5. Der Umschlag

 

Für Anne war es eine kurze Nacht gewesen. Sie war mit Doktor Masters und Sergeant Milton übereingekommen, Frank Wall einzuweihen. Anne wollte vorher noch Doktor Calliditas aufsuchen, um persönlich mit ihm über die Vorfälle der letzten Tage zu sprechen. Danach wollten sie gemeinsam zu Frank Wall ins Büro. Nigel O’Brian sollte ebenfalls dazukommen, schließlich war er Maries Freund gewesen und ein wichtiger Zeuge. Anne fühlte sich elend. Ein längst vergessen geglaubtes Gefühl hatte sich zurückgemeldet: das Misstrauen.

Seit fast drei Jahrhunderten war Anne davon verschont geblieben, jetzt fing sie wieder an zu sprechen, die Stimme im Hinterkopf, die einem unaufhörlich einredete, dass man umgeben sei von Feinden, dass man unter Beobachtung stehe und dass Gefahr drohe. Anne hasste diesen Gemütszustand. In der Traurigen Zeit hatte sie sich nur schwer davon lösen können, vor allem, weil das Misstrauen oft genug begründet gewesen war. Für sie war in der Neuen Welt durch das loyale Miteinander eine neue Qualität von Freiheit entstanden.

So in Gedanken versunken, machte sie sich auf den Weg zu Doktor Calliditas’ Privatwohnung. Früh am Morgen waren nur wenige Menschen unterwegs. Es war gerade 7.00 Uhr. Anne sog den Duft des Meeres ein. Normalerweise hätte sie den Spaziergang genossen, aber unter diesen Umständen hatte sie keinen Blick für die malerische Gegend, die sie umgab. Doktor Calliditas wohnte in einem der alten Steinhäuser, die terrassenförmig angeordnet waren und aussahen, als würden sie direkt ins Meer hineinwachsen. Die Sonne war schon warm und die Schreie der Möwen, die wie albernes Gelächter klangen, begrüßten die Besucher der Küste.

Anne lief die Stufen zu Doktor Calliditas’ Eingang hinauf. Sie betätigte den ulkigen Türklopfer, ein Dämonenkopf, der den Besuchern die Zunge herausstreckte. Trotz mehrmaligen Klopfens erhielt sie keine Antwort. Bei jedem anderen wäre das eigentlich nicht ungewöhnlich, bei Doktor Calliditas aber schon. Doktor Calliditas war ein Gewohnheitstier. Er pflegte immer um 7.00 Uhr zu frühstücken. Deshalb war Anne auch so früh zu ihm unterwegs. Ihn jetzt nicht anzutreffen verstärkte Annes Anspannung. Im Nachhinein hätte Anne nicht mehr sagen können, ob es Sorge gewesen war oder Ungeduld, die sie veranlasst hatte, einfach die Tür zu öffnen und unaufgefordert das Haus zu betreten. Sie hatte sich nur noch an das überwältigende Gefühl der Trauer erinnern können, als sie den alten Doktor Calliditas tot in seinem Sessel gefunden hatte.

 

Zur gleichen Zeit war Sergeant Milton Richtung Forschungszentrum unterwegs. Er war ebenfalls früh aufgestanden. Jetzt, wo bald alles anders sein würde, durfte er keine Zeit verlieren. Es galt seine Familie zu schützen. Wie es wohl sein würde, Vater zu sein? Er war glücklich eingeschlafen, nachdem er erfahren hatte, dass sie bald zu dritt sein würden. Doch gegen morgen war er wach geworden, und mit einem Schlag hatte ihn ein regelrechtes Panikgefühl überkommen. Was, wenn sie den Mörder nie finden würden? Seine Frau und sein Kind wären dann ständig in Gefahr. Mit einem Satz war er aus dem Bett gesprungen und hatte sich angezogen. Katie hatte er eine Nachricht hinterlassen. Er würde ein anderes Mal schlafen, jetzt galt es, einen Mörder zu fassen.

Anne war auf dem Weg zu Doktor Calliditas, so hatte er sich entschlossen, ihren ursprünglichen Plan weiterzuverfolgen. Da es für einen Besuch bei der Schulkommission, also den Arbeitsplätzen der Lorden-Brüder, noch zu früh war, entschied er sich dazu, sein Glück im Archiv zu versuchen. Also besorgte er sich die Waffe, die Karl Hobnitz im Haus der Lordens bei sich hatte. Natürlich verpackte er sie so, dass man nicht gleich erkennen konnte, was er bei sich trug.

Die Archive waren rund um die Uhr geöffnet. Das war zum einen dem Gedanken geschuldet, den Menschen jederzeit den Zugang zu ermöglichen, zum anderen war das Verwalten der Archive eine so umfangreiche Aufgabe, dass man ihr ohne Unterbrechung nachging. Die Archive waren eigentlich große Lager, die ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Dinge enthielten. Die meisten Gegenstände stammten aus der Traurigen Zeit. Es waren Gegenstände, die die Expeditionen nach und nach zusammengetragen hatten.

Man fand hier alles: alte Kochlöffel, Fotoalben, Autos, Motoren, Schwimmflossen, Brillengestelle, Möbel, Computer und vieles mehr. Die Gegenstände wurden sortiert und auf ihre Wiederverwendung geprüft. Manche wurden nur gereinigt und dann den Einwohnern der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt. Andere wurden umgearbeitet und brauchbar gemacht, und manche, wie zum Beispiel die alten Computer oder Motoren, wurden als Ersatzteile gelagert.

Mittlerweile waren außerhalb des Forschungszentrums riesige Warenlager entstanden, die von den Archivaren mit einem ausgeklügelten System verwaltet wurden. Sie konnten nur mit Hilfe ihrer Karteikarten innerhalb kürzester Zeit auf die unterschiedlichsten Gegenstände zugreifen und so die Versorgung der Bevölkerung gewährleisten. So war es nicht verwunderlich, dass mit den Jahren auch die Organisation der Lebensmittelverteilung in die umsichtigen Hände der Archivare gelegt worden war. Da jede Gemeinschaft ein Archiv hatte, konnten sich die Gemeinschaften gegenseitig aushelfen, wenn irgendwo ein Mangel bestand. Das Archiv im Forschungszentrum war jedoch das größte von allen. Deshalb war es auch unumgänglich gewesen, innerhalb des Archivs verschiedene Abteilungen einzurichten.

Für Sergeant Milton war das »Wissensarchiv«, quasi die Bibliothek, immer schon faszinierend gewesen. Die Bibliotheksarchivare waren ganz besonders mit dem Problem der Konservierung beschäftigt. So gab es einige Schwierigkeiten, die Bücher, die Film- und Tonträger zu erhalten und in die neue Sprache zu übersetzen. Sergeant Milton hatte sich immer gerne im »Wissensarchiv« aufgehalten. Der Duft der Bücher hatte ihn stets angezogen. Freilich, die Masse an Informationen, die die Archive bereithielten, konnten einen anfänglich erschlagen, aber mit der Zeit fiel es leichter, sich in den langen Gängen zurechtzufinden. Er war auch schon mit Katie hier gewesen. Sie hatten sich dann in eine gemütliche Leseecke zurückgezogen, er mit einem Bericht über einen Aschenfall, Katie mit dem Werk eines alten Dichters. Aber heute war er nicht hier, um zu lesen. Die Archive und ihre Archivare waren eine wichtige Informationsquelle, wenn nicht sogar die bedeutendste.

Da hier auch viele Überlebende arbeiteten, gab es zu den meisten Dingen quasi auch ein »lebendes« Handbuch. Darauf hoffte Sergeant Milton auch heute. Ehrfürchtig betrat er den Vorraum zum Archiv. Dort wurde seine Stimmung dann entzaubert. Als er die Tür öffnete, streckte sich ihm ein dickes Hinterteil entgegen. Der Besitzer dieses Hinterteils versuchte gerade, mit einem Kollegen einen circa einen Meter hohen Aktenschrank zu verrücken. Sergeant Milton eilte zur Hilfe, und die drei konnten dann gemeinsam das Möbelstück an die richtige Stelle schieben. Glücklicherweise war das dicke Hinterteil Eigentum des Chefarchivars, der, dankbar für Sergeant Miltons Hilfe, sofort Sergeant Miltons Anliegen bearbeitete.

Fünf Minuten später war Sergeant Milton unterwegs in die unterirdischen Stockwerke der Einrichtung und klopfte an eine unscheinbare Tür mit der Aufschrift: »Gefahr, bitte nur mit einem Archivar betreten«. Sergeant Milton war ein bisschen nervös. Leider trugen die Geräusche hinter der Tür nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Mit lautem Fluchen wurde ungeschickt an der Türklinke gefummelt, sodass Sergeant Milton das Gefühl hatte, gleich würde ihn der Teufel persönlich an der Höllenpforte abholen.

