17. Der falsche Weg

 

Es war eine ungewohnt angespannte Stimmung in Franks Büro. Keiner sprach. Frank Wall war immer noch nicht genesen. Sein Gesicht war grau. Er saß auf einem der Sessel und hatte seine Beine auf einen Stuhl gelegt. Der Arzt hatte ihn nur unter Protest gehen lassen, und auch Doktor Masters war nicht erfreut gewesen, ihn hier zu sehen. Allerdings waren es heute besondere Umstände. Frank Wall überließ Sheriff Rose gerne seinen Schreibtischsessel. Er war heute nicht als Oberster Sheriff hier, und er fragte sich, ob er das überhaupt je wieder sein wollte.

Madeleine Rose wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Die anderen schienen eine Einheit zu bilden, sodass sie sich ein bisschen fremd vorkam. Das Verhör war aufregend gewesen. Rabea war also tatsächlich schuldig. Aber wer hätte gedacht, welche Ausmaße das annehmen würde?

Madeleine sah den Sergeant an, dann Anne. Die beiden waren bereits ein gutes Team. Anne stand mit dem Rücken zu ihnen und starrte aus dem Fenster. Die Aussicht, die sie immer so genossen hatte, fiel ihr heute nicht auf. Sie war im Geiste noch im Verhörzimmer bei Rabea. Was für eine seltsame Wendung. Aber eigentlich war es gar nicht so seltsam. Anne war mit manchen Schlussfolgerungen, die sie im Vorfeld gezogen hatte, nicht wirklich glücklich gewesen. Im Fall von Marie hatte sie sich zum Beispiel gefragt, warum der Täter so dumm gewesen war und die Blumentöpfe zurückgestellt hatte. Erst dadurch kamen doch die Zweifel an der Theorie eines Selbstmordes oder Unfalls auf.

Rabea wäre sicher raffinierter vorgegangen. Offensichtlich war sie nicht für das Attentat auf Sergeant Milton verantwortlich. Das stand fest. Und es stimmte: Woher hätte sie wissen können, dass Anne in jener Nacht im Krankenhaus war? Aber irgendwer hatte es gewusst. Und da war noch etwas, ein Erinnerungsfetzen. Irgendetwas hatte Anne bemerkt. Irgendetwas an ihrem Angreifer war ihr bekannt vorgekommen. Aber sie konnte es nicht greifen.

Was es auch war, es hatte nichts mit Rabea zu tun. Da war sich Anne mittlerweile ganz sicher. Was also, wenn Rabea im Fall Marie die Wahrheit gesagt hatte? Was, wenn sie bei allem die Wahrheit gesagt hatte? Wer war dann der Mörder von Joseph und Marie? Wer hatte die Anschläge auf den Sergeant, Misses Wong, Frank und sie selbst verübt? Und wie konnte derjenige im Besitz des Gegenmittels sein? Dann gab es da noch die Frage nach dem Motiv. Warum Joseph umbringen?

Rabea sprach davon, dass jemand ihr eine Falle hatte stellen wollen – aber warum? Die anderen hingen ihren eigenen Gedanken nach. Frank Wall hatte sich noch nicht ganz von dem Schock erholt, über Jahrzehnte ein Verhältnis mit einer Mörderin gehabt zu haben. Wobei der Umstand, dass er sich so in ihr getäuscht hatte, besonders schlimm für Frank war. Er hatte schließlich nicht das Leben eines Waisenknaben geführt, aber Rabea hatte es trotzdem geschafft, ihn zu hintergehen. Er hatte immer gedacht, sie sei ein Engel. Außerdem hatte er nicht gewollt, dass es Anne auf diese Weise erfahren würde.

Dann ärgerte er sich über diesen Gedanken, schließlich war er Anne gegenüber keine Rechenschaft schuldig. Aber dieser O’Brian hätte nicht auch noch anwesend sein müssen. Während Doktor Masters und Sergeant Milton die Nachricht von seiner Affäre mit anerkennenden Blicken quittiert hatten, hatte sich Nigel O’Brian einen entsprechenden Kommentar nicht verkneifen können.

Frank Wall hatte gequält gedacht: »Gut, dass Anne in diesem Moment nicht dabei ist.«

Doktor Masters gab sich gedanklich schon ganz seiner Forschungsarbeit hin. Er würde auf jeden Fall um Blutproben von Rabea bitten. Er hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt. Er würde die ganze Bandbreite seines Labors ausschöpfen. Was für eine Chance. Er wollte sich schnellstmöglich an die Arbeit machen.

Sergeant Milton dachte, wie Anne auch, über die Aussage von Rabea nach. Auch er tendierte dazu, Rabea zu glauben. Die Ungereimtheiten in den Ermittlungen sprachen für Rabeas Version. Da war zum Beispiel der Fehler, den der Mörder bei Marie gemacht hatte, aber auch die Frage, warum Paul Grey Anne das Bild nicht über einen Notar hatte zukommen lassen. Seit Rabeas Aussage bezüglich des zweiten Pferdes, das Joseph Lorden in der Nacht seines Todes dabei gehabt haben soll, passte alles besser zusammen.

Nigel O’Brian hatte Anne während des Verhörs aufmerksam beobachtet. Ihm war nicht entgangen, dass sie die Nachricht von Frank Walls Verhältnis mit Rabea getroffen hatte. Er merkte, wie ihn wieder ein Gefühl der Eifersucht erfasste. Wie würde Anne künftig zu Frank stehen?

Schließlich war es Sergeant Milton, der sprach. Da er die anderen momentan nicht für eine große Hilfe hielt – Sheriff Rose kannte die Zusammenhänge zu wenig, Frank Wall und Nigel waren wohl gerade dabei, ihre emotionalen Wunden zu lecken, Mildred stand noch unter Schock, und Doktor Masters konnte man ansehen, dass er in seiner eigenen Welt verweilte – wandte er sich direkt an Anne: »Was denken Sie, Chief-Sergeant, sagt sie die Wahrheit?«

Anne war dankbar, dass der Sergeant die Stille unterbrach. »Ja, ich denke das tut sie.«

Sie brauchte es nicht auszusprechen. Der Sergeant war sich schon während des Verhörs darüber im Klaren gewesen, dass der Fall noch nicht abgeschlossen war. Sie hatten einen weiteren Täter.

»Das zweite Pferd erklärt einiges.«

»Ja, Sergeant, ich denke, Joseph sollte Marie fortbringen. Deshalb das Treffen der Lorden-Brüder in der Spielwelt.«

Anne hatte das Gefühl, im Fall von Marie etwas zu übersehen.

Jetzt meldete sich Nigel zu Wort. Er war aufgebracht: »Du glaubst Rabea, nur weil sie sagt, sie sei unschuldig?«

»Nigel, du hast ihr nicht zugehört. Sie hat nicht gesagt, sie sei unschuldig. Sie hat den Mord an Dave Lorden und dem Richter zugegeben. Bei Dave Lorden war es ein eiskalter Mord. Sie hat die Waffe und die Munition mitgenommen. Warum wohl? Sie war schon, als sie sich auf den Weg in die Spielwelt machte, dazu bereit, gegebenenfalls Dave zu töten. Sie hat nicht einmal versucht, uns irgendeine Erklärung für das Mitnehmen der Waffe zu geben. Warum also sollte sie uns im Fall von Marie die Unschuld vom Lande vorspielen und dann wieder zugeben, dass sie Richter Voyou niedergestochen hat? Rabea ist nicht dumm. Sie weiß, dass es, was das Strafmaß angeht, keine Rolle spielen wird, wie viele Menschen sie auf dem Gewissen hat. Ich denke, sie ist daran interessiert, ihren Widersacher kennenzulernen.«

Nigel ließ nicht locker: »Vielleicht will sie dich aber nur täuschen!«

Anne sah zu Frank. Offensichtlich wollte er sich an dem Gespräch nicht beteiligen, deshalb fuhr sie fort: »Ich denke nicht, dass Joseph ihr eine Nachricht hinterlassen hat. Das würde überhaupt keinen Sinn machen. Unsere Ermittlungen haben lediglich ergeben, dass Joseph und Dave gegen mich ermittelt haben. Zum Zeitpunkt ihres Todes spielte das Foto für die Lorden-Brüder noch überhaupt keine Rolle. Wahrscheinlich dachten sie, wie wir bereits vermutet haben, dass es irgendein Foto war und im Zuge des Recyclings die Rückseite verwendet wurde. Alle möglichen Nachrichten und Vermerke haben irgendwelche Rückseiten, die bedruckt, bemalt oder mit einer Fotografie versehen sind.

Wie oft schenkst du diesen Rückseiten Beachtung, wenn du dir sicher bist, dass die eigentliche Information auf der anderen Seite steht? Wenn Rabea die Nachricht nicht von Joseph erhalten hat, dann wurde Joseph wahrscheinlich auch mit einer falschen Nachricht auf die Waldlichtung gelockt. Da er sich gegen Mitternacht sowieso mit seinem Bruder in der Spielwelt treffen wollte, nahm er das zweite Pferd für Marie zu dem Treffen auf der Waldlichtung gleich mit. Wer auch immer ihm die Nachricht geschickt hat, hat entweder gewusst, dass Joseph noch in die Spielwelt wollte oder Glück gehabt, dass er Josephs Zeitplanung damit nicht durcheinander gebracht hat. Wer weiß, vielleicht wäre Joseph gar nicht erschienen, wenn der Zeitpunkt des Treffens zu einer anderen Uhrzeit festgelegt worden wäre? Auf jeden Fall hat er Rabea, als sie ihn fand, zu seinem Bruder geschickt – warum hätte er das tun sollen, wenn er sie verdächtigt hätte?«

Nigel widersprach: »Das kann sie aber auch erfunden haben. Vielleicht hat sie Joseph auf die Waldlichtung und Dave in die Rosestreet bestellt, um sie zu töten. Ganz einfach. Sie ging sicher davon aus, dass alle beide von dem Foto wussten, und deshalb musste sie die zwei zum Schweigen bringen.«

Anne stöhnte: »Und woher wusste Rabea davon, dass die Brüder das Foto hatten?«

Nigel konterte: »Und woher sollte das jemand anderes wissen?«

Anne schaute ihn nachdenklich an, dann wanderte ihr Blick zu Sergeant Milton. Sie hatten beide den gleichen Gedanken.

»Das ist genau die Frage, die wir uns stellen müssen.«

Nigel setzte noch einmal an: »Ich traue dieser Frau nicht. Nichts für ungut, Sheriff, aber diese Rabea ist gerissen. Es mag sein, dass sie die Wahrheit sagt, aber ich bin mir sicher, sie hat einen Plan.«

Jetzt schaltete sich Sheriff Rose ein: »Aber was soll das für ein Plan sein? Sie ist erledigt. Wenn erst einmal alles an die Öffentlichkeit kommt, wird sie zur Aussätzigen.«

Die großen Augen von Madeleine Rose suchten die Gesichter der anderen ab. Sie blieben an Nigels spöttischem Blick hängen.

