16. In bester Absicht
Es war noch dunkel, doch bald würde der Tag anbrechen. Anne hatte diese Stufen so oft erklommen, stets mit Bewunderung für die schön angelegten Beete links und rechts der Treppe.
Sie klopfte. Es war ein schwerer Gang. So viel Zuneigung hatte sie diesem Haus entgegengebracht. Hier hatte sie viele glückliche Stunden verbracht. Hier hatte sie immer das Gefühl tiefer Freundschaft erlebt. Jetzt hatte dieses Gefühl einer tiefen Enttäuschung Platz gemacht. Anne fragte sich, ob die Enttäuschung auch eine Art Wesen war, das in ihrem Körper hauste, so wie die Boshaftigkeit und das Gewissen. Wenn ja, dann wüsste sie genau, dass dieses »Enttäuschungs-Wesen« jetzt laut weinend und schluchzend direkt in ihrer Brust sitzen würde. Vielleicht würde ihm das Gewissen zum Trost sanft über den Kopf streicheln. Sie ermahnte sich, was sollten diese Gedanken? Sie würden an den Tatsachen nichts ändern.
Endlich öffnete sich die Tür. Rabea wirkte heute fast so, als würde sie schweben. Das Kerzenlicht im Hintergrund brach sich in ihren blonden Haaren, und man hatte den Eindruck, es würde sie eine Art Heiligenschein umgeben. Sie wollte Anne anlächeln, bemerkte jedoch noch rechtzeitig, dass ein Lächeln fehl am Platze war. Sie sagte nichts, so, als hätte sie schon eine Ahnung. Anne stöhnte innerlich. Sergeant Milton war taktvoll zwei Stufen zurückgeblieben.
»Rabea …« Endlich brach Anne das Schweigen. «Ich muss dich bitten mitzukommen, du musst uns ein paar Fragen beantworten.«
Rabea wollte sich sträuben. Anne konnte das an ihrem sich verändernden Gesichtsausdruck erkennen. Sie griff deshalb in ihre Tasche und holte das zusammengeklebte Foto heraus. Wortlos zeigte sie es Rabea. Für eine Sekunde stand Panik in Rabeas Augen, dann hatte sie wieder den Gesichtsausdruck, den Anne so gut kannte und den man nicht deuten konnte.
Rabea folgte Anne und Sergeant Milton ohne Widerstand. In der Wache Süd brachte Anne sie in eines der alten Verhörzimmer des ehemaligen Militärstützpunktes. Dann legte sie das Foto vor Rabea auf den Tisch. Diese nahm es vorsichtig in die Hand und sah sich in Ruhe die Vorder- und Rückseite an, dann legte sie es zurück.
Kurz schwiegen beide, dann sprach Rabea: »Was weißt du über meinen Vater, Anne?« Rabea spuckte das Wort »Vater« fast aus.
»Er war kein Pfarrer bei der Armee, wenn du das meinst, ich denke, er war Wissenschaftler beim Militär.« Anne hatte keine Lust, lange um den heißen Brei herumzureden: »Deshalb hat sich für dich alles um dieses Foto gedreht. Das Foto, das Dave Lorden besaß, das ein kleines Mädchen mit einem Mann zeigt, im Hintergrund erkennt man den früheren Militärstützpunkt. Der Mann trägt die Kleidung eines Wissenschaftlers. Um seinen Kopf hat Paul Grey einen Kringel gemalt mit dem Vermerk ›Vater!‹. Als die Lordens das Foto in den Händen hielten, haben sie das Mädchen wohl nicht gleich erkannt. Ich denke, sie haben der Vorderseite zuerst keine Beachtung geschenkt.«
Anne dachte an den Verdacht, den Dave Lorden gegen sie selbst gehabt hatte. Davon erwähnte sie Rabea gegenüber aber nichts.
Die Präsidentin der Neuen Welt stöhnte auf: »Dieses Foto! Dieses verfluchte Foto!«
»Aber irgendwann haben sie dich erkannt. Joseph hatte offensichtlich schon lange eine Schwäche für dich. Ich denke mir, dass er daher relativ schnell bemerkt hat, dass du das Mädchen auf dem Bild warst. Du warst damals schon eine Schönheit. Wie alt warst du, als das Foto gemacht wurde? Vielleicht zwölf oder dreizehn? Als sie das Foto fanden, wussten wahrscheinlich weder Dave noch Joseph, was ›Burnout‹ überhaupt bedeutete. Aber sie hätten es sicher noch herausgefunden. Joseph war früher Journalist, er hätte also gewusst, wie man eine Recherche durchführt. Ich tat mich da schwerer. Dafür war für mich das Bild viel aussagekräftiger.«
Anne dachte daran, dass sie – im Gegensatz zu den Lordens – gleich die richtigen Schlüsse gezogen hätte. Sie hätte gewusst, dass Paul Grey in ihr keine Gefahr gesehen hatte und dass daher die Gefahr mit dem Foto zusammenhängen musste. Außerdem hätte sie gewusst, dass das Foto nicht zufällig als Notizzettel gedient hatte, sondern ein Teil des Hinweises war. Paul Grey hätte ihr nie etwas ohne Bedeutung zurückgelassen.
Anne fuhr fort, ihre Stimme klang angespannt: »Aber erst mit dem Hinweis ›Vater‹ entwirrte sich alles. Daddy war also nicht Pfarrer, sondern ein Wissenschaftler dieses Militärstützpunktes, und du hast somit über deine Vergangenheit gelogen. Damit folgt die nächste und interessanteste Frage – warum? Und warum spielte diese Lüge für Paul Grey eine Rolle? Er ist auf irgendetwas gestoßen, nämlich auf diesen verfluchten ›Burnout-Fall‹. Er führte Ermittlungen durch. Doch er erzählte niemandem etwas davon. Fast fünfzig Jahre nach seinem Tod taucht plötzlich ein Hinweis auf, der vermutlich für mich bestimmt war. Und dieser Hinweis steht ausgerechnet auf der Rückseite dieses Fotos.«
Anne drehte das Foto um, und Rabea las erneut, was auf der Rückseite stand, dann fuhr Anne fort: »Auch ohne genau zu wissen, was es mit dem ›Burnout-Fall‹ auf sich hat, kann man doch gewisse Rückschlüsse ziehen. Ich weiß zwar nicht, wie weit die Lordens mit ihren Untersuchungen gekommen sind, aber so, wie es aussieht, sind sie zumindest deinem Geheimnis zu nahe gekommen. Genauso wie Paul Grey damals. Was hat Paul getan?«
»Was er getan hat? Dieser Narr, er fand eine Art Akte über meinen Vater.«
Anne dachte sofort an Frank Wall. Hatte er ihnen nicht erzählt, dass die Bäckerei-Kette von manchen Firmenbossen oder wichtigen Mitarbeitern Dossiers angefertigt hatte? So hatten sie Gewohnheiten, Schwächen oder Vergehen der einzelnen Personen gekannt. Ein Wissen, dass sie dann je nach Bedarf zur gegebenen Zeit hätten einsetzen können. Möglichkeiten hätte es genug gegeben. Vielleicht hätten sie eines Tages Rabea entführt, um den Vater zu erpressen und so an weitere Forschungsergebnisse zu kommen. Dieses Dossier musste Paul Grey bei den Unterlagen für den »Bäcker-Fall« gefunden haben. Er hatte damit den Lebenslauf von Rabeas Vater in den Händen gehabt.