Als »der Teufel« dann die Tür einen Spalt öffnete und mit krächzender Stimme fragte: »Wer ist da? Und warum?«, erschrak Sergeant Milton fast zu Tode.

Denn auf Augenhöhe konnte er kein Gegenüber ausmachen. Erst auf den zweiten Blick sah er das Gesicht zu der krächzenden Stimme. Der Sprecher war fast zwei Köpfe kleiner als Sergeant Milton, sodass dieser erst nach unten blicken musste, um seinen künftigen Gesprächspartner zu finden.

»Wir können nicht alle Riesen sein, oder?«, und damit wurde die Tür vollständig geöffnet, und der Blick auf den Archivar wurde frei.

Der Archivar trug eine Art Uniform. Sein Oberteil war ärmellos und hatte ein Tarnmuster. Die Hosen waren olivgrün, und an seinen Füßen waren schwere Stiefel. Auf seinem rechten Oberarm hatte der Mann eine Tätowierung, die Sergeant Milton als Symbol einer militärischen Einheit aus der Traurigen Zeit erkannte. Daraus schloss der Sergeant, dass er einem Überlebenden gegenüberstand.

»Na, Junge, was hast du erwartet? Dass wir hier unten Röcke tragen?«

Nach diesem Geblaffe war er sich sicher, dass der Archivar ein Überlebender war, und da er keine bessere Idee hatte, wie er das Eis brechen könnte, sagte er: »Ich komme von Anne Reeve«.

Während er das sagte, hoffte der Sergeant, dass Anne Reeve diesen Sonderling in der Vergangenheit nicht verärgert hatte. Offensichtlich war das nicht der Fall gewesen, denn der Archivar grunzte kurz, gab aber keine weiteren Kommentare von sich. Jetzt setzte er die Taktik des bedrohlichen Anstarrens ein. Einmal mehr kam Sergeant Milton zu dem Schluss, dass die Überlebenden wohl doch mehr Schaden genommen hatten durch ihre Vergangenheit in der Traurigen Zeit, als bisher allgemein bekannt war.

Er nahm sich zusammen und fuhr fort: »Wir untersuchen den Fall Dave und Joseph Lorden.«

Wieder nur ein Grunzen.

»Und ich habe Fragen bezüglich der Waffe.«

Der Archivar drehte sich auf dem Absatz um und ging. Sergeant Milton sah ihm nach, wie er im dunklen Gang verschwand und fühlte sich, als hätte er einen zweistündigen Vortrag vor 5000 Menschen gehalten und am Schluss hätten alle stumm, aber mit einem mitleidigen Kopfschütteln, den Vortragsraum verlassen.

Mittlerweile war der Sergeant fest davon überzeugt, dass der Archivar einmal ein Meister der psychologischen Kriegsführung gewesen war. Sergeant Milton blickte noch unschlüssig den Gang entlang, als ihm von hinten auf die Schulter geklopft wurde. Der Sergeant erschrak sich erneut zu Tode und dachte noch: So muss sich ein Herzinfarkt anfühlen. Hinter ihm war − völlig lautlos − der Archivar wieder aufgetaucht. Offensichtlich war er durch eine andere Tür zurückgekommen. Während Sergeant Milton noch mit seiner Nahtoderfahrung kämpfte, drückte ihm der Archivar eine alte Blechtasse mit einer braunen Flüssigkeit in die Hand. Dann öffnete er eine Tür, hinter der sich ein Büro verbarg.

Mit einer einladenden Handbewegung in Richtung Sergeant Milton und mit ironischem Unterton sagte er: »Willkommen im Waffen- und Sprengstoffarchiv. Treten Sie ein, und genießen Sie die Show.«

Sergeant Milton kam in einem Zustand vollkommener Resignation der Einladung nach und ließ sich auf einen der wackligen Stühle fallen.

»Trink!« grunzte der Archivar. Folgsam kam Sergeant Milton auch dieser Aufforderung nach. Die braune Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, und für einen kurzen Moment schossen ihm Tränen in die Augen. Nur mühsam konnte er verhindern, dem Brechreiz nachzugeben. Danach kribbelte es in seinen Händen, und es folgte eine mächtige Hitzewallung. Und in der Sekunde, in der er schon glaubte, das Bewusstsein zu verlieren, entwich ihm ein kräftiger Rülpser, und der Spuk war vorbei.

»Gut, was?« fragte der Archivar. »Selbst gebrannter Whisky, arbeite schon seit achtzig Jahren daran.«

Sergeant Milton fand zwar, dass der Archivar die letzten 80 Jahre verschwendet hatte, aber er nickte zustimmend. Schließlich hatte er noch nie Whisky getrunken. Gewöhnlich tranken die Neugeborenen am liebsten süßliche Spirituosen, die nicht zu viel Alkohol enthielten. Honigwein oder ein süßer Likör war eher die Kragenweite von Sergeant Milton.

Außerdem tranken die Neugeborenen Alkohol mit viel Bedacht, da ein Kontrollverlust durch übermäßigen Konsum verpönt war. Mehr Augenmerk wurde auf die medizinische Wirkung gelegt, deshalb gab es in den meisten Haushalten alkoholische Kräuteressenzen. In den Spielwelten kam es selten zu Zwischenfällen durch betrunkene Neugeborene. Das war mehr die Baustelle der Überlebenden. Ihr Bier- und Weinkonsum war nicht mit dem der Neugeborenen zu vergleichen. Sergeant Milton schob auch das auf die schlimmen Erlebnisse, die die Überlebenden in der Traurigen Zeit gehabt hatten. Er vermutete, dass der Alkohol für sie einen tröstenden Effekt hatte.

Hätte er Anne Reeve dazu befragt, würde seine Einschätzung wahrscheinlich weniger wohlwollend ausfallen. Sie hätte ihm nämlich gesagt, dass der übermäßige Konsum nur die Folge einer Charakterschwäche sei und nichts weiter. Eine Charakterschwäche, der auch sie dann und wann nachgab. Allerdings hätte sie auch ihre Begeisterung über die Fähigkeiten der Winzer, Brauer und Schnapsbrenner zum Ausdruck gebracht, denen es gelungen war, mit uralten Verfahren und ohne den Einsatz von moderner Technik ausgezeichnete Qualitäten herzustellen.

Ebenso hatte sie große Freude daran, die sogenannten Neuerfindungen auszuprobieren. So war sie zum Beispiel ein großer Fan des berühmten Mohrrübenapfelschnaps einer heimischen Brennerei.

 

Sergeant Milton entspannte sich langsam und sah sein Gegenüber an, das ihm jetzt mit einem wohlwollenden Nicken zu verstehen gab, dass es bereit war, Sergeant Miltons Fragen zu beantworten. Da sich der Archivar nicht vorgestellt hatte, sprach ihn Sergeant Milton mit »Sir« an.

»Sir, diese Waffe haben wir bei Karl Hobnitz gefunden, dem Mann, der die Lorden-Brüder ...«

»Ich weiß schon, der, der angeblich zeitverzögert eingeäschert wurde.«

Damit trank der Archivar nochmal einen kräftigen Schluck von seinem Whisky und signalisierte Sergeant Milton, es ihm gleich zu tun. Der Sergeant nippte zögerlich an seinem Becher und fand, dass er eine Medaille für seine Leidensfähigkeit verdient hätte.

»Was meinen Sie mit angeblich, Sir?« Während Sergeant Milton diese Frage stellte, musste er seinen Mageninhalt am »Auswandern« hindern. Dabei schwor er sich, während des nun folgenden Gespräches nicht mal mehr an diesem Teufelszeug zu schnuppern.

Wieder grunzte der Archivar geringschätzig. »Wenn du so alt bist wie ich, Junge, und so viel gesehen hast, dann glaubst du nicht mehr alles, was du hörst. Wer hat denn diesen Krampf von der verzögerten Einäscherung verzapft? Anne sicher nicht. Anne ist ein gutes Mädchen, die lässt sich nicht für dumm verkaufen, und dass sie dich zu mir geschickt hat, beweist doch, dass an der Sache etwas faul ist. Also zeig mir die Waffe.«

Sergeant Milton reichte ihm die Schrotflinte, und der Archivar untersuchte sie – wie Sergeant Milton fand – äußerst professionell.

Dann legte er sie auf den Tisch und meinte: »Die Waffe ist nichts besonderes, ganz gewöhnlich, stammt wahrscheinlich aus einem unserer Lager, muss aber nicht sein.«

»Sie können also nicht sagen, woher die Waffe genau stammt?«

Der Archivar schüttelte den Kopf.

»Aber die Munition, die ist nicht so leicht aufzutreiben?« Sergeant Milton wollte unbedingt eine Spur finden, sodass seine Frage einem Flehen glich. Irgendwie musste diese schreckliche Sache aufgeklärt werden.