»Guter Gott, glauben Sie das wirklich? Wann haben Sie zuletzt in den Aschenfällen geblättert? Diese Frau wird sich zu verkaufen wissen, da bin ich sicher. Sie wird Anhänger finden, die ihre Taten rechtfertigen werden. Zwei Morde, um die Menschheit zu retten, was heißt das schon! So wird die Sache laufen. Es wird Menschen geben, die sie trotzdem verehren werden, die sagen werden, wir verdanken ihr die Neue Welt, da sie dieses Virus freigelassen hat ...«

»Nigel, bitte …« Anne bremste ihn, sie sah die schockierten Gesichter von Sheriff Rose und dem Sergeant. Aber sie sah auch die Tränen, die über Mildreds Gesicht liefen. Nigel winkte ab und blickte aus dem Fenster.

Dann erklang Mildreds zitternde Stimme: »Sie wird davonkommen?«

»Nein!«, sagte Sheriff Rose bestimmt. »Das wird ganz sicher nicht passieren. Die Menschen werden erfahren, was sie getan hat, und sie wird verurteilt werden. Mister O’Brian hat Unrecht, sie wird bestraft werden.«

Nigel lachte kurz auf, sagte aber nichts weiter. Anne sah zu ihm und nickte kurz, er verstand. Sie hatte ihm zugestimmt. Sie wusste, dass Nigels Einschätzung nicht verkehrt war. Zusammen mit Rabeas Auftritt von eben ergab das durchaus Sinn. Sie würde eine Gerichtsverhandlung dazu nutzen, sich rein zu waschen, und sie würde nicht alleine angeklagt werden. Deshalb hatte sie Anne versprechen lassen, den Fall lückenlos aufzuklären.

Anne hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Nach all den Jahren war sie immer noch so naiv. Sie hatte Rabeas Ziele nicht durchschaut, sie war wirklich der schlechteste Ermittler der Welt.

Mildred weinte leise vor sich hin.

Der Doktor wurde sich seiner Umgebung wieder bewusst und nahm sich Mildred an. Er führte sie aus dem Raum und setzte sie auf ihren eigenen Bürostuhl. Dann gab er ihr ein paar Tropfen eines leichten Beruhigungsmittels, das er immer für Notfälle dabei hatte. Er versuchte, sie zu beruhigen und sprach, um sie abzulenken, über banale Dinge wie die schönen Blümchen auf ihrem Schreibtisch. In der Zwischenzeit machten sich die anderen im Büro des Sheriffs ihre Gedanken bezüglich der Ermittlungen. Sie sprachen alles noch einmal durch. Die Zweifel und Ungereimtheiten mussten beseitigt werden. Es half nichts, man musste der Tatsache ins Auge sehen, dass der Fall noch nicht abgeschlossen war.

Eine halbe Stunde später streckte der Doktor wieder den Kopf herein: »Ich bin kurz unten am Empfang, ich bekomme noch eine Information.« Dabei sah er Anne an.

Der Arzt von Katie hatte sich endlich zurückgemeldet und wartete unten auf Doktor Masters.

Anne antwortete: »Ja, ist gut. Wie geht es Mildred?«

»Oh, sie ist in die Küche gegangen, um einen kleinen Snack zu richten, sie sagt, die Arbeit würde sie ablenken. Ich denke, wir sollten sie erst einmal in Ruhe lassen.« Damit verschwand Doktor Masters, schloss die Tür und überließ die anderen wieder ihren Gesprächen.

Sie diskutierten gerade über den günstigsten Zeitpunkt, die Öffentlichkeit und den Großen Rat über die neuesten Erkenntnisse zu informieren, als die Bürotür aufgerissen wurde. Ein Sergeant erschien im Türrahmen, er war bleich und hatte die Augen unnatürlich geweitet. Das Sprechen war ihm kaum möglich, geschweige denn, einen ganzen Satz herauszubringen. Der Mann stand unter Schock.

Nur unter größter Anstrengung stammelte er ein paar Worte: »Sie sollten kommen, schnell ...«

 

»Um Gottes Willen, Mildred!« Anne hatte das Gefühl zu fallen. Zu fallen und niemals auf dem Boden aufzuschlagen.

»Mildred!« Franks Stimme überschlug sich. Fassungslos starrte er sie an.

Keiner der übrigen Anwesenden brachte ein Wort heraus. Sergeant Milton ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte den Kopf in seine Hände. Sheriff Rose wurde kreidebleich und musste sich an der Wand abstützen, und Nigel schüttelte ungläubig den Kopf. Das Zimmer war erfüllt von dem Gefühl des Entsetzens, der Enttäuschung und der Trauer. Die Trauer über den Verrat und darüber, eine Freundin und Gefährtin verloren zu haben.

Niemand sah auf Rabea, die in ihrer Zelle lag. Wunderschön war sie, selbst im Tode. Nicht einmal das kleine Einschussloch in ihrem Kopf konnte daran etwas ändern. Alle blickten auf Mildred, die mit der Waffe in der Hand vor Rabeas Zelle stand. Sie blickte starr geradeaus. Anne war sich sicher, dass es nicht hätte schlimmer kommen können. Sie war vollkommen ratlos. Sie suchte verzweifelt nach Gründen, nach einem Sinn. Es musste doch eine vernünftige Erklärung geben. Mildred wurde schließlich nicht eingeäschert, das musste doch etwas bedeuten! Aber so sehr sich Anne auch anstrengte, sie fand keine. Die Einäscherung hätte ausgelöst werden müssen.

Anne lief auf Mildred zu und nahm ihr sanft die Waffe aus der Hand. Mildred ließ es einfach geschehen. Sie leistete auch keinen Widerstand, als Anne sie Richtung Ausgang führte. Vor dem Zellentrakt hatte sich schon eine kleine Gruppe Mitarbeiter versammelt. Hinter sich hörte sie Frank Wall und Madeleine Rose. Sie gaben Anweisungen. Sie hörte die Stimme von Doktor Masters, der gerade vom Empfang kam. Er rief Annes Namen, so, als wollte er ihr etwas mitteilen. Dann hörte sie Nigel, wie er versuchte, dem Doktor eine Erklärung zu geben. Anne führte Mildred an den Anwesenden vorbei, immer weiter, bis sie schließlich in Frank Walls Büro waren.

In dem Büro, in dem Mildred so viele Jahre ihre Arbeit verrichtet hatte. Sie war die gute Seele der Wache gewesen. Zuverlässig, treu, immer loyal. Anne kannte sie bereits als Kind. Paul, Mildreds Vater, war Annes Freund gewesen.

Sie schob Mildred in den Raum und drückte sie vorsichtig in einen der schönen Chippendale-Sessel. Mechanisch griff sie in Franks Schreibtisch und balancierte eine Flasche mit Hochprozentigem auf den Tisch. Zum Glück hatte Sheriff Rose nichts weggeräumt. Sie fand zwei Gläser und schenkte Mildred einen kleinen Schluck ein. Bei sich selbst war Anne großzügiger. Sie leerte ihr Glas auf einen Zug, während Mildred nur vorsichtig an ihrem nippte. Dann tauchten die anderen fünf auf.

Anne gab ihrem Sergeant zu verstehen, dass er sich einen weiteren Sessel heranziehen sollte. Frank, Nigel, Madeleine Rose und Doktor Masters deutete sie durch ein Kopfnicken an, sich an den großen Konferenztisch zu setzen. Sie wollte, dass sie hinter Mildred saßen. Es war vielleicht einfacher, mit Mildred zu sprechen, wenn diese das Gefühl hatte, mit Anne und dem Sergeant alleine zu sein. Warum sollte sie noch in die fragenden Gesichter von drei weiteren Männern und einer Frau blicken? Das würde die Befragung nur unnötig erschweren. Dann schloss sie die Bürotür, füllte noch einmal ihr Glas und drückte es dem Sergeant in die Hand, der es ebenfalls auf einen Zug leerte.

Anne setzte sich Mildred gegenüber. Es war unerträglich still. Mildred sah nicht auf. Sie nestelte an einem Taschentuch.

Anne berührte Mildreds Hände und sprach mit ihr, als würde sie mit einem kleinen Kind sprechen: »Mildred, sieh mich an.«

Mildred hob den Kopf.

Anne sah in Mildreds gütiges Gesicht und fuhr fort: »Mildred, du musst mir erzählen, was passiert ist. Hast du das verstanden? Ich muss das wissen.«

Mildred nickte mit dem Kopf. Sie fühlte sich müde, aber es war auch eine große Last von ihren Schultern gefallen. Nun war es vorbei. Sie sah Anne an und lächelte: »Das Miststück hat endlich seine Strafe bekommen!«

Der Kommentar war so unerwartet, dass alle mit offenem Mund auf Mildred blickten. Nicht einmal Richter Voyous Humor hätte für mehr Verblüffung sorgen können.

»Gut«, sagte Anne, »die Stimmung ist aufgelockert, ich denke, du sprichst von Rabea. Das würde zumindest die Kugel in ihrem Kopf erklären.«

Anne empfand solch eine Wut, dass Mildred ihr das nicht erspart hatte. Sie konnte sich nicht länger zurückhalten. Sie hatte gehofft, dass Mildred jammern, irgendetwas zu ihrer Entschuldigung sagen würde. Anne hatte auf Tränen gehofft. Alles wäre besser gewesen als diese Kaltblütigkeit.

Anne fragte sich, ob sie eigentlich irgendeinen Menschen um sich herum hatte, der nur im Ansatz so war, wie er vorgab zu sein.

Und dann war es um Annes Beherrschung geschehen, und sie wurde laut: »Was zum Teufel hast du getan? Was hast du mit alldem hier zu tun?«

Anne machte eine ausladende Handbewegung. Es war klar, dass sie die Morde der vergangenen Tage meinte. Jetzt war sie kurz davor zu schreien: »Antworte, verdammt nochmal! Warum wurdest du nicht eingeäschert? Wie ist das überhaupt möglich?«

Es war Sergeant Milton, der Anne am Ärmel berührte und sie bestimmt zurück in ihren Sessel zog. Dann sprach er ganz ruhig mit Mildred: »Misses Grey, Sie sollten uns alles von Anfang an erzählen. Was hatte Rabea getan? Wofür haben Sie sie bestraft?«

Mildred mochte den Sergeant, sie fand, er war ein lieber Junge und so zuvorkommend. Sie antwortete ihm daher ebenso freundlich: »Sie hat meinen Vater getötet. Sie zu erschießen, war das Mindeste, was ich tun konnte.«

Anne wollte sie schon unterbrechen, aber Sergeant Milton ließ sie nicht zu Wort kommen. Er war schneller und sprach erneut zu Mildred: »Das ist durchaus nachvollziehbar, aber Rabea hat behauptet, es sei ein Unfall gewesen. Sie hatte den Mord an Dave Lorden und dem Richter zugegeben. Wir hätten sie vor Gericht gestellt ...«

»Sie ist Schuld an dem Tod meines Vaters. Egal, wie Sie es nennen, für mich ist sie die Mörderin meines Vaters. Schließlich war ich damals dabei.«

Mildred wandte den Blick wieder ab und sah auf ihre Hände.

