sich um. Es hatte geklopft. Mildred kam herein und sah ihren Chef prüfend an.

»Hallo Mildred, was haben Sie für mich?«

Mildred trat näher und gab ihm einen Brief: »Ich dachte, das würde Sie interessieren, es gab gestern einen Fall von Einäscherung auf der Wache Ost. Ein Firmeninhaber wollte seinen Leuten den Lohn kürzen, weil er angeblich Zahlungsprobleme hätte. Als er den Satz auf der Betriebsversammlung zu Ende gesprochen hatte, wurde er vor den Augen seiner Mitarbeiter eingeäschert. Der Fall wurde von der dortigen Wache gleich untersucht. Es war ziemlich eindeutig, er hatte andere Pläne mit dem Geld, es war also eine glatte Lüge. Der Mann war wohl schon immer etwas unzufrieden mit den sozialem Ideen seiner Gemeinschaft und versuchte ständig, sich auf unverschämte Weise Vorteile zu verschaffen.«

Frank brummte vor sich hin: »Offensichtlich scheint das System doch noch zu funktionieren.«

Mildred betrachtete ihn besorgt.

»Ist schon gut Mildred, vielen Dank, lassen Sie mir das Schreiben hier.« Als Mildred das Zimmer verließ, fühlte sich Frank nicht wirklich erleichtert, noch immer beschlich ihn ein ungutes Gefühl.

 

Mittlerweile erreichten Anne und Sergeant Milton das Haus der Lorden-Brüder. Die Sonne schien intensiv, und Anne war froh, dass ein angenehmer Wind von der Küste zu ihnen herüber wehte. Die Pferde wurden vor dem Haus am Pferderastplatz angebunden. Dort war es schattig, und es gab eine gefüllte Tränke.

»Merkwürdig«, dachte Sergeant Milton, »dieser Moment ist so schön und friedlich, kaum zu glauben, dass wir aus einem solch unerfreulichem Grund hier sind.«

Anne sah sich um. Das Haus der Lordens war einladend, vor dem Eingang hatten sie große Kübel mit allen möglichen Pflanzen angelegt. Anne erkannte einige Gewürze. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie den Kontakt mit den Lordens nicht besser gepflegt hatte. Nach Abschluss des Aschenfalles von Dave Lorden hatte sie sich fest vorgenommen, sich regelmäßig mit ihm zu treffen. Kein Fall war je wieder so bewegend für Anne gewesen. Das hing sicher auch damit zusammen, dass Dave Lorden ein überlebendes Opfer war. Meist hatten auch die Opfer, sprich die, die unter den Bosheiten anderer gelitten hatten, die Aschentage nicht überlebt. Allerdings waren sie bei den Kämpfen und nicht durch die Einäscherungen gestorben.

 

Anne schüttelte diese Gedanken ab und ging auf die Eingangstür zu. Im nächsten Moment schreckte sie zusammen – hatte sich an dem kleinen Seitenfenster nicht der Vorhang bewegt?

Sergeant Milton bemerkte ihr Zusammenzucken und fragte vorsichtig: »Ist alles in Ordnung?«

Anne nickte nur und antwortete: »Sinnestäuschung. Ich dachte, am Fenster hätte sich etwas bewegt. Versuchen Sie, die Tür zu öffnen.«

Da in der Neuen Welt Einbrüche seltener waren als Sternschnuppen, ließ sich das einfache Schloss leicht öffnen.

Anne und Sergeant Milton betraten das Haus. Im Eingangsbereich war es kühl und dämmrig. Anne spürte eine leichte Brise und bekam eine Gänsehaut.

»Hier zieht es irgendwie, scheint so, als wäre hinten ein Fenster offen.«

Sie hatte geflüstert und auch Sergeant Milton sprach jetzt sehr leise, während er die Eingangstür hinter sich schloss: »Ja, finden Sie nicht auch, dass hier eine komische Atmosphäre herrscht?«

In diesem Moment ließ sie ein Geräusch aus dem hinteren Teil des Hauses herumfahren.

»Verdammt«, entfuhr es Anne, »da ist jemand im Haus.«

Sie rannte in Richtung des Geräusches, Sergeant Milton hinterher. Als sie in das Zimmer stürzten, aus dem das Geräusch kam, atmeten sie erleichtert auf. Vor Ihnen saß ein kleiner Siebenschläfer, der sich an einer Schüssel mit Nüssen zu schaffen machte.

»Du wirst uns doch wohl nichts tun, mein kleiner Freund?«, sagte Anne sanft und wollte auf das Tier zugehen, als eine heisere Stimme zischelte: »Er nicht, ich aber schon!«

Anne hätte später nicht mehr wiedergegeben können, was ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen war. Automatisch drehte sie sich in Richtung der Stimme. Dann sah sie den Gewehrlauf. Danach passierte alles gleichzeitig. Sie gab Sergeant Milton einen Stoß, sodass dieser aus der Schusslinie taumelte, kurz bevor die Stille im Haus von einem ohrenbetäubenden Lärm unterbrochen wurde. Die Schrotladung war auf ihrem Weg. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Anne in das bleiche Gesicht eines kahlköpfigen Mannes.

Und sie sah seine Augen, seine trüben schrecklichen Augen, die aussahen, als wären sie seit Tagen von etwas Grausamem gejagt worden. Plötzlich ließ der Mann das Gewehr fallen. Das Poltern löste Anne aus ihrer Erstarrung. Sie wollte auf ihn zugehen, stoppte aber mitten in der Bewegung. Das Gesicht des Mannes verzerrte sich zu einer hässlichen Fratze. Er formte seinen Mund fast so, als wollte er um etwas bitten und streckte den Arm nach Anne aus, aber es war bereits zu spät – die Einäscherung hatte begonnen. Sein bleiches Gesicht wurde ganz rot. Anne wusste, was jetzt passierte.

Seine Körpertemperatur war bereits extrem angestiegen. Die Körperflüssigkeiten fingen an zu brodeln, dann zu kochen. Er verbrannte von innen. Erst schmolzen die Knochen, dann die Muskeln und Sehnen, die Organe und dann das Gewebe. Zuletzt löste sich die Haut, wie ein Stück Butter in der heißen Pfanne, auf. Seine Schmerzen waren unerträglich, Flammen umhüllten ihn, seine Schreie wurden erstickt. Für einen Moment war er eine lebende Fackel, dann sackte er in sich zusammen.

Der Geruch war beißend, die Hitze erfüllte das ganze Zimmer, der Anblick war grauenvoll. Dann war es vorbei. Zurück blieb ein Aschenhäufchen, auf das die letzten menschlichen Rußflocken wie Schnee herabfielen.