»Siehst du Junge, das ist eine gute Frage, hab ich mir natürlich auch gestellt. An Munition ist nicht leicht ran zu kommen, es sei denn, jemand macht einen zufälligen Fund in einem alten Keller oder außerhalb der Gemeinschaft in den verlassenen Gebieten. Wobei ich das für unwahrscheinlich halte, weil die Expeditionsmannschaften sehr gründlich beim Beseitigen von Gefahrgut waren. Aber selbst wenn man zufällig auf Munition stoßen sollte, wäre es noch lange nicht sicher, dass sie verwendbar wäre. Bei unsachgemäßer Lagerung wird 260 Jahre alte Munition unbrauchbar. Das hat mich veranlasst, meine Bestände zu überprüfen und siehe da, sie stimmten nicht mit den Daten in meinen Büchern überein.«

»Was!?« – Sergeant Milton war von seinem Stuhl aufgesprungen. »Bedeutet das etwa, dass die Munition hier aus dem Archiv stammte? Und das erzählen Sie so nebenbei? Großer Gott, Mann! Warum haben Sie das denn nicht gemeldet? Erzählen Sie mir alles, was Sie über das Verschwinden wissen.«

Sergeant Milton war zum einen erleichtert, etwas gefunden zu haben, zum anderen stand er fassungslos vor dem Archivar, der, wie es schien, eine Überdosis buddhistischen Gleichmutes inhaliert hatte.

Der Archivar schlürfte erneut an seinem Gesöff und unterdrückte ein Schmunzeln. »Na, na, so eifrig junger Mann, glaubst wohl, ich verstehe nichts von meinem Beruf, was? Natürlich habe ich den Verlust gleich gemeldet.«

»An wen?«, fragte Sergeant Milton.

»An wen?«, äffte ihn der Archivar nach. »Natürlich an Frank Wall, den Oberboss.

Sergeant Milton war sprachlos und setzte sich wieder auf den wackligen Stuhl.

Der Archivar fuhr fort. »Bin ja kein Idiot, als gestern die Nachricht vom Tod der Brüder die Runde machte, bin ich hellhörig geworden. Als ich erfuhr, dass es eine Schusswaffe war, habe ich gleich meine Bestände überprüft. Dem Sheriff habe ich dann eine Nachricht in sein Büro geschickt. Das war so gegen 15.00 Uhr. Und darin habe ich ihm auch gleich mitgeteilt, dass ich keine Ahnung habe, wer die Päckchen genommen hat.«

»Päckchen? Wie viel Munition fehlt denn?« Sergeant Milton war ganz blass.

»Ungefähr hundert Schuss.«

Jetzt war der Sergeant der Ohnmacht nah. »Hundert Schuss« – er formte die Worte nur mit seinen Lippen und wagte es nicht, sie laut auszusprechen. Hundert Schuss, und Frank Wall hatte die Nachricht vor der Besprechung mit Rabea erhalten. Warum hatte er diese Tatsache nicht erwähnt?

Sergeant Milton rauchte der Kopf. »Wer hat alles Zutritt zu den Munitionslagern?« fragte er.

»Das ist schwer zu sagen, wer sich im Forschungszentrum auskennt, weiß natürlich, wo die Lagerräume sind. Wer sich besser auskennt, weiß, wann wir Archivare uns darin aufhalten und wann sie leer sind. Die, die sich sehr gut auskennen, wissen, dass die Schlüssel oben in der Zentrale verwahrt werden. Da wir hier keine strengen Zugangsbeschränkungen haben, könnte sich jeder mit ernsthaftem Interesse die Munition besorgt haben, allerdings mit dem Risiko, dabei eingeäschert zu werden. Na ja, die Einäscherung bleibt wohl nach wie vor ein Rätsel.«

Jetzt nahm Sergeant Milton, entgegen seinem Versprechen sich selbst gegenüber, einen großen Schluck Whisky und genoss das Gefühl, als der Würgereiz nachließ. Der Archivar wollte nochmal nachschenken, aber der Sergeant lehnte ab, er durfte keine Zeit verlieren und musste schnellstmöglich mit Anne Reeve sprechen.

Der Sergeant war schon an der Tür, als der Archivar ihm viel Glück für seine Ermittlungen wünschte und noch hinzufügte: »Schade um den Jungen, war ein netter Kerl, ziemlich klug.«

Der Sergeant blieb überrascht unter der Tür stehen und fragte: »Sie kannten Dave Lorden?«

Der Archivar gab ungeduldig Antwort: »Nein, nicht Dave, der andere, war erst vor ein paar Tagen hier.«

Sergeant Milton war jetzt ganz behutsam, so, als wollte er ein rohes Ei pellen: »Und was genau wollte er wissen?«

Der Archivar kratzte sich am Kopf: »Na ja, das war eine komische Frage, er wollte wissen, ob mir irgendwer unter den Überlebenden aufgefallen sei, den ich als gefährlich einstufen würde.«

Der Sergeant machte ein verdutztes Gesicht: »Und wieso kam er deshalb zu Ihnen?«

»Du bist noch nicht lange dabei, was? Wenn jemand was über gefährliche Dinge wissen will, kommt er im Normalfall als Erstes zu mir. Ich bin einer der wenigen Soldaten unter den Überlebenden, das macht mich wohl zum Experten, wenn es um gefährliche Menschen geht.« Wieder nuckelte der Archivar an seinem Getränk.

Der Sergeant war jetzt versucht, das rohe Ei in seiner Hand zu zerquetschen, anstatt es behutsam zu pellen: »Und gab es welche? Ich meine gefährliche Überlebende?« fragte er und unterdrückte seine Ungeduld.

»Was weiß ich, habe ihn zu Doktor Calliditas geschickt, der könnte so was wissen. Behandelt ja die meisten von uns, die mit ihrem ewigen Leben nicht klar kommen.«

Der Sergeant nickte dem Archivar zum Abschied kurz zu und rannte durch die Gänge. Er musste unbedingt mit Anne sprechen.

 

Sergeant Milton gelang es fast nicht in einem normalen Tempo, die Strecke von den Archiven im Forschungszentrum zu den Büros der angrenzenden Wache Süd zurückzulegen. Als er die Wache erreichte, herrschte dort helle Aufregung.

Mildred kam ihm entgegen: »Gut, dass Sie da sind, es ist etwas Schreckliches passiert.«

In Sergeant Miltons Kopf spielte sich in Sekundenschnelle ein Horrorszenario nach dem anderen ab.

Mildred erlöste ihn, indem sie weitersprach: »Doktor Calliditas ist tot. Selbstmord. Anne Reeve hat ihn gefunden. Der Sheriff ist schon auf dem Weg zu Calliditas’ Haus. Und an der Anmeldung steht ein Nigel O’Brian, der unbedingt zu Anne will.«

Mildred hatte geweint. Sie war eine sensible Frau und mochte Doktor Calliditas. Sie empfand diese Selbstmorde der Überlebenden auch als Versagen der Gesellschaft. Wäre die restliche Bevölkerung vielleicht in der Lage gewesen, einen aus ihrer Mitte zu beschützen und in seinem Kummer aufzufangen? Ihr reichte die Erklärung nicht, dass ein Leben erst durch sein Ende, also den Tod, definiert wurde. Wie immer fragte sie sich, ob der Freitod hätte verhindert werden können. Oder hatte es nach 260 Jahren für Doktor Calliditas nichts Lebenswertes mehr gegeben? War er so verzweifelt gewesen, dass dieser Weg der einzige Ausweg für ihn gewesen war?

Doktor Calliditas war so ein liebenswerter Mensch gewesen und immer voller Energie − sollte sie sich in ihm getäuscht haben? Sicher, sie hatte ihn längere Zeit nicht mehr gesehen, und sie waren auch keine engen Freunde gewesen, aber man hatte doch einen Eindruck von einem Menschen.

So in Gedanken, schrak sie zusammen, als Sergeant Milton sie ansprach: »Ich kümmere mich um Mister O’Brian, gehen Sie zurück in ihr Büro, und nehmen Sie ein heißes Getränk zu sich. Ich versuche, Misses Reeve zu erreichen.«

Mildred nickte ihm dankbar zu und kehrte in ihre ruhigen Büroräume zurück.

»Verdammt«, dachte Sergeant Milton, »was für ein Schlamassel!« Jetzt hieß es Ruhe bewahren. Er musste unbedingt Anne Reeve sprechen, am besten allein. Dass der Sheriff die fehlende Munition nicht erwähnt hatte, verunsicherte ihn. Er war kein Dummkopf, irgendetwas stimmte da nicht. Was sollte er nur tun? Dann ließ er seine Ausbildung Revue passieren. Natürlich, so einfach war es. Er war Sergeant und gehörte zu seinem Chief-Sergeant, also sollte er schleunigst zu Doktor Calliditas’ Haus. Nigel würde er mitnehmen. Zum einen war er hier mit Anne verabredet, zum anderen war er seit gestern auch Teil ihrer Ermittlungen.