Anne stieß hörbar die Luft aus. Sie sagte nichts. Ihr war klar, dass Sergeant Milton das besser machen würde, sie war zu sehr betroffen.

Der Sergeant stellte seine nächste Frage: »Was heißt, Sie waren dabei? Und wenn das so war, warum haben Sie das bisher niemandem gesagt?«

Mildred blickte wieder auf, so, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht: »Weil ich es versprochen habe.«

»Das ist aber eine zähe Angelegenheit«, dachte sich Sergeant Milton, aber er ließ sich seine Ungeduld nicht anmerken: »Und wem haben Sie es versprochen?«

»Natürlich meinem Vater, bevor er starb.«

Der Sergeant reagierte mit einem gedehnten: »In Ordnung ...« Dann fuhr er fort: »Mildred, könnten Sie uns vielleicht etwas genauer erzählen, was an dem Tag, als Ihr Vater starb, passiert ist?«

Mildred sah zu Anne. Diese bereute bereits ihren Wutausbruch und nickte Mildred jetzt zu: »Erzähle es uns, ich denke, dein Vater hätte gewollt, dass wir die Wahrheit erfahren.«

Offensichtlich war das Argument für Mildred einleuchtend, und sie richtete sich auf, bevor sie anfing zu erzählen: »Mein Vater ging immer samstagmorgens in die Berge. Ich weiß nicht, ob Sie auch in die Berge gehen, Sergeant.«

Der Sergeant schüttelte den Kopf.

»Es führt nur ein Weg bis zur großen Weggabelung hinauf. Danach kann man entweder einen der Rundwege wählen oder eine Klettertour an den Felsen machen. Meine Mutter hatte immer Angst, dass mir etwas passieren würde, deshalb durfte ich eigentlich nicht mitgehen. Aber manchmal schlich ich mich davon und begleitete meinen Vater. Das wusste aber niemand. Es war unser kleines Geheimnis. Ich ließ ihm dann immer einen Vorsprung und folgte ihm so leise wie möglich. Das war ein Spiel zwischen uns. Irgendwann wartete er dann hinter einer Wegbiegung auf mich, um mich zu erschrecken. An diesem speziellen Tag war das anders. Er wartete ebenfalls hinter einer Wegbiegung. Wir waren schon fast oben an der Gabelung. Als er mich abfing, hielt er mir den Mund zu und flüsterte, ich solle ganz ruhig sein. Ich wusste sofort, dass das Spiel vorbei war. Er gab mir Anweisungen. Ich sollte so schnell ich konnte nach Hause laufen und zu niemandem ein Wort sagen. Er ließ keine Widerworte zu. Ich war schon um die Ecke, als mich die Neugier zurückhielt.

Ich versteckte mich. Kaum hatte ich meinen Platz im Gebüsch eingenommen, sah ich sie schon. Sie kam den Berg herunter und auf meinen Vater zu. Sie hatte bereits oben an der Weggabelung gewartet. Es war schließlich allgemein bekannt, dass mein Vater hier gewöhnlich um diese Zeit unterwegs war. Offensichtlich hatte mein Vater sie entdeckt, bevor sie ihn gesehen hatte. So konnte er mich abfangen und nach Hause schicken, und offensichtlich wusste er sehr genau, dass sie eine Gefahr war. Ich wusste natürlich, wer sie war. Es gab so viele Geschichten über sie, und ich hatte sogar ein Bild von ihr in meinem Zimmer. Auf jeden Fall konnte ich die beiden in meinem Versteck gut hören und sehen. Rabea ging auf ihn zu, und die beiden fingen an zu sprechen. Mein Vater sprach immer wieder von Unrecht. Sie sagte nur, dass das einzige Unrecht, über das er sich Gedanken machen müsse, das sei, das seiner Familie geschehen könnte. Er solle sich darüber im Klaren sein, dass sie am längeren Hebel sitze. Niemand würde ihm glauben, sie würde einfach behaupten, er würde lügen.

Dann wollte Rabea wissen, ob er ihr alle Unterlagen übergeben hätte. Er bestätigte das zwar, beschimpfte sie aber wüst. Sie stritten immer heftiger. Heute bin ich mir sicher, dass es um diese ›Burnout-Sache‹ ging. Mein Vater war vermutlich dabei, alles darüber herauszufinden. Der Streit wurde immer lauter. Dann gab es ein Handgemenge, und mein Vater fiel den Abhang hinunter. Ich hatte entsetzliche Angst. Glücklicherweise hatten andere Spaziergänger meinen Vater fallen sehen. Sie waren an der gegenüberliegenden Seite des Abhangs unterwegs gewesen, und so wurde er kurz nach seinem Sturz geborgen. Natürlich hatten sie Rabea nicht bemerkt. Sie kam und ging, ohne dass sie irgendwem aufgefallen wäre. Ich weiß nicht, wie ich die Strecke nach Haus zurückgelegt habe.

Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich in meinem Zimmer saß und zitterte, als meine Mutter herein kam. Sie weinte und sagte, dass mein Vater einen schlimmen Unfall gehabt hätte, wir müssten sofort zu ihm in das Krankenhaus. Er hatte so lange durchgehalten, bis er mit mir im Krankenhaus hatte sprechen können. Er wollte mich unbedingt noch einmal sehen und sich vergewissern, dass mir nichts passiert war. Vielleicht ahnte er schon, dass ich etwas gesehen hatte. Er bat meine Mutter, ihn mit mir alleine zu lassen. Als ich ihm dann sagte, dass ich tatsächlich alles gesehen hatte, war er entsetzt. Er ließ mich alle Eide schwören, dass ich niemals irgendwem davon erzählen würde. Er machte mir richtig Angst. Eindringlich erklärte er mir, dass ich selbst und alle, die ich lieben würde, in Gefahr wären, wenn Rabea jemals erfahren würde, dass ich Zeuge des Streits gewesen wäre. Ich musste schweigen, auch ihm zuliebe.

Er sagte, es gäbe keine Beweise, er würde das Geheimnis um Rabea mit in sein Grab nehmen. Es wäre also völlig sinnlos, wenn ich etwas erzählen würde. Außerdem würde es ihm das Herz brechen, wenn mir etwas zustoßen sollte.«

Der Sergeant räusperte sich: »Aber hätten Sie nicht später etwas sagen können? Warum sind Sie nicht zu Misses Reeve gegangen?«

»Sergeant, Sie haben mir wohl nicht zugehört. Solange es Menschen gibt, die man liebt, ist man bereit, zu schweigen, um sie zu schützen. Erst hatte ich Angst um meine Mutter, später dann um meinen Mann Allen. Ich war zwanzig, als wir geheiratet haben. Und abgesehen davon, damals war ich ein Kind! Wer hätte mir geglaubt, dass Rabea, der Engel der Menschheit, meinen Vater umgebracht hat? Und vergessen Sie eines nicht: Sie wurde nicht eingeäschert. Ich hätte also nicht nur von einem Mord gesprochen, sondern auch davon, dass Rabea immun gegen die Einäscherung wäre. Für mich ist Rabea Schuld am Tod meines Vaters, und damit ist es Mord. Wie hätte ich das je beweisen sollen? Es wäre mir nicht einmal gelungen, Rabea überhaupt in Verbindung mit dem Tod meines Vaters zu bringen. Selbst wenn ich nur behauptet hätte, es wäre ein Unfall gewesen. Jeder hätte mich für ein verstörtes Kind gehalten, das den Tod des Vaters nicht verkraftet hat und sich mit fantastischen Spinnereien die Trauer erleichtern wollte. Wenn ich etwas gesagt hätte, wären alle der Meinung gewesen, es würde sich um Hirngespinste handeln. Glauben Sie mir, ich habe mir oft überlegt, ob ich Anne davon erzählen soll. Aber hätte sie mir geglaubt? Vermutlich hättest du mich ernst genommen, nicht wahr Anne?«

»Das hätte ich, Mildred, das hätte ich auf jeden Fall. Es wäre doch alles viel einfacher gewesen, wenn du dich mir anvertraut hättest.« Anne schluckte schwer.

Mildred sah sie fast mitleidig an: »Wäre es das? Ich hätte dein Leben damit vielleicht zerstört. Du hättest dich verpflichtet gefühlt, mir zu glauben. Aber es hätte keine Beweise gegeben. Es wäre also eine aussichtslose Sache gewesen. Ich wusste nicht, was mein Vater gegen Rabea in der Hand hatte. Wir hätten also nicht den geringsten Hinweis gehabt. Warum hätte ich dich da mit hineinziehen sollen? Glaube mir, ich weiß, wie das ist, wenn man nachts wachliegt und fast wahnsinnig wird, weil man hilflos ist. Außerdem habe ich meinem Vater versprochen, zu schweigen. Manchmal hoffte ich auch darauf, dass jemand anderes die Wahrheit über Rabea herausfinden würde, wie auch immer diese lauten würde. Dass irgendjemandem auffallen würde, wie verlogen sie ist. Ich schäme mich dafür, mich mit dem Versprechen gegenüber meinem Vater für meine Feigheit zu entschuldigen. Aber die Angst, dass meiner Familie etwas zustoßen könnte, rechtfertigte meine Entscheidung.«

Sergeant Milton beugte sich ein bisschen nach vorne, als er seine nächste Frage stellte: »Aber etwas ist passiert, nicht wahr? Irgendetwas hat ihre Meinung geändert?«

Mildred betrachtete ihre Hände, dann blickte sie den Sergeant an: »Vor dreizehn Monaten starb mein Mann.«

Als Mildred ihren Mann erwähnte, veränderte sich ihr Blick. Anne sah Mildred nachdenklich an. Sie hatten Mildreds Trauer um ihren Mann Allen unterschätzt. Hatte sein Tod diesen verspäteten Rachefeldzug ausgelöst?