 

Anne hatte ganz mechanisch reagiert. Als Erstes hatte sie nach dem Siebenschläfer gesehen, der sich auf einer großen Standuhr in Sicherheit gebracht hatte und jetzt ungeduldig auf die Freigabe des Raumes wartete, um sich wieder der Schale mit Nüssen zu widmen. Dann hatte sie nach Sergeant Milton gesehen, der mit offenem Mund auf seinem Hosenboden gesessen hatte. Ungläubig hatte er auf das Aschenhäufchen gestarrt. Er hatte noch nie eine Einäscherung miterlebt, und es war ein Schock gewesen.

Anne war in die Küche gelaufen, auf dem Weg dahin hatte sie das Telefon benutzt, um Frank Wall zu benachrichtigen. Dann hatte sie ein Glas mit einer alkoholischen braunen Flüssigkeit gefüllt und inständig gehofft, dass der scharfe Geruch der Flüssigkeit ein Indiz für Qualität war und nicht dafür, dass man damit Türen abbeizen konnte. Sie hatte einen großen Schluck genommen, und daraufhin hatte sich ihre Gesichtsfarbe genau vier Mal geändert. Ihr Magen hatte kurz rebelliert, dann hatte sie den Schmerz am Oberarm bemerkt. Sie hatte danach getastet und nur ein kindliches »Aua!« über ihre Lippen gebracht. Plötzlich waren ihr Tränen über die Wangen gelaufen.

»Aha«, hatte sie gedacht, »das ist der Schock.« Sie hatte noch einmal einen großen Schluck des braunen Zeugs genommen, das Glas erneut gefüllt und es Sergeant Milton gebracht. Der Sergeant hatte ähnlich auf die gut gemeinte Medizin reagiert, und als Frank Wall schließlich den Schauplatz betreten hatte, hatten sie sich beide vom ersten Schrecken erholt. Sergeant Milton hatte Anne einen provisorischen Verband angelegt, und Doktor Masters hatte später bestätigt, dass es nur ein kleiner Kratzer gewesen war.

Dabei hatte er den Kopf geschüttelt und gesagt: »Anne Reeve, wie viele Leben hast du eigentlich?«

 

Frank Wall hatte als Erster das Haus betreten und ihren Namen gerufen. Er wurde von Doktor Masters und zwei weiteren Helfern begleitet. Normalerweise war Frank immer sehr reserviert. Aber als er jetzt vor Anne stand, war es um seine Haltung geschehen.

Mildred war den Tränen nah gewesen, als sie ihm von dem Gespräch berichtet hatte: »Sie hat gesagt, dass sie bei den Lordens sind, dass auf sie geschossen wurde und dass Sie schnell kommen müssten. Dann hat sie einfach aufgelegt.«

Frank nahm Anne in die Arme. Er bestand darauf, dass Doktor Masters sie vollständig untersuchte. Anne widersprach zaghaft, ließ es aber geschehen. Das Aufhebens um ihre Person war ihr peinlich. Dann widmete sich Frank Wall dem Sergeant, ihn nahm er ebenfalls in die Arme.

»Mein guter Junge, Gott sei Dank ist Ihnen nichts passiert.«

Sergeant Milton, der mit diesem Gefühlsausbruch überfordert war, wünschte sich insgeheim noch einen Schluck der braunen Flüssigkeit.

Die Flasche war mittlerweile zur Hälfte geleert, da reihum jeder der Anwesenden die Situation mit Hilfe des Zaubertranks besser verarbeiten konnte. Auch Sergeant Milton musste von Doktor Masters untersucht werden, bevor man sich wieder dem Fall zuwenden konnte. Frank Wall umrundete jetzt schon zum dritten Mal das Aschenhäufchen im Haus der Lordens.

Er wollte Anne und Sergeant Milton nach Hause schicken, aber davon hielten die beiden nichts. Aufgepumpt durch das Adrenalin, bestanden sie darauf, die Hausdurchsuchung durchzuführen. Die Gruppe teilte sich dazu auf. Frank nahm sich Dave Lordens Arbeitszimmer vor. Anne und Sergeant Milton durchsuchten die Räumlichkeiten von Joseph. Doktor Masters sollte das Aschenhäufchen »eintüten« und die Spuren im Wohnzimmer sichern, die beiden Mitarbeiter von Frank sollten im Keller anfangen.

 

Aus Joseph Lordens Unterlagen konnte man nichts Brauchbares herausdeuten. Auch die nächsten Räume, die Anne und Sergeant Milton durchkämmten, brachten nichts Neues. Lediglich Doktor Masters machte einen ersten wichtigen Fund. Dazu rief er Anne und den Sergeant ins Wohnzimmer. Anne betrat den Raum, vor allem immer noch in Sorge um den Siebenschläfer. Offensichtlich hatte der keine Lust mehr auf Nüsse, denn er hatte seinen Aussichtsplatz auf der Standuhr verlassen.

»Hast du etwas gefunden, Doktor?« Anne war aufgeregt.

»Ich denke ja, sieh selbst. Das stammt von unserem Aschenfreund.«

Und damit hielt Doktor Masters einen Jutebeutel hoch. Er hielt ihn mit spitzen Fingern, ganz so, als würde in seinem Innern eine Bestie schlummern, die durch die kleinste Bewegung erwachen und alle zerfleischen würde.

»Doktor, ich platze gleich vor Spannung. WAS IST DRIN?« Die letzten Worte sprach Anne besonders gedehnt aus.

»ICH HABE KEINE AHNUNG,« gab Doktor Masters genauso gedehnt zurück.

Sergeant Milton räusperte sich und hauchte vorsichtig: »Wir könnten ihn aufmachen?«

Anne sah ihren Sergeant kurz an und riss Doktor Masters den Beutel aus der Hand. Ohne weitere Umstände schüttete sie dessen Inhalt auf den Boden.

Was sie vor sich sahen, entlockte Anne einen kleinen Pfiff: »Sieh an, sieh an, wie aufmerksam von unserem Schützen, einen »Damit-Erklärt-Sich-Alles-Beutel« zu hinterlassen … Ich hole Frank.«

Als Anne das Arbeitszimmer erreichte, rief sie Franks Namen. Frank schloss gerade eine Schublade.

»Frank, wir haben was gefunden, wie sieht es bei dir aus?« Anne deutete auf einen Umschlag, der etwas aus Franks Manteltasche lugte.

»Nein, nichts, das sind nur Unterlagen aus dem Büro«. Frank war weder verlegen noch zögerlich, daher bestand für Anne kein Grund, weiter darüber nachzudenken. »Was habt ihr denn gefunden?«

»Unser Attentäter hat uns quasi sein Testament hinterlassen. Ist das nicht ungewöhnlich?«

Frank warf Anne einen versteckten Blick zu. Ein Beobachter hätte ihn fast als unheilvoll deuten können. Aber Anne bemerkte davon nichts.