 

Frank Wall lief im Wohnzimmer von Doktor Calliditas auf und ab. Anne saß zusammengekauert in einem Sessel und starrte aufs Meer hinaus. Doktor Masters hatte zwischenzeitlich den Leichnam von Doktor Calliditas abtransportiert. Frank war beunruhigt. Er hatte Angst um Anne. Was war nur seit drei Tagen mit dieser Gemeinschaft los? Die Morde an den Lorden-Brüdern, die Einäscherung von Karl Hobnitz und jetzt der Selbstmord von Doktor Calliditas − und Anne mittendrin.

Er dachte mit Unbehagen an das Dossier über Anne, das er unter der Schublade von Dave Lordens Schreibtisch gefunden hatte. Wenn es öffentlich gemacht worden wäre, hätte jeder geglaubt, dass Anne Unrecht begangen hätte. Es sah so aus, als wollte Dave Lorden gegen Anne ermitteln.

Das Dossier hätte man als Untersuchung des Todesfalls von Paul Grey, Mildreds Vater, deuten können. Aber dass Anne damit etwas zu tun hatte, war unmöglich. Frank kannte Anne jetzt schon drei Leben lang. Er war dabei gewesen, als sie um Paul, ihren Partner, getrauert hatte. Dave Lorden musste sich geirrt haben. In Frank nagte trotzdem der Zweifel.

Dave und Joseph waren tot, getötet von Karl Hobnitz und nicht von Anne. Hobnitz hatte versucht, Anne zu erschießen, weil er befürchtet hatte, sie könnte Rabea töten. Auch das war völlig absurd, eigentlich ... Und jetzt war Doktor Calliditas tot, ein Freund von Anne und ein Genie auf dem Gebiet der Psychologie.

Frank wollte diese Gedanken nicht weiterführen. Stattdessen ging er zu Anne und setzte sich auf die Sessellehne. »Es tut mir aufrichtig leid, Anne, ich weiß, dass er ein enger Freund von dir war. Aber du weißt ja, manchmal ist die Zeit zu lang für uns Überlebende.«

Anne hatte hemmungslos geweint, als Doktor Masters den Leichnam abgeholt hatte, jetzt war sie ganz ruhig und blickte Frank direkt in die Augen: »Frank, das war kein Selbstmord, niemals. Er hätte sich nicht umgebracht, er hatte noch so viele Pläne, nein, Frank, das war kein Selbstmord.«

»Aber Anne …« Frank sprach ganz behutsam mit ihr, wie mit einem kleinen Kind. »Diese Dinge passieren, und wir können sie nicht vorhersehen. Doktor Calliditas war schon sehr alt, wer weiß, was in ihm vorging.«

»Ich weiß das!«, antwortete Anne trotzig, »Er wollte seine Studien fortführen, an Expeditionen teilnehmen, die Spielwelt besuchen und sein Leben genießen. Er wollte nicht eine Überdosis Tabletten in einem obergärigen Bier auflösen und daran sterben!«

»Aber, Anne, genau das hat er getan.«

»Niemals! Er wurde ermordet.«

»Anne, um Gottes Willen!« Wie immer schaffte es Anne in Sekunden, Frank Walls Puls nach oben schnellen zu lassen.

»Natürlich, so war es! Jeder kennt Doktor Calliditas’ Vorlieben für dieses Gebräu. Der Brauer kam regelmäßig am Vormittag vorbei und füllte ihm seinen Krug auf. Immer eine Portion, die Doktor Calliditas abends gewöhnlich vor dem Einschlafen trank. Er tat alles in Maßen und sehr regelmäßig. Seine Gewohnheiten waren kein Geheimnis. Jemand ging also tagsüber in Doktor Calliditas’ Wohnung, um ihm die Tabletten in das Bier zu mischen, das war ein Kinderspiel, wahrscheinlich war die Tür noch nicht einmal abgeschlossen. Herauszufinden, wann das Haus leer war, kann für den Täter sicher auch kein Problem gewesen sein. Dann musste der Mörder nur noch bis zum Abend warten, bis Doktor Calliditas wieder nach Haus kam, seinen Krug leerte und starb. Danach ist der Mörder wieder in die Wohnung gekommen und hat das Röhrchen Tabletten, das wir gefunden haben, neben den Bierkrug gelegt. Und schon sieht es nach Selbstmord aus. Sicher ist dir aufgefallen, dass wir keinen Abschiedsbrief haben.«

»Und warum, verflucht noch mal, sollte irgendwer Doktor Calliditas umbringen? Davon ausgehend, dass deine Theorie auch nur im Ansatz stimmen würde.«

Frank wollte diese Frage eigentlich nicht stellen, er fürchtete die Antwort. Doch dafür war es jetzt zu spät.

Anne sah in wieder direkt an: »Das hat alles mit dem Tod der Lorden-Brüder zu tun, und es gibt noch ein weiteres Opfer.«

Anne richtete sich auf und erzählte Frank von letzter Nacht. Von der Begegnung mit Nigel O’Brian, von Marie aus der Spielwelt und ihrer Ähnlichkeit mit Laura Lorden, dem Unfall, der keiner war und von dem Gespräch zwischen Doktor Calliditas und Doktor Masters. Als sie geendet hatte, war Frank zu ihrer Verwunderung nicht aufgebracht, er schien eher erleichtert, sagte aber nichts. Frank Wall hatte gehofft, dass der Fall Lorden abgeschlossen sei. Somit wäre Anne aus der Schusslinie und der Umschlag mit dem Dossier vergessen gewesen.

Die Tatsache, dass sie weitere Ermittlungen anstellte und nicht an die Version der verzögerten Einäscherung von Karl Hobnitz glaubte, stärkte sein Vertrauen in Anne. Schließlich würde sie wohl nicht auf Teufel komm raus einen Mörder suchen, wenn sie selbst etwas zu verbergen hätte. Oder doch? War sie vielleicht mittlerweile wahnsinnig oder schizophren? Doktor Calliditas hätte das erkannt.

Eventuell waren die Grüße, die er Anne über Doktor Masters ausrichten hatte lassen, kein Vertrauensbeweis, sondern eine Warnung gewesen, nach dem Motto: »Liebe Anne, viele Grüße, und ach, übrigens, ich weiß, du bist ein mordendes Monster«.

Nein, jetzt ging seine Fantasie mit ihm durch. Zugegeben, Anne war manchmal ein bisschen speziell, aber doch keine gespaltene Persönlichkeit. Als Frank nun etwas auf ihren Bericht erwidern wollte, hörte er von draußen Sergeant Milton nach Anne rufen. Anne gab ihm Antwort, und kurze Zeit später stand er mit Nigel O’Brian im Wohnzimmer von Doktor Calliditas’ Haus.

Während Anne das Erscheinen der beiden Männer mit einem Kopfnicken quittierte, sorgte das Zusammentreffen von Frank Wall und Nigel O’Brian für ein merkliches Abkühlen der Raumtemperatur. Sergeant Milton fand die frostige Begrüßung der beiden Männer beunruhigend. Das Zimmer war plötzlich überfüllt. Anne Reeve und Sergeant Milton fanden noch Platz darin, aber zusammen mit Frank Wall und Nigel O’Brian, deren Egos und jede Menge Testosteron, wurde die Luft knapp. Die beiden fixierten sich und sahen sich abschätzend an, es wurde nicht gesprochen, und die Antipathie, die zwischen ihnen herrschte, hätte ein weiteres Zimmer ausfüllen können.

Sergeant Milton konnte diese Szenerie erst gar nicht einordnen, bis ihm ein Licht aufging und vor seinem geistigen Auge eine Erinnerung an ein Ereignis hochkam, das mit diesem fast identisch war. Er hatte so ein Verhalten schon einmal gesehen, allerdings war er damals annähernd sechzehn Jahre alt gewesen. Er war am Rande der Gemeinschaft bei den landwirtschaftlichen Flächen unterwegs gewesen. Jetzt musste er ein Grinsen unterdrücken. Es war ein herrlicher Frühlingstag gewesen, vom Meer hatte ein leichter Wind herübergeweht. Er hatte einen Spaziergang gemacht und sich mit einem Aschenfall unter einem Baum niederlassen wollen, um ihn zu studieren. Da war er ungewollt Zeuge eines kleinen Dramas geworden.