Sergeant Milton fragte erneut: »Was hat Ihre Meinung geändert?«

Die Antwort kam schnell: »Mein Vater.« Als sie Sergeant Miltons ungläubiges Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Ich meine nicht seinen Geist. Er hat mir nicht die ganze Wahrheit gesagt, damals im Krankenzimmer. Er hat nicht alle Beweise vernichtet. Er hat sie für dich, Anne, beim Notar hinterlegt. Allerdings solltest du sie erst nach meinem Tod erhalten.«

Anne wusste sofort, dass Mildred die Wahrheit sagte. Das war vollkommen logisch, denn genau so hätte Paul Grey gehandelt. Einen »Letzten Brief« beim Notar zu hinterlegen, das passte viel besser zu Paul Grey als die Geschichte mit dem Hinweis in Mildreds Schulakte. Aber warum hatte der Notar über den »Letzten Brief« von Paul nichts in seinen Unterlagen gefunden, als ihn Sergeant Milton danach gefragt hatte? Außerdem blieb noch die Frage, wie die Lordens ins Spiel gekommen waren.

Diese Frage stellte Sergeant Milton: »Misses Grey, aber wie haben Sie davon erfahren, und wieso hatten die Lordens das Foto?«

Mildred sah Anne und den Sergeant nacheinander an: »Ich denke, das ist eine längere Geschichte.«

Die vier am großen Konferenztisch hinter Mildred bewegten sich auf ihren Stühlen. Immer noch fassungslos starrten sie auf Mildreds Rücken. Trotzdem brannten auch sie vor Ungeduld, endlich die Wahrheit zu hören.

Mildred lächelte Anne an: »Du warst meinem Vater immer eine gute Freundin. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich nicht verletzen wollte. Ich wollte dir keinen Kummer machen. Aber die Sache musste geklärt werden ...«

Anne war ratlos, was sollte sie darauf erwidern?

Schließlich war es wieder der Sergeant, der das Gespräch fortführte: »Mildred, wir haben genügend Zeit, Ihre Geschichte zu hören, bitte erzählen Sie einfach von Anfang an.«

Mildred blickte den Sergeant an. Sie schwieg. Es schien fast so, als wollte sie nicht weitersprechen.

Dann gab sie sich plötzlich einen Ruck: »Nun, wo soll ich anfangen ... Ich denke, es war Allens Tod, der alles verändert hat. Ich konnte einfach nicht mehr klar denken. Er fehlte mir so unglaublich. Mein Leben machte ohne ihn keinen Sinn mehr. Egal, was andere sagen, wenn man mit einem Menschen so verbunden ist, wie ich es mit Allen war, dann kann man alleine nicht mehr überleben. Das ist völlig unmöglich.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Allen war mein Seelenverwandter. Ich habe immer gehofft, ich würde vor ihm sterben. Aber nein, auch dieses Mal hat er seinen Kopf durchgesetzt und mich einfach zurückgelassen. Ich habe wirklich probiert, alleine zurecht zu kommen. Ich habe viel gearbeitet, damit mir die Zeit zu Hause nicht so lange vorkam. Aber es half nichts, meine Zeit war abgelaufen. Ich wollte zu Allen. Ich war immer der Meinung, dass ein Selbstmord eine Verzweiflungstat ist, und dieser Meinung bin ich immer noch. Ich bin auch immer noch der Meinung, dass die Gesellschaft versagt hat, wenn sie zulässt, dass sich ein Mensch das Leben nimmt. Allerdings gibt es für mich mittlerweile Ausnahmen. Die Gesellschaft hätte mir nicht über den Tod von Allen hinweg helfen können. Niemals!«

Anne wollte etwas sagen, aber Mildred ließ es nicht zu.

»Nein, Anne, du hättest nichts tun können.« Mildred nickte ihr zu und drehte sich das erste Mal zu den anderen um: »Sie werden gut für sie sorgen, nicht wahr, Mister O’Brian?«

Nigel nickte.

Mildred fuhr fort: »Du kannst dir wahrscheinlich denken, dass ich mich entschlossen hatte, mein Leben zu beenden. Natürlich wollte ich mich erklären. Ich schrieb also einen ›Letzten Brief‹, den du, Anne, nach meinem Tod bekommen solltest. Ich hatte alles sorgfältig geplant. An dem Tag, als ich zum Notar ging, um den Brief zu hinterlegen, war ich mit mir vollkommen im Reinen. Ich hatte sogar darauf verzichtet, Rabea in meinem Brief zu erwähnen. Meinen Vater hätte es nicht wieder lebendig gemacht. Und du hättest dich verpflichtet gefühlt, der Sache nachzugehen und vielleicht den Rest deines Lebens einen aussichtslosen Kampf geführt – das wollte ich nicht. Außerdem konnte ich so das Versprechen gegenüber meinem Vater halten. Als ich in das Notariat ging, war niemand da. Offensichtlich waren alle in der Pause. Da ich als Frank Walls Sekretärin zu allen Räumen Zutritt habe, war es für mich kein Problem, den Schlüssel aus dem Sheriff-Büro zu holen – du weißt, dass wir hier von allen Schlüsseln der Wache Süd und den Räumen des Forschungszentrums einen Zweitschlüssel verwahren, so viele verschlossene Türen gibt es ja auch nicht.«

Anne wusste das natürlich. Das Notariat war einer der wenigen Räume, der abgeschlossen wurde. Man war der Auffassung, dass die »Letzten Briefe« verschlossen aufbewahrt werden sollten. Man gab sie dem Notar, und der kümmerte sich darum, dass sie am gewünschten Zustelldatum der entsprechenden Person ausgehändigt werden konnten. Dafür führte er verschiedene Bücher und Kalender, die es ihm ermöglichten, pünktlich auszuliefern. Die Briefe selbst wurden alphabetisch, nach dem Namen des Verfassers, abgelegt. Man konnte das Verschließen der Türen mehr als Zeichen der Achtung vor den letzten Wünschen der Verstorbenen sehen und weniger als eine echte Sicherheitsmaßnahme.

Anne wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Mildred fortfuhr: »Ich ging also und holte den Schlüssel. Es war mir ganz recht, niemanden im Notariat anzutreffen. Wie gesagt, als Sekretärin des Sheriffs kenne ich die verschiedenen Abteilungen und weiß, wie sie arbeiten. Ich kenne ihre Ablagesysteme. Also wollte ich meinen Brief einfach unter ›Grey‹ ablegen und die entsprechenden Vermerke in den Büchern und Kalendern machen, damit die Zustellung gleich nach meinem Tod an Anne hätte erfolgen können. Das war alles. Ich wollte nur den Brief ablegen.«

»Aber ...?«, meldete sich der Sergeant zu Wort.

»Ich weiß, Sie sind wirklich ein ehrlicher Kerl, Sergeant Milton, ich hätte das gar nicht tun dürfen. Wenn mich jemand gesehen hätte, wäre das nicht angenehm für mich gewesen. Aber ich wollte meinem Leben an diesem Tag ein Ende setzen. Ich konnte nicht auf den Notar warten, und somit war es mir zu diesem Zeitpunkt auch egal, ob mich jemand erwischen würde. Und wäre ich für meinen unbefugten Zutritt eingeäschert worden ...«

Sergeant Milton signalisierte Mildred, dass er verstand. Mildred nickte ihm dankbar zu und sprach weiter: »Ich denke es war fast Schicksal, dass ich genau in dem Moment meinen Brief abgeben wollte, als das Notariat nicht besetzt war. Genauso, wie es Schicksal war, dass ich den Schlüssel holte und dabei unentdeckt blieb. Ich ging also zu meinem Buchstaben und suchte die richtige Stelle, um meinen Brief einzusortieren – und dann fand ich ihn. Wie gut, dass wir in der Neuen Welt immer den Nachnamen der Frau nach der Ehe weiterführen.«

Nach den Aschentagen hatte man sich für diese Regelung entschieden. Es war eine Art Respektbekundung gegenüber den Frauen, die schließlich die Kinder unter Schmerzen auf die Welt brachten. Den Kindern dann den Namen der Mutter zu geben, war somit logisch. Der Mann blieb in diesem Fall etwas außen vor, aber da über Jahrhunderte die Frau immer in zweiter Reihe stand, war diese Regelung den Gründern der Neuen Welt als gerecht erschienen. So hatten Mildred und Allen nach der Hochzeit also den Nachnamen »Grey« weitergeführt.

Anne und Sergeant Milton hatten schon eine Ahnung, was jetzt folgen würde, und ihre Ahnung wurde bestätigt.

»Ich fand den Brief, den mein Vater, Paul Grey, Anne hinterlassen hatte.«

Im Büro war es vollkommen still. Die Spannung war fast greifbar. Mildred ließ sich mit ihrer Erzählung Zeit, aber keiner wagte es, sie zu drängen.

Mildred sprach jetzt fast entschuldigend: »Ich hatte mich wirklich entschieden, mein Leben zu beenden. Dann hielt ich diesen Brief in Händen. Ich sah ja den Vermerk ›Erst nach Mildred Greys Tod übergeben‹. Da wusste ich, es hatte etwas mit Rabea zu tun. Mein Vater hätte sonst mit der Aushändigung nicht so lange gewartet. Er musste etwas Wichtiges und Gefährliches enthalten. Ich habe den Brief meines Vaters eingesteckt und alle Vermerke bezüglich seiner Zustellung aus den Büchern und Kalendern des Notars gelöscht. Meinen Brief habe ich nicht hinterlegt. Ich bin schnell aus dem Notariat verschwunden. Ich hatte mir den Rest des Tages sowieso schon freigenommen, wenn auch aus anderen Gründen ... Ich bin fast nach Hause gerannt. Ich wollte den Brief nicht vorher öffnen. Dass ich gegen die Gesetze verstoßen und meine Stellung missbraucht hatte, war mir zwar unangenehm – aber da ich nicht eingeäschert wurde, konnte mein Vergehen nicht so schlimm sein. Außerdem war ich der Meinung, ein Recht auf den Inhalt des Briefes zu haben.«

Mildred schwieg und sah nachdenklich aus: »Vielleicht war es ein Fehler, den Brief zu nehmen. Aber als ich ihn erst einmal geöffnet hatte, war es zu spät, darüber nachzudenken.«

Die Anspannung der Anwesenden erreichte jetzt ihren Höhepunkt. Das Gespann am Konferenztisch blickte so starr auf Mildreds Hinterkopf, dass es fast so aussah, als seien die vier ausgestopft. Anne und Sergeant Milton saßen nur noch auf ihren Sesselkanten und beugten sich nach vorne.

Endlich brachte Mildred die Erlösung: »Ich war eigentlich im ersten Moment enttäuscht, ich hatte mir mehr erwartet. Stattdessen war nur das Foto von Rabea und ihrem Vater in dem Umschlag und das Tütchen mit der Kapsel.«

Sechs Personen wiederholten gleichzeitig das Wort »Kapsel?!«

Mildred schien fast amüsiert: »Ja, die Kapsel. Die Kapsel gegen die Einäscherung.«

»Wo ist die Kapsel jetzt?«, fragte Doktor Masters. Sein Forscherherz schien ihm fast aus der Brust zu hüpfen.