 

Doktor Masters war auf dem Weg zum Trakt der Psychologen und Neurologen. Da das Forschungszentrum unglaubliche Dimensionen hatte, brauchte er von seinem Labor aus gut zwanzig Minuten. Das Forschungszentrum war in und um eine alte Militäreinrichtung aus der Traurigen Zeit entstanden. Offensichtlich war dieses Fleckchen Erde an der Küste einst ein wichtiger Stützpunkt gewesen, deshalb gab es 2018 so gut wie keine Zerstörungen. Kein Wunder, dass hier die Zentrale der Neuen Welt entstanden war. Dieser Ort war der einzige gewesen, der noch einen derart hohen Standard an Technik gehabt hatte, als die Aschentage vorbei gewesen waren. Außerdem war er so groß, dass er schnell zur neuen Heimat zahlloser Überlebender und Kinder geworden war. Es hatte damals genug Unterkünfte und riesige Lager voller Vorräte gegeben, die den Überlebenden geholfen hatten, die ersten Monate gut zu überstehen. Es war so viel vorhanden gewesen, dass man auch anderen Gemeinschaften, die sich an anderen Orten auf der Welt gebildet hatten, helfen konnte. Hier gab es auch noch intakte Flugzeuge und Treibstoff, um Rettungsaktionen durchzuführen. Das Fliegen hatte Doktor Masters immer schon fasziniert.

Er stellte sich mit einem Gruseln vor, welche unglaubliche Massen an Fluggeräten sich während der Traurigen Zeit täglich in der Luft befunden hatten. Gleichzeitig war es unvorstellbar, welche Umweltschäden sie angerichtet hatten. Trotzdem sah er sich gerne die alten Flugzeuggerippe im Schrottlager an.

Geflogen wurde mittlerweile nur noch bei Notfällen. Es gab daher Hubschrauber und Propellerflugzeuge, die für die Noteinsätze bereitstanden. Zwischen den Kontinenten reiste man per Dampfschiff, und unter bestimmten Umständen konnte man einen Platz in den Propellerflugzeugen erhalten, die einmal pro Monat von einem zum anderen Ende der Welt flogen.

Anne hatte ihn einmal bei einem Spaziergang über das alte Flugfeld begleitet und ihm dabei von ihrem »Schwarz-Weiß-Gefühl« erzählt.

Als Doktor Masters sie verständnislos angesehen und seine dicken Backen aufgeblasen hatte, hatte Anne gelacht und gesagt: »Na ja, das erinnert mich an die alten Schwarz-Weiß-Filme. Zwei Liebende verabschieden sich auf dem Flugfeld, sie werden sich nicht wiedersehen, im Hintergrund eine Propellermaschine. Ach, Doktor, wenn ich hier stehe habe ich das Gefühl, wir schreiben das Jahr 1950.«

Doktor Masters kannte zwar kein Schwarz-Weiß-Gefühl, aber da er viel über Flugzeuge gelesen hatte, wusste er, dass die Luftfahrt der Neuen Welt dem Stand Mitte des 20. Jahrhunderts entsprach.

Doktor Masters dachte über das Forschungszentrum nach. Es war schon erstaunlich, wie viel die Menschheit damals in ihre militärischen Stützpunkte investiert hatte. Offensichtlich hatte man aber an diesem Ort während der Traurigen Zeit nichts Gutes im Schilde geführt, denn es gab nach den Aschentagen nur eine Überlebende in der ehemaligen Militäreinrichtung. Alle anderen, und es mussten Hunderte gewesen sein, waren eingeäschert worden.

Doktor Masters mochte das Zentrum. Es war ein schöner Kontrast zu dem Leben draußen. Alles war modern, glatt und kühl. Es roch förmlich nach Weisheit und Erkenntnis. Schön war, dass das Zentrum jedem offenstand. Wer wollte, konnte sich hier umsehen. »Keine Geheimnisse« – das war der Leitspruch der Einrichtung. Damit dieser für alle sichtbar war, hatte man auf der Wiese vor dem Eingang große Quadersteine aufgestellt und in jeden Stein einen Buchstaben des Leitspruchs eingemeißelt. Die Steine waren dann von Kindern bemalt worden, sodass man den Eindruck hatte, ein Riese hätte den Spruch mit seinen Scrabblesteinen auf der Wiese nachgebildet.

Seine Deutung war in mehrere Richtungen möglich. Für Doktor Masters waren es die Geheimnisse der Natur, die er zu entdecken hoffte, für Anne Reeve waren es die Geheimnisse der Forschung, die nicht vor den Menschen verborgen werden durften. Er hatte mit Anne schon viele Gespräche darüber geführt, wie viel Wissen der Öffentlichkeit zugänglich sein sollte, wenn diese wiederum damit Unrecht tun könnte. Anne vertrat immer die Meinung, dass man auf die Fähigkeit des Menschen vertrauen müsse, die richtige Entscheidung treffen zu können. Das Verheimlichen zum Schutz sei eine gefährliche Sache und führe letztendlich immer zur Willkür. Doktor Masters kam endlich am Büro des Psychologenteams an.

 

Es war kurz vor 18.00 Uhr, als Anne sich das erste Blätterteigteilchen in den Mund stopfte. Sie waren wieder in Franks Büro. Mildred, die gute Seele, hatte natürlich auch dieses Mal an Annes Vorliebe gedacht. Sie hatte Getränke gerichtet und Frank Walls Büro für das Treffen mit Rabea vorbereitet. Dann wollte sie sich zurückziehen, aber Anne bat sie zu bleiben.

Das war typisch Anne Reeve, und dafür war sie auch bekannt. Anne hatte einen starken Widerwillen dagegen, dass ein Ungleichgewicht zwischen Überlebenden und Neugeborenen bestand. Gerade bei offiziellen Terminen, wie heute mit Rabea, war ihr ein ausgewogenes Verhältnis wichtig. Obwohl sie nie in den Großen Rat gewollt hatte, hatte Anne Reeve manche Dinge maßgeblich beeinflusst. Auf ihre Initiative hin, der sich allerdings viele Überlebende angeschlossen hatten, waren diverse Ämter doppelt besetzt worden − also immer von einem Überlebenden und einem Neugeborenen. Für manche Ämter konnte man sich bewerben, für andere wurde man durch andere Institutionen berufen, und für manche konnte man sich wählen lassen.