Links neben ihm, auf einem Feldweg, hatte im Schatten eine gelangweilt wirkende Hündin gelegen, die sich voll und ganz ihrer Fellpflege gewidmet hatte. Sie hatte die beiden Rüden, die sich mit starren Augen fixierten und langsam umkreisten, ignoriert. Dabei hatten die beiden ihre Körper so versteift, dass es ausgesehen hatte, als würden sie auf rohen Eiern balancieren. Das Weibchen, eine gut genährte, schon etwas reifere Dame mit erkennbaren Spuren von Pudelgenen, hatte keine Präferenz erkennen lassen. Ein großer Rüde mit schwarzem Fell und schon grauer Schnauze hatte dem anderen, einem etwas kleineren, braun gestreiften Rüden mit Boxerkopf, nur ganz leicht die Zähne gezeigt.

Der Boxerkopf war keinen Meter zurückgewichen. Und erst ganz sanft, dann immer lauter, war ein eigenartiges Geräusch an Sergeant Miltons Ohren gedrungen. Erst später war ihm klar geworden, dass es sich dabei um ein Knurren gehandelt hatte, das immer weiter angeschwollen war. Und dann hatte sich die Spannung, die über den Rivalen gelegen hatte, wie in einer Art Explosion entladen.

Der Schwarze mit der grauen Schnauze hatte angegriffen. Er war auf den Boxerkopf gesprungen und hatte diesen schmerzhaft am Ohr erwischt. Der Boxerkopf hatte nicht gleich nachgegeben, sondern hatte versucht, sich zu wehren. Da hatte der Schwarze nachgesetzt und den schweren Brocken auf den Rücken geworfen. Der Boxerkopf hatte aufgejault, und der Schwarze hatte von ihm abgelassen. Mit blutigem Ohr war der Gedemütigte in den Büschen verschwunden, während sich der Schwarze neben seine Herzensdame gesetzt hatte, die jetzt huldvoll den Kopf gehoben und dem Schwarzen ganz kurz über die graue Schnauze geleckt hatte. Offensichtlich war das für diesen mehr als genug gewesen.

Sergeant Milton hatte die Hunde immer mal wieder in der Gemeinschaft gesehen und konnte sich daran erinnern, dass der Boxerkopf einige Tage mit einem äußerst albern aussehenden Verband hatte verbringen müssen. Und obwohl seine Besitzer sicher alles getan hatten, um die Wunde zu versorgen, war ihm ein lädiertes Ohr als Erinnerung an diesen Kampf zurückgeblieben. Jetzt fragte sich Sergeant Milton, wie wohl Nigel O’Brians Ohren am Ende der Ermittlungen aussehen würden.

 

Anne war erschöpft und sah aus dem Fenster ihres Hauses. Frank hatte alle für 11.00 Uhr zu einer Besprechung in sein Büro bestellt. Sie hatte mit einem Kopfnicken auf den Termin reagiert und dann ohne weitere Erklärung das Haus von Doktor Calliditas verlassen. Sergeant Milton, der sie hatte sprechen wollen, hatte sie auf später vertröstet, ebenso Nigel O’Brian. Sie würde sich jetzt beruhigen und dann zur Besprechung gehen. Sie durfte auf keinen Fall aufgeben, das war sowieso nicht ihre Art.

Allerdings hatte sie die ganze Geschichte sehr mitgenommen. Doktor Calliditas würde ihr schrecklich fehlen. Erneut traten ihr Tränen in die Augen. Der Himmel hatte sich mittlerweile verdunkelt, für heute war Regen angekündigt. Regen gab es in der Gemeinschaft selten. 300 Tage Sonne im Jahr war das Mindeste.

Anne setzte sich in ihren Lieblingssessel und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Sie liebte ihr kleines Häuschen mit dem Blick zum Meer. Eigentlich hätte sie längst in ein größeres umziehen können, aber Anne fühlte sich hier zu Hause. Sie hatte liebevoll die alten Räume hergerichtet und sich die Einrichtung in den Archiven zusammengesucht. Zugegeben, sie war handwerklich nicht sonderlich begabt, aber dafür konnte sich das Ergebnis sehen lassen.

Plötzlich schrak sie hoch: »Das gibt es ja nicht, ich bin eingeschlafen!«, war ihr erster Gedanke. »Du liebe Güte, die Besprechung!« Sie sah auf die Uhr und lehnte sich erneut zurück. Es war erst kurz vor 10.00 Uhr. Dann drang ein Geräusch an ihr Ohr. Jetzt wusste sie auch, was sie aufgeschreckt hatte. Es klopfte an ihrer Haustür. Etwas übellaunig erhob sie sich von ihrem Sessel und schlurfte unwillig zur Tür. Davor stand Sergeant Milton.

 

Nigel O’Brian war wie vor den Kopf gestoßen. Was war bloß los in dieser Gemeinschaft? So hatte er sich seinen Aufenthalt hier eigentlich nicht vorgestellt. Er lachte verächtlich auf. All die Jahre hatten ihn andere für einen Schwarzmaler, für einen Pessimisten oder einen Spinner gehalten. Wie oft hatten sie ihn belächelt, wenn er davon gesprochen hatte, dass man dem System nicht trauen könne, dass man immer auf der Hut sein müsse. Ja, vor dem Ende der Traurigen Zeit war das anders gewesen. Da waren sich viele darüber im Klaren gewesen, dass sie von den Machthabern betrogen worden waren. Mit den Aschentagen hatte niemand gerechnet, aber sie waren notwendig gewesen. Eigentlich hätte dieser ganze Sumpf aus Geldgier, Korruption, Lüge und Menschenrechtsverletzungen nicht anders trocken gelegt werden können als durch die Einäscherungen. Aber das hatte für ihn noch lange nicht bedeutet, dass das, was danach gekommen war, besser sein würde.

Also hatte er die letzten 260 Jahre sehr aufmerksam alles verfolgt, was in der Welt passiert war. Ehrlicherweise hatte er nicht wirklich daran geglaubt, noch auf irgendetwas zu stoßen. Die Welt hatte sich tatsächlich zum Besseren verändert. Daher war jetzt auch die Genugtuung, eventuell recht zu behalten, bei Weitem nicht so groß, wie er erwartet hätte. Ihm gingen viele Dinge durch den Kopf. Anne Reeve ging ihm durch den Kopf. Sie glaubte so sehr an diese Neue Welt. Er sah sie wieder vor sich, im Haus des toten Arztes. Sie war in diesem Moment so verletzlich gewesen, er hätte sie gerne in die Arme genommen. Bei dieser Vorstellung regten sich weitere Gefühle körperlicher Natur in Nigel O’Brian, die sich mit der Erinnerung an Frank Wall abkühlten.

Was für ein aufgeblasener Affe. Wie blöd der mich angeglotzt hat!, dachte Nigel und stellte sich dabei mit unglaublichem Genuss vor, wie seine Faust auf das Kinn von Frank Wall klatschen und dabei dessen Schneidezähne aus dem Zahnfleisch katapultieren würde. Mit Zahnlücken würde ihm das überhebliche Getue schon vergehen, dachte er grimmig. Nachdem Anne gegangen war, hatte es ein kurzes Gespräch zwischen Frank Wall und Nigel O’Brian gegeben. Frank hatte von Nigel nochmal die ganze Geschichte hören wollen. Dabei war Nigel auf eine Weise von ihm taxiert worden, die ihm ganz und gar nicht gefallen hatte. Er hatte gleich gewusst, dass er diesen Sheriff nicht mochte. Zum einen, weil er für das System arbeitete – schlimmer noch, er war ein hoher Vertreter dieses Systems – und zum anderen, weil er sich einbildete, er hätte bezüglich Anne Reeve irgendwelche Vorrechte.

Er würde Frank Wall genau überprüfen, und sollte nur der geringste Zweifel an seiner Integrität bestehen, würde er, Nigel O’Brian, ihn höchstpersönlich aus dem Verkehr ziehen. Dann hatte dieser Sergeant Milton dem Sheriff Rede und Antwort stehen müssen. Armer Kerl, lässt sich zu leicht einschüchtern, dachte Nigel. Danach war er mit Sergeant Milton zur Wache Süd gegangen. Frank Wall hätte Nigel sicher gerne von den Ermittlungen ausgeschlossen, aber noch gab es dafür keine rechtliche Grundlage. Der Sergeant hatte Nigel daher gezeigt, wo die Elf-Uhr-Besprechung später stattfinden würde und hatte sich verabschiedet.

Nigel hatte beschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen, um auf eigene Faust ein bisschen zu recherchieren. Er wusste, was er zu tun hatte. Er würde auf jeden Fall herausfinden müssen, was hinter all den Ereignissen der letzten Tage steckte. Das System musste überprüft werden, um vorhandene Missstände aufzudecken. Er hatte nie einfach alles geglaubt, was ihm erzählt worden war, und damit war er bisher gut gefahren. Sicher, es war nicht der leichteste Weg, der Weg des Zweiflers, aber für Nigel war es der einzige Weg. Und diesen Weg würde er weiterverfolgen.

