15. Die Spielwelt

 

Als Anne nach dem Besuch bei Rabea Richtung Wache Süd schlenderte, um ihr eigenes Büro aufzusuchen, war sie tief in Gedanken versunken. Nach wie vor ging ihr die Frage nicht aus dem Kopf, warum etwas, das so lange zurücklag wie dieser »Burnout-Fall«, heute noch für jemanden von Bedeutung sein konnte. Für wen stellte das Wissen, das damit zusammenhing, eine derartige Bedrohung dar, dass derjenige bereit war, Menschen zu töten? Und wie schaffte es der Täter, der Einäscherung zu entgehen?

Anne dachte wieder an die Theorie vom geisteskranken Verbrecher – hatten sie es mit jemanden zu tun, der psychisch krank war? So krank, dass der Mechanismus der Einäscherung nicht greifen konnte?

Anne gefielen die Möglichkeiten, die blieben, nicht. Die Vermutung lag nahe, dass der Täter aus ihrem direkten Umfeld stammte. Eigentlich würde sie für jeden, den sie kannte, die Hand ins Feuer legen – aber wahrscheinlich hätte sie zumindest bei einem hinterher Verbrennungen.

So in Gedanken vertieft, passierte sie den Empfangsbereich der Wache Süd. Einer der Sergeants erblickte sie und winkte sie aufgeregt zu sich herüber: »Chief-Sergeant, ich habe eine Depesche für Sie!«

Offensichtlich kam es dem Mann nicht in den Sinn, dass sie momentan noch nicht wieder im Amt war. Anne lächelte dem Sergeant zu und nahm dankend die Depesche entgegen. Als sie den Absender sah, versteifte sie sich. Sie ahnte nichts Gutes.

 

Zehn Minuten später war sie zusammen mit Doktor Masters unterwegs in Richtung Spielwelt. Nigel und Sergeant Milton hatte sie eine kurze Nachricht hinterlassen. Sie sollten sich mit ihr später im Restaurant von Sebastian und Peter treffen. Sie hielt das für besser, als das Treffen im Privathaus der beiden abzuhalten. Die Nachricht von Sebastian hatte Anne beunruhigt. Was ging dort vor sich? Sebastian hätte ihr nicht geschrieben, wenn er nicht ernsthaft besorgt wäre. Glücklicherweise hatte er durch die Radiodurchsage erfahren, dass Anne wieder rehabilitiert und zurück in der Gemeinschaft war, sodass er sie gefahrlos per Depesche auf der Wache Süd erreichen konnte.

Anne war ungeduldig. Der Doktor kam in seiner kleinen Kutsche nicht schnell genug hinter ihr her. Sie wollte ihn nicht antreiben, denn sie war ihm dankbar, dass er ohne Zögern mit ihr gekommen war. Kaum hatten sie das Haus erreicht, wurde auch schon die Tür aufgerissen. Peter trat ihnen mit besorgtem Gesicht entgegen.

»Gott sei Dank bist du da, wir wussten nicht, was wir machen sollten. Sie hat uns ausdrücklich verboten, ihren Mann zu holen.« Er schüttelte resigniert den Kopf.

»Wo ist sie?« Doktor Masters wirkte angespannt, als er fragte.

Peter deutete die Treppe hinauf: »Sie will niemanden sehen. Sebastian hat sie heute Morgen im Garten gefunden. Wir wissen nicht, was sie da draußen gemacht hat und wie lange sie schon dort saß. Eines der Pferde stand gesattelt im Stall. Keine Ahnung, ob sie hier weg wollte, geschweige denn warum. Als wir sie gefragt haben, hat sie nicht geantwortet. Als ich ihr vorgeschlagen habe, dass wir den Sergeant benachrichtigen, wurde sie fast hysterisch. Irgendwie ist es Misses Wong gelungen, sie ins Bett zu stecken. Aber sie hat sich seither nicht beruhigt. Sie weint nur.«

Mittlerweile waren auch Sebastian und Misses Wong aus dem hinteren Teil des Hauses zu ihnen getreten. Obwohl Misses Wong keine besonders gute Meinung von Anne Reeve hatte, schien auch sie erleichtert darüber zu sein, dass diese nun da war.

Misses Wong war sichtlich verzweifelt, als sie sprach: »Sie ist überhaupt nicht wieder zu erkennen. Offensichtlich macht ihr die Schwangerschaft doch mehr zu schaffen, als man normalerweise annehmen würde.«

Der Doktor hatte genug gehört und schob sich an ihnen vorbei. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis die vier hörten, wie die Treppen unter Doktor Masters Gewicht knarzten. Endlich kam er herunter. Sie hatten sich in das Wohnzimmer zurückgezogen und dort schweigend gesessen. Als Doktor Masters das Zimmer betrat, sah Anne sofort seine Besorgnis. Sie hielt die Luft an.

Der Doktor setzte sich umständlich auf einen der Sessel und gab ihnen Auskunft: »Ich habe ihr etwas Leichtes zur Beruhigung gegeben. Mehr geht in ihrem Zustand nicht. Außerdem wäre es gut, wenn ihr jemand eine Kleinigkeit zu essen bringen würde.«

Anne wollte sich anbieten, aber der Doktor hielt sie zurück: »Du nicht! Auf dich ist sie nicht gut zu sprechen, genauso wenig wie auf ihren Mann oder den Sheriff. Bevor du fragst: Ich habe keine Ahnung, warum. Mir scheint, sie hat eine Art Zusammenbruch. Die Aufregungen waren zu viel. Allerdings will sie sich nicht untersuchen lassen. Und sie will mir auch nicht sagen, was sie heute Morgen im Garten gemacht hat. Sie behauptet sogar, dass sie heute noch nicht draußen gewesen sei. Wie auch immer, ich lasse sie jetzt erst einmal ein bisschen zur Ruhe kommen. Anne, du solltest nicht hier sein, das würde sie nur unnötig aufregen. Wir treffen uns später im ›Badezimmer‹. Ich denke, etwa in einer Stunde.«

Anne schnappte nach Luft. Sie konnte sich Katies Verhalten überhaupt nicht erklären. Sie war in den letzten 260 Jahren schon auf einige Schwangere getroffen, aber das, was mit Katie geschah, hatte sie bei keiner der anderen erlebt. Sie machte sich große Sorgen und war froh, dass sie sich dafür entschieden hatte, gleich nach dem Erhalt der Depesche mit dem Doktor aufzubrechen.

Sie verabschiedete sich eilig von den anderen. Sie wollte natürlich nicht, dass sich Katie ihretwegen aufregte. Deshalb hatte sie das dringende Bedürfnis zu gehen. Sie fühlte sich schrecklich unwohl bei dem Gedanken, irgendwo nicht erwünscht zu sein. Sie sog erleichtert die Luft ein, als sie ein paar Straßen weiter zum Zentrum der Spielwelt ging.