Nach den Aschentagen hatten die Überlebenden eine neue Weltordnung festgelegt. Keiner hatte gewusst, ob die »Theorie von der Neuen Welt« die Praxis überleben würde. Über eines waren sich die Überlebenden jedoch im Klaren gewesen: Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass jeder noch so gute Gedanke missbraucht werden konnte. Jede Anstrengung Gerechtigkeit zu schaffen, konnte durch Ungerechtigkeit zunichte gemacht werden. Der Wunsch allein – nach Gleichheit und Brüderlichkeit, nach Frieden und Respekt – hatte nie ausgereicht, um diese Werte auch zu leben.

Der Grund für das Scheitern des Guten, war der Mensch selbst gewesen. Der Mensch war nicht gut. Das war die Gegebenheit, mit der sich die Überlebenden hatten auseinandersetzen müssen. Alle vorangegangenen Gesellschaftsformen waren am Faktor Mensch gescheitert. Allerdings hatten die Neue Welt und ihre Ordnung einen entscheidenden Vorteil gegenüber allen anderen Gesellschaftsformen und politischen Systemen der Vergangenheit: Sie hatte ein objektives und hundertprozentig funktionierendes Kontrollsystem, nämlich das der Einäscherung. Somit konnte der Mensch nicht mehr dazwischenfunken. Jede Zuwiderhandlung gegen das Gute wurde mit dem Tode bestraft.

Einige der Überlebenden hatten das gleich nach den Aschentagen zu spüren bekommen. Berauscht vom Gefühl des Überlebens, vom Gedanken der Macht, hatten diese versucht, sich auf unlautere Art Vorteile zu verschaffen. Ihre Strafe war die Einäscherung gewesen. Schließlich hatten dann alle begriffen, dass sie entweder die Neue Welt mit erschaffen konnten, und zwar nach bestem Wissen und Gewissen und völlig uneigennützig, oder sie konnten sich gegen sie stellen und sterben. Damit waren die neuen Ideen umsetzbar geworden. Kein Amtsmissbrauch, keine Korruption, keine Ämterhäufung, keine Lügen. Die Tatsache, dass nach den Aschentagen fast keine Politiker unter den Überlebenden gewesen waren, hatte gezeigt, dass die Welt bisher nicht in den Händen von Idealisten, sondern in denen von Egoisten gewesen war. Die Neue Welt brauchte das nicht mehr zu fürchten.

Und so war neu geordnet worden. Man hatte sich zu sogenannten Gemeinschaften zusammengeschlossen. Den Gemeinschaften standen immer Neugeborene vor. Grund dafür war, dass die Gemeinschaften die Basis der Neuen Welt waren. Dort entstand die Zukunft. Die Überlebenden sahen sich selbst aber als Überbleibsel der Vergangenheit. Die Weiterentwicklung und Verbesserung der Welt gehörte in die Hände der künftigen Generationen. Überlebende waren allerdings immer gern gesehene Berater. Mehrere Gemeinschaften schlossen sich dann zusammen, um einen aus ihrer Mitte zu wählen, der sie im Großen Rat vertreten sollte.

Außerdem wurden Neugeborene bestimmt, die in den verschiedenen Gremien mitarbeiteten. Manchmal gab es ein Gremium nur vorübergehend, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Andere bestanden dagegen dauerhaft, wie zum Beispiel das Gremium, das für den Schutz der Menschen vor den Atomkraftwerken zuständig war. Die Gremien übernahmen zahlreiche Aufgaben und berieten die Mitglieder des Großen Rates. In den Gremien, wie auch im Großen Rat, arbeiteten die Überlebenden und die Neugeborenen durch die Ämterdoppelbesetzung eng zusammen. Innovation und Tradition konnten sich so vereinen. Die Mitglieder des Großen Rates und die der Gremien taten ihren Dienst nur so lange, wie sie auch in der Lage waren, dem Amt zu dienen. Gewechselt wurde aus persönlichen oder gesundheitlichen Gründen.

Da der Rat und die Gremien alle zentral im ehemaligen Militärstützpunkt untergebracht waren, hatten manche auch nach einer gewissen Zeit Heimweh nach ihrer Gemeinschaft und traten deshalb vom Amt zurück. Dank des Kontrollsystems der Einäscherung waren Amtsenthebungen nicht notwendig. Abgesehen davon sahen die Amtsinhaber es als großes Privileg an, den Beruf des Politikers auszuüben.

Obwohl es eigentlich zuerst nicht geplant gewesen war, hatte sich eine weitere Position entwickelt, und das war die des Präsidenten. Im Laufe der Entscheidungsfindung und Planung hatte sich schnell eine Person herauskristallisiert, die noch mehr als alle anderen ein Baumeister der Neuen Welt war, die ihr Sprachrohr wurde und ihre Vertreterin. Die Menschen liebten sie und fühlten sich wohl mit ihr als oberste Institution. Wenngleich auch dieses Amt den Amtsinhaber nicht mit mehr Rechten ausstattete, so wurde der Amtsinhaber doch als eine Art oberster Beschützer gesehen. Somit hatte die Neue Welt einen Präsidenten an ihrer Spitze, der vor allem als Bindeglied zwischen den Menschen und dem Großen Rat und den Gremien fungierte.

 

Mit ihrer Unsterblichkeit gingen die Überlebenden unterschiedlich um. Der kleinere Teil unter ihnen, wie zum Beispiel Anne Reeve, war der Meinung, dass ihnen damit ein Geschenk gemacht worden sei. Das Fazit war daher, die Zeit zu nutzen. Dazu gehörte, dass man den Neugeborenen zeigte, wie sie sich selbst ihre Zukunft sichern konnten.

Das war auch eines der wichtigsten Argumente von Anne Reeve bei allen Diskussionen über die Neuordnung der Welt: »Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass wir Ihnen ewig zur Seite stehen werden. Sie werden nicht ewig Kinder sein. Wir müssen alle die gleichen Rechte und Pflichten haben, keine Privilegien, keine Unterschiede.«

Aber auch Anne hatte anfangs nicht damit gerechnet, dass das Geschenk ganze 260 Jahre anhalten würde. Man hatte sich zwar relativ schnell erklären können, dass die Einäscherung eine Reaktion auf Fehlverhalten war. Was das Ende der Alterung der Überlebenden anging, war man jedoch ratlos. Die einen sahen sie als Geschenk, die anderen waren mit der Ewigkeit überfordert. Wenn andere um einen herum starben und man blieb ständig zurück, konnte das das eigene Leben schmerzhaft werden lassen.