 

Anne war plötzlich wieder hellwach. Wie von der Tarantel gestochen, rannte sie Richtung Wache Süd. Sie war bereits auf halber Strecke völlig verschwitzt, wütend und – das war wohl das Schlimmste – hungrig. Sie hatte während des Laufens über Sergeant Miltons Bericht nachgedacht. Frank wusste von der verschwundenen Munition und hatte kein Wort bei der Besprechung mit Rabea erwähnt. Joseph Lorden hatte Informationen über gefährliche Überlebende gesucht.

Für Anne gab es keinen Zweifel mehr, die Lordens waren irgendeiner Sache auf der Spur gewesen und Frank hatte vielleicht etwas damit zu tun. Als Sergeant Milton vor ihr gestanden war, hatte sie ihm die Verlegenheit angemerkt. Er hatte längst bemerkt, wie besonders die Beziehung zwischen ihr und Frank war. Anne verlangsamte ihr Tempo, sie hatte die Wache noch nicht erreicht. Was eben noch so klar schien, fing an zu verwischen. Was genau wollte sie Frank eigentlich vorwerfen?

Gut, er hatte die Meldung über die fehlende Munition nicht weitergegeben, außerdem hatte er den Fall der Lorden-Brüder schnellstmöglich abschließen wollen. Anne wusste, dass Franks Verhalten vielleicht nicht zu dem von ihr bevorzugten akribischen Vorgehen bei Ermittlungen passte, aber es war natürlich auch menschlich, dass er unangenehme Sachen gerne schnell vom Tisch haben wollte.

Anne kam ins Grübeln. Da war noch etwas anderes, was sie störte, und es war nicht die fehlende Munition, von der ihr Sergeant Milton erzählt hatte. Durch ihren Kopf schwirrte ein Gedanke, dann wurde eine Erinnerung wach.

Es war im Haus der Lordens gewesen. Frank hatte das Arbeitszimmer von Dave durchsucht. Angeblich hatte er nichts gefunden. Anne fiel der Umschlag ein, der aus seinem Mantel gelugt hatte. Seine Erklärung, es seien Unterlagen aus dem Büro ...

Anne blieb stehen und setzte sich auf eine Steinmauer am Straßenrand: Gott Frank, in was steckst du da drin?

Neben ihr tauchte ein Schatten auf. Sergeant Milton hatte sie eingeholt.

Er hielt ihren Haustürschlüssel in der Hand und stammelte: »Habe für Sie abgeschlossen, Chief-Sergeant«, damit übergab er ihr den Schlüsselbund.

Anne musste lächeln, obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war. »Danke Sergeant, Sie sind wirklich ein guter Partner.«

Sergeant Milton errötete bei dem Kompliment umso mehr, weil er wusste, dass Anne es ehrlich meinte. »Was sollen wir jetzt machen?« – er war ratlos. Es fiel ihm schwer, mit den Informationen umzugehen.

Anne sah auf ihre Uhr: »Kommen Sie mit, Sergeant, ich denke, wir müssen reden.« Gute zehn Minuten später saßen sie in einer kleinen Kantina, in der um diese Zeit noch nichts los war.

Interessanterweise hatte ein Schuhmacher beschlossen, in seiner Werkstatt auch Getränke mit Schnittchen zu servieren. So kam es, dass sie zwischen Werkbänken an einem kleinen Klapptisch saßen. Der Schumacher hatte ihnen die Erfrischungen gebracht und sich in den hinteren Teil seiner Werkstatt verzogen. Der Geruch von Leder und Klebstoff hing in der Luft. Weitere Gäste gab es nicht, somit konnten sie sich ungestört unterhalten.

Anne hatte nach dem Imbiss endlich wieder das Gefühl, klar denken zu können. Also fasste sie zusammen: »Heute ist der 30.05. Gegen Mitternacht am 27.05. starben drei Menschen: Dave und Joseph Lorden und Marie – Marie White. Die Leiche von Joseph fand Doktor Mau bzw. sein Hund, am 28.05. morgens auf der Waldlichtung. Am gleichen Morgen fand der Sergeant aus der Spielwelt Maries Leichnam auf der Straße. Erst am Nachmittag fand dann eine Streife, die von einer Katze angelockt worden war, die Leiche von Dave Lorden im Müllcontainer, ebenfalls in der Spielwelt. Am Tag darauf treffen wir im Haus der Lordens auf Karl Hobnitz, der, obwohl er angeblich bis zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Menschen, mit Marie eventuell sogar drei, getötet hat, bisher nicht eingeäschert wurde. Als er jedoch uns erschießen will, ist das anders, denn dafür wird er sofort eingeäschert.

Wir haben das Treffen mit Rabea, der Fall wird zu den Akten gelegt. Gleich darauf treffen wir auf Nigel O’Brian, der laut eigener Aussage gegen Mittag des 28.05. in der Spielwelt angekommen ist und der uns von Marie erzählt. Wir starten die Ermittlungen erneut. Ich durchsuche Maries Wohnung, Doktor Masters untersucht die Leiche und erzählt uns dabei von der Begegnung mit Doktor Calliditas. Beide, Doktor Masters sowie auch Doktor Calliditas, stimmen der Theorie des Psychologenteams bezüglich der verzögerten Einäscherung nicht zu. Darauf beschließe ich, Doktor Calliditas aufzusuchen und finde ihn heute Morgen tot in seinem Haus.

Sie, Sergeant Milton, waren heute Morgen bei unserem Archivar im Waffen- und Sprengstoffarchiv und erfahren von seinem Bericht über die fehlende Munition an Frank Wall und Joseph Lordens Interesse an gefährlich wirkenden Überlebenden. Richtig?«

»Richtig!«, bestätigte Sergeant Milton.

»Wenn ich also davon ausgehe, dass Karl Hobnitz nicht unser Täter in den Fällen Dave, Joseph und Marie war und Doktor Calliditas ebenfalls ermordet wurde, dann haben wir im Prinzip vier Mordopfer, plus Karl Hobnitz. Das angebliche Motiv von Karl Hobnitz, das er netterweise in seinem Beutel, den wir dann im Haus der Lordens fanden, mitgebracht hat, sollte uns meiner Meinung nach nur in die Irre führen. Zumal ich überhaupt keine Verbindung zwischen Hobnitz und Marie sehe. Als Calliditas starb war Hobnitz bereits tot. Welche Rolle auch immer Karl Hobnitz gespielt hat, er ist ganz sicher kein Hauptdarsteller gewesen.« Anne hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck, als sie den Satz beendete.

Sergeant Milton war bleich, blankes Entsetzen spiegelte sich in seinem Blick wider. »Aber, wie können wir das beenden? Wie, wenn der Täter nicht durch die Einäscherung gestoppt wird? Ich werde auf jeden Fall nicht ruhen, bis diese Sache geklärt ist, ich werde mein Kind ...«

Sergeant Milton brach ab, er hatte zu viel gesagt. Anne Reeve war diese Bemerkung natürlich nicht entgangen. Noch bevor sie etwas sagen konnte, sprach er schnell weiter: »Ich werde mich auf keinen Fall von den Ermittlungen zurückziehen, ich bleibe dabei, bis wir den Mörder festgenommen haben.« Er zog trotzig den Mund zu einer Schnute.

Anne rieb sich die Augen. »Hören Sie Sergeant, das ist viel zu gefährlich.«

Als der Sergeant einen Einwand machen wollte, hob Anne kurz die Hand, um ihm zu signalisieren, sie weiter sprechen zu lassen: »Aber mir ist klar, dass Sie sich nicht abziehen lassen, daher gilt für Sie folgende Regel: Sie machen nur das, was ich Ihnen sage, und zwar ohne Widerworte! Verstanden?«

Sergeant Milton nickte.

»Als Erstes schreiben Sie sich eines hinter die Ohren: Niemand sollte vorerst erfahren, dass ihre Frau schwanger ist. Ich hoffe, sie hat es bisher für sich behalten?«

Sergeant Milton erwiderte: »Ich wollte sie fortschicken zu einer Freundin, damit sie in Sicherheit ist. Sie darf aber in ihrem Zustand nicht reisen. Katie weiß also über die Ermittlungen Bescheid, und wir sind uns einig, dass wir das Baby vorerst nicht erwähnen. Bis jetzt wissen nur der Arzt und Sie, Chief-Sergeant, von der Schwangerschaft.«

»Das ist gut so, denn wir haben es mit einem gemeinen Mörder zu tun, der vor nichts zurückschrecken wird, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Ich bin mir noch nicht sicher, wen wir in unsere Ermittlungen einweihen sollten. Momentan scheint unser Täter einfach zu gut informiert. Also greifen wir auf eine Methode der Traurigen Zeit zurück, mit dem Namen Geheimhaltung

»Geheimhaltung«, echote Sergeant Milton. Er fühlte sich nicht wohl. Diese Vorgehensweise war ihm fremd. Trotzdem verstand er die Notwendigkeit.

»Des Weiteren müssen wir Verdächtige ausschließen. Ich werde mit Frank Wall sprechen. Es gibt da einfach ein paar Ungereimtheiten, die er mir erklären muss. Da ich Frank schon so lange kenne, wäre ich Ihnen dankbar, wenn sie die Sache mit der fehlenden Munition noch für sich behalten würden, bis ich mir Klarheit verschafft habe. Außerdem wäre es gut, wenn sie den Arbeitsplatz der Lordens aufsuchen würden. Überprüfen Sie bitte auch, wann Nigel O’Brian den Norden wirklich verlassen hat, damit wir auch ihn als Täter ausschließen können. Auch O’Brian gegenüber sollten wir mit Informationen sparsam sein, ich habe das Gefühl, dass er etwas verschweigt.«

Sergeant Milton seufzte.

»Tja, Sergeant, willkommen im Jahr 2018, als die Welt noch von Lug und Trug beherrscht wurde.« Anne klopfte dem Sergeant aufmunternd auf die Schulter. »Und dann besuchen Sie noch einmal unseren Freund im Archiv. Er soll Ihnen eine Schusswaffe geben und Ihnen zeigen, wie man damit umgeht.«

Sergeant Milton sah sie mit großen Augen an: »Eine Waffe?«

Anne schnitt ein paar Grimassen, sie war unsicher. Waffen waren gefährlich – traf sie die richtige Entscheidung? Konnte sie die Situation überhaupt einschätzen? Sie antwortete ruhig und selbstbewusst: »Besorgen Sie uns die Waffe. Sollten wir auf unseren Täter treffen, wird er nicht zögern, und wir sollten das auch nicht tun. Denken Sie daran, dass bei ihm der Mechanismus der Einäscherung nicht funktioniert, und denken Sie an meine Regel: das tun, was Anne Reeve sagt ...«

Sergeant Milton nickte.

 

Franks Bürotür stand offen, Mildred war offensichtlich nicht an ihrem Platz, also klopfte Anne kurz an und trat ins Zimmer. Frank sah überrascht auf. Er war sich nicht sicher gewesen, ob Anne überhaupt zur Besprechung erscheinen würde. »Anne, wie geht es dir?« Frank stand von seinem Schreibtisch auf und ging auf sie zu. Anne ließ die Umarmung geschehen, sie wollte nicht streiten, nicht heute, sie wollte einfach nur Antworten.

Also sagte sie ganz ruhig: »Frank, was war in dem Umschlag?« Frank Wall ging an ihr vorbei zum großen Panoramafenster. Mittlerweile hatte es zu regnen angefangen.

Frank hob die Schultern, drehte sich aber nicht um, als er sagte: »Welcher Umschlag?«

Sofort war es mit Annes Diplomatieversuchen vorbei. Ihre Nerven waren angespannt, keine Chance mehr, sich zusammenzureißen, sie wurde laut: »Stell dich jetzt bitte nicht blöd, den Umschlag, den du bei der Durchsuchung von Dave Lordens Büro gefunden hast. Ich habe ihn gesehen, er war in deiner Manteltasche. Erzähl mir bitte nicht, dass das Unterlagen aus dem Büro waren. Ich hätte damals schon stutzig werden müssen. Du hast Beweismittel unterschlagen! Das heißt, dass du den Täter kennst oder selbst der Täter bist. Eingeäschert wurdest du bisher noch nicht, was aber auch heißen kann, dass du derjenige bist, der einen Weg kennt, die Einäscherung zu umgehen. Also, was war in dem Umschlag?«

Frank schnaubte und drehte sich um: »Mach dich nicht lächerlich Anne, ich ...«

In dem Moment hörten sie in Mildreds Büro ein Geräusch. Anne war schnell an der Tür und verschloss diese, damit Mildred nichts von ihrer Unterhaltung mit Frank mitbekam. Allerdings hatte nicht Mildred das Geräusch verursacht. Aus Mildreds Büro trat jetzt ein nachdenklicher Nigel O’Brian auf den Gang.

Was sollte das nun wieder bedeuten? Frank Wall hatte etwas in Dave Lordens Haus gefunden und zurückbehalten. Diese Art von Information hatte er nicht erwartet, als er sich aufmachte, seine eigenen Ermittlungen zu führen. Ein leichtes Hochgefühl schlich sich bei ihm ein – sollte es so leicht sein, diesem unangenehmen Frank Wall das Genick zu brechen?

 

Anne saß an ihrem Lieblingsplatz in ihrer Stammkneipe, es war bereits früh dunkel geworden. In der Spielwelt war noch wenig Betrieb. Die »üblichen Verdächtigen« reihten sich um die kleine Theke. Anne hatte bereits vor Jahren festgestellt, dass sich die Gruppe der Stammgäste in jeder Kneipe, egal wo auf der Welt, egal in welchem Jahrhundert, ob in der Traurigen Zeit oder danach, aus einer ganz bestimmten Menschenkombination zusammensetzte. So war es auch heute wieder. Da gab es die alternde Schönheit, die es verpasst hatte, zum Richtigen »Ja« zu sagen. Immer noch attraktiv, aber einsam. Dann ein ständig meckernder Glatzkopf, der sich stundenlang über die Ungerechtigkeiten beschweren konnte und sich als ewiges Opfer fühlte. Gefolgt von dem Schweigsamen, der still an seinem Getränk mümmelte und alles über sich ergehen ließ. Nicht fehlen durfte auch eine optisch etwas weniger begünstigte Lady, die krampfhaft versuchte, gute Laune zu verbreiten, die gerne sang und tanzte und jeden wie einen alten Freund begrüßte. Und zuletzt das Ehepaar, das stets zusammen auftrat, aber nie miteinander sprach, nur mit den anderen an der Theke.

Anne fand es beruhigend, auf diese Stereotypen zu treffen. Sie hatte sich mittlerweile einen kleinen Rausch angetrunken. Vor ihr standen mehrere Gläschen, die einst einem Möhrenapfelschnaps ein Zuhause geboten hatten. Sie musste vorsichtig sein mit dem Zeug, das wusste sie, sonst würde sie am Ende wieder einen peinlichen Auftritt bei einem Karaoke-Wettbewerb hinlegen.

Was für ein Tag. Die Besprechung mit den anderen nach ihrem Vier-Augen-Gespräch mit Frank war ohne weitere Zwischenfälle verlaufen. Frank Wall hatte klare Ansagen gemacht. Doktor Masters sollte noch einmal die medizinischen Unterlagen der Toten durchgehen, Nigel war aufgefordert worden, alles, was er über die Sache wusste, an die Ermittler weiterzugeben – was dieser, da war Anne zwischenzeitlich sicher, nicht tun würde – Sergeant Milton und Anne sollten noch weiter über die Lorden-Brüder und Marie White recherchieren. Den Umschlag erwähnte Frank mit keinem Wort. Außerdem hatte er die anderen aufgefordert, behutsam mit den Informationen umzugehen, um einen möglichen Täter nicht zu warnen oder sich selbst in Gefahr zu bringen.

Alle hatten dann Anne angesehen. Sergeant Milton, Doktor Masters, Nigel O’Brian und Mildred. Anne hatte gewusst, dass sie alle von ihr einen Kommentar erwartet hatten, deshalb hatte sie lahm gesagt: »Sheriff, wir werden die Vorgänge noch einmal überprüfen.«

Das war alles gewesen, was sie herausgebracht hatte. Sie war sich vorgekommen wie jemand mit einer degenerativen Gehirnkrankheit. Und sie war sich dumm und schuldig vorgekommen. Nach dem nächsten Möhrenschnaps war sie sogar so weit, sich einzugestehen, dass sie eine Einäscherung verdient hätte. Sie hätte nicht schweigen dürfen, das war nicht richtig gewesen. Andererseits hatte sie Frank ihr Wort gegeben.

Sie winkte dem Barmann und signalisierte den Wunsch nach einem weiteren Möhrenapfelschnaps. Was für eine Enttäuschung. Sie hätte sich im Leben nicht vorstellen können, dass der Umschlag eine Ermittlungsakte über sie enthalten könnte. Und was war Frank eigentlich eingefallen, diese Akte, die Dave Lorden vor seinem Tod angefertigt hatte, einfach zu vernichten? Natürlich, er hatte sie schützen wollen, aber war das richtig gewesen? Sie machte sich große Sorgen. Sie machte sich große Sorgen um Frank. Vielleicht würde er sich immer weiter in Lügen verstricken, am Ende könnte dies noch dazu führen, dass er eingeäschert würde. Nein, das wollte sie nicht verantworten.

Frank hatte sie zum Schweigen überredet: »Anne, die Lordens haben irgendeine Spur verfolgt und sind auf dich gestoßen, niemand würde im Moment glauben, dass sie sich geirrt haben. Alle, die Licht in die Sache bringen wollten oder konnten, sind tot. Und du hattest am einfachsten zu allen und zu allem Zugang. Wenn man nicht an deine Unschuld glaubt, heißt das aber auch, dass der Täter davonkommen wird. Wir werden jetzt Folgendes tun: Ihr werdet weitere Untersuchungen in der Angelegenheit machen. Ich bin mir sicher, dass wir Antworten finden werden – aber sicher nicht, wenn du als Hauptverdächtige im Gefängnis sitzt. Für die Öffentlichkeit wird Karl Hobnitz vorerst der Mörder der Lordens bleiben. Doktor Calliditas starb offiziell durch Selbstmord, genauso wie Marie. Das wird uns die nötige Zeit verschaffen, weiter zu ermitteln. Und, was noch wichtiger ist, es wird den wahren Mörder in Sicherheit wiegen. Aussenstehenden sagen wir, dass deine Ermittlungen die Akten nur noch vervollständigen sollen, um sie dann zu schließen. Dem Großen Rat werden wir unsere neuen Erkenntnisse mitteilen, allerdings ohne den Umschlag zu erwähnen. Sicherlich wird der Rat bereit sein, vorerst von einer Radiodurchsage abzusehen.«

Anne hatte ungern zugestimmt. Allerdings hatte Frank recht gehabt. Eine Frage hatte sie ihm allerdings stellen müssen: »Frank, hast du den Umschlag vernichtet, um mich als Schuldige oder Unschuldige zu schützen?«

Frank hatte sie lange angesehen. Eine Antwort hatte er ihr schuldig bleiben müssen, da es in diesem Moment an der Tür geklopft hatte und die anderen in den Raum gekommen waren.

Anne trank ihren nächsten Schnaps in einem Zug. Das Misstrauen, das die Lordens ihr entgegengebracht hatten, tat weh. Sie würde mit ihnen nie wieder ins Reine kommen. Das Einzige, das sie noch für die beiden tun konnte, war, den wahren Täter zu finden. So wie Frank ihr erklärt hatte, hatten die Lordens Anne für gefährlich gehalten. Grund dafür sollte ein Burnout gewesen sein. Sie hatten sie in diesem Zusammenhang verdächtigt, mit dem Tod von Paul Grey etwas zu tun zu haben. Mehr hatte Frank ihr nicht sagen können, da er selbst ratlos gewesen war. Er hatte versucht, ihr so wörtlich wie möglich den Inhalt des Umschlages wiederzugeben, aber das war natürlich schwierig gewesen.

Sie raufte sich die Haare. Wie hatten Joseph und Dave nur auf die Idee kommen können, dass sie gefährlich sein könnte? Was für ein absurder Unsinn. Nachdem sie nun Kenntnis von dem Inhalt des Umschlages hatte, war sie sich sicher, dass Joseph von ihr gesprochen hatte, als er den alten Archivar nach gefährlichen Überlebenden gefragt hatte. Anne grübelte weiter. Sie hatte niemals ein Burnout gehabt, und wenn sie jemals eines gehabt hätte, warum wäre sie dann zur Gefahr geworden? Waren die beiden denn der Meinung gewesen, dass sie aufgrund von Überlastung und psychischen Problemen für ihre Mitmenschen eine Gefahr darstellte?

Noch viel schlimmer war der Gedanke, dass die beiden angenommen hatten, dass sie deshalb etwas mit dem Tod von Paul Grey, Mildreds Vater, zu tun habe. Allerdings ergab nur diese Schlussfolgerung einen Sinn. Da sie Anne verdächtigt hatten, hatten sie sie nicht eingeweiht. Auf was auch immer die Lordens gestoßen waren, sie hatten es falsch interpretiert, und das hatte sie das Leben gekostet. Anne dachte an die Besprechung und wie sie es vermieden hatte, Mildred anzusehen. Obwohl sie für Pauls Tod nicht verantwortlich war, hatte Anne, seit sie von dem Inhalt des Umschlages wusste, Schuldgefühle gegenüber Mildred. Was sich hier entwickelte, war nicht richtig.

Gerade als sie einen verzweifelten Seufzer von sich geben wollte, erschienen auf dem Tisch zwei weitere Gläser. Anne schaute auf, Nigel O’Brian, mit seinen furchtbar beeindruckenden, spöttischen, blauen Augen nickte ihr zu und setzte sich ihr gegenüber. Sie tranken ihre Gläser in einem Zug aus.

Er sagte nur: »Wir sollten gehen.«

Anne nickte, sie war nicht betrunken, sondern nur beschwipst. Das hieß, sie war in der Stimmung, die sie normalerweise als die der totalen Unvernunft bezeichnete. Sie war verrückt nach diesem Nigel O’Brian, und sie wollte nicht warten. Wozu auch? Sollte er ihr etwa Blumen bringen und um sie werben? In diesem Moment hatte Anne nur einen Gedanken: »Das Leben ist kurz!«

Als sie auf die Straße kamen, regnete es in Strömen. Unter einer Straßenlaterne zog sie ihn an sich und küsste ihn das erste Mal. Der lauwarme Regen lief über ihre Gesichter. Nigel hatte fast erwartet, dass sie den ersten Schritt machen würde, das passte zu ihr, und ihm gefiel es.

Ab diesem Moment wurden beide nur noch von ihren Hormonen gesteuert. Sie fingen an, sich gegenseitig die Kleider auszuziehen, während sie in eine der Seitenstraßen taumelten. Dort hob Nigel Anne hoch, und sie legte ihre Beine um seine Hüften. Dann bugsierte Nigel seine Herzdame auf einen der Müllcontainer. Unfreiwillig hatten sie für den Vollzug ihres spontanen Liebesaktes die Rückseite einer Kantina gewählt. Und als wäre der Platz für sich genommen nicht sowieso schon ungünstig, wurde ausgerechnet in dieser Kantina und an diesem Abend ein Karaokewettbewerb abgehalten.

Während Anne also auf der wackeligen Mülltonne saß und ihrem Nigel, der gerade versuchte, alle Qualitäten eines zuvorkommenden Liebhabers zu zeigen, das Hemd vom Leib riss, erklang im Hintergrund die schauderhafte Stimme eines »Möchtegern-Tenors«. Der Mann hatte beschlossen, ein altes Seemannslied aus der Traurigen Zeit so wiederzugeben, als würde es von einem Buckelwal gesungen, der gerade eine Phase tiefster Depressionen durchlebte. Unglücklicherweise war der Sänger nicht nur vollkommen unmusikalisch, er war auch noch mit einem Organ gesegnet, mit dem er selbst aus einem Stahlbunker heraus Fensterscheiben am anderen Ende der Welt hätte zerspringen lassen können. Und als ob das immer noch nicht schlimm genug wäre, öffnete sich ständig die Hintertür, sodass die Stimme des Mannes entweder laut oder unerträglich laut zu hören war.

Während Nigel vermutete, dass der Sangeskünstler mit seinem Gekreische das Ungeziefer aus dem Haus treiben wollte, fragte sich Anne, was Menschen eigentlich an Sex außerhalb des Bettes so faszinierend fanden. Und gerade, als sie Nigel erneut an sich zog, verlor sie auf dem wackeligen Mülleimer das Gleichgewicht. Sie riss Nigel mit zu Boden, und wie sie da lagen, hätte man vermuten können, man würde einer proktologischen Untersuchung beiwohnen, anstatt dem ersten leidenschaftlichen Sex eines frisch verliebten Paares.

Die beiden sahen sich verdutzt an mit ihren halb heruntergelassenen Hosen. Nigel sprach als Erster, und die Belustigung war ihm deutlich anzuhören: »Gnädige Frau, ich kann Ihnen ein Bett im Hotel anbieten, wenn das konveniert?«

Anne konnte ihr Lachen nicht mehr zurückhalten. Eine Situation wie diese konnte man nur mit Lachen oder Weinen auflösen. »Mein Herr, es würde ungemein konvenieren, und ich wäre Ihnen mehr als verbunden, wenn wir dieses dreiste Liebesspiel ganz altmodisch in einem Bett fortsetzen könnten − vielleicht ohne Musik?«

Nigel musste ebenfalls lachen. Sie standen auf, zogen die nassen Hosen hoch und rannten durch den Regen zu Nigels Hotel. Dort verbrachten sie eine wunderbare Nacht miteinander. Sie sprachen nicht, das war nicht notwendig. Zwischen ihnen herrschte eine Vertrautheit und ein Einverständnis, das man nur ganz selten erlebte. Beide hatten schon bei ihrer ersten Begegnung gewusst, dass das passieren würde. Es war ein Rausch der Gefühle, ohne Hemmungen, ohne Verlegenheit. Sie gaben einander das Gefühl, lebendig zu sein, ein Gefühl, das sie beide seit Langem vermissten. Sie waren wahrhaftig eins in dieser Nacht.