Mildred drehte sich ein bisschen in seine Richtung: »Na, ich habe sie geschluckt, sonst hätte ich doch gar nichts unternehmen können. Ich dachte, das sei klar.«

Jetzt spitzte Anne die Ohren: »Was hast du unternommen, Mildred?« Anne hoffte, darauf keine Antwort zu bekommen, aber Mildred gab bereitwillig weiter Auskunft: »Eigentlich solltest du etwas unternehmen. Aber die Lordens waren zu dämlich, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Deshalb musste ich eingreifen.«

Anne war ungeduldig: »Etwas genauer bitte, Mildred.«

Mildred fing noch einmal von vorne an: »Also, ich hatte das Bild in meinen Händen. Auf der Vorderseite das Foto, auf der Rückseite die Notiz meines Vaters ›Anne Reeve – Burnout – gefährlich‹ und sein Name ›Paul Grey‹. Selbst mir war klar, was das bedeutete: Anne untersuche den Fall ›Burnout‹! Beachte, was mit diesem Fall im Zusammenhang steht, ist gefährlich. Dann das Foto auf der Vorderseite. Ein junges Mädchen mit einem Mann, einem Wissenschaftler, der seinen Arm um sie legt. Eine typisch väterliche Geste. Die Ähnlichkeit der beiden, die Notiz ›Vater‹ und das schöne Gesicht des Mädchens, dann der Militärstützpunkt im Hintergrund – wie konnten die Lordens da nicht die richtigen Schlüsse ziehen?

Wie lange kann es dauern, zu erkennen, dass Rabea das Mädchen auf dem Bild ist? Wie lange kann es dauern, zu erkennen, dass sie nicht die Wahrheit über ihren Vater gesagt hat? Wie lange kann es dauern, den Fall ›Burnout‹ zu suchen? Wie lange kann es dauern, dich – Anne – zu informieren?«

Mildred war jetzt in Rage. Sie hatte sich furchtbar über die Lordens aufgeregt.

»Sie waren unfähig. Sie haben mich gezwungen, zu handeln. Warum haben sie dir nicht einfach das Foto gegeben? Mein Vater hat zwar seine Informationen nur vorsichtig mitgeteilt, aber wieso kamen die Lordens nicht auf die Idee, Anne um Unterstützung zu bitten? Anne war die Partnerin meines Vaters, eine Freundin, eine Ermittlerin! Er hat ihren Namen auf die Rückseite geschrieben. Wieso haben die Lordens nicht mit ihr gesprochen? Sie hätten Anne das Foto geben müssen! Im Laufe der Untersuchungen hätte Anne dann die Wahrheit herausgefunden. Selbst wenn sie anfangs, wie wir alle, nicht wissen konnte, um was es bei dem ›Burnout-Fall‹ ging, so wäre ihr doch schnell klar geworden, dass es mit Rabea zu tun haben musste. Warum sonst hätte mein Vater seinen Hinweis auf die Rückseite eines Fotos von Rabea geschrieben? Mir war das sofort klar, als ich die Fotografie in den Händen hielt. Und du, Anne, hättest es ebenfalls so gesehen, da bin ich mir sicher. Hätten die Lordens dir nur das Foto gegeben.«

Sergeant Milton stellte die Frage, die alle bewegte: »Mildred, warum haben Sie das Foto nicht einfach Anne gegeben?«

Mildred mochte den Sergeant, aber langsam gingen ihr seine einfältigen Fragen auf die Nerven: »Offiziell konnte ich das Foto Anne nicht geben. Dann hätte ich meinen Diebstahl im Notariat zugeben oder Anne anlügen müssen. Beides wollte ich nicht. Ich kenne die Gesetze, Anne wäre sofort verpflichtet gewesen, das Foto an das Notariat zurückzugeben, da die Wünsche, die mit den ›Letzten Briefen‹ verbunden sind, besonders geschützt werden. Für mich hätte das dann eine Anklage bedeutet. Das mit der Anklage wäre nicht das Schlimmste gewesen, aber Rabea hätte vielleicht davon erfahren und sicher Mittel und Wege gefunden, sich zu schützen. Das Foto hätte der Notar weiter verwahrt, wenn man mir nicht sogar noch unterstellt hätte, dass ich das Foto und die Notiz manipuliert hätte.«

Anne war zwar trotz Mildreds Erklärungen der Meinung, dass der direkte Weg der richtige Weg gewesen wäre, aber sie wusste auch, dass noch vor wenigen Tagen unter den hier Anwesenden nur Nigel geneigt gewesen wäre, Mildreds Spekulationen bezüglich Rabea zu glauben. Heute saß er mit Gleichgesinnten in einem Raum. Ihr aller Glaube in das System war erschüttert worden.

Mildreds Stimme unterbrach ihre Gedanken: »Und wenn Anne sich nicht an die Regeln gehalten und den Diebstahl nicht ordnungsgemäß gemeldet hätte, wäre sie vielleicht eingeäschert worden. Das Risiko war zu groß. Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, Anne das Foto auf anonymem Wege zukommen zu lassen. Vielleicht hätte man dann aber daran gezweifelt, dass die Notiz auf der Rückseite wirklich von meinem Vater stammte. Vielleicht hätte man Anne keine Ermittlungen gestattet, da der Hinweis anonym war. Ein anonymer Hinweis ist heutzutage immer verdächtig, nicht wahr, Mister O’Brian?«

Nigel wurde rot. Aber die anderen achteten nicht weiter darauf. Sie alle wollten die Geschichte von Mildred hören.

Diese sprach gelassen weiter: »Nein, ich wollte eine offizielle Untersuchung. Ich wollte, dass alles ganz ordnungsgemäß abgewickelt werden würde. Anne sollte nicht in Schwierigkeiten kommen, die Ermittlungen mussten offiziell und rechtmäßig sein, und die Gefahr, die von Rabea ausging, durfte nicht zu groß werden. Und sie durfte keine Chance haben, die Beweise zu vernichten. Nein, es gab nur eine Möglichkeit. Ich war damals davon überzeugt, dass ein plötzlich auftauchendes Beweismittel nur dann die Macht haben würde, Rabea zu vernichten, wenn es zuvor von einem Toten in einer Akte versteckt worden wäre. Daher hatte ich einen Plan. Ich wollte, dass Anne das Foto auf legalem Weg bekommt – aber zu meinen Lebzeiten. Ich wollte dabei sein, wenn Anne die Ermittlungen führen würde. Also habe ich das Foto in meine Schulakte gesteckt. Natürlich musste ich dafür sorgen, dass es schnellstmöglich gefunden wurde.

Da ich mich – wie gesagt als Sekretärin des Sheriffs – überall frei bewegen kann, konnte ich die Sterbemeldungen einsehen. Ich musste also nur meine Schulakte, in die ich das Foto von Rabea gelegt hatte, in die Akte eines gerade Verstorbenen stecken. Möglichst so, dass alles herausfällt, wenn man die entsprechende Akte herauszieht. Dann würde dieser Lorden beim Einsortieren das Foto mit der Notiz finden und es Anne vorlegen. Man würde den Hinweis ernstnehmen, schließlich stammte er von meinem verstorbenen Vater. Laut dem, was ich über Dave Lorden wusste, war es unwahrscheinlich, dass er das Foto wieder zurück in die Akte legen und darüber schweigen würde. Und wenn doch, könnte ich es immer noch holen und einen anderen Weg wählen. Es schien alles so einfach. Dave Lorden, ein furchtbar misstrauischer Mensch, findet ein Durcheinander in der Schulakte eines Verstorbenen. Da er unglaublich gewissenhaft ist, bringt er das in Ordnung. Er merkt natürlich, dass zwei Akten zusammengesteckt wurden, also sortiert er sie auseinander. Dafür muss er sich jedes Papier sorgfältig ansehen. Er findet das Foto mit der Notiz und fragt sich, was das in der Akte zu suchen hat. Die Bemerkungen meines Vaters auf der Rückseite erregen seine Aufmerksamkeit und da auch Annes Name darauf steht, bringt er es sofort seiner Freundin Anne Reeve. Diese zieht die richtigen Schlüsse und ermittelt. Der Sheriff wird den Ermittlungen zustimmen, und schon haben wir einen offiziellen Fall.

Wie gesagt, anfangs lief alles wie geplant. Das Glück war auf meiner Seite, und vor ungefähr zwei Wochen starb Lucas Grant. Unsere Akten waren in der gleichen Aktenbox. Das machte die ganze Sache noch glaubhafter. Also steckte ich meine Schulakte in die Akte des armen, gerade verstorbenen Lucas Grant. Eine kleine Manipulation, mehr konnte ich mir nicht vorwerfen. Schließlich war das Foto sowieso eines Tages für Anne bestimmt. Ich musste nur in das Schularchiv, was kein großes Problem darstellte. Ab und an war ich im Auftrag von Mister Wall dort. Mit Misses Wong war ich gut bekannt, sodass sie keinen Verdacht schöpfte. Ich hatte alles so gut arrangiert. Und Misses Wong war wirklich eine sprudelnde Quelle an Informationen.«

Anne räusperte sich und Mildred nickte in ihre Richtung: »Ja, die gute Misses Wong ist leider eine schrecklich gescheite Frau. Deshalb gab es einen Zeitpunkt in unserer Beziehung, an dem ich zu dem Schluss kam, dass ich ohne sie besser dran wäre.«

Anne wurde es schwindelig, sie hätte am liebsten den Raum verlassen. Auch Sergeant Milton und die übrigen Anwesenden wussten, was das bedeutete. Der Angriff auf Misses Wong ging also auf Mildreds Konto.

Um zu verhindern, dass Mildred schwieg, warf der Sergeant schnell eine Frage ein: »Misses Grey, was ist schiefgelaufen?«

Mildred schnaufte wütend: »Alles!«

Der Sergeant gab ihr durch ein Nicken zu verstehen, dass sie doch mit ihrem Bericht fortfahren möge.

Mildred fiel es jetzt sichtlich schwerer zu sprechen: »Zuerst sah es noch so aus, als würde mein Plan funktionieren. Dank Misses Wong wusste ich, dass Dave Lorden verstört aus dem Archiv gekommen war, als er die Akte von Lucas Grant hatte richten wollen. Damit war klar, dass er das Foto gefunden hatte. Seine Verstörtheit war ein Indiz dafür, dass er das Foto mit der Notiz als Hinweis auf etwas Beunruhigendes verstand. Aber ab diesem Zeitpunkt hat dieser Dave Lorden total versagt. Er fing an, Anne zu verdächtigen. Wir wissen alle, welche Schlussfolgerungen er gezogen hat. Als hätte Anne meinem Vater jemals etwas antun können. Ich kann nur vermuten, dass er durch seine eigenen schlechten Erfahrungen echte Freundschaft nicht erkennen konnte. Offensichtlich kam es ihm gar nicht in den Sinn, dass die Nachricht für Anne hinterlegt worden war. Heute bin ich davon überzeugt, dass er davon ausging, dass die Nachricht für Frank Wall gedacht war. Denn er hatte am Tag vor seinem Tod nach einem Termin verlangt. Ich habe ihn erst einmal vertröstet. Ich wollte nicht, dass er mit dem Sheriff über das Foto spricht. Noch nicht, ich hatte bereits andere Pläne ... Am nächsten Tag war Dave dann leider tot.«

Mildred blickte betreten zu Boden: »Tut mir leid, aber diese Information musste ich für mich behalten.«

Sie räusperte sich. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass sie die Unterschlagung der Terminanfrage von Dave Lorden mehr belastete als der Mord, den sie an Rabea begangen hatte. Offensichtlich lag ihr sehr viel daran, Frank Wall als perfekte Assistentin in Erinnerung zu bleiben.

Dann sprach sie weiter: »Dave Lorden vermutete wohl, dass mein Vater nach meinem Tod seinem ehemaligen Chef mitteilen wollte, dass Anne Reeve gefährlich war. Eine Bedrohung für andere.«

Sergeant Milton stieß einen leisen Pfiff aus. Deshalb hatte Dave Lorden einen Termin mit Frank Wall vereinbaren wollen. Er dachte, Frank Wall wäre der rechtmäßige Empfänger des Fotos. Auch Frank Wall atmete hörbar aus. Endlich ergab auch das einen Sinn.

Mildred achtete auf keinen der beiden und fuhr fort: »Misses Wong hatte zwar keine Ahnung, um was es ging, als sie zufällig ein Gespräch der Brüder hörte, aber wie sie mir natürlich sofort mitteilen musste, zweifelten die Lordens an Annes Vertrauenswürdigkeit. Als mir die gute Frau Wong dann auch noch ganz nebenbei erzählte, dass Joseph sehr an Rabea interessiert sei, schien mein Plan gescheitert. Joseph war verliebt in Rabea, also würde er ihr alles glauben. Dave hatte sich auf Anne eingeschossen, und keiner der beiden verlor offensichtlich auch nur einen Gedanken an das Foto auf der Vorderseite. Ich vermutete fast, sie dachten, dass nur die Notiz die Botschaft sei.«

»Aber was war nun mit Misses Wong?« Anne wollte eigentlich eine andere Frage stellen, zögerte sie aber unbewusst hinaus.

Mildreds Augen blickten sie sanft an: »Misses Wong. Ich bin sehr froh, dass sie überlebt hat. Bei meinem Besuch – zusammen mit Mister Wall – in der Spielwelt habe ich schnell festgestellt, dass sie überhaupt keine Zweifel bezüglich meiner Person hatte. Ich hatte vermutet, dass ihr meine vielen Fragen und mein häufiges Auftauchen in ihrem Büro vor dem Tod von Dave Lorden im Nachhinein seltsam erscheinen würden. Ich glaubte, sie würde Ihnen gegenüber, Sergeant, eine Bemerkung machen. Aber Misses Wong sah das ganz anders. Sie betrachtete mich als Teil des Sheriff-Büros und kam gar nicht auf irgendeine andere Idee. Durch meinen Besuch zusammen mit dem Sheriff bei Sebastian und Peter wurde ihr Eindruck nur noch bestätigt. Misses Wong war keine Gefahr mehr für mich. Und dank Mister O’Brian und seiner Rettung von Misses Wong trage ich deshalb heute keine Schuld.«

Der Sergeant hatte Anne genau beobachtet und wusste, was in ihr vorging. Mildreds »Zielübungen« auf Misses Wong und der falsche Feueralarm waren nicht das eigentliche Problem. Es würde für Anne nicht leicht werden, weitere Wahrheiten zu akzeptieren. Er konnte ihr nur die Fragen abnehmen, nicht die Antworten.

Sergeant Milton fuhr mit dem Verhör fort: »Was ist passiert, als Sie merkten, dass die Lorden-Brüder die falschen Schlüsse zogen?«

Mildred zögerte wieder ein wenig, sprach dann aber doch: »Mittlerweile hatte ich keinen Zugriff mehr auf das Foto. Was ich noch hatte, war die Kapsel, die ich glücklicherweise zurückbehalten hatte.«

Dieses Mal rief Doktor Masters von hinten wie ein ungeduldiger Erstklässler: »Woher wussten Sie, dass die Kapsel gegen die Einäscherung immun machte?«

Doktor Masters erntete für sein Dazwischenrufen ermahnende Blicke und sah betreten auf seine Schuhspitzen beziehungsweise über seinen gewaltigen Bauch dorthin, wo er sie vermutete.

Aber Mildred schien die Frage erwartet zu haben und gab jetzt bereitwillig Auskunft: »Auf dem Tütchen stand ›6x Anti-Burnout‹, und darunter hat mein Vater geschrieben ›Gegen die Einäscherung?‹, hat es aber mit einem Fragezeichen versehen.«

Jetzt wurde sie von Sergeant Milton unterbrochen: »Und es war nur eine Kapsel in dem Tütchen?«

Mildred schien ungeduldig: »Ja, nur eine, und ich habe auch keine Ahnung, wo die anderen Kapseln sind. Mag sein, dass es, so wie Angus, der Archivar, gesagt hat, ursprünglich sechs Kapseln waren. Aber in dem Tütchen, das mein Vater für Anne hinterlassen hat, war nur noch eine drin. Auf jeden Fall schien sich mein Vater wegen der Wirkung der Kapsel nicht ganz sicher gewesen zu sein, aber ich musste darauf vertrauen, dass es ein Mittel gegen die Einäscherung war. Denn ich hatte keine andere Wahl. Ich musste eingreifen.«

 

Anne wünschte sich fort von hier. Was war nur los mit den Menschen? Hatte Nigel doch recht, war alles, was sie als neue Werte schätzten nur aus der Angst geboren worden? Hielt ausschließlich die Angst vor der Einäscherung die menschliche Boshaftigkeit im Zaum? Sie dachte an den Fremden. Alles, was er ihr erzählt hatte, machte nach wie vor Sinn. Der Gedanke, dass die Angst vor der Einäscherung und nicht die Überzeugung der Menschen die Gesellschaft so friedlich gemacht hatte, erschreckte Anne.

Das würde bedeuten, dass die menschliche Natur nicht verbessert, sondern nur unterdrückt wurde. Wie wäre es, wenn es ab morgen keine Einäscherung mehr gäbe? Bei wie vielen Menschen würde die Boshaftigkeit über das Gewissen siegen? Was würde es für die Welt bedeuten, wenn es den Forschern gelingen würde, ein Gegenmittel zu finden?

Immerhin hatte Paul Grey damals sechs Kapseln gefunden. Mildred hatte nur von einer Kapsel gesprochen, doch wo waren die restlichen fünf? Mildred war für ihre eigenen Ziele, für ihre Rache, bereit gewesen, sich gegen das Gewissen zu entscheiden. Sie war auch jetzt noch der Überzeugung, dass sie das Richtige getan hatte.

In diesem Moment fühlte sich Anne das erste Mal seit den Aschentagen als alte Frau. Sie würde keine zweite Traurige Zeit ertragen können, das wurde ihr mit einem Mal klar.

Mildred sah Anne erwartungsvoll an. Sie wartete darauf, wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen. Anne stand auf und ging zum Ecktisch. Dort stand ein Krug Wasser, von dem sie sich jetzt bediente. Sie bot Mildred davon an, die dankend annahm.

Mildred trank einen Schluck und räusperte sich: »Anne, ich wünschte, du würdest mich verstehen, aber ich weiß, dass ich das nicht verlangen kann.«

Anne hatte das Gefühl, ihr antworten zu müssen: »Wir hätten einen anderen Weg gefunden, das war nicht richtig.«

Mildred lächelte leicht. Auf ihrer Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet: »Vielleicht hätten wir das, aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Ich habe Dinge getan, die ich nicht mehr ungeschehen machen kann. Aber es war notwendig.«

Anne kam das irgendwie bekannt vor. Sie dachte an das Verhör mit Rabea. Auch sie erklärte ihre Taten mit der Unvermeidbarkeit. Beide Frauen waren, jede für sich, den gleichen Weg gegangen. Obwohl beide für Anne Freundinnen gewesen waren, hatte sie jetzt das Gefühl, dass sie nie wirklich eine Verbindung zu einer der Frauen gehabt hatte. Sie hatte deren Sorgen und Ängste nicht erkannt. Die Furcht und die unterdrückten Gefühle der beiden waren ihr verborgen geblieben. Dafür waren sich Rabea und Mildred um so vieles ähnlicher.

Anne fragte sich, ob man seinen Feinden doch mehr glich als seinen Freunden. Vielleicht machte das Unbekannte im Wesen des Freundes den Freund selbst aus? Den Freund, den man mag, mag man deshalb, weil er das hat, was man selbst nicht hat? Während der Feind einem den Spiegel vorhält? Dann sieht man das, was man tatsächlich ist, und bekanntlich mag man das oft nicht.

Mildred hatte ihren Blick immer noch auf Anne gerichtet.

Anne fiel es schwer, die nächste Frage zu stellen, aber es musste getan werden: »Mildred, hast du Joseph Lorden erschossen?«

Mildred wagte es nicht, in das gutmütige Gesicht von Sergeant Milton zu blicken, deshalb starrte sie Anne an, als sie antwortete: »Ja.«

Nun war es ausgesprochen. Damit war das Band zwischen Mildred und Anne endgültig zerrissen. Der Mord an Rabea, das war ein Akt der Rache, der Verzweiflung gewesen. Unentschuldbar, aber doch verständlich. Der Anschlag auf Misses Wong war ohne Folgen geblieben. Aber der Mord an Joseph Lorden, das war etwas anderes, das war kaltblütig gewesen. Anne sah zu ihrem Sergeant. Er hatte einen eigenartigen Gesichtsausdruck, und Anne hatte eine leise Ahnung davon, was ihm gerade durch den Kopf ging.

Deshalb führte sie das Verhör weiter: »Mildred, warum hast du Joseph Lorden getötet?«

Mildred wollte das schnellstmöglich hinter sich bringen, trotzdem musste sie, während sie sprach, mehrmals unterbrechen. Diese Dinge auszusprechen war schwerer, als sie gedacht hatte: »Als ich merkte, welche Richtung die Ermittlungen einschlugen, entschied ich mich, etwas nachzuhelfen. Es war nicht so einfach, eine Entscheidung zu treffen, aber als ich von Misses Wong hörte, dass sich Joseph Lorden in Rabea verliebt hatte, verloren die Lordens für mich ihre Glaubhaftigkeit. Wie konnte ein intelligenter Mann wie Joseph sich so täuschen lassen? Ein hübsches Gesicht und eine angenehme Stimme, und schon steht man über Recht und Ordnung?«

Anne konnte nicht umhin, Joseph in Schutz zu nehmen: »Aber er wusste doch nichts von Rabeas Taten.«

Mildred antwortete hart: »Was war er dann für ein Mensch, wenn er nicht das Böse in ihr sehen konnte? Mir hat es fast den Magen herumgedreht, als mir Misses Wong von seiner Schwärmerei für dieses Miststück erzählte. Ich frage mich nur, ob er es nicht wusste oder ob er es einfach nicht wissen wollte. So etwas merkt man, wenn man jemanden liebt. Und wenn nicht – was ist man dann für ein Mensch? Beim Sheriff, da war das etwas anderes. Der hat sich sicher nur ein wenig vergnügen wollen. Ist auch nicht mit ihr in die Öffentlichkeit gegangen. Für ein bisschen Spaß, dafür hat sie wahrscheinlich getaugt.«

Das waren harte Worte. Anne blickte verstohlen zu Frank, der so tat, als würde er etwas in sein Notizbuch kritzeln. Obwohl Anne wusste, dass ihre nächste Äußerung dem weiteren Verhör abträglich sein könnte, gelang es ihr nicht, sich zurückzuhalten.

Sie musste etwas sagen, und ihre nächsten Worte galten besonders Frank Wall: »Mildred, das ist Unsinn. Wenn man liebt, dann liebt man bedingungslos. Dann sieht man nur das Gute und Besondere im anderen, und man kann vieles verzeihen. Joseph Lorden hatte, genauso wie wir anderen, überhaupt keinen Grund, an Rabea zu zweifeln.«

Mildred schnaubte: »Und genau das machte ihn gefährlich. Nicht nur, dass er nicht an ihr gezweifelt hat, er hat sie durch seine Zuneigung auf ein noch höheres Podest gestellt. Was wäre dann passiert? Er hätte sie sicher vor allen Widrigkeiten beschützt und so die Gerechtigkeit verhindert. Joseph Lorden war aufgrund seiner Gefühle für Rabea zur Gefahr geworden. Aber ich wusste, wie ich alles wieder in die richtigen Bahnen lenken konnte. Also bestellte ich Rabea auf die Lichtung. Ich schrieb ihr einen Brief in Josephs Namen und erwähnte das Foto. Joseph lockte ich etwas früher hin. Ihm schrieb ich in Rabeas Namen. Ein verliebter Mann hinterfragt die Wünsche seiner Herzensdame nicht. Ich schrieb ihm, er solle auf die Waldlichtung kommen, es wäre furchtbar dringend. Er solle niemandem davon erzählen. Er müsse helfen und so weiter. Rabeas Schrift habe ich oft genug gesehen, sodass ich sie problemlos nachmachen konnte. Sollte man später die Nachricht finden, umso besser, das würde Rabea noch mehr belasten. Aber der gute Joseph hatte den Brief wohl ohnehin vernichtet.

Als er auf der Waldlichtung ankam, wartete ich schon auf ihn. Es war nicht einfach ihm gegenüberzutreten. Aber es gab auch kein Zurück mehr. Ich glaube, er hat mich in der Dunkelheit nicht einmal erkannt, als die Schrotladung ihn traf. Er fiel einfach um. Dann hörte ich einen Reiter. Es war Rabea. Ich weiß immer noch nicht, warum es keinen Alarm gegeben hat! Normalerweise hätten kurz nach Rabeas Eintreffen ein gutes Dutzend Sergeants auf der Waldlichtung auftauchen müssen.«

Mildred schüttelte den Kopf, als wollte sie das eben Gesagte noch unterstreichen.

Dieses Mal meldete sich Frank Wall zu Wort: »Welchen Alarm?«

Mildred wandte ein wenig den Kopf in Franks Richtung. Wie in all den Jahren, in denen sie bei ihm als Sekretärin gearbeitet hatte, antwortete sie umgehend und wie selbstverständlich auf seine Frage: »Alarm beim Großen Rat natürlich! Es hätte doch keinen Sinn gemacht, Rabea auf die Waldlichtung zu locken und sie neben dem toten Joseph Lorden zu platzieren, wenn dann niemand da wäre, der sie bei ihren vermeintlichen Straftaten erwischt. Zuerst dachte ich natürlich daran, Sie, Sheriff, zu verständigen. Aber dann wollte ich Sie da raushalten.«

Anne verzweifelte langsam. Jede Aussage, die sie hörte, machte den Fall noch verwirrender. Trotzdem musste sie der Sache auf den Grund gehen: »Mildred, was genau hast du wem geschrieben?«

Mildred antwortete mechanisch: »Ich habe dem Großen Rat eine anonyme Nachricht zukommen lassen. Das war ganz einfach. Durch die Möglichkeit, mir überall Zugang zu verschaffen, ohne aufzufallen, bin ich in die Büros des Großen Rates gekommen. Dann musste ich die Nachricht nur in ein ›Wichtig-Kuvert‹ stecken.«

An Anne gewandt, fügte sie hinzu: »Das sind die Roten.«

Mildred wollte damit auf Annes Unzulänglichkeiten hinsichtlich der richtigen Verwendung der farbigen Briefumschläge hinweisen. Anne hatte sich stets gesträubt, sich diesen »unnötigen Firlefanz«, wie sie es nannte, zu merken.

Mildred sprach weiter: »Keiner wusste also, von wem der Umschlag kam.«

»Was stand in der Nachricht?« Anne war gespannt auf Mildreds Antwort.

»Ich habe um Hilfe gebeten. Ich schrieb, ich sei darüber informiert, dass ein schlimmes Verbrechen stattfinden würde. Es könnte aber nur verhindert werden, wenn der Rat Hilfe schicken würde. Die Tat würde um 23.00 Uhr auf der Waldlichtung stattfinden. Um die Sache noch mehr anzufachen, schrieb ich, dass das Amt der Präsidentin bedroht sei. Ich wählte absichtlich diese Formulierung. Hätte man Rabea später verhaftet, dann wäre die Nachricht durchaus zutreffend gewesen.«

Anne stöhnte ungeduldig: »Oh, Mildred! Wie hätte das denn funktionieren sollen? Gut, ich kann mir noch vorstellen, dass du Joseph erschießt und wartest, bis Rabea kommt. Aber wie wolltest du Rabea dort festhalten? Und was, wenn der Alarm zu früh gegeben worden wäre?«

Mildred schien jetzt fast ein bisschen beleidigt: »Ich bin doch nicht dumm, natürlich habe ich mir das alles vorher gründlich überlegt. Wie gesagt, ich hatte zu allem Zugang. Damit war es ganz einfach. Die Briefe und Mitteilungen, also die sogenannte Hauspost, wird innerhalb des Gebäudes, wie du weißt, zu bestimmten Uhrzeiten verteilt. Ich musste nur meinen Umschlag, der an den Großen Rat adressiert war, zu den anderen Briefen in der Verteilerstelle legen. Und zwar so, dass er bei der Verteilung um 23.00 Uhr dabei war. Zu diesem Zeitpunkt waren Joseph und Rabea schon auf der Waldlichtung. Du siehst, ich konnte den Zustellungszeitpunkt bequem steuern. Normalerweise hätte der Alarm erfolgen müssen, nachdem einer der Großen Räte den Umschlag erhalten hatte, also um circa 23.00 Uhr. Die Büros des Großen Rates sind immer besetzt. Warum auch nicht? Schließlich gibt es ja genug Ratsmitglieder. Die Nachricht muss gegen 23.00 Uhr verteilt worden sein. Somit hätte spätestens eine Viertelstunde später jemand auf der Waldlichtung erscheinen müssen. Man hätte doch meinen können, dass da jemand auf meine Nachricht reagiert hätte. Schließlich sind solche Nachrichten ernst zu nehmen.«

Anne musste ihr im Stillen zustimmen. In der Neuen Welt machte niemand ohne Grund Meldungen bei der Wache Süd oder dem Großen Rat. Daher hätte aufgrund von Mildreds Nachricht auf jeden Fall Alarm gegeben werden müssen.

»Wofür haben wir einen Großen Rat, wenn der seine Aufgaben nicht erfüllt?«, sagte Mildred verächtlich.

Frank Wall kritzelte etwas auf einen Notizzettel. Nach dem Verhör von Mildred wollte er als Erstes herausfinden, was mit der Nachricht an den Großen Rat passiert war. Ihn beschlich bereits ein Verdacht.

Mildred fuhr fort: »Auf jeden Fall hat der Große Rat nicht reagiert. Ansonsten hätten sie Rabea bei der Leiche von Joseph Lorden gefunden. Wie ich schon gesagt habe: Nach dem mit den Lordens alles schief lief, musste ich eingreifen. Die Chance auf eine von Anne durchgeführte Ermittlung ging gegen Null. Aber Rabea musste endlich bestraft werden. Wenn die anderen ihr gegenüber Zweifel hätten, wäre ich auf einem guten Weg.

Der Plan war, sie bewusstlos zu schlagen. Ich hätte ihr die Waffe in die Hand gedrückt und die Munition neben sie gelegt. Ungefähr fünfzehn Minuten nach 23.00 Uhr wäre sie so, neben der Leiche von Joseph Lorden, von den Sergeants gefunden worden. Wäre sie früher zu sich gekommen, hätte ich ihr einen weiteren Schlag verpasst. Dafür wäre ich bis zur Ankunft der Sergeants in einem sicheren Versteck geblieben. Für Joseph hatte ich ebenfalls etwas vorbereitet. Ihm hätte ich einen anonymen Brief in die Jacke gesteckt. Mit dem Hinweis, er solle sich das Foto, das sein Bruder gefunden hat, genauer ansehen. Rabeas Vater wäre darauf abgebildet. Dann ein Satz dazu, dass ihr Vater Wissenschaftler und kein Pfarrer war. Ich wollte, dass die Öffentlichkeit von ihr erfährt. Ich wollte sie bloßstellen. Ich wollte sie demütigen. Vielleicht hätte ich sie aber einfach dort töten sollen ...«

Anne ertappte sich dabei, wie sie das Gleiche dachte. Warum hatte Mildred Rabea nicht einfach getötet?

Mildred lieferte ungefragt die Antwort: »Aber ich hoffte auf ihre Verhaftung. Wenn ich anfangs auch der Meinung gewesen war, mit legalen und offiziellen Ermittlungen Rabea zu Fall bringen zu können, so konnte ich mir diesen Luxus jetzt nicht mehr leisten. Ich vertraute darauf, dass das Gesamtbild, also die Leiche von Joseph Lorden, ohne vorhandenes Aschenhäufchen, Rabea mit der Waffe in der Hand und die Hinweise auf ihren Vater ausreichend wären, weitere Untersuchungen anzustellen. Ab diesem Zeitpunkt hätte ich mich sicher wieder auf Dave Lorden verlassen können. Durch den Brief in Josephs Tasche hätten er und die ermittelnden Sergeants schnell die richtigen Schlüsse gezogen. Und dann hatte Dave ja immer noch das Foto. Vielleicht wäre er dann endlich mal so klug gewesen, mit Anne Kontakt aufzunehmen. Wer hätte sich dann noch dafür interessiert, von wem Joseph den anonymen Brief hatte oder warum Rabea bewusstlos neben der Leiche lag? Eine mögliche Beule hätte sie Gott weiß woher haben können, vielleicht sogar von ihrem Sturz, als sie bewusstlos wurde. Und die Wissenschaftler hätten sicher auch noch eine plausible Erklärung für ihre Bewusstlosigkeit gefunden. Vielleicht hätte man darin ein übrig gebliebenes Symptom der Einäscherung gesehen. Das wäre gar keine schlechte Erklärung gewesen. Dann hätten sie sagen können, Rabea sei nicht immun, sondern bei ihr wäre die Reaktion nur viel schwächer und würde lediglich zu einer Ohnmacht führen. Bei Karl Hobnitz hatten sie ja auch gleich eine Theorie parat. Auf jeden Fall hätte das alles keine Rolle gespielt, denn sie hätte die Lüge bezüglich ihres Vaters erklären müssen. Außerdem nahm ich zu diesem Zeitpunkt an, dass – was auch immer hinter diesem ›Burnout-Fall‹ stecken mochte – Rabea dadurch belastet werden würde …

Hätte man aber ihre Leiche gefunden, dann wäre sie für alle Zeit als Heilige verehrt worden, als Märtyrerin. Das hätte ich nicht ertragen. Niemand hätte sich mehr die Mühe gemacht, etwas über ihre Vergangenheit herauszufinden, und der Tod meines Vaters wäre weiterhin ein einfacher Unfall gewesen. Jetzt wird sie niemand mehr verehren, denn jetzt werden alle die Wahrheit über sie erfahren. Mein Vater wird endlich die Anerkennung erfahren, die er verdient hat. Er ist ein Held gewesen. Er hat versucht, unsere Welt zu beschützen. Und Rabea wird sich jetzt auch nicht mehr bei einer Verhandlung mit schönen Worten herauswinden können. Was auch immer für Pläne sie hatte«, jetzt wandte sich Mildred direkt an Nigel, »sie wird keinen mehr davon ausführen können. Sie wird die Menschen nicht länger in die Irre führen. Es wird keine Anhängerschaft geben und keine Entschuldigungen.«

Nigel hatte da so seine Zweifel. Erfahrungsgemäß könnte Rabeas Ende genau das Gegenteil bewirken. Aber er sagte nichts.

Mildred schien es wichtig, noch etwas hinzuzufügen: »Den Revolver und die Munition, ich habe sie vor Jahren bei den Sachen meines Vaters gefunden. Vielleicht hatte er sie sich damals für seinen Schutz zugelegt. Ich habe sie als Erinnerung aufgehoben. Ich hatte sie nach der Sache auf der Waldlichtung immer bei mir, ohne genau zu wissen, warum. Ich habe gehört, was Sie vorhin gesagt haben, Mister O’Brian. Sie hatten recht. Ich habe es Rabea angesehen, sie hätte versucht, sich von ihrer Schuld freizusprechen. Es scheint fast, als wäre es vorherbestimmt gewesen, dass ich diese Waffe bei mir hatte. Dass diese Waffe Rabea ihrer gerechten Strafe zugeführt hat. Die Waffe meines Vaters ...«

Nigel dachte an den kleinkalibrigen Revolver, den Anne Mildred aus der Hand genommen hatte. Er würde ihn später Angus, dem Waffenarchivar, zeigen. Allerdings würde ihnen das auch keine neuen Erkenntnisse bringen.

Mildred wirkte mittlerweile sehr angestrengt. Sie hatte einen glasigen Blick, als sie weitersprach: »Ich wollte es richtig machen. Ich wollte nur, dass Anne das Foto erhält und ermittelt. Aber ich habe es schlimmer gemacht und viele Fehler begangen. Je mehr ich versucht habe, alles zu bedenken, desto weniger konnte ich die Dinge noch steuern. Ich hätte direkt mit Anne sprechen müssen.«

Mildred schwieg. Die anderen sahen sich nicht an. Sie alle empfanden das Gleiche. Und sie alle fühlten sich schlecht. Wie oft handelten sie genauso wie Mildred? Wie oft hatten sie über Umwege versucht, ihr Ziel zu erreichen und waren gescheitert, weil sie nicht den direkten Weg genommen hatten?

Sergeant Milton sah zu Anne, diese nickte ihm zu, daher stellte er die nächste Frage: »Was passierte dann auf der Waldlichtung, als Rabea ankam?«

Mildred trank einen großen Schluck Wasser: »Sie kam früher als erwartet. Vielleicht hat sie sogar noch den Schuss gehört. Ich war in Zeitdruck, durchsuchte zur Sicherheit noch schnell die Taschen von Joseph und versteckte mich. Das Gewehr und die Munition waren bereits neben Joseph platziert. Rabea ging auf ihn zu, wie ich es erwartet hatte, und beugte sich über ihn. Ich schlich mich von hinten an und wollte ihr mit einem Ast auf ihren hübschen Schädel schlagen, als sie plötzlich das Gewehr hochriss und Joseph Lorden das Gesicht wegschoss. Mister Wall, wenn Sie das gesehen hätten ...«

Frank verstand die Anspielung und fühlte sich schlecht, ihn beschäftigten viele Fragen. Was wäre gewesen, wenn Rabea verhaftet worden wäre? Hätte er an ihre Schuld geglaubt? Hätte er Mildred vielleicht aufhalten können? Warum hatte er nicht bemerkt, was um ihn herum vor sich ging? Frank zweifelte an seinen Instinkten, seiner Menschenkenntnis und seinen Fähigkeiten, das Amt des Obersten Sheriffs zu begleiten.

Mildred fuhr unbarmherzig fort: »Sie hat nicht gezögert abzudrücken. Allerdings hatte ich damit nicht gerechnet, was mich vollkommen aus dem Konzept gebracht hat. Ich versuchte, mich schnell in Sicherheit zu bringen, die Chance sie zu überwältigen, hatte ich also vertan. Es ist schon eigenartig. Ich war mir so sicher, dass ich mein Leben beenden wollte. Und in diesem Moment, als ich Rabea sah, wie sie die Waffe, nachdem sie geschossen hatte, erneut lud – da hatte ich Angst zu sterben.«

Sergeant Milton empfand plötzlich Mitleid. Obwohl er wusste, dass sie eine Mörderin war – sie hatte wohl sogar versucht, ihn in der Felsenbucht zu töten – tat sie ihm leid. Wie verzweifelt musste sie gewesen sein, als ihr Mann starb? Er musste daran denken, dass er eines Tages das gleiche Gefühl haben würde, wenn er Katie beerdigen müsste. Er dachte an sein Baby. Diese Gedanken waren für ihn unerträglich. Wie sollte er nur weiter leben, jetzt als Überlebender?

Dann hörte er Annes Stimme: »Sergeant?« Sie hielt ihm ein Glas Wasser hin. Er war ihr dankbar dafür, dass sie jetzt die Befragung fortsetzte.

»Was hat sie dann gemacht?«

Mildreds Wangen waren gerötet: »Also, sie schoss, und ich war froh, dass sie mich nicht bemerkt hatte, als ich zurück ins Dickicht schlüpfte. Dann durchsuchte sie alles, versteckte die Leiche, indem sie sie ins Gestrüpp zog, und verjagte die beiden Pferde, die Joseph Lorden dabeigehabt hat. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich war genauso unter Schock wie damals, als mein Vater starb. Als sie auf ihr Pferd stieg, bin ich ihr dann einfach gefolgt, ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum. Ich wollte sie nicht aus den Augen lassen. Vielleicht hoffte ich, dass ich noch eine Chance hätte, sie zu überführen? Vielleicht wollte ich nur wissen, was sie mit dem Gewehr vorhatte?«

Anne dachte an das Gewehr und die Munition. Die Frage danach war unnötig. Wie Mildred bereits mehrfach betont hatte, war es ihr durch ihr Amt jederzeit möglich gewesen, alle Räume der Wache Süd und des Forschungszentrums zu betreten. Die Schrottlager waren sowieso für jedermann leicht zugänglich. Sie hätte sie unbemerkt betreten können. Und selbst wenn sie jemand gesehen hätte, hätte niemand ihre Anwesenheit hinterfragt. Mildred hatte sich also in aller Ruhe die Waffen und die Munition besorgen können. Die abgesägte Schrotflinte hatte sie vermutlich nach dem Anschlag auf Misses Wong entsorgt.

Mildred wartete nicht auf die nächste Frage, sondern redete einfach weiter: »Ich war immer eine gute Reiterin. Daran hat sich nichts geändert. Ich holte mein Pferd aus dem Versteck. Ich konnte Rabea mühelos in die Spielwelt folgen. Keiner hat dort auf mich geachtet, überall waren Menschen unterwegs. Richtung Rosestreet löste sich die Menge jedoch etwas auf, sodass ich absteigen musste, um Rabea in sicherem Abstand zu folgen. Dabei verlor ich zu viel Zeit. Ich sah sie erst wieder, als sie die Gasse bei der Rosestreet verließ. Im Schatten der Häuser konnte sie mich nicht sehen. Ich wusste zwar, dass sie das Gewehr und die Munition mitgenommen hatte, aber ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung davon, was sie in der Spielwelt wollte. Also band ich mein Pferd an der Ecke an und ging in die Gasse. Erst sah ich nichts, dann öffnete ich die Mülleimer, ich dachte, sie hätte vielleicht das Gewehr dort entsorgt. Als ich den hinteren Container öffnete, sah ich ihn. Es war furchtbar. Ich konnte nicht einmal erkennen, wer da lag. Da, wo sein Gesicht hätte sein müssen, war nur dieser blutige Klumpen.«

Mildred hielt kurz inne. Die anderen im Raum fühlten die Trauer, die mit dem Verlust eines Menschen einherging. Vor allem, wenn es sich um ein so gewaltsames Ende handelte. Mildred hatte also Rabeas Geschichte bis dahin bestätigt.

Anne runzelte die Stirn, als sie ihre nächste Frage stellte: »Du hast aber keinen Sergeant geholt oder zumindest dafür gesorgt, dass man die Leiche entdecken würde. Dave Lordens Körper wäre um ein Haar nicht gefunden worden. Warum?«