Die ersten Selbstmorde in der Neuen Welt begannen nach ungefähr dreißig Jahren. Mildred hatte darüber einmal mit Anne gesprochen, die wie immer ziemlich deutliche Worte gefunden hatte: »Viele Überlebende waren nicht mehr jung, als ihnen das ewige Leben geschenkt wurde. Dazu kommt, dass sie die Vergangenheit nicht loslassen können. Das heißt, alle rennen an ihnen vorbei, und sie bleiben alleine zurück. Wenn manche Menschen nur ein bisschen mehr bereit wären, an sich zu arbeiten, loszulassen und einen Schritt nach vorne zu gehen, dann würde vielleicht auch mal einer der Vorbeirennenden stehenbleiben und warten. Viele wollen zum Beispiel keinen Partner. Wählen sie einen Neugeborenen als Partner, leiden sie darunter, dass vorbestimmt ist, dass sie ihn eines Tages beerdigen müssen, weil er sterblich ist. Wählen sie einen Überlebenden als Partner, macht ihnen ein ewiges Zusammensein mit einem unsterblichen Partner Angst. Ich halte das für vollkommenen Unsinn. Der Mensch sollte nicht alleine sein. Und nur deshalb keine Beziehung einzugehen, weil es eventuell sein könnte, dass sie nicht funktioniert? Das ist, als würde man sagen: ›Ich lebe nicht, dann kann ich nicht sterben.‹«

 

Mildred dachte immer noch über diese Worte nach, als plötzlich die Tür aufging. Die Herren sprangen sofort von ihren Stühlen auf. Da war sie endlich – Rabea, die Präsidentin der Neuen Welt.

Sergeant Milton war wie gebannt. Natürlich wusste er alles über Rabea, aber er war ihr noch nie persönlich begegnet. Die meisten Neugeborenen verehrten Rabea. Jedes Kind lernte ihre Biographie in der Schule, und in den meisten Haushalten hing ein Bild von ihr. Junge Paare ließen sich meist zur Hochzeit eine Zeichnung von Rabea schenken.

Rabea war die einzige Überlebende des Militärstützpunktes, der heute das Forschungszentrum, die Wache Süd, den Großen Rat, die Gremien und zahlreiche andere Einrichtungen beherbergte. Sie war zwanzig Jahre alt gewesen, als die Aschentage begonnen hatten.

Sergeant Milton dachte an das Gelernte aus der Schulzeit: »Ihr Vater war, glaube ich, Pfarrer und während den Aschentagen bei irgendeinem Kriegseinsatz mit den Soldaten unterwegs.«

Rabea war das, was man vor den Aschentagen als ein hochbegabtes Kind bezeichnet hatte. Vor ihrem 18. Geburtstag hatte sie schon zwei Doktortitel besessen. Sie war eine hervorragende Mathematikerin, war bewandert in den Naturwissenschaften und hatte vor allem eine Schwäche für Sprachen. Sie sprach sieben Sprachen fließend und hatte in vielen anderen gute Kenntnisse. Daher war es auch nicht verwunderlich gewesen, dass sie in ein Team von Sprachwissenschaftlern einer renommierten Universität berufen worden war, um mit ihnen ein gewaltiges Projekt zu realisieren: Mehrere Regierungen hatten 2017 Gelder bereit gestellt, um eine einheitliche neue Sprache zu entwickeln, die im Wirtschaftsleben eingesetzt werden sollte. Eine reine Wirtschaftssprache, die leicht zu erlernen wäre und alle Bedürfnisse des internationalen Handels erfüllen würde.

Die Staaten hatten mit dem Projekt nur finanzielle Interessen verfolgt. Die klügsten Köpfe hatten daran gearbeitet. Als dann die Aschentage vorbei gewesen waren, waren Rabeas Teamkollegen tot. Das angefangene Projekt aber hatte noch existiert. Rabea hatte dann die Idee gehabt, das Projekt fortzuführen und zu erweitern mit dem Ziel, eine Weltsprache einzuführen, damit den Menschen ein Miteinander ohne Sprachbarrieren möglich werden würde. Sie hatte Tag und Nacht gearbeitet und Lerntechniken und Programme entwickelt, damit die Überlebenden schnellstmöglich in der neuen Sprache zu Hause sein konnten, schließlich hatten sie diese an die Kinder weitergeben müssen.

Nach 260 Jahren gab es keine Sprachprobleme mehr. Die Sprachen, die man vor den Aschentagen benutzt hatte, hießen fortan die »alten Sprachen«. Sie wurden noch gelehrt, da man sie unter anderem zum Bearbeiten der Aschenfälle oder für die Benutzung der alten Technik brauchte, gesprochen wurden sie aber nur noch selten.

Was die Vor- und Nachnamen anging, hatte man sich an den angelsächsischen Sprachen orientieren wollen, da viele Überlebende der Meinung gewesen waren, dass ihre Aussprache am leichtesten wäre. Darüber hatte man sich dann schnell verständigt. Jeder Überlebende hatte nach den Aschentagen seinen Vornamen behalten oder ihn abändern können. Bei den Nachnamen war es das Gleiche gewesen. So war aus Anna eben Anne und zum Beispiel aus François Mur ein Frank Wall geworden. Allerdings war das kein Zwang gewesen. Wer wollte, hatte seinen Namen behalten können. Viele hatten die Namensänderung jedoch vorgezogen. Es war ein symbolischer Akt gewesen, der die letzte Verbindung zur Traurigen Zeit hatte kappen sollen.

Die Kinder hatten, wenn möglich, ihre Vor- und Nachnamen behalten, darüber war man sich einig gewesen. Die Überlebenden hatten es wichtig gefunden, den Kindern die Möglichkeit zu lassen, ihre Wurzeln zurückzuverfolgen, auch wenn das in der Realität vielleicht nicht immer möglich gewesen war oder unangenehme Wahrheiten zu Tage gefördert hatte. Meistens hatten die Kinder jedoch einen neuen Namen bekommen, da der alte nicht mehr bekannt gewesen war. So hatten auch die meisten Neugeborenen Nachnamen, die angelsächsischen Ursprungs waren, die Vornamen variierten, und es gab auch viele schöne Namen aus anderen alten Sprachen sowie neue Fantasienamen.

Als Anrede hatte man dann das Mister und Misses übernommen, eine weitere Anrede für unverheiratete Frauen hatte man für unnötig gehalten. Dienstgrade und Amtsbezeichnungen, soweit sie überhaupt notwendig waren, waren meistens auch aus dem angelsächsischen Vokabular entnommen worden.