Wieder hing sie ihren Gedanken nach. Dieses Mal überlegte sie, ob überhaupt ein Überlebender als Täter infrage käme. Schließlich, wenn es die Gewissenswesen wirklich gab, könnten die Überlebenden doch gar keine Verbrechen begehen. Das Gewissen würde sie davon abhalten. Dann verwarf sie diesen Gedanken. Das galt allerdings genauso für die Neugeborenen. Lediglich die Annahme, dass der »Burnout-Fall« etwas aus der Vergangenheit berührte, rechtfertigte die Theorie, dass der Täter ein Überlebender war. Und das mit dem Gewissen war leider auch nicht so einfach.

Wenn sie an die Existenz der Gewissenswesen glaubte, dann musste sie auch berücksichtigen, dass das Gewissen, nach eigener Aussage, nicht zwangsläufig ausreichend Platz in einem Menschen hatte, um Gutes zu bewirken. Einen unter ihnen gab es bereits, der sein Gewissen unterdrückt oder verbannt hatte und auch so handelte, aber trotzdem nicht eingeäschert wurde. Aber was trug derjenige dann in sich? Annes Gedanken schienen sich im Kreis zu drehen, als sie jemand am Arm hielt.

Erschrocken drehte sie sich herum. Anne sah in ein fremdes Gesicht. Ein Mann stand vor ihr. Er war vielleicht Mitte dreißig. Er hätte aber auch älter oder jünger sein können. Er trug eine Art Sportanzug und hatte kurze Haare. Er war vollkommen unauffällig, nur an seinem Gesicht war irgendetwas eigenartig. Es unterschied sich von allen anderen Gesichtern, die sie kannte, aber sie hätte nicht sagen können, woran dies lag. Seltsamerweise hatte Anne keine Angst vor dem Fremden. Im Gegenteil, er war ihr irgendwie sympathisch.

Als er sprach, hatte er eine sehr angenehme Stimme: »Sie haben einen gesehen? Stimmt doch, oder?«

Anne wusste nicht, was der Mann von ihr wollte. Im ersten Moment dachte sie, er würde vielleicht jemanden suchen.

Der Mann sah Annes fragenden Blick und lächelte freundlich: »Ich meine, Sie haben einen Teil des Wesens gesehen. Was war ihr Duft?«

»Vanille.« Anne sprach, bevor sie dachte.

Was war denn in sie gefahren? Sie wusste überhaupt nicht, was dieser Fremde von ihr wollte. Warum hatte sie ihm geantwortet? Wie konnte er überhaupt von dem Wesen wissen? Anne wollte sich erklären. Der Mann hielt sie immer noch am Arm. Wieso empfand sie seine Berührung nicht als unangenehm?

Bevor sie etwas sagen konnte, sprach der Fremde wieder: »Ah, Vanille! Das ist ausgezeichnet!«

Endlich fand Anne ihre Sprache wieder: »Hören Sie, ich bin mir nicht sicher, ob wir vom Gleichen sprechen. Seien Sie mir nicht böse, aber ich denke, das hier ist ein Missverständnis. Ich vermute, Sie verwechseln mich mit jemandem.«

»Nein, das tue ich nicht. Sie sind die, die ich suche.« Er sah nach oben: »Es wird gleich regnen, lassen Sie uns etwas trinken. Sie sind eingeladen.«

Anne wollte gerade erwidern, dass kein Regen vorhergesagt sei und sie einen klaren Himmel hätten, als die Sonne sich plötzlich verdunkelte und sie einen Regentropfen spürte.

»Kommen Sie«, sagte der Fremde erneut, »ein warmes Getränk wird Ihnen gut tun.«

 

Fünf Minuten später saß Anne mit dem Fremden in einer kleinen Kantina und hatte eine Tasse mit einer brodelnden Flüssigkeit vor sich. Wieso konnte sie sich dem Einfluss dieses Mannes nicht entziehen? Und wieso fühlte sie sich in seiner Gesellschaft so wohl?

Die Kantina war unglaublich voll. Nur mit Mühe hatten sie diesen kleinen Ecktisch ergattert. Der Mann hatte am Tresen Getränke geholt und sich dann ihr gegenüber gesetzt. Jetzt fing er an, alles auf dem Tisch hin und her zu schieben. Die Löffel, die Unterteller mit den Tassen und selbst die kleinen Servietten. Es sah aus, als würde er die Figuren für eine Partie Schach aufstellen. Als er damit aufhörte, waren alle Gegenstände so angeordnet, als wäre in der Mitte des Tisches ein Spiegel aufgestellt worden. Ihre Tasse stand exakt gegenüber seiner Tasse. So war es mit den Löffeln, den Servietten. Sogar die kleine Vase hatte einen Spiegelpartner. Dafür hatte er die Vase vom Nachbartisch geholt.

Als Anne erneut in das Gesicht des Mannes blickte, wurde ihr klar, was ihr daran so eigentümlich vor kam. Genau, es sah aus, als wäre es gespiegelt. Anne hatte einmal gehört, dass Gesichtshälften nie identisch waren. Der Fremde hatte aber ein perfektes Gesicht mit identischer linker und rechter Seite. Da das menschliche Auge solch eine Symmetrie normalerweise nicht gewohnt war, wirkte das Gesicht des Fremden unnatürlich. Jetzt fiel ihr auch auf, dass selbst die Kleidung des Mannes – bis hin zu den Abnutzungsspuren an seinen Schuhen – so wirkte, als würde sie aus einem Original und dem dazugehörigen Spiegelbild bestehen.

Anne schrak auf, als er erneut sprach: »Sie fragen sich sicher, wer ich bin, und warum ich Sie angesprochen habe?«

Anne blies die Backen auf und brachte heraus: »Nun ja, das wird Sie ja sicher nicht verwundern.«

Der Mann lächelte, dann trank er vorsichtig von dem heißen Gebräu, das vor ihm stand. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Dieses Mal war Anne, ganz gegen ihre Gewohnheit, sehr geduldig.

»Ich erkenne, wenn jemand mit einem von den beiden gesprochen hat. Und ich denke, ich kann Ihnen helfen.«

Anne seufzte: »Helfen wäre gut, aber was heißt, Sie können erkennen, wenn jemand mit einem von den beiden gesprochen hat? Wer sind denn ... BEIDE?«

Der Mann nahm einen weiteren Schluck, stellte seine Tasse weg und schien nun seine ganze Aufmerksamkeit Anne zu widmen: »Ah, das wussten Sie wohl nicht? Es sind zwei. Zum Glück hatten sie mit dem Richtigen Kontakt. Vanille! Wer hätte das gedacht?«

Anne wurde es mulmig. Sie hatte eine Vorahnung, was der Fremde meinte. Unwillkürlich berührte sie ihren Bauch.