Anne blickte auf, als Rabea weitersprach: »Er kam angelaufen und wollte Antworten. Hatte Fotos – von mir und meinem Vater. Ich hatte davon keine Ahnung. Ich hatte diese Unterlagen noch nie zuvor gesehen. Paul Grey hat seine Nase überall hineingesteckt. Ich habe ihm dann verboten, weiter zu recherchieren.«
»Du hast es ihm verboten? Was soll das denn heißen? Warte … Du hast ihm gedroht? Was hast du ihm angetan?«
Anne blickte in Rabeas Gesicht. Als sie sprach, war sie weiß vor Zorn: »Du hast seine Familie, seine Tochter bedroht, deshalb hat er niemandem von seinen Ermittlungen erzählt. Und dann hast du ihn doch umgebracht. Sein Unfall war gar kein Unfall. Ich hatte immer Zweifel. Paul war stets sehr vorsichtig, vor allem, seit er Vater geworden war.«
Rabea stöhnte auf: »Das war ein Unfall. Ich wollte nicht, dass das passiert. Er ist gestürzt. Ich hatte an dem Tag nur noch einmal mit ihm reden wollen, ich wollte ihn davon überzeugen, dass es wichtig wäre, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich wollte ihn nicht töten. Er hatte mir die Fotos und Unterlagen über meinen Vater bereits alle ausgehändigt. Zumindest hatte ich das geglaubt. Offensichtlich hat er mich aber belogen und dieses Foto zurückgehalten. Er sollte schweigen, das war alles, was ich von ihm verlangt habe. Es war ...«, sie zögerte kurz, dann sagte sie gelassen, »... ein Unfall. Wir stritten uns. Er ist gestürzt. Das ist alles.«
Anne hätte Rabea am liebsten ins Gesicht geschlagen. Wie konnte sie dasitzen und ihre Unschuldsmiene auflegen? Aber es half nichts, sie musste jetzt endlich die Wahrheit erfahren. Zumindest lagen sie und Sergeant Milton richtig mit ihren Überlegungen. Paul Grey hatte es als Ermittler nicht fertiggebracht, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Gleichzeitig hatte er seine Familie nicht in Gefahr bringen wollen. Deshalb hatte er also beschlossen, einen Hinweis für Anne in Mildreds Schulakte zu hinterlegen. Er sollte dann erst nach Mildreds Tod gefunden werden. Anne konnte ihren Zorn kaum kontrollieren, aber wenn sie aggressiv vorgehen würde, dann würde sie verlieren.
Anne versuchte daher, ruhig zu bleiben: »Selbst wenn dein Vater militärische Forschung betrieben hat und kein Pfarrer war, ist das doch nicht deine Schuld. Und selbst wenn du, wie ich vermute, gegen die Einäscherung immun bist, dann ist das doch noch lange kein Grund, unschuldige Menschen umzubringen. Wie hängt das alles zusammen? Rabea, was ist oder war ›Burnout‹?«
Rabea lächelte hinterhältig: »›Burnout‹, ein klug gewählter Name. Im ersten Moment hätte jeder gedacht, dass es sich um die Krankheit und somit eventuell um eine Studie über Stressbewältigung handelt.«
Anne sah sie an: »Aber so war es nicht, oder?«
Rabea wandte kurz den Blick ab. Als sie zu sprechen anfing, war sie ganz ruhig: »Nein, das war keine Studie über Stressbewältigung. Ich denke, du weißt, was es war.«
Die Frauen sahen sich an. Es vergingen mehrere Minuten, in denen keine der beiden sprach.
Anne schluckte, sie hatte es bereits geahnt. Die Einäscherungen waren nichts anderes als die Folgen eines militärischen Experiments. Aber war dieses Experiment gelungen oder missglückt?
Rabea sprach dieses Mal mit einem sarkastischen Unterton: »Tja, so einfach ist es. Burnout war unser Ende und unser Anfang. Ein Virus, nichts weiter. Kein Gott, kein Teufel, keine Natur, kein Schicksal. Nein, nur der Mensch in seinem Laborkittel. Das enttäuscht dich, nicht wahr? Ich weiß, dass du dir eine andere Erklärung für die Aschentage gewünscht hättest. Mehr Strafe und weniger Zufall. Stimmt doch?«
Anne gab ihr keine Antwort, dafür hatte sie eine andere Frage: »Aber wer hat das ausgelöst? War das ein kriegerischer Akt, ein Angriff?«
Rabea wirkte ein wenig schuldbewusst, als sie antwortete: »Es war ein Unfall.«
Jetzt hob Anne die Brauen: »Ein Unfall? Noch einer? Wie kann so etwas ein Unfall sein? Das Burnout-Virus hat die ganze Welt infiziert!« Anne stockte. Sie sah kurz so etwas wie Schuld in Rabeas Augen aufblitzen. Was hatte Rabea mit dem Virus zu tun? Ihre nächste Frage kam intuitiv. Anne sah in Rabeas Gesicht und wusste es. Sie sprach mit Nachdruck: »Rabea, was hast du getan?«
Rabea sah auf. Sie wirkte jetzt gehetzt. Das erste Mal schien sie die Fassung zu verlieren: »Anne, ich schwöre dir, ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was ich auslösen würde.«
Anne blieb der Mund offen stehen. Rabea war verantwortlich?
Sie brachte keinen Ton heraus, aber das war auch nicht nötig, denn Rabea sprach hastig weiter: »Ich hatte die ganzen Forschungsunterlagen gelesen. Ich hatte die Testergebnisse und Analysen genau studiert. Nichts deutete darauf hin, dass das passieren könnte. Sie hatten bereits ein Gegenmittel produziert. Das Virus war so entwickelt worden, dass es gezielt eingesetzt werden konnte. Seine Struktur war vergleichsweise einfach. Im Falle eines Gefechtes sollten die eigenen Soldaten das Gegenmittel bekommen, während man den Gegner mit dem in der Luft freigesetzten Burnout-Virus infizieren würde. Nach genau dreißig Minuten würde das Virus seine Wirksamkeit verlieren, und die Schlacht wäre vorbei.«
Anne unterbrach sie: »Das sind dann definitiv die längsten dreißig Minuten, die ich kenne. Offensichtlich ließ sich das Virus überhaupt nicht steuern.«
Rabea sprach jetzt wieder ruhig weiter: »Das war genau das Problem. Das Virus wurde bis dahin nur unter Laborbedingungen getestet. Untersuchungen ergaben, dass die Tötungsabsicht eines Menschen eine bestimmte chemische Reaktion im Körper auslöst. Mein Vater wollte dort ansetzen. Er erschuf ein Virus, das den menschlichen Körper auf diese Reaktion hin durchsuchen konnte. Fand es keine entsprechenden chemischen Vorgänge, passierte nichts, und das Virus starb ab. Fand es allerdings die richtigen Voraussetzungen, löste das Virus im Körper die Einäscherung aus. Der Gegner sollte ein schnelles und schmerzloses Ende erfahren. Innerhalb von Sekunden sollte ein hohes Fieber zum völligen Versagen der Körperfunktionen führen. Als ich durch Zufall auf die Forschungen meines Vaters gestoßen bin, hatten wir einen wahnsinnigen Streit. Ich bin immer so stolz auf ihn gewesen. Ich dachte, er wäre ein großer Arzt, er würde kranke Menschen retten. Ich dachte, er wäre ein Patriot, der die seelischen und körperlichen Verletzungen unserer Soldaten heilt.
Deshalb hatte auch ich keinerlei Verdacht, als ich das erste Mal auf den Begriff ›Burnout-Projekt‹ stieß. Ich war meist nur in den Ferien auf dem Stützpunkt. Die übrige Zeit war ich in Internaten und später an der Uni. Als ich herausfand, dass mein Vater biologische Waffen entwickelte, brach für mich eine Welt zusammen. Mein Vater verstand nichts von dem, was ich ihm sagte. Er sprach davon, dass er die Kriegsführung mit dem Virus revolutionieren würde. Keine Atomwaffen mehr. Keine unschuldigen Opfer. Wer bereit war, zu töten, würde sterben. Wer seine Waffe abgab, würde leben.