Rabea war es auch gewesen, die Nachrichten vom Stützpunkt in die gesamte Welt geschickt und Hilfe angeboten hatte. Sie war der Kopf vieler Projekte, und ihr hatte man es mit zu verdanken, dass die Welt neu strukturiert werden konnte. Ihr großes Wissen und ihr unermüdlicher Einsatz hatte den Menschen geholfen, die vorhandene Technik nach den Aschentagen einzusetzen, und Rabea war es schließlich über alte Kommunikationswege gelungen, mit der Welt in Kontakt zu bleiben. Das Funknetz gewährleistete heute weltweite Verbindungen.

Rabea war eine Art Heldin. Wie selbstverständlich war sie zum Dreh- und Angelpunkt der Neuen Welt geworden, bis eines Tages vom Großen Rat, in Absprache mit den Gemeinschaften, beschlossen worden war, sie zur Präsidentin zu berufen.

Anne sagte oft: »Für ein solches Amt mit einem solch hochtrabenden Titel, ist Rabea die beste Wahl.«

Nicht nur viele der Neugeborenen, sondern auch der Überlebenden empfanden für sie eine tiefe Verehrung. Rabea widmete ihre ganze Kraft der Neuen Welt und lebte sehr zurückgezogen. Sie war ein Mensch, der keine großen Auftritte wollte. Diese Art der Bescheidenheit brachte ihr noch mehr Bewunderung. Die Menschen liebten es, den Klang ihrer Stimme im Radio zu hören. Als Präsidentin verkündete sie stets wichtige Ereignisse, Änderungen oder neue Errungenschaften.

Sergeant Milton betrachtete Rabea erneut verstohlen. Sie war wunderschön. Ihre Augen waren so blau wie das Meer – kurz vor einem Sturm. Ihre schlanke Gestalt war eingehüllt in ein schwarzes, langes Gewand, was wiederum einen herrlichen Kontrast zu ihren traumhaften goldfarbenen, langen Haaren bildete.

Als sie eintrat, lächelte sie in die Runde. Es war das bezauberndste Lächeln, das Sergeant Milton je gesehen hatte, und wenn sie jetzt gesagt hätte: »Thomas Milton, gib deine Familie auf und gehe mit mir bis ans Ende dieser Welt!« – er wäre ihr gefolgt, ohne sich auch nur umzudrehen.

Einem unsanften Stoß von hinten in die Rippen folgte ein verächtlich gehauchtes »Männer«, und Anne Reeve lief an ihm vorbei auf Rabea zu. So von Anne in die Wirklichkeit zurückgeholt, schämte sich Sergeant Milton in Grund und Boden und hoffte inständig, dass außer Anne Reeve keiner seine Entzückung bemerkt hatte.

Anne und Rabea begrüßten sich herzlich.

Die beiden Frauen umarmten sich, und Rabea drückte Anne besonders fest: »Gott, Anne, ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.«

Wie immer klang Rabeas Stimme wie die eines Engels, und Anne musste wieder an die ersten Zusammentreffen denken, als sich die Überlebenden aufgemacht hatten, eine Neue Welt zu organisieren. Sie hatte Rabea sofort gemocht. Allerdings hatte es dieses Engelsgeschöpf mit dem unglaublichen Verstand bei den meisten Geschlechtsgenossinnen in der Vergangenheit nicht so leicht gehabt. Anne fand schöne Frauen immer schon entspannend, vor allem, wenn sie gescheit waren. Im Normalfall hatten sie es dann weder nötig anzugeben, jeder sah schließlich, dass sie perfekt waren, noch mussten sie Spielchen spielen, denn die Bewunderung zogen sie ganz ohne fiese Tricks auf sich. Damals hatte sich Anne gleich mit Rabea angefreundet, wofür diese mehr als dankbar gewesen war.

Rabea war gesegnet mit ihrer Schönheit, empfand sie aber manchmal in Kombination mit ihrem Verstand auch als Fluch. Früher hatte sie nie begreifen können, warum sie die anderen Mädchen schlecht behandelt hatten, warum es ihr so schwer gefallen war, eine Freundin zu finden.

Mit Anne war das anders gewesen. Sie hatte eine so erfrischende direkte Art. Mit Anne hatte sie immer Spaß. Rabea freute sich stets auf ihre Treffen. Spontan musste sie an die letzte Zusammenkunft denken.

Anne war natürlich wieder zu spät gekommen, und das Erste, was sie gesagt hatte, war: »Meine Güte, Rabea, du siehst wieder aus wie dem Himmel entstiegen und ich, als hätte ich mich eine Stunde lang auf dem Boden einer öffentlichen Toilette gewälzt. Außerdem geht meine Hose nicht zu und ich befürchte, dass das nicht daran liegt, dass sie eingelaufen ist. Und meine Haare, die sehen aus, als hätte jemand die letzten Stromreserven aus den Atomkraftwerken durchgejagt. Natürlich kennt dein Feenhaupt diese Probleme nicht.«

Rabea hatte sich manchmal gefragt, wie sie Anne beschreiben könnte, und irgendwann war ihr das Wort »intensiv« eingefallen. Ja, Anne Reeve war intensiv in der Art zu leben und zu lieben. Zwei Ehen hatte Anne mit Neugeborenen geführt. Die erste Ehe hatte nur zehn Jahre gedauert, dann war ihr Mann bei einem Bootsunfall gestorben, er war Fischer gewesen. Ihre zweite Ehe hatte fast sechzig Jahre gedauert. Auch ihren zweiten Mann hatte Anne beerdigen müssen, als dieser mit 97 Jahren gestorben war. Sie waren bis zum Schluss ein verliebtes Paar gewesen. Die Zeit danach war für Anne schrecklich gewesen, allerdings war sie nach wie vor bereit, für das große Glück auch den großen Schmerz in Kauf zu nehmen.

Frank Wall holte sie in das Hier und Jetzt zurück: »Liebe Rabea, wir haben gute Nachrichten: So, wie es aussieht, haben wir den Fall abgeschlossen.«

»Was?« Anne glaubte ihren Ohren nicht zu trauen: »Wann haben wir denn den Fall abgeschlossen?«

Frank Wall wies sie mit einem scharfen Blick in die Schranken: »Ich denke, wir haben den Mörder von Joseph und Dave Lorden, und er wurde eingeäschert. Fall gelöst.«

»Ach ja, und wenn künftig ein Haus brennt, dann löschen wir es nicht mehr, sondern warten, bis nichts mehr übrig ist und gehen nach Hause.«

Frank wurde ganz rot im Gesicht und erwiderte kampflustig: »Und was, Chief-Sergeant, möchten Sie mir damit sagen?«

Anne setzte schon zu einer Antwort an, Doktor Masters machte unbewusst einen Schritt zurück, während Mildred mit ihren Händen fest die Lehne des Stuhles umklammerte. Sergeant Milton schickte ein stummes »Oh Gott, oh Gott!« gen Himmel und versuchte, sich seinen Kragen zu lockern. Aber gerade als jeder bereit war für eine weitere Auseinandersetzung zwischen Frank Wall und Anne Reeve ging Rabea dazwischen.