Wieder lächelte der Mann: »Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, eine sehr alte Geschichte. Eine Geschichte, wie sie nur sehr alte Völker kennen. Eine Geschichte, die niemals niedergeschrieben wurde und die Mütter ihren Kindern vor dem Einschlafen erzählen. So wird sie über Generationen weitergegeben. Niemand weiß, ob das Erzählte wirklich passiert ist – oder ob es eben nur eine Geschichte ist.«

Anne schwieg und sah den Fremden gespannt an. Sie hatte alles um sich herum vergessen. Sie wollte nur diese Geschichte hören. Sie fühlte sich wie ein Kind.

Dann tauchte sie ganz in die Erzählungen des Fremden ein und konzentrierte sich auf seine angenehme Stimme: »Vor langer Zeit gab es noch keine Erde. Es gab den Mond, die Sonne, die Sterne – aber keine Erde. Die Natur fand das, was sie bisher geschaffen hatte, viel zu kahl und traurig, sodass sie eines Tages beschloss, die Erde zu erschaffen. Die Natur wollte mit der Erde etwas völlig anderes aus sich hervorbringen. Etwas, das perfekt und gleichzeitig vielseitig war. Etwas, das im vollkommenen Gleichgewicht mit sich selbst stand. Die Natur hatte dieses Mal viele Pflanzen, Tiere und Mineralien erschaffen. Sie erfand den Menschen, aber auch andere Wesen. Und alles, was sie erschuf, hatte einen bestimmten Zweck und sollte eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Die Wesen untereinander konnten sich nicht immer begreifen und erkennen. Manche wussten von der Existenz der anderen und manche nicht. Aber das spielte überhaupt keine Rolle, denn die Natur hatte ihr Ziel erreicht. Die Erde war erschaffen worden und befand sich im perfekten Gleichgewicht. Aber wie das in guten Geschichten nun mal so ist, bleibt nichts so, wie es bleiben sollte. So ist es auch bei dieser Geschichte. Also: Unter den Wesen gab es eines, das aus zwei Teilen zusammengesetzt war. Die Natur hatte es mit viel Bedacht geformt. Es konnte nur in der Einheit existieren. Die Natur pflegte dieses Wesen, zog es groß und hatte eine unglaubliche Freude daran, da es eine perfekte Einheit, ein perfektes Gleichgewicht, im Gleichgewicht mit der Gesamtheit, darstellte. Doch nach einiger Zeit wollte der eine Teil des Wesens nicht mehr mit dem anderen verbunden bleiben. Das Wesen zerfiel in zwei Hälften. Das Gleichgewicht, das die Natur so mühsam geschaffen hatte, war damit ebenfalls zerstört.«

Der Mann trank wieder in kleinen Schlucken. Anne war wie hypnotisiert. Sie wollte die Geschichte weiter hören. Der Fremde schien jedoch keine Eile zu haben.

Anne wollte nicht unhöflich sein, aber sie konnte ein »Wie ging es weiter?« nicht zurückhalten.

»Oh! Verzeihen Sie, ich bin in Unterhaltungen dieser Art nicht sehr geübt.«

Anne war das ziemlich egal, er sollte nur fortfahren.

Endlich ging die Geschichte weiter: »Nun, wenn etwas zusammengehört, kann es nur zusammen überleben. Schnell war klar, dass die Einheit des Wesens wiederhergestellt werden musste, damit die beiden Teile des Wesens überleben konnten. Allerdings konnte man die beiden Teile nicht einfach wieder zusammenfügen, zu groß war der Riss zwischen ihnen. Deshalb musste man einen anderen Weg finden, die beiden wieder zu vereinen. So kam es, dass schließlich der Mensch das Bindeglied zwischen den beiden wurde. Er nahm beide Teile in sich auf und war fortan eine Art Gefäß für das zweigeteilte Wesen. Das ist die Geschichte.«

»Das ist die Geschichte?« Anne war enttäuscht und sprach lauter als beabsichtigt: »Aber was ist das für ein Wesen? Was sind das für zwei Teile? Außerdem will ich nicht noch mehr in mir tragen.«

Der Mann lächelte: »Aber die Menschen tragen das Wesen – beziehungsweise seine beiden Teile – seit Ewigkeiten in sich. Sie wissen doch genau, von was wir sprechen. Nicht wahr, Anne?«

Das war das erste Mal, dass er sie bei ihrem Vornamen nannte, obwohl sie sich sicher war, dass sie sich nicht vorgestellt hatte.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe und überlegte: »Vielleicht ist der Fremde ein Arzt. Vielleicht ein Psychiater, den der Große Rat geschickt hat, um mich behutsam zu testen.« Sie dachte an die letzte Anhörung. Am Ende würden die Räte dann sagen, dass sie nicht normal sei ... Anne wusste daher nicht, ob sie dem Fremden vertrauen konnte und wollte lieber nichts dazu sagen.

Der Fremde stöhnte: »Ich bin nicht dein Feind, Anne, ich möchte dir helfen.«

»Bis jetzt merke ich davon aber nichts«, maulte Anne, der auch auffiel, dass der Fremde nun zum vertraulichen ›Du‹ übergegangen war.

Er musste erneut lächeln: »Du hast recht, vielleicht sind die Dinge doch nicht so klar für dich, wie ich dachte. Schön, du hast offensichtlich einen Teil des Wesens bereits kennengelernt. Ich nehme an, es hat sich dir vorgestellt?«

Anne nickte, der Mann fuhr fort: »Du hast Vanille gerochen, also gehe ich davon aus, dass du mit dem Gewissen gesprochen hast.«

Wieder nickte Anne, aber dieses Mal stellte sie noch eine Frage: »Was hat es mit dem Duft auf sich?«

Der Mann lächelte: »Ja, das ist ein schönes Phänomen. Das Gewissen nimmt den charakteristischen Duft seines Menschen an. Einen Duft, der den Menschen und sein Gewissen auf eine besondere Art miteinander verbindet. Ich denke, Vanille hat für dich irgendeine Bedeutung?«

Anne nickte wieder. Sie liebte den Duft von Vanille. Schon als Kind war das so gewesen. Sie konnte diesen Duft unter hundert anderen herausriechen. Es war der Duft, mit dem sie tiefes Glück und inneren Frieden verband. Jetzt nickte auch Annes Gegenüber.

Dann seufzte er: »Ich denke, du hast bereits eine Ahnung, mit wem das Gewissen vor Urzeiten eine Einheit gebildet hat?«

Anne hatte eine Befürchtung, wollte sie aber nicht aussprechen. Als könnte er ihre Gedanken lesen, sprach er weiter: »Ganz richtig, der zweite Teil der Einheit ist die Boshaftigkeit.«

Jetzt war es gesagt, und Anne fühlte sich schrecklich. Das Gewissen in sich zu beherbergen, war in Ordnung, aber die Boshaftigkeit? Bei diesem Gedanken wurde ihr schlecht.

»Denke nicht darüber nach, Anne, das ist eine ganz natürliche Gegebenheit. Die Existenz des Gewissens wird erst sinnvoll, wenn es ein Gegengewicht hat. Jeder Mensch hat ein Gewissen, kann aber zuweilen auch boshaft sein. Das eine schließt das andere nicht aus. Zerbrich dir nicht den Kopf über Dinge, die unabänderlich sind.«

»Aber warum schmeißt das Gewissen die Boshaftigkeit nicht einfach raus?« Anne wusste, dass das eine unglückliche Formulierung war, aber ihr fiel keine bessere ein.

»Die Antwort liegt in der Frage. Ein Gewissen handelt nicht so, es schmeißt niemanden hinaus.«

»Aber ich handle so, ich kann sehr wohl jemanden rausschmeißen.«

Jetzt lachte der Mann auf. Es war ein helles, fröhliches Lachen: »Bravo, Anne, das ist die richtige Einstellung. Du kannst natürlich gegen die Boshaftigkeit in dir angehen. Du kannst sie bekämpfen und klein halten. Niemand zwingt dich, boshaft zu sein, das ist alleine deine Entscheidung.«

Anne war nicht zufrieden mit der Antwort: »Also bleibt wieder die ganze Arbeit an mir hängen?«

Der Mann lachte erneut: »So ist es. Aber dein Gewissen hilft dir natürlich dabei, wenn du das zulässt. Denn eines ist dir sicher klar: die beiden kämpfen ständig um die Vorherrschaft.«

Anne hatte plötzlich einen Einfall: »Wie hängt das Ganze mit den Einäscherungen zusammen? Das Gewissen ...«– Anne kam es komisch vor, über das Gewissen als Person zu sprechen – »... hat mir erzählt, dass es keinen Einfluss auf die Einäscherungen nehmen kann, aber eigentlich sind die Einäscherungen doch eine Folge der Boshaftigkeit? Zumindest hatten wir das bisher angenommen. Aber wenn die Boshaftigkeit dafür verantwortlich ist, dann zerstört sie sich doch mit der Einäscherung selbst. Warum sollte sie das tun? Das verstehe ich nicht.«

Der Mann sah sie einen Moment lang an, wieder nippte er an seiner Tasse. Annes Ungeduld wuchs, und sie hätte ihm die Tasse jetzt am liebsten aus der Hand gerissen und selbst auf einen Zug ausgetrunken, damit er endlich weitersprach: »Geduld ist nicht deine Stärke, Anne. Wieder liegt die Antwort in der Frage. Sicher hat dir das Gewissen schon erzählt, wie der Mensch in der Traurigen Zeit immer mehr der Boshaftigkeit die Vorherrschaft überließ. Ich persönlich vermute, dass die Boshaftigkeit so stark werden kann, dass sie auf dem Gipfel der Gemeinheit eine Art Explosion auslöst, also das, was du die Einäscherung nennst. Das kann ich dir aber nicht mit Bestimmtheit sagen. Eines ist jedoch sicher: Die Boshaftigkeit wird nicht einen Gedanken an ihr eigenes Schicksal verschwenden. Wir reden über die Boshaftigkeit. Es ist nicht ihre Natur, zu retten, sie ist nur boshaft. Selbst wenn sie sich dabei selbst zerstört. Du verstehst also die Angst des Gewissens.«

Anne verstand. Sollte die Einäscherung nicht mehr funktionieren, würde die Boshaftigkeit wieder an Boden gewinnen. Anne stellte sich die Boshaftigkeit als eine gedrungene schwarze Gestalt vor, die zusammengekauert in einem Winkel von Annes Körpers saß und mit einem diabolischen Grinsen auf bessere Zeiten hoffte. Zeiten ohne Einäscherung. Das Gewissen sah die Dinge wie Anne. Was kein Wunder war, da es sich schließlich um ihr eigenes Gewissen handelte. Es würden schlimme Zeiten anbrechen, wenn es eine Möglichkeit geben würde, die Einäscherung zu umgehen.

»Aber inwieweit soll mir das helfen?« Anne sah den Fremden fragend an.

Wieder lächelte er: »Es hilft immer, die Wahrheit zu kennen. Du musst daran denken, dass es das Eine ohne das Andere nicht gibt. So ist es immer schon gewesen. Lass dich daher nicht täuschen.«

Anne verstand, zumindest zum Teil. Der Fremde gab ihr also zu verstehen, dass grundsätzlich jeder in der Lage war, schlimme Dinge zu tun. Das wusste sie eigentlich. Hatte sie das bisher zu wenig beachtet? Kam sie deswegen der Lösung des Falles nicht näher, weil sie Menschen als Täter ausschloss, die sie zu einseitig betrachtete? Weil sie in ihnen nur das Gute, das Gewissen sah? Konnte sie Frank Wall wirklich ausschließen? Was wusste sie eigentlich von Nigel O’Brian?

Sie vertraute blind den Menschen um sich herum. Sie hatte keine Zweifel an Sergeant Milton, Rabea oder Doktor Masters. Selbst Sheriff Rose, die sie eben erst kennengelernt hatte, war ihr ans Herz gewachsen. Sie sah die Lordens als Opfer, ebenso wie Paul Grey. Aber waren sie wirklich Opfer? Was war mit Mildred und Katie? Was war mit Misses Wong, die sie nicht einmal besonders mochte, aber trotzdem für einen guten Menschen hielt? Machte Anne sich die ganze Zeit etwas vor und schätzte die Menschen um sich herum falsch ein? Oder säte der Fremde, der aussah wie eine Waage im absoluten Gleichgewicht, nur Misstrauen, um sie zu verunsichern?

 

Plötzlich spürte sie einen unsanften Ruck an der Schulter. Sie schreckte auf, dann hörte sie eine fremde Stimme: »Geht es Ihnen gut?«

Anne öffnete die Augen. War sie etwa eingeschlafen?

Sie sah in das Gesicht einer jungen Frau, es war die Betreiberin der Kantina, die jetzt erneut sprach: »Ich wollte Sie nicht stören, ich dachte nur, Ihnen fehlt etwas.« Die Frau schien verlegen.

Anne riss sich zusammen: »Oh! Nett von Ihnen. Ich denke, ich bin eingenickt. Hatte eine anstrengende Woche. Sagen Sie, hat mein Begleiter irgendeine Nachricht für mich hinterlassen?«

Die junge Frau blickte auf den Tisch. Anne folgte ihrem Blick. Erstaunt stellte sie fest, dass nur eine Tasse dastand. Hatte sie etwa alles nur geträumt?

Die junge Frau antwortete freundlich. »Oh, hier war so viel los, eine Nachricht hat mir auf jeden Fall niemand gegeben. Vielleicht kommt ihr Freund noch mal zurück.«

Anne kam sich nun dumm vor, die Frau hielt sie sicher für ein wenig verdreht. Es war offensichtlich, dass die Kantina-Betreiberin ihre Zweifel an der Existenz eines Begleiters hatte. Als Anne zur Uhr sah, erschrak sie. Die anderen würden sicher schon auf sie warten. Also verabschiedete sie sich freundlich von der Wirtin und verließ schnell die Kantina. Als sie wieder auf der Straße war, geisterte eine weitere Frage durch Annes Kopf. Was hätte sie wohl gerochen, wenn sie ihrer eigenen Boshaftigkeit begegnet wäre?

 

Anne war etwas außer Atem, als sie im »Badezimmer« ankam. Es war mittlerweile später Nachmittag, und das Lokal war fast leer. Sie sah die anderen an einem Tisch in der Ecke. Die Stimmung war gedrückt. So, wie es aussah, hatte Doktor Masters dem Sergeant gerade von Katie erzählt. Anne warf einen fragenden Blick in die Richtung des Doktors.

»Ich werde versuchen, den behandelnden Arzt von Katie zu erreichen. Momentan ist sie bei Peter und Sebastian in guten Händen. Und auch Misses Wong kümmert sich hervorragend um Katie.«

Der Doktor wandte sich wieder an den Sergeant und blickte in dessen trauriges Gesicht. Er hatte so etwas während seiner Laufbahn als Mediziner auch noch nicht erlebt, und das bereitete ihm Sorgen. Katie verhielt sich vollkommen irrational. Für Frauen der Neuen Welt war es schwierig, schwanger zu werden. Wenn es dann gelang, waren sie glücklich und erleichtert. Katie hingegen schien gehetzt und angespannt. Sie konnte ihre Schwangerschaft nicht genießen, obwohl sie keine körperlichen Beschwerden hatte. Der Doktor vermutete ein seelisches Leid. Das würde einiges erklären. Sebastian hatte ihm von Katies extremen Stimmungsschwankungen erzählt. Was war nur los mit dieser jungen Frau?

Doktor Masters war mehr als beunruhigt, am liebsten hätte er sie in das Krankenhaus gebracht. Aber Katie hatte sich so vehement geweigert, dass er ihr deswegen nicht weiter hatte zusetzen wollen. Vorerst war sie gut versorgt, mehr wollte der Doktor dem Sergeant nicht mitteilen. Er war froh, dass er ihn davon überzeugen konnte, momentan von einem Besuch bei seiner Frau abzusehen. Vielleicht würde sich alles klären, wenn er erst einmal mit Katies Arzt gesprochen hatte.

Nigel hatte nicht viel dazu gesagt. Er hatte seinem Freund kurz die Schulter gedrückt. Nigel O’Brian sah, wie unglücklich der Sergeant über diese Entwicklung war. Meistens hatte er diesen verzweifelten Ausdruck in den Augen von Frauen gesehen. Er, der stets das Opfer in ihnen sah, das es zu beschützen galt, tat sich heute schwer, Katie nicht zu verurteilen. Aber spielte es denn überhaupt eine Rolle, wer wen verletzte? War die Tatsache, dass Menschen sich gegenseitig solch einen Schmerz zufügen konnten, nicht das eigentliche Problem?

Er nahm sich zumindest vor, künftig nicht mehr alle seine Geschlechtsgenossen als rücksichtslose Bestien zu sehen. Diese Haltung war ungerecht, denn Verletzlichkeit war keine Frage des Geschlechtes. Er sah den Freund neben sich und dachte an seine eigenen Gefühle für Anne. Er war wütend auf sie, weil sie sich so leichtsinnig verhalten hatte. Natürlich hütete er sich davor, diesen Gedanken vor Anne auszusprechen. Obwohl er durchaus Lust dazu hatte. Wo war sie die ganze Zeit gewesen? Hatte ihr der Angriff von heute Morgen nicht gereicht?

Nigel war allerdings lange genug auf der Welt, um zu wissen, dass er aus dieser Diskussion nicht als Sieger herausgehen würde. Er besann sich deshalb auf die Kunst des Schweigens, die seiner Meinung nach nur Männer wirklich beherrschten.

Eine ganze Weile schwiegen alle. Erst als ein freundlicher Kellner etwas zu Essen brachte, kam das Gespräch wieder in Gang. Nigel und der Doktor hielten sich nicht zurück, und der Küchenchef, der die nächsten Speisen brachte, hatte deshalb ein zufriedenes Grinsen auf seinem kantigen Gesicht. Anne und der Sergeant stocherten nur lustlos in ihren Tellern, obwohl alles ausgezeichnet schmeckte.

Trotzdem schien es, als ob das Essen helfen würde, neue Kraft zu schöpfen, und Anne konzentrierte sich wieder auf die Ermittlungen. Ihr war klar, dass sie keine positive Antwort erhalten würde, sonst hätten die beiden längst etwas gesagt, trotzdem musste sie fragen: »Habt ihr irgendetwas gefunden?«

Der Sergeant gab sich einen Ruck und sah sie an: »Nein, Chief-Sergeant, nichts. Wir haben das ganze Haus der Lordens auf den Kopf gestellt. Das Gleiche im Büro. Keine Spur von irgendwelchen Schriftstücken, keine Spur von irgendwelchen Kapseln oder Tabletten. Lediglich ein paar harmlose Mittelchen gegen Erkältung und Kopfschmerzen. Keine Tütchen mit Aufschriften. Nichts!«

Der Sergeant klang frustriert, als er weitersprach: »Wir müssen an einer anderen Stelle suchen.«

Wenigstens würden ihn die Ermittlungen von seinen Sorgen um Katie ablenken. Er sagte zu Anne: »Dieser Originalhinweis muss doch irgendwo sein ... Vielleicht hat er ihn doch vernichtet?«

Anne war sich ihrer Sache sicher: »Das hat er nicht getan. Niemals. Das würde nicht zu ihm passen. Dave war der Meinung gewesen, dass es etwas Unrechtes gegeben hat. Und deshalb hat er Ermittlungen angestellt. Ich bin mir sicher, dass er den Hinweis irgendwo versteckt hat.«

Der Doktor unterbrach sie mit vollem Mund: »Könnte es sein, dass er bei dem Notar einen ›Letzten Brief‹ hinterlegt hat?«

Anne sah den Doktor erstaunt an: »Natürlich, das ist eine Möglichkeit, da hätte ich aber auch selbst drauf kommen können. Wir müssen gleich ...«

»Nicht nötig!« Das kam von Nigel, der Annes fast vollen Teller mit seinem leeren tauschte und dabei eine Kopfbewegung Richtung Sergeant Milton machte. Der sah Anne an und nickte: »Wir waren, bevor wir in die Spielwelt gekommen sind, noch im Notariat. Nachdem unsere Durchsuchungen so erfolglos verliefen, schien es mir eine gute Idee.«

Anne bestätigte das: »Das war es auch. Gute Arbeit. Was habt ihr gefunden?«

»Was denkst du denn?«, sagte Nigel schnippisch, der sich immer noch über Annes einsames Herumstreifen in der Spielwelt ärgerte.

Sie sah ihn an und machte eine Grimasse in seine Richtung, die er allerdings nicht bemerkte.

Dafür lachte Doktor Masters auf: »Ihr beiden erinnert mich an ein altes Ehepaar.«

Anne warf dem Doktor einen entsprechenden Blick zu, dem Doktor Masters geschickt auswich, indem er sich umständlich ein paar Kartöffelchen von der Beilagenplatte nahm.

Sergeant Milton antwortete Anne: »Der Notar wollte erst nichts sagen wegen der Vertraulichkeit und so weiter. Als ich ihm dann gesagt habe, wie wichtig das wäre, gab er nach. Er ist alles zweimal durchgegangen – ohne Ergebnis. Weder Dave noch Joseph Lorden haben irgendetwas bei ihm hinterlegt. Da wir schon mal dort waren, habe ich ihn auch gebeten nach ›Letzten Briefen‹ von Karl Hobnitz, Marie White und zur Sicherheit auch von Paul Grey zu suchen – ebenfalls Fehlanzeige.«

Anne fluchte. Dann fiel ihr etwas ein: »Wir sollten noch einmal in Marie Whites Wohnung gehen.«

Nigel sah auf: »Du denkst, er hat den Hinweis Marie gegeben? Das glaube ich nicht.«

Anne blickte ihn an: »Ich auch nicht.«

Sie dachte an den kindlichen Brief, den Marie an Nigel geschrieben hatte. Nein, Marie war sicher nicht die Frau, mit der Dave solch eine Sache ausführlich besprochen hätte. Ganz sicher hätte er sie nicht darum gebeten, ein Beweisstück für den Fall zu verwahren, dass ihm etwas zustoßen würde.

Anne sprach erneut: »Ich denke nicht, dass er ihr etwas gegeben hat, aber vielleicht hat er etwas bei ihr versteckt.«

»Du denkst, sie besaß etwas und wurde deshalb ermordet?« Nigel schien diesen Gedanken für abwegig zu halten.

»Ich weiß es nicht, aber wir sollten trotzdem noch einmal Marie Whites Wohnung durchsuchen. Und zwar gründlich.«

 

Sie waren nun bereits seit drei Stunden in Marie Whites Wohnung. Draußen wurde es langsam dunkel. Sie waren müde und schlecht gelaunt, weil sie einfach nicht weiterkamen. Die Freundlichkeiten untereinander nahmen ab, während die Spitzfindigkeiten zunahmen.

Nach einer weiteren Stunde ließ sich Anne genervt auf das Sofa fallen. Sie erinnerte sich an den Abend, als sie mit Nigel hier gewesen war. Damals hatte sie sich die Frage gestellt, ob sie mit Freund oder Feind zusammensitzen würde. Nach ihrer heutigen »Halluzination«, wie sie ihre Begegnung mit dem Fremden nannte, war sie verunsichert. Konnte sie sicher sein, dass Nigel ihr Freund war? Sie empfand für ihn weit mehr als Freundschaft. War sie deshalb blind für die Wahrheit? War er wirklich ein guter Mensch?

Er hatte diesen Fehler mit dem Umschlag gemacht. Doch war dies wirklich ein Fehler gewesen? Oder hatte er alles geplant? Keiner wusste genau, wann Nigel hier angekommen war – hätte er die Morde begehen können? Gab es zwischen ihm und »Burnout« eine Verbindung? Anne hatte die Narben an seinem Körper gesehen. War er vielleicht einmal Soldat gewesen? Er konnte kämpfen, kannte sich mit Waffen aus, war ein bekennender Systemgegner.

Nigel spürte ihren Blick und sah sie an. Er lächelte, und ihr Herz machte einen Sprung. Sie würde vor Kummer sterben, wenn Nigel etwas mit den Morden zu tun hätte. Um diesen Gedanken los zu werden, stürzte sich ihr Verstand auf Doktor Masters. Ihn kannte sie schon ewig. Er war kein junger Mann mehr. Allerdings nicht zu alt für böse Taten. Dafür konnte man nie zu alt sein. Was wäre sein Motiv gewesen? Hatte es etwas mit der Wissenschaft und ihren Forschungen zu tun? Aber das war absurd.

Der Doktor brauchte drei Tage, um seinen Kutschbock zu besteigen, wie hätte er da in die Felsenbucht klettern können, um den Sergeant anzugreifen? Außerdem war der Angreifer am Krankenhaus gelenkig gewesen. Der Sergeant und Frank Wall schieden sowieso aus. Keiner von beiden konnte der Angreifer mit dem Messer gewesen sein. Vielleicht gab es aber auch mehr als einen Täter, Komplizen zum Beispiel? Bei dem Gedanken daran fing Annes Kopf an zu dröhnen. Das wäre ja furchtbar.

Glücklicherweise wurde sie von Sergeant Milton, der sich neben sie auf das Sofa fallen ließ, aus ihren Gedanken gerissen. Er sagte nichts, sondern durchstöberte die auf dem Tisch vor ihnen aufgetürmten Rätselbücher. Der Sergeant nahm sich einen Stapel vor und schüttelte jedes Buch gründlich aus, dann blätterte er auch noch durch die Seiten. Anne sah ihm kurz zu und nahm sich dann den anderen Stapel vor. Zumindest für ein Schriftstück war so ein Buch kein schlechtes Versteck. Unter dem Tisch gab es weitere kleine Stapel dieser Bücher.

Jetzt setzten sich auch Doktor Masters und Nigel zu ihnen, und sie durchforsteten zusammen Buch für Buch. Es war Sergeant Milton, der es entdeckte. Wie elektrisiert starrten alle darauf. Im unteren Teil seines Stapels lag ein kleines Büchlein. Es war in ein Geschenkpapier eingeschlagen, und darauf stand: »Für Marie, erst am Geburtstag öffnen!«

Anne war angespannt, sie blickte zu Nigel. Ohne dass sie die Frage ausgesprochen hatte, antwortete dieser: »Erst in fünf Monaten.«

Sie sahen sich an.