Ich war so wütend und habe ihn angeschrien: ›Revolution der Kriegsführung, hörst du dir manchmal noch selbst zu? Es gibt nur eine Revolution der Kriegsführung, und die besteht darin, diese komplett einzustellen. Und von schmerzlos kann wohl kaum die Rede sein bei einem innerlichen Verbrennen. Wie kannst du bei so etwas mitmachen? Biologische Waffen sind das Schlimmste, was es gibt. Ich dachte immer, du verabscheust den Krieg, und du bist nur hier, um den Soldaten zu helfen. Aber durch deine Waffe wirst du für ihr Leid mit verantwortlich sein.‹ Er wollte davon nichts hören und meinte, er würde schließlich unseren Soldaten helfen. ›Du hast einen Eid geleistet, Leben zu retten, mit dieser Forschung hast du ihn gebrochen.‹ Das waren meine letzten Worte an meinen Vater. Später verschaffte ich mir Zutritt zu seinem Labor. Das war für mich keine schwierige Sache. Ich entdeckte die Proben und nahm sie an mich. Eine Spritze mit dem Gegenmittel und ein Reagenzglas mit dem Burnout-Virus.
Mein Plan war es, sie beide einer der Menschenrechtsorganisationen zu übergeben. Ich dachte, ich hätte an alles gedacht. Aber das hat man ja nie, nicht wahr? Auf jeden Fall stoppten sie mich. Mein Vater stand bei den Soldaten. Sie richteten ihre Waffen auf mich und forderten mich auf, ihnen die Proben zu übergeben. In diesem Moment dachte ich, ich wüsste, was zu tun sei, ich konnte und wollte nicht nachgeben. Also spritzte ich mir das Gegenmittel, um mich selbst zu schützen, denn ich war in diesem Augenblick bereit zu töten, so wie die Soldaten um mich herum. Dann setzte ich das Burnout-Virus frei. Ich vertraute auf die Vernunft meines Vaters und die der Soldaten. Es war schrecklich! Mein Vater schrie den Männern zu, sie sollten die Waffen niederlegen, aber es half nichts. Er starb mit ihnen. Es spielte keine Rolle, ob sie die Waffen niederlegten oder nicht, sie starben alle. Das waren die ersten Einäscherungen, die ich sah. Mir war sofort klar, dass die Forschungsergebnisse nicht stimmten.
Offensichtlich konzentrierte sich das Virus – wie vorgesehen – auf chemische Reaktionen im Körper. Aber es weitete sein Beuteschema aus, und so starben nicht nur die, die eine Waffe in der Hand hielten und unmittelbar bereit waren zu töten.
Heute wüssten wir, dass auch das bloße Wissen um eine so grausame biologische Waffe und das Akzeptieren ihres Einsatzes die Einäscherung hätte auslösen können. Da der Alarm aktiviert wurde, kamen weitere Soldaten, ich schrie durch die verschlossene Tür, dass es einen Unfall gegeben hätte. Dass ein Virus freigesetzt wurde und der Raum kontaminiert sei. Man wollte ein Rettungsteam holen, doch ich sah durch die Scheibe, wie weitere Menschen starben. Das Virus breitete sich schon aus, und es hörte nicht auf. Ich wusste das nicht. Ich wollte damals die Welt retten.«
»Retten?«, Annes Stimme überschlug sich: »Retten? Hast du sie noch alle? Wie willst du die Welt retten, wenn du eine biologische Waffe freisetzt? Du bist der intelligenteste Mensch, den ich kenne, wie kannst du mir erzählen, dass du nicht gewusst hast, welches Risiko du da eingehst?«
Rabea wurde zornig und stapfte wie ein kleines Kind mit dem Fuß auf: »Ich wusste es nicht. Ich habe danach die Forschungsunterlagen immer und immer wieder überprüft. Das hätte nicht passieren dürfen. Es war fast so, als hätte das Virus irgendeine Art von Hilfe gehabt, nenne es meinetwegen einen Katalysator.«
Anne dachte einen kurzen Moment an das fremde Wesen und an den Mann in der Kantina. Konnte es möglich sein, dass beide Theorien stimmten? Dass erst das Zusammenspiel von Boshaftigkeit und Burnout-Virus die Menschen vernichtet hatte?
Anne hatte das Gefühl, die Dinge ganz klar zu sehen. Durch das Zusammenspiel von Boshaftigkeit und Burnout-Virus waren beide nicht mehr zu stoppen gewesen. Die Boshaftigkeit hatte wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Aber Anne sah noch mehr. Nämlich die Tatsache, dass die Aschentage von einem Menschen ausgelöst worden waren. Selbst wenn Rabea ihre Unwissenheit über die Folgen ihrer Tat beteuerte, trug sie eine Verantwortung.
Anne dachte an Nigels Befürchtungen und fühlte den Konflikt in sich. Die Einäscherungen waren nicht mehr länger die direkte Folge von menschlichem Fehlverhalten, sondern die Folge einer Seuche, ausgelöst durch ein Virus. Künftig würden die Menschen die Welt so sehen. Die Ärzte würden versuchen, ein Gegenmittel zu finden. Eines Tages würde es gelingen und dann ... Sie dachte an die Kapseln, die Paul gefunden hatte. Anne schüttelte den Gedanken ab.
Rabea hatte sie beobachtet: »Anne, ich wollte die Welt retten.«
Anne sah Rabea direkt in die Augen und war davon überzeugt, dass das tatsächlich der Wahrheit entsprach. »Warum hast du nichts gesagt?«
Anne wusste in dem Moment, in dem sie den Mund zumachte, dass das eine naive Frage war.
Rabea herrschte sie an: »Um dann als Todesengel der Menschheit weiterzuleben? Ihr alle hättet mir die Schuld daran gegeben. Keiner hätte von einem Unfall gesprochen. Was denkst du, wie sich die Welt mit dieser Information entwickelt hätte? Die Menschen hätten sich betrogen gefühlt. Sie hätten sich der Freiheit beraubt gefühlt, böse sein zu können. Glaubst du, auch nur einer von euch Überlebenden wäre dankbar für den neuen Frieden gewesen? Anfangs war das Gefühl der Schuld für mich fast unerträglich. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich nicht noch eure Vorwürfe ertragen. Aber dann ... Die guten Dinge, das, was wir erreicht haben, die Neue Welt, die wir geschaffen haben, das alles überwog. Hätten die Menschen die Wahrheit gekannt, dann hätten sie die vielen Aschenfälle als Opfer betrauert und nicht mehr als Täter. Hättest du es dann noch gewagt, Anne, zu behaupten, dass es immer den Richtigen getroffen hat? Ich wollte damals die Welt retten. Mein Plan war es nicht, die Aschentage auszulösen. Aber die Welt habe ich trotzdem gerettet. Ich habe sogar noch viel mehr getan: Ich habe eine neue, bessere Welt geschaffen. Aber das wäre bedeutungslos geworden, wenn ihr die Wahrheit gekannt hättet. Frag dich selbst Anne, wie hättest du geurteilt? Du hättest mich angeklagt, mir vorgeworfen, dass ich Gott gespielt hätte.«
»Du musst zugeben, dass es zumindest ein bisschen danach aussieht. Vielleicht hätten deine Informationen andere retten können.«
Rabea zog abfällig die Mundwinkel nach unten: »Siehst du, schon willst du andere retten. Welche anderen? Du weißt, dass nur die gestorben sind, die schlecht waren, die böse Taten begangen hatten.«
Anne gab Rabea im Stillen recht.