Als wäre nichts gewesen, fragte sie unschuldig: »Könnte ich mir die Unterlagen vielleicht einmal ansehen? Frank, seien Sie doch so lieb und fassen Sie den Fall für mich zusammen. Ich denke, so viel Zeit kann ich mir nehmen.«

Rabea war bekannt für ihr diplomatisches Geschick, das sie auch dieses Mal wieder unter Beweis stellte.

Frank räusperte sich und gab die Ereignisse der letzten Tage wieder. Er schilderte die Leichenfunde und den Angriff auf Anne und Sergeant Milton. »Der Täter war ein Karl Hobnitz.«

»Der Name sagt mir etwas«, Rabea griff sich mit ihren zarten Fingern an die schöne Stirn, »natürlich, er hat sich um die Räume des Großen Rates gekümmert. Er war eine Art Hausmeister. Ich habe den Mann fast täglich gesehen. Er wollte gar nicht in den Ruhestand gehen. Er war immer so freundlich zu mir und um mein Wohlergehen besorgt. Ach Gott, der arme Mann, er war ziemlich krank, ich glaube, es war das Herz, die Ärzte verordneten ihm absolute Ruhe. Er verließ nur ungern seine Arbeitsstelle.«

»Nun, vergessen wir mal nicht, dass der arme Mann unter Verdacht steht, Dave und Joseph Lorden getötet zu haben, und mich und meinen Sergeant wollte er definitiv nicht mit selbstgebackenem Kuchen überraschen«, sagte Anne und nahm sich noch ein Blätterteigteilchen.

Mildred, die das beobachtete, dachte unwillkürlich an Sodbrennen, Magenkrämpfe und schlaflose Nächte.

»Abgesehen davon, hat ihn wohl seine Heldenverehrung dir gegenüber den letzten Rest Gehirnschmalz gekostet.«

Anne war die Einzige, die Rabea in der Öffentlichkeit duzte. Das war deshalb so erstaunlich, da sie bei Frank meistens beim Sie blieb, wenn andere dabei waren.

Als Frank sie einmal darauf angesprochen hatte, warum sie bei ihm so eine Etikette einhalten würde, war ihre Antwort überraschend gewesen: »Frank, du bist ein guter Freund, und so soll es auch bleiben. Ich bin ein Kind der Alten Welt und habe meine Marotten. Ich denke, manchmal ist es gut, wenn nicht jeder weiß, wer einem wirklich nahesteht. Bei Rabea spielt das keine Rolle, sie steht uns allen nahe und ist gleichzeitig von uns allen weit entfernt. Du weißt, dass ich dem Frieden nie hundertprozentig trauen werde und immer in der Angst lebe, dass unsere Neue Welt scheitert. Sollte der Tag kommen, weiß ich dich in Sicherheit. Außerdem ärgere ich gern die anderen Überlebenden damit, dass ich ihrer Unterwürfigkeit gegenüber Rabea nicht folge. Offensichtlich steckt in mir doch noch ein ganzes Stück Ungezogenheit. Vermutlich ist es ein Versehen, dass ich der Einäscherung bisher entkommen bin. «

Rabea wurde blass und ihre Augen füllten sich mit Tränen: »Was sagst du da, die Männer sind meinetwegen gestorben?«

»Nein, sie sind gestorben, weil sie jemand erschossen hat. Punkt.«

»Aber was hat das dann mit mir zu tun?«, fragte Rabea.

Doktor Masters übernahm an dieser Stelle: »Wir haben in einem Beutel, den Karl Hobnitz im Haus der Lordens zurückgelassen hat, Unterlagen gefunden, mit denen es uns nicht nur gelungen ist, seine Identität herauszufinden, sondern auch sein Motiv. Offensichtlich sah er drei Personen als Bedrohung für Sie, Rabea. Hier, sehen Sie sich die Schreiben an. Joseph bezeichnet er als den Liebhaber, der Sie unglücklich machen würde. Dave als einen Berater, der Sie falsch beraten würde. Tja, und Anne ist wohl diejenige, die Ihnen den Tod bringt. Sehen Sie sich die Notizen an. Er schreibt: ›Joseph Lorden wird versuchen, sie mir wegzunehmen, er wird sie beschmutzen. Dave Lorden wird ihr durch falsche Ratschläge Unglück bringen, er wird sie in die Irre führen, und sie wird leiden. Anne Reeve ist der Engel des Todes, sie will Rabea töten. Sie müssen alle sterben, nur so kann ich Rabea retten.‹ In seiner Wohnung haben die Sergeants Bilder von Ihnen gefunden. Offensichtlich hat er Sie verehrt. Weitere Hinweise, Munition oder Waffen, konnten nicht sichergestellt werden.«

Rabea war kurz geistesabwesend, sie schien in diesem Moment noch zarter als sonst.

Doktor Masters wandte sich erneut an sie: »Er war wohl bis dato nicht wirklich eine Gefahr. Ich denke auch nicht, dass er jemals gegen Sie gewalttätig geworden wäre. Sonst wäre er auch schon viel früher eingeäschert worden. Vermutlich war er bis zu den Morden an den Lordens nicht böse.«

»Vielleicht hat er sich eingebildet, dass Joseph in mich verliebt war, er war ja ab und zu auch in meinem Büro. Die Schulkommission ist schließlich bei vielen Entscheidungen beteiligt. Und auch mit Dave Lorden gab es Treffen. Manchmal habe ich mir einen Rat bei Dave geholt. Vielleicht meinte Karl das damit.« Rabea brach ab.

»Wann hat Ihnen Dave das letzte Mal einen Rat gegeben? Und um was ging es dabei?«, Frank stellte seine Frage etwas ungeduldig.

Anne warf ihm deshalb einen Seitenblick zu und dachte: »Mit dem stimmt heute etwas nicht ...«

Rabea zuckte mit den Schultern: »Das war vielleicht vor ungefähr zehn Monaten, und es ging wieder einmal um das Thema Religionen und wie wir es an den Schulen behandeln sollen. Dave sprach sich dafür aus, das bisherige System beizubehalten. Seine Argumente waren vernünftig.«

 

Religion war immer ein besonderes Thema in der Neuen Welt. Viele religiöse Führer und hohe Geistliche aller Glaubensrichtungen waren während den Aschentagen eingeäschert worden. Daher hatte man zuerst gar keine Religionen, dann nur bestimmte zulassen wollen. Beide Vorschläge hatten sich nicht durchsetzen können. Denn auch hier war man sich einig gewesen, dass nur Toleranz und Respekt der richtige Weg im Umgang mit dem Glauben sei.