»Wieso hätte ihr jemand jetzt schon ein Geschenk geben sollen? Und warum war es in einem Bücherstapel versteckt?« Der Sergeant hatte die richtigen Fragen gestellt.

Jetzt kam Bewegung in das kleine Grüppchen.

»Los, los, aufmachen!« Anne war hellwach.

Der Sergeant riss das Papier auf. Es war ein Rätselbuch wie die anderen. Mit allen möglichen Arten von Denksportaufgaben. Der Sergeant schüttelte das Buch – nichts! Dann fing er an, darin zu blättern. Schon nach zwei Seiten hielt er inne. Er sah mit großen Augen und offenem Mund zu Anne. Dann reichte er ihr das Buch. Anne las die Zeilen, und ihr blieb fast das Herz stehen. Was hatte das zu bedeuten?

»Himmel noch mal, macht endlich den Mund auf, was habt ihr gefunden?« Doktor Masters hätte Anne das Buch am liebsten aus der Hand gerissen.

Anne schluckte und räusperte sich, dann las sie vor:

 

Marie, ich hoffe, du wirst dein Glück finden.

Ein Rätsel habe ich extra für dich hinterlassen:

 

»Sie können dich sehen, und du kannst sie sehen. Du musst sie aber erst erkennen, denn sie sind zwei von vielen. Das Rätsel ist gelöst, wenn das Puzzle zusammengefügt wurde. Dann zeig es Nigel O’Brian, ihm wird es gefallen.«

 

In Liebe

Dave

 

Im Zimmer war es totenstill.

Nigel sprang auf: »Was?« Seine Stimme klang etwas schrill: »Da steht mein Name?« Er kam zum Sofa und griff unsanft nach dem Buch. Er las die Zeilen und schüttelte den Kopf. »Ich habe den Typen überhaupt nicht gekannt. Alles, was ich von ihm wusste, war das, was mir Marie über ihn geschrieben hat. Anne, ich habe dir ihren Brief gegeben.«

In Nigels Gesicht konnte man Panik erkennen. Der Sergeant fragte sich, worüber sich Nigel so aufregte. Er hatte auch die Veränderung bei Anne bemerkt.

Er sah sich genötigt nachzufragen, es schien fast, als wäre ihm etwas entgangen: »Und was ist da jetzt so schlimm daran? Dave wusste von dir. Ich nehme an, Marie hat ihm von ihrem besten Freund erzählt. Du bist von außerhalb und kannst kaum etwas mit der Sache zu tun haben. Marie hat dir vertraut, und Dave wusste sicher auch, dass du ein Zweifler bist. Zu wem sonst hätte er Marie mit dem Hinweis, den wir übrigens immer noch nicht haben, schicken sollen?«

Dann zögerte er kurz, und ihm wurde plötzlich klar, was Nigel und Anne bewegt hatte. Also fügte er noch einen Satz an: »Er würde sie kaum mit dem Hinweis zu jemandem schicken, den er für nicht vertrauenswürdig oder gefährlich halten würde.«

Anne atmete aus. Sie hätte den Sergeant am liebsten vor Erleichterung umarmt, riss sich aber zusammen. Sie wollte nicht, dass Nigel merkte, dass sie an ihm gezweifelt hatte. Natürlich, warum sollte Dave Lorden gewollt haben, dass Marie zu Nigel gehen würde, wenn er ihn für einen Verbrecher gehalten hätte?

Gleich darauf kam ihr aber ein anderer Gedanke. Was aber, wenn Dave sich geirrt hatte? So, wie er sie fälschlich verdächtigt hatte, hätte er Nigel auch irrtümlicherweise für unschuldig halten können. Anne verwünschte ihre Erinnerung an die Unterhaltung mit dem Fremden. Er hatte sie tatsächlich dazu gebracht, dem Menschen, den sie liebte, mit Misstrauen zu begegnen.

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hörte sie Doktor Masters Stimme: »Wir müssen dieses Rätsel lösen, was soll das denn heißen ›... Sie sind zwei von vielen ...‹, da wird ja keiner schlau draus.«

Anne gab dem Doktor im Stillen Recht. Sie fragte sich, ob Marie das Rätsel hätte lösen können. Dann stand sie auf. »Ich denke, ich suche uns etwas zu trinken, und dann sollten wir schleunigst das Rätsel lösen.«

Damit verschwand sie in die Küche und gab Nigel im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange. Sie wollte nicht an ihm zweifeln, und das sollte er auch wissen. Er verstand die Geste und entspannte sich merklich. Zwischenzeitlich hatte es Mitternacht geschlagen. Die vier waren müde – und keinen Schritt weiter.

Anne hatte wieder ihren Platz auf dem Sofa eingenommen. Das Buch war der noch fehlende Beweis für die Beziehung zwischen Dave und Marie. Sie waren sich einig, dass Dave das Buch für den Fall seines Todes bei Marie deponiert hatte. Dafür sprachen die Formulierungen. Er wünschte ihr Glück und schrieb, dass er ihr ein Rätsel »hinterlassen« hätte. Das klang fast wie ein Testament. Das Rätsel selbst konnten sie noch nicht lösen. Anne warf den Kopf zurück und starrte geradeaus. Sie rieb sich die müden Augen. Am Schrank gegenüber war die Porträtecke, die sich Marie eingerichtet hatte. Anne legte den Kopf schräg.

Plötzlich sprang sie auf und rief aufgeregt: »Ich hab’s! Ich hab’s!« Ihre Wangen röteten sich. Ihr Puls fing an, schneller zu schlagen. Sie stürmte auf die andere Seite und drehte sich triumphierend um: »Die Porträtecke!«

Ihre Stimme war jetzt laut vor Aufregung. Sergeant Milton dachte an die Kostprobe ihres Organs, die er bei dem Überfall auf Anne hinter dem Krankenhaus erhalten hatte. Dann versuchte er ihrer Logik zu folgen.

»Anne, sag schon!« Das war wieder der Doktor.

Alle drei sahen sie erwartungsvoll an.

Anne grinste: »Na, das Rätsel. Was kann ich sehen, und was kann mich sehen?« Sie sprach schnell: »Na, die Fotos! Die können das! Hier steckt irgendwo der Hinweis. Hier in der Porträtecke!«

Die anderen hatten verstanden. Behutsam fingen sie an, die Bilder abzumachen. Marie hatte immer wieder, je nach Laune, neue Bilder obenauf geklebt. Das war bei Porträtecken nicht ungewöhnlich. Also mussten sie die übereinander geklebten Schichten auf dem Schrankuntergrund voneinander lösen. Vermutlich hatte Dave den Hinweis irgendwo dazwischen gesteckt.

Es dauerte nicht lange, da fiel dem Sergeant etwas auf: »Ich glaube, ich habe etwas!«

Die anderen umringten den Sergeant.

»Sehen Sie mal, das Bild hier, es sieht aus, als wäre es irgendwo abgerissen worden. Und jetzt sehen Sie die anderen an.«

Der Sergeant hatte recht. Während die anderen Bilder der Porträtecke saubere Ränder hatten, war dieses hier an einer Seite ausgerissen. Sie rückten alle ein bisschen näher.

»Drehen Sie es«, sagte Anne aufgeregt.

»Wir haben den Hinweis gefunden!«, rief Doktor Masters aus.

Auf der Rückseite des Fotos stand: »…nout-gefährlich« Unten in der Ecke fanden sie die gut lesbare Unterschrift von Paul Grey.

»Das ist die erste Hälfte – hoffentlich hat er den anderen Teil auch hier versteckt!«, sagte der Sergeant, der bereits fieberhaft dabei war, die Bilder der Porträtecke weiter zu durchforsten.

Dieses Mal war es Nigel, der ausrief: »Ich hab’s!«

Sie hatten den zweiten Teil des Fotos gefunden. Sie fügten die beiden Teile zusammen und auf der Rückseite erschien: »Anne Reeve – Burnout – gefährlich«, darunter die Unterschrift von Paul Grey. Oben links war der Umriss einer Weltkugel abgebildet. Es sah aus wie Gekritzel. Irgendwer hatte grob die Kontinente eingezeichnet und wahllos ein paar Kreuze darauf verteilt.

»Was bedeutet die Weltkugel?«, fragte Doktor Masters.

Nigel antwortete ihm: »Vielleicht das Zeichen des Fotografen, wundert mich aber, dass das von Hand gemacht wurde. Sieht zumindest nicht wie ein Aufdruck aus.«

Der Sergeant sah konzentriert auf das Schriftstück. »Könnte auch wirklich nur zufälliges Gekritzel sein.«

Anne schien ihnen nicht zuzuhören. Sie war unsicher, doch dann ging ihr ein Licht auf: »Geben Sie her!«

Ungeduldig griff sie nach den zwei Hälften und drehte sie um. Dann fügte sie sie wieder zusammen. Vor ihnen lag jetzt eine Fotografie.

Anne trat ein Stück zurück und sagte voller Zufriedenheit: »Das ist der eigentliche Hinweis!«

Die anderen blickten auf die Fotografie, dann wurde auch ihnen klar, was da vor ihnen lag.

 

So hatte sich Sheriff Rose ihre Vertretungszeit wirklich nicht vorgestellt. Sie hatte soeben ihren Ermittlern nicht nur grünes Licht für eine Befragung gegeben, nein, sie hatte auch für alle Fälle die Erlaubnis für eine Verhaftung erteilt. Sie dachte an die betretenen Gesichter der anderen. Die Wahrheit, die sie glaubten gefunden zu haben, war für alle schmerzlich gewesen. Sicher gab es noch die Hoffnung, dass sie sich alle getäuscht hatten, aber es war unwahrscheinlich. Sie kannten lediglich noch nicht alle Einzelheiten. Dann dachte sie an dieses Beweisstück, den »Originalhinweis«, wie es Anne Reeve genannt hatte. Sie dachte an die Worte »Anne Reeve – Burnout – gefährlich« auf der Rückseite der Fotografie und wie Dave Lorden daraus den Schluss gezogen hatte, dass Anne Reeve irgendwie bezüglich Paul Greys Tod verdächtig sein musste. Er hatte seine Notizen gemacht, in einen Umschlag getan und dann in seinem Haus versteckt.

Wann hatte er die Vorderseite, die Fotografie selbst, zur Kenntnis genommen? Anne Reeve hatte das Recycling verflucht. Sie war der Meinung, dass sich Dave Lorden über die Fotografie nicht im Klaren gewesen war. Er hatte wohl angenommen, dass Paul Grey einfach ein x-beliebiges Papier, in diesem Fall die Rückseite einer alten Fotografie, verwendet hatte, um darauf eine Notiz zu machen. Vermutlich hatte Dave Lorden nicht verstanden, dass das Gefährliche, das Paul Grey auf der Rückseite angedeutet hatte, nicht von Anne ausging, sondern von der Person auf der Vorderseite. Vielleicht hatte Dave aber gedacht, dass es sich umgekehrt verhalten würde. Hätte Anne die Fotografie gesehen, hätte sie sofort gewusst, wie der Hinweis von Paul Grey zu deuten gewesen wäre.

Armer Dave Lorden, armer Joseph Lorden. Sicher hätten sie die Wahrheit über kurz oder lang selbst herausgefunden, aber dafür war ihnen nicht mehr genug Zeit geblieben. Ob sie es im Moment ihres Todes gewusst hatten?

Sheriff Rose war nervös. Gleich würde Frank Wall hier sein, Nigel O’Brian hatte sich bereit erklärt, ihn zu holen. Es war unumgänglich, dass er dabei war, falls sein Gesundheitszustand es zulassen würde. Der Doktor hatte noch schnell eine Depesche aufgegeben, wollte dann aber auch gleich zurück sein.

Mildred lief nervös auf und ab. Sie weinte. Sheriff Rose hätte Paul Grey gerne persönlich kennengelernt. Ihm war es vermutlich gelungen, das Rätsel der Einäscherungen zu lösen. Oder hatte das Rätsel die damals zwölfjährige Mildred gelöst?

Vorhin im Büro waren sie alle aufgeregt gewesen. Sie hatten sich gefragt, was es mit diesem »Burnout-Fall« nun wirklich auf sich hatte. Da war Mildred ihre Kindheitserinnerung wieder eingefallen. Die junge Mildred, wie sie um ihren Vater Angst gehabt hatte, weil sie glaubte, die Einäscherung wäre die Folge der Burnout-Krankheit und würde durch Stress und Überarbeitung ausgelöst. Sie hatte sich an ihren Vater erinnert und daran, wie er auf ihre Gedanken reagiert hatte.

Es ergab langsam alles einen Sinn. Der Name »Burnout«, die Einäscherungen, das Militär, die Fotografie. Madeleine Rose dachte an die Fotografie. Auch sie hätte, ähnlich wie Dave Lorden, nicht gleich die richtigen Schlüsse gezogen.

Sie dachte an das Bild, an den Mann im weißen Kittel eines Wissenschaftlers. Um seinen Kopf hatte jemand, vermutlich auch Paul Grey, einen Kringel gemalt und das Wort »Vater!« daneben geschrieben. Im Hintergrund sah man den alten Militärstützpunkt. Neben dem Mann war das Kind. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.