»Außerdem«, fuhr Rabea fort, »hätten euch diese Informationen nichts genutzt. Das einzig Neue ist, dass du jetzt weißt, dass ein Virus die Einäscherung auslöst, wenn er im Körper auf bestimmte Voraussetzungen trifft. Und du weißt, woher das Virus kommt. Aber keine Sorge, ich habe alle Forschungsergebnisse und Proben mittlerweile vernichtet. Es gibt keine Unterlagen mehr. Sieh mich nicht so an! Oh Anne, verlogene Anne, wie kannst gerade du mich verurteilen? Das war doch auch deine Vision. Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass wir die Neue Welt bewahren, beschützen müssen? Du selbst hast gesagt, dass du zu allem bereit wärest. Sag mir jetzt nicht, dass das nicht so gemeint war.«
Rabeas wundervolle Augen blitzten Anne auf eine fast unnatürliche Weise an. Annes Stimme war heiser. Sie wusste, dass Rabea recht hatte. Anne wäre vielleicht auch zu vielem bereit gewesen, um diese Welt zu erhalten.
»Ich habe jedes Wort so gemeint, wie ich es gesagt habe. Diese Welt muss beschützt werden. Das haben wir Jahrhunderte getan und werden es auch weiterhin tun. Aber sag mir, wieso mussten Dave und Joseph Lorden sterben? Wieso durften Marie White, Doktor Calliditas, Karl Hobnitz und Richter Voyou nicht weiterleben? Sie haben unsere Welt nie bedroht. Die Lordens waren Überlebende, sie waren gute Menschen, und Marie White war eine glückliche junge Frau. Doktor Calliditas war uns allen eine Stütze, und Karl Hobnitz hat dich verehrt. Und der Richter, er verdient meinen ganzen Respekt. Was haben sie getan, dass sie sterben mussten? Rabea, hiermit verhafte ich dich wegen mehrfachen Mordes und den Angriffen auf Sergeant Milton, Misses Wong, Frank Wall und meine Wenigkeit.«
Rabea lachte, es war ein irres Lachen: »Jemand spielt ein Spiel mit dir, Anne Reeve, und ich bin es nicht!«
Anne ignorierte Rabea, stattdessen fuhr sie fort: »Der erste Mord ereignete sich vor 48 Jahren an Paul Grey.«
Rabea blickte nicht auf: »Es war ein Unfall.«
Anne sprach weiter: »Der zweite Mord ereignete sich am 27.05. gegen Mitternacht auf einer Waldlichtung, das Opfer war Joseph Lorden. Der dritte Mord wurde in der gleichen Nacht begangen, und zwar an Dave Lorden in der Spielwelt.«
»Ich wollte Dave nicht töten, aber er hätte mein Leben zerstört.«
Endlich! Das war ein Anfang. Rabea hatte den Mord an Dave Lorden zugegeben.
»Du gibst also zu, dass du Dave Lorden getötet hast?«
»Ich konnte nicht anders.«
Anne ließ jetzt nicht locker: »Was war mit Joseph?«
Rabea blickte wieder auf: »Das war ich nicht.«
»Was soll das heißen, du warst das nicht?«
»Ich war es nicht, Herrgott!«
Anne sah sie ungläubig an, und doch war da etwas, das Anne an ihrer Theorie, dass Rabea all die Morde begangen hatte, zweifeln ließ.
Sie versuchte es weiter: »Der vierte Mord fand in der gleichen Nacht statt, das Opfer hieß Marie White.«
Rabea sprach erneut, dieses Mal emotionslos: »Ich habe diese Frau nicht gekannt und auch nicht getötet.«
Anne ärgerte sich, das lief alles andere als gut, trotzdem hielt sie an ihrer Taktik fest: »Das fünfte Opfer hieß Karl Hobnitz, ihn hast du für deine Zwecke missbraucht.«
Dieses Mal leugnete Rabea nicht. »Ich habe ihn nicht dazu gezwungen, auf dich zu schießen. Er war mir eben treu ergeben und wollte mich schützen. Das ist wohl kaum meine Schuld.«
Anne stieß hörbar die Luft aus: »Rabea, natürlich ist das deine Schuld, du hast den armen Kerl benutzt und ihn in den Tod geschickt.«
Rabea winkte ab: »Er war kein großer Verlust.«
»So? Er war kein großer Verlust? Wie war das dann bei Doktor Calliditas?«
»Ich habe den Doktor nicht angerührt.«
Anne fiel sofort auf, wie kleinlaut Rabea ihre Schuld im Falle von Doktor Calliditas bestritt. Hier musste sie nachhaken: »Du hast ihn nicht angerührt, was hast du dann getan?«
»Wahrscheinlich war es das, was ich nicht getan habe.«
Rabea kicherte, als würde sie der Wortwechsel amüsieren.
Anne sah sie an: »Und was hast du nicht getan?«
Sie blickte Anne höhnisch an: »Du glaubst tatsächlich, der Doktor wurde ermordet? Nun, ich denke, er hat sich umgebracht, um mich in Schwierigkeiten zu bringen.«
»Was?« Anne wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Der Doktor hatte sich umgebracht, um Rabea zu schaden? Der Zweifel, der an Anne nagte, war wieder da. Was, wenn der Doktor etwas gewusst hatte, es aber nicht hatte sagen können? Sie dachte an die Loyalität, die er gegenüber seinen Patienten empfunden hatte. Er war ein absoluter Ehrenmann gewesen, was seine Verschwiegenheit anging.
Doktor Calliditas hatte keine Patientenakten geführt. Ab und zu ein paar Stichworte, natürlich verschlüsselt unter einem Pseudonym, das hatte ihm gereicht. Das Arzt-Patienten-Verhältnis war für ihn unantastbar gewesen. Konnte es sein, dass Doktor Calliditas über Rabea Bescheid gewusst hatte? Rabea schien Annes Gedanken zu lesen.
Müde fügte sie hinzu: »Er wollte, dass ich reinen Tisch mache. In einem schwachen Moment habe ich ihm Dinge von mir erzählt, die ich besser für mich behalten hätte. Nach den Morden an den Lordens sprach er ständig davon, dass er mich aufhalten müsse. Genau wie du, war er der Ansicht, dass ich sie getötet hätte.«
Anne dachte an Doktor Calliditas. Natürlich, er hatte Doktor Masters abgefangen und ihm einen Hinweis gegeben. Mehr hatte er nicht tun können. Anne konnte sich den Gewissenskonflikt vorstellen, in dem der Doktor gewesen war. Er konnte Rabea nicht verraten, er konnte aber auch nicht zusehen, wie Menschen starben. Er wählte den Freitod.
Wie gut Doktor Calliditas Anne gekannt hatte. Er hatte ihr kurz zuvor Grüße über Doktor Masters ausrichten lassen und seinen eigenen Selbstmord so inszeniert, dass Anne ihn nicht glauben konnte. Er hatte gewusst, dass Anne ohne einen Abschieds- oder »Letzten Brief« niemals zufrieden gewesen wäre. Er hatte auch gewusst, dass Anne bald herausfinden würde, dass Joseph Lorden nach einem gefährlichen Überlebenden gesucht und sich deshalb an Calliditas gewandt hatte.
Auch wenn Joseph die falsche Überlebende verfolgt hatte, Doktor Calliditas hatte darauf vertraut, dass Anne eins und eins zusammenzählen und trotz Karl Hobnitz’ angeblicher Täterschaft weitere Ermittlungen anstellen würde. Vielleicht hatte der Doktor Anne sogar zugetraut, dass sie die Spuren bis zu Paul Grey zurückverfolgen konnte. Hatte Paul Grey vor seinem Tod noch Kontakt mit Doktor Calliditas aufgenommen? Hatte Calliditas von den »Antiburnout-Kapseln« gewusst?
Rabea sprach erneut: »Listiger, alter Mann. Sein Tod und der dieser Marie haben das Ganze nur schlimmer gemacht.«
Anne gab nicht auf, noch nicht: »Was war mit dem Richter?«
Wieder flackerte kurz Bedauern in Rabeas Augen auf: »Das tut mir außerordentlich leid, aber er wurde zur Gefahr, er ...« Sie brach ab.
Anne überkam eine Erinnerung. Der Richter und Rabea, was war zwischen ihnen passiert? Sie erinnerte sich an die Blicke, die die beiden vor der Anhörung getauscht hatten. Und ihr fiel eine Bemerkung des Richters ein. Wie hatte er noch einmal gesagt? Er würde sich von niemandem beeinflussen lassen.
Anne sah klarer und wagte einen Bluff: »Du hast den Richter benutzen wollen, um alles über den Umschlag zu erfahren? Hast du das Foto gesucht und darin vermutet? Es hat dir wohl nicht gereicht, dass der Umschlag vernichtet wurde. Du musstest es genau wissen. Was hast du denn geglaubt, was sich darin befand? Du und Voyou, ihr habt an dem Morgen vor der Anhörung miteinander geschlafen. Er fühlte sich zuerst geschmeichelt, war vielleicht sogar ein wenig verliebt. Du hast ihm vorgemacht, dass du meinetwegen besorgt wärest. Du hast ihn vielleicht sogar von meiner Unschuld überzeugt. Ich vermute, du wurdest zu ungeduldig und zu fordernd. Er wollte dir wohl nicht sagen, was in dem Umschlag war. Schließlich hatte er mir sein Wort gegeben, zu schweigen. Das hat dich wütend gemacht. Es gab Streit, er hat dich durchschaut und wurde dadurch zu einer Bedrohung. Dann hast du ihn getötet.«
Rabea blinzelte und zuckte fast gelangweilt mit den Schultern: »Das war bedauerlich. Mir war nicht daran gelegen, noch mehr Staub aufzuwirbeln.«
»Du hast vielleicht Nerven. Was heißt hier Staub aufwirbeln? Du hast die Lorden-Brüder getötet und ...«
»Was denkst du denn von mir, ich bin doch keine Psychopatin!« Rabea fuhr scharf dazwischen. »Ich habe Joseph Lorden nicht getötet. Diese Marie habe ich nicht einmal gekannt. Der Doktor und dieser Hobnitz haben ihre eigenen Entscheidungen getroffen, und Paul Grey war ein Unfall. Und deinen Sergeant habe ich auch nicht angegriffen. Dafür habe ich sogar ein Alibi. Und warum hätte ich auf Misses Wong schießen sollen? Die Vergiftung von Frank war ein Schock für mich, und woher hätte ich wissen sollen, wo du dich aufhältst? Du warst auf der Flucht, und ich konnte ja kaum ahnen, dass du nachts um das Krankenbett von Frank Wall herumschleichst. Wenn du mir nicht glaubst, was für einen Sinn macht dann dieses Gespräch?«
Anne schluckte eine Erwiderung herunter. Sie wollte dieses Gespräch zu Ende führen. »Du hast recht, bitte erzähl mir, was passiert ist.«
Rabea zögerte, heute würde es vorbei sein. 260 Jahre lang hatte sie ihr Geheimnis nun schon mit sich herumgetragen. Die Vergebung hatte sie sich schon lange selbst erteilt. Sie hatte sich ganz dem Aufbau der Neuen Welt gewidmet und sich dabei kein privates Glück gegönnt, bis auf die wenigen Stunden mit Frank Wall. Aber auch das war nicht echt gewesen. Sie wusste, dass Frank sie nie geliebt hatte und nie lieben würde. Sie war kein Dummkopf. Natürlich waren ihr seine Gefühle für Anne nicht verborgen geblieben. Jetzt, wo alles vorbei war, brauchte sie sich auch wegen Frank Wall keinen Illusionen mehr hinzugeben. Er würde sie nach dem heutigen Tag sowieso hassen.
Sie war zu klug, um nicht zu erkennen, dass sie in keiner guten Position war. Eigentlich hatte sie immer verdrängt, dass dieser Tag kommen könnte. Trotzdem war sie nicht unvorbereitet. Sie kannte die Menschen gut genug, um zu wissen, dass Gunstzuweisungen eine wechselhafte Sache waren. Rabea hatte sich dazu entschlossen, zu taktieren. Die Zeiten würden sich wieder ändern. Ein paar bedauerliche Todesfälle, das würden die Menschen schnell vergessen. Vor allem, wenn sie nicht alleine die Schuld tragen würde. Nein, sie würde nicht einfach aufgeben. Selbstmord wäre für sie nach all den Jahren keine Option. Sie würde ihre Stärke nutzen und die Menschen für sich einnehmen. Dann musste sie sich nur in Geduld üben. Die Neue Welt würde sie noch brauchen.
Rabea hatte Pläne. Deshalb straffte sie die Schultern. Sie hatte eine Entscheidung getroffen: »Anne, ich möchte, dass du zur Kenntnis nimmst, dass ich dir deine Fragen beantworten werde – unter einer Bedingung!«
Anne runzelte die Stirn: »Bedingungen zu stellen in deiner Situation ...« Sie zögerte und sagte schließlich, »Also gut, lass hören.«
»Ich möchte, dass du mir dein Wort gibst, dass du den Fall lückenlos aufklärst. Ich möchte dein Wort, dass ich nur für das verurteilt werde, was ich auch getan habe. Dafür werde ich die Strafe antreten, aber ich werde darüber hinaus keine Verantwortung übernehmen.«
Anne Reeve war sprachlos. Sie dachte: »Warum dieses Teilgeständnis, das macht doch überhaupt keinen Sinn?« Andererseits gab es so viele Zweifel auf Annes Seite.
Daher stimmte sie zu: »In Ordnung, ich gebe dir mein Wort, dass ich alles versuchen werde, um diesen Fall aufzuklären. Aber wenn mein Ergebnis der Ermittlungen nicht mit dem übereinstimmt, was du dir vorgestellt hast, dann wirst du das akzeptieren müssen.«
Rabea nickte. Sie kannte Anne, diese würde bohren, bis sie auf Öl stoßen würde. Das war ihre Natur. Sie würde den Fall nicht zu den Akten legen, bevor nicht alle offenen Fragen geklärt wären. Das reichte Rabea.
Anne hatte Rabea noch nicht nach ihrem Alibi für den Angriff auf Sergeant Milton befragt. Es schien ihr ein guter Einstieg für das Gespräch. Sollte das Alibi glaubhaft sein, würde Anne das Gespräch unvoreingenommener führen können.
Sie räusperte sich und versuchte, ihre Stimme sachlich klingen zu lassen: »Gut, dann würde ich dich bitten, mir als Erstes dein Alibi bezüglich des Angriffes auf Sergeant Milton zu nennen.«
»Nun, ich denke, Frank Wall wird dir dazu Auskunft geben. Ich habe die Nacht mit ihm verbracht, und wir frühstückten so gegen 8.30 Uhr.«
Anne war geschockt, und Rabea bemerkte das mit einer gewissen Genugtuung, wenngleich diese bei Weitem nicht so befriedigend war, wie sie es sich einst vorgestellt hatte. Anne spürte einen unbekannten Schmerz und fragte sich, ob das Eifersucht war. Was hatte sie denn geglaubt? Dass Frank Wall ein asexuelles Wesen war? Natürlich hatte sie gewusst, dass Frank Wall ein Sexualleben hatte, aber irgendwie war er in ihrer Vorstellung dafür in die Spielwelten und nicht in das Bett von Rabea gegangen. Sie stellte sich die Frage, ob er Rabea liebte. Sollte das der Fall sein, hätte diese ihm gerade sein Herz gebrochen.
Anne drehte sich langsam um. Sie sah in die verspiegelte Scheibe, die das Verhörzimmer vom Zimmer dahinter trennte. Sie vermutete, dass Frank hinter der Scheibe stand. Zusammen mit Sheriff Rose, Sergeant Milton, Doktor Masters, Mildred Grey und Nigel O’Brian.
Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und sprach klar und deutlich in Richtung Scheibe: »Ich bräuchte dafür kurz die Bestätigung.«
Rabeas Genugtuung verflog. Erst jetzt wurde sie sich darüber bewusst, dass sie mit Anne nicht alleine war. Der alte Militärstützpunkt hatte im Zellentrakt noch Verhörzimmer, wie es sie in der Traurigen Zeit gegeben hatte.
Es klopfte. Anne öffnete die Tür. Sie hatten Sergeant Milton geschickt. Er nickte als Zeichen der Korrektheit von Rabeas Alibi und ging zurück in den Nebenraum.
Anne atmete durch: »Also, nachdem wir nun ein pikantes Geheimnis von Sheriff Wall kennen, kommen wir der Wahrheit wieder ein Stückchen näher. Wie sieht es mit den Lorden-Brüdern aus? Was ist da passiert?«
Rabea war ebenfalls sehr sachlich. Sie hatte versprochen, zu antworten, und das tat sie auch: »Ich erhielt einen Brief von Joseph. Er lag einfach auf meinem Schreibtisch. Seine Nachricht traf mich völlig unerwartet. Ich hatte keine Ahnung, dass er sich noch mit Recherchen befasste. Joseph bat mich in dem Brief um ein Treffen an dieser Waldlichtung. Er schrieb, dass er ein Foto von mir und meinem Vater hätte, dass der aber nicht wie ein Pfarrer aussehen würde. Ich wusste sofort, dass ich das Bild unbedingt vernichten musste. Niemand sollte je erfahren, welchen Beruf mein Vater in Wirklichkeit hatte. Mir war klar, dass dann über kurz oder lang alles herauskäme. Joseph wollte die Angelegenheit gerne unter vier Augen klären. Ich hoffte, ich könnte das Ganze irgendwie aus der Welt schaffen. Ich wusste, dass Joseph ein wenig in mich verliebt war. Ich wollte ihn zwar manipulieren, aber sicher nicht umbringen. Also ging ich um 23.00 Uhr zu dieser Waldlichtung. Warum auch immer er einen solchen Ort gewählt hatte.«
»Was passierte dann auf dieser Waldlichtung?«
Rabea spielte jetzt nervös mit ihren Fingern an der Tischkante.
»Als ich ankam, war er schwer verletzt. Er blutete. Man hatte ihm in den Bauch geschossen. Neben ihm lag ein Schrotgewehr und eine Packung Munition. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, habe ich den Schuss wahrscheinlich sogar gehört. An diesem Abend jedoch dachte ich, dass es sich um den Vorboten eines Gewitters handeln würde. Wie gesagt, als ich ankam, war er schwer verletzt. Ich beugte mich zu ihm. Er lebte gerade noch so. Was er sagte, war ziemlich unzusammenhängend. Er erkannte mich wohl nicht, denn er flehte mich an, Dave zu warnen. Er stammelte eine Adresse: Spielwelt ... Hinterhof ... Rosestreet ... Das Foto … Grey … Gefahr … Dann starb er.«
Anne hörte Rabea genau zu und unterbrach sie nicht.
»Ich verstand, dass Dave auf Joseph warten würde. Dann geriet ich in Panik. Joseph hatte mich hierher bestellt und lag tot am Boden. Neben ihm die Waffe und kein Aschenhäufchen. Bisher dachte ich, ich wäre als einziger Mensch gegen die Einäscherung immun, aber offensichtlich hatte ich mich da geirrt. Es schien mir wahrscheinlich, dass mir jemand eine Falle stellen wollte. Würde mich jetzt jemand finden, wäre ich in ernsten Schwierigkeiten. Ich handelte. Ich nahm die Waffe und schoss ihm damit ins Gesicht. Niemand sollte ihn mehr erkennen. Danach durchsuchte ich seine Taschen und nahm alles an mich, was auf seine Identität hätte schließen lassen. Das Foto hatte er natürlich nicht dabei. Es ging schon auf 23.30 Uhr zu, und ich musste zu Dave. Vermutlich hatte er ja das Foto. Ich wollte es unbedingt in die Hände bekommen. Die Leiche von Joseph versteckte ich. Die Identifizierung wäre auf jeden Fall mit jedem Tag, der vergehen würde, immer schwieriger geworden. Außerdem hätte es ohne Leiche auch kein Verbrechen gegeben. Ich verließ die Lichtung, nahm die Waffe und die Munition mit und hoffte, dass Joseph noch eine Weile unentdeckt bleiben würde. Dummerweise tauchten dann morgens dieser dämliche Doktor Mau und sein Team auf.«
Rabea sprach so abgebrüht, als würde sie ein Kuchenrezept überarbeiten. – Vielleicht ein Ei weniger das nächste Mal? Vielleicht etwas mehr Zucker … Dann ist es perfekt. Anne konnte Rabeas Gemütszustand schwer einschätzen. Sah so Boshaftigkeit aus?
Sie fasste das eben Gehörte zusammen: »Du behauptest also, du hast eine Nachricht von Joseph bekommen. Ohne zu zögern, bist du dann nachts in den Wald geritten, nur weil in der Nachricht ein angebliches Foto von dir und deinem Vater erwähnt wurde. Als du dort ankamst, fandest du Joseph, der in deinen Armen starb, während er dir noch eine Botschaft für Dave gab. Warum sollte er dir vertrauen, wenn er doch angeblich gegen dich ermittelt hat? Und wenn das tatsächlich so passiert ist, dann müssen wir also nach einer zweiten Person suchen, die gegen die Einäscherung immun ist und die das Ziel hatte, dir eine Falle zu stellen?«
Annes Zusammenfassung triefte vor Sarkasmus, aber Rabea reagierte darauf gelassen: »Ich kann dir nur sagen, was ich weiß. Vermutlich hat er mich nicht erkannt und mir deshalb die Warnung für Dave anvertraut. Der Mann war schon so gut wie tot, ich kann dir nicht sagen, was in ihm vorging. Aber was ich dir erzähle, ist die Wahrheit.«
Anne fiel noch etwas ein: »Was hast du mit Josephs Pferd gemacht?«
Rabea war wieder ganz sachlich: »Er hatte zwei Pferde dabei. Sie waren so gesattelt, als hätte er eine längere Reise vor. Ich habe die Satteltaschen durchsucht, aber nichts gefunden. Dann bin ich mit den Viechern weiter, etwa hundert Meter entfernt ist eine Schlucht. Dort habe ich sie abgesattelt und das Zaumzeug entfernt. Die Sättel und die Geschirre habe ich dann in die Schlucht geworfen. Die Pferde habe ich in die Wildnis gejagt.«
Anne ging nicht weiter darauf ein: »Gut, gehen wir davon aus, dass das die Wahrheit ist, was passierte dann in der Spielwelt?«
Rabea richtete sich auf: »Ich brauchte eine halbe Stunde, Gott sei Dank hatte ich ein schnelles Pferd dabei. In der Spielwelt war die Hölle los. Ich bin niemandem aufgefallen in meinem langen, schwarzen Umhang. Auch die Waffe konnte ich darunter gut verstecken. Ich fand ohne Mühe die Rosestreet beziehungsweise den Hinterhof. Dave wartete bereits auf Joseph. Er war damit beschäftigt, Schokoladenkekse an irgendwelche Katzen zu verteilen. Diese lästigen Biester! Ich habe deine Zuneigung zu den Tieren nie nachvollziehen können, Anne.«
Anne erinnerte sich daran, dass sie bei Rabea tatsächlich nie eine liebevolle Geste gegenüber den Tieren bemerkt hatte. Allerdings hatte sie es immer auf Rabeas grundsätzlich eher zurückhaltende Art geschoben. Jetzt stellte sich also auch noch heraus, dass Rabea Tiere nicht mochte. Dafür wollte Anne ihr nun wirklich mit der allergrößten Freude den Hals umdrehen. Allerdings verschaffte Anne die Tatsache, dass ein Hund und eine Katze letztendlich Rabeas Plan vereitelt hatten, eine gewisse Genugtuung. Schließlich hatte Doktor Mau’s Hund Joseph gefunden, und die stolze Kätzin hatte sich auf ihre Weise für Daves Futterspenden bedankt und den Sergeant zum Müllcontainer gelockt.
Rabea zuckte mit den Schultern und fuhr fort: »Als Dave mich sah, war er überrascht. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, dass Joseph vorgehabt hatte, sich mit mir zu treffen. Ich habe mich seither immer wieder gefragt, warum Dave nichts von dem Treffen wusste, wenn er doch im Besitz des Fotos war? Vielleicht war er auch nur ein glänzender Schauspieler. Dann erzählte er mir, dass er auf Joseph warten würde. Ich dachte, ich sollte meine Chance nutzen und versuchte einen Trick. Ich behauptete, Joseph hätte mich geschickt, damit ich mir das Foto einmal ansähe. Ich erwähnte, dass die beiden ja der Meinung wären, dass es sich um ein Foto von mir handeln würde. Ich behauptete, ich wollte helfen, die offenen Fragen zu beantworten. Er selbst würde jeden Moment nachkommen. Ich denke nicht, dass Dave überhaupt wusste, wovon ich sprach. Es schien so, als hätte bisher nur Joseph die Zusammenhänge in Bezug auf mich erkannt. Wie auch immer, Dave wurde misstrauisch. Er fragte mich, wann mir Joseph von dem Foto erzählt hätte und wo. Ich versuchte zu erklären, aber er glaubte mir nicht.«
Tja, das war Pech, dachte Anne. Rabea kannte Dave wohl nicht gut genug. Nach der beihon-Geschichte war er fast paranoid geworden. Es war kein Wunder gewesen, dass er Rabea und ihrer Geschichte misstraut hatte. Schließlich hatte Dave sogar Anne misstraut und das, obwohl sie sich gut gekannt hatten.
Anne war sehr betroffen, als ihr bewusst wurde, dass Dave das Foto aus Furcht versteckt hatte. Dave hatte Angst vor Anne gehabt. Obwohl Anne unschuldig war, fühlte sie sich nicht so. Offensichtlich war es ihr nicht gelungen, Dave gegenüber als vertrauenswürdig zu erscheinen. Das bedauerte sie zutiefst. Zudem gefiel Anne nicht, was sie da gerade hörte. Sollte Rabea gerade wirklich die Wahrheit sagen?
Bei ihren gesamten Ermittlungen waren sie auf nichts gestoßen, was belegen würde, dass die Lorden-Brüder eine Verbindung zu Rabea gefunden hätten. Im Gegenteil, sie hatten Anne verdächtigt. Dave war erst misstrauisch geworden, als Rabea an jenem Abend in der Spielwelt vorgegeben hatte, dass Joseph ihr von dem Foto erzählt hätte, auf dem sie abgebildet war. Dave hatte sofort gewusst, dass Joseph nie einer Außenstehenden seine Erkenntnisse mitteilen würde, ohne sich vorher mit seinem Bruder abzusprechen.
Rabea fuhr fort: »Leider war er furchtbar unvernünftig. Er wollte erst mit Joseph sprechen, bevor er mir irgendetwas zeigen wollte. Da Joseph immer noch nicht da war, war er beunruhigt und wollte losgehen, um ihn zu suchen. Ich wusste ja, dass er ihn nicht finden würde. Das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Ich wollte mit ihm reden, aber er wurde immer abweisender. Wie dem auch sei ...«, Rabea machte eine wegwerfende Handbewegung, »… er hätte mich letztendlich verraten, mein Leben zerstört. Ich trat auf ihn zu und schoss.«
Anne wagte einen Versuch: »Genau wie bei Joseph?«
»Unsinn, Joseph habe ich erst nach seinem Tod in den Kopf geschossen. Für ihn bin ich nicht verantwortlich. Oder ist es Mord, wenn das Opfer schon tot ist?«
Anne schüttelte verneinend den Kopf.
»Also, ich schoss Dave in die Brust und dann ins Gesicht, um ihn unkenntlich zu machen. Danach nahm ich seine Papiere an mich und wuchtete ihn in den Container. Ich hatte die Nase voll von diesen selbstgerechten Idealisten, die glaubten, sie seien etwas Besseres. Was hat er denn zum Beispiel bei beihon erreicht? Gar nichts. Erst durch mich wurden die Schuldigen bestraft. Nein, keiner will der Henker sein, aber ohne funktioniert es eben nicht. Und dank deiner grandiosen Idee von den Spielwelten hat die Schüsse niemand beachtet. Welch ein Glück, wenn überall Lärm herrscht und Anonymität gewährleistet ist. Wäre er nicht gefunden worden, wer weiß? Das Foto hatte er natürlich nicht bei sich. Also durchsuchte ich noch in derselben Nacht die Büros der Lordens in der Schulkommission, ich habe schließlich zu allen öffentlichen Einrichtungen Zugang. Danach nahm ich mir das Haus der Lordens vor. Wo hast du nur diesen Umschlag gefunden?«
Anne wollte ihr erst nicht antworten, dachte dann aber, dass es vielleicht klug sei, ihr ein kleines Häppchen hinzuwerfen. »Das Foto war nicht im Umschlag.«
Rabea blickte Anne interessiert an. Sie hoffte auf weitere Informationen, fragte aber nicht danach.
Eine weitere Sache nagte an Anne: »Sag, Rabea, wie hast du es fertiggebracht, Karl Hobnitz dazu zu bewegen, auf mich zu schießen?«
Rabea verzog verächtlich die Mundwinkel: »Als dank diesem verlausten Köter und der stinkenden Katze die Leichen doch gefunden wurden und eine offizielle Untersuchung anberaumt wurde, war ich natürlich in Gefahr. Ich war überrascht, wie schnell ihr die Leichen identifiziert habt, obwohl sie unkenntlich waren und keine Papiere bei sich trugen. Dass man Dave an seiner Tätowierung erkennen könnte, daran habe ich allerdings nicht gedacht. Ich musste schnell für einen Täter sorgen, da fiel mir Karl Hobnitz ein. Ich kannte ihn von seiner Arbeit als Hausmeister. Er musste vor zwei Jahren fast gezwungen werden, in den Ruhestand zu gehen. Ich wusste natürlich längst, dass er mich verehrte, und deshalb war er ein geeigneter Kandidat. Er schlich ständig um mich herum, selbst nachdem er im Ruhestand war. Ich konnte ihm weis machen, dass du mich töten wolltest, um mein Amt zu übernehmen. Ich habe ihm erzählt, dass du unsere Neue Welt zerstören wolltest. Ich überzeugte ihn davon, dass du eine Verschwörung gegen mich angezettelt hättest. Da du im Besitz eines Mittels gegen die Einäscherung wärest, wüsste ich nicht mehr, wem ich trauen könnte, und deshalb wäre er, Karl, meine letzte Hoffnung. Hobnitz hatte erst Zweifel, aber seine Zuneigung mir gegenüber war größer. Er war ein tapferer, kleiner Soldat. Ich habe ihm versichert, dass er nicht eingeäschert werden würde, da seine Tat aus Notwehr heraus geschehen würde.«
Anne dachte kurz an das Gesicht von Karl Hobnitz. Sie hatte angenommen, dass es Entsetzen gewesen war, was sie darin gesehen hatte, als ihn die Flammen im Haus der Lordens umhüllt hatten. Jetzt glaubte sie, sich auch an einen Ausdruck der Überraschung zu erinnern, den sie für einen kurzen Moment auf Karls Gesicht wahrgenommen hatte.
Karl Hobnitz war nicht geisteskrank gewesen, er hatte seine Verehrung und sein Vertrauen nur dem falschen Menschen geschenkt. Auch Karl Hobnitz war ein Opfer von Rabea gewesen.
Rabea sprach gelassen weiter: »Er musste also nur im Haus der Lordens warten, bis du auftauchst. Ich konnte mir ja mühelos Informationen über die geplanten Ermittlungen beschaffen, sodass ich genau wusste, wer wann wo sein würde. Mir war klar, dass Karl eingeäschert werden würde. Mord ist Mord, ob mit oder ohne Befehl von oben. Und mit Karl Hobnitz hättet ihr einen Täter für die Morde an den Lordens gehabt. Ich war übrigens froh, dass er vorbeigeschossen hat. Wieso konntest du den Fall damit nicht einfach abschliessen ...? Die verzögerte Einäscherung sollte dann mit seinem gestörten Geisteszustand erklärt werden. Da konnte ich mich ganz auf die Ärzte der Forschungseinrichtung verlassen. Ein kurzer Besuch meinerseits im Labor, bevor einer von euch dort eintraf, eine unbedeutende Bemerkung gegenüber der Ärzteschaft von der Präsidentin, und schon wurden die richtigen Informationen an euch weitergegeben.«
Wieder schweiften Annes Gedanken ab. War Calliditas deshalb vor dem Labor aufgetaucht, als Doktor Masters seine Erkundigungen eingeholt hatte? Hatte Calliditas gewusst, was Rabea getan oder gesagt hatte? Vielleicht hatte er zufällig das Gespräch zwischen ihr und dem Psychologenteam im Labor mit angehört. Vermutlich hatte sie ganz unverfänglich ein Fachgespräch angefangen.
Die Damen und Herren waren wie immer von ihr beeindruckt gewesen. Sie hatten Theorien ausgetauscht. Man war auf das Thema Geisteskrankheiten und Einäscherung gekommen. Rabea hatte beiläufig erwähnt, dass sie sich auch eine verzögerte Einäscherung in diesem Zusammenhang vorstellen könnte. Es war darüber diskutiert worden, und das Team hatte sich mit dem Gedanken angefreundet.
Als dann später Doktor Masters aufgetaucht war und gerade zu dem Thema »verzögerte Einäscherung« Fragen gestellt hatte, war der Arzt, mit dem er gesprochen hatte, froh gewesen, dass er hatte helfen können. Unbewusst hatte er Rabeas Theorien als Wahrheit übernommen und diese an Doktor Masters weitergegeben. Sicher hatte der Arzt die Manipulation nicht einmal bemerkt. Zuerst war Hobnitz zum Geisteskranken erklärt worden, dann hatte man die Theorie einer verzögerten Einäscherung auf ihn anwenden können.
Anne verfluchte ihre ehemalige Freundin. Sie musste sich zusammennehmen, keine entsprechende Bemerkung zu machen. Also konzentrierte sie sich weiter auf Rabeas Aussage.
Rabea war dabei weiterhin sehr sachlich: »Der Beutel und die Waffe, die ich ihm in die Hand gedrückt habe, sollten alle noch offenen Fragen klären. Karl hat offensichtlich noch nicht einmal den Inhalt des Beutels überprüft, sondern mir einfach geglaubt, dass darin wichtige Unterlagen bezüglich der Verschwörung wären, die er für mich aufbewahren und immer bei sich führen sollte. Und was die Ermittlungen anging: Taten, die aufgrund von Geisteskrankheiten ausgeführt werden, bedürfen zum Glück keiner allzu großen Logik. Es hat mich beunruhigt, dass das Foto nicht mehr auftauchte, aber daran konnte ich vorerst nichts ändern.«
Anne musste das Gehörte erst einmal verdauen. Sie versuchte, an alles zu denken. Wer wusste schon, wie lange Rabea bereit sein würde, offen mit ihr zu sprechen? Rabea schilderte die Vorgänge absolut glaubhaft. Anne stellte sich erneut die Frage, ob sie Joseph tatsächlich nicht getötet hatte. Aber sie mahnte sich auch zur Vorsicht, sie wusste, wie schlau Rabea war. Vielleicht verfolgte sie eine bestimmte Taktik. Hoffte sie, dass ihr bei zwei Morden eine geringere Strafe drohte als bei dreien? Das wäre Unsinn.
Mit dem Freisetzen des Burnout-Virus würde sie zur Antiheldin der gesamten Menschheitsgeschichte werden. Dass sie das Amt der Präsidentin mit voller Hingabe begleitet hatte, würde ihr nicht helfen. Eher im Gegenteil. Man würde ihr Machthunger und Vorteilnahme, aber vor allem Betrug und Heuchelei vorwerfen. Darüber musste sie sich doch im Klaren sein, also warum leugnete sie dann so vehement die Ermordung von Joseph Lorden? Es sei denn – Anne, brachte den Gedanken nur widerwillig zu Ende –, sie sagte die Wahrheit.
Rabea sah Anne fragend an.
»Bitte fahr fort«, sagte Anne und versuchte, freundlich zu klingen.
»Das war alles.«
»Was heißt, das war alles? Was war mit Marie?«
Rabea schien genervt: »Was soll mit ihr sein? Ich habe dir schon gesagt, dass ich diese Frau nicht kannte. Wenn dieser Nigel O’Brian nicht aufgetaucht wäre, würden wir heute nicht hier sitzen. Ich habe weder diese Frau noch Doktor Calliditas getötet. Ich denke, über den Anschlag auf deinen Sergeant brauchen wir nicht zu sprechen, das hat sich ja zwischenzeitlich geklärt. Und auch wenn ich Misses Wong für eine unangenehme Person halte, habe ich ihr trotzdem kein Haar gekrümmt, genauso wenig wie dir oder dem Sheriff. Das mit dem Richter war leider unumgänglich.«
Rabea schien wieder Annes Gedanken zu lesen: »Du denkst an das Gegenmittel. Vergiss es. Ich habe alle möglichen Tests durchgeführt. Es ist nicht nachzubilden, auch nicht mit meinem Blut. Das hoffe ich zumindest, denn obwohl ich bisher dachte, dass ich als Einzige immun bin, scheint das ja nicht der Fall zu sein.«
Rabea lächelte unschuldig. Einen kurzen Moment schwiegen sie beide, dann sprach Rabea erneut: »Ich habe dir jetzt alle deine Fragen beantwortet. Daher wäre ich dankbar, wenn du mich in meine Zelle bringen würdest.«
Anne gab durch ein Nicken den Zuhörern hinter der Scheibe ein Zeichen. Kurz darauf erschien Sergeant Milton mit einem Kollegen, um Rabea in ihre Zelle zu bringen.
In der Tür drehte sich diese noch einmal um: »Sag, Anne, was war nun in dem Umschlag?«
Anne sah sie ruhig an, antwortete ihr aber nicht.
Rabea hielt ihrem Blick stand und erwiderte: »Ich verstehe.«