Allerdings hatte sich die Frage gestellt, wie man die Religion den Kindern nahebringen sollte. Man hatte sich dazu entschieden, ihnen die Wahl zu lassen. Daher sollten sie in den Schulen ein großes Wissen über alle noch vorhandenen Religionen erhalten, um sich dann als Erwachsener entscheiden zu können, ob sie einer Glaubensgemeinschaft angehören wollten oder nicht. Die wenigen Religionsvertreter unter den Überlebenden hatten es übernommen, diesen Glaubensgruppen vorzustehen. Man bezeichnete sie als heilige Männer und Frauen. Sie waren nicht eingeäschert worden. Das war ein klarer Beweis dafür, dass sie auch schon vor den Aschentagen ihren Glauben in Frieden gelebt hatten. Sie hatten sich schon zu dieser Zeit in Toleranz, Barmherzigkeit und Mitgefühl geübt. Nach den Aschentagen hatten sie eine große Aufgabe zu erledigen gehabt und bildeten dafür die »Freundschaft des guten Glaubens«. Alle religiösen Gemeinschaften waren ab sofort in Freundschaft verbunden. Nach den Aschentagen sollte der Glaube den Menschen helfen. Je nach persönlichem Schicksal half er, die Menschen noch ein bisschen glücklicher zu machen oder ihren Schmerz zu lindern.

Die Religionsausübung funktionierte in der Neuen Welt, dank des Kontrollsystems der Einäscherung, wie geplant. Ein Missbrauch der Religion war deshalb nicht möglich. Niemand brauchte zu befürchten, seine Kinder an Sekten zu verlieren. Die Neue Welt verband Religion nicht mehr mit Zwang und Einschränkung, sondern mit einer helfenden Hand.

 

»Wie Karl darauf kam, dass Anne mich töten wolle, ist mir unbegreiflich. Anne ist eine der wenigen, die ich regelmäßig privat sehe. Ich habe nicht sehr viele Freunde.«

Frank Wall schüttelte den Kopf: »Vermutlich hatte er einfach eine fixe Idee.«

Rabea sah aus wie ein Häufchen Elend.

»Trotzdem bleibt immer noch die Frage, wieso er erst eingeäschert wurde, als er mich erschießen wollte? Und warum schleift er das ganze Zeug über sich und seine Motive in diesem Beutel mit?« Anne biss, während sie sprach, nochmal herzhaft in ihr Blätterteigteilchen und fuhr fort: »Erst schießt er den Opfern ins Gesicht und nimmt ihre Papiere, und dann aber trägt er ein komplettes Dossier zum nächsten Tatort? Und wie hat er Joseph überhaupt auf die Waldlichtung bekommen? Woher wusste er, wo sich Dave aufhalten würde? Und wie zum Teufel kam er auf die Idee, auf mich im Haus der Lordens zu warten? Er konnte doch unmöglich wissen, wann wir dort hingehen würden und wenn, dass ich persönlich die Hausdurchsuchung übernehmen würde?«

»Nun«, fuhr Doktor Masters fort, »Er hat die Lorden-Brüder vielleicht verfolgt. Und wegen der Hausdurchsuchung, das kann er aufgeschnappt haben, wenn er in der Wache Süd herumgeschlichen ist oder bei den Ställen. Hier gibt es fast keine verschlossenen Türen. Er kann gehört haben, wie die Anweisung gegeben wurde, dein Pferd zu satteln. Für die verzögerte Einäscherung könnte, laut den Psychologen, eine Geisteskrankheit verantwortlich sein.«

»Natürlich«, Rabea hatte sich von ihrem Schock erholt, »wir wissen immer noch nicht genau, wodurch die Einäscherung ausgelöst wird. Unser Team hat diesbezüglich die Theorie, dass vor allem das Bewusstsein um die Schlechtigkeit der eigenen Tat eine Voraussetzung für die Einäscherung ist. Was haben die Psychologen noch gesagt, Doktor Masters?«

Doktor Masters blickte Rabea einen Augenblick nachdenklich an, dann antwortete er zögerlich: »Einer der Ärzte erklärte mir das ungefähr so wie Sie jetzt, Rabea. Wenn der Täter sich seiner Tat nicht bewusst ist, bleiben bestimmte chemische Reaktionen im Körper aus. Die Geisteskrankheit selbst wirkt wie eine Blockade. Der Arzt vermutet, dass es auch möglich ist, dass die Geisteskrankheit die Einäscherung nur zeitweise blockiert, sodass es erst später nach der Tat zu einer Einäscherung kommt. Das wäre dann die Erklärung für die ›verzögerte‹ Einäscherung. Immer vorausgesetzt, Karl Hobnitz war geisteskrank.«

Anne kniff die Augen zusammen und wollte widersprechen. Aber Rabea kam ihr zuvor und sagte: »Das würde dann ja alles erklären, und wir könnten beruhigt sein, dass das System weiter funktioniert. Wir bräuchten nicht länger die Angst zu haben, dass jemand die Einäscherung gezielt umgehen kann. Karl war also nur die berühmte Ausnahme von der Regel.«

Frank Wall nickte: »So sehe ich das auch. Doktor Masters, was meinen Sie?«

Der Doktor betrachtete seine Schuhspitzen und dachte im Stillen: Mein Bauch wird langsam wirklich etwas zu dick, ich kann kaum noch meine Füße sehen. Einem Patienten mit diesem Wamst würde ich eine Diät verschreiben.

Doktor Masters hatte die Frage von Frank Wall sehr wohl gehört, war aber unsicher, welche Antwort er geben sollte. Er musste eine Entscheidung treffen, und er würde seinem Bauchgefühl nachgeben.

Schließlich konnte sich eine solch prächtige Masse nicht irren: »Ja, Sheriff, es sieht so aus, als wäre das eine Theorie, die die Vorgänge erklären würde.«

Doktor Masters sah kurz zu Anne hinüber. Als Frank sie fragte, ob sie der gleichen Ansicht sei, nickte sie nur.

»Was für eine Erleichterung!« Es war Rabeas wohlklingende Stimme, die Sergeant Milton aus seinen Grübeleien holte. »Der Fall ist also wirklich abgeschlossen.«

Rabeas tiefblaue Augen blickten in die Runde. Man konnte förmlich ein kollektives Aufatmen hören. Frank Wall beglückwünschte sein Team zu der guten Arbeit, Rabea wurde herzlich verabschiedet, und eine stille Anne Reeve verließ das Büro von Frank Wall zusammen mit einem äußerst verwirrten Sergeant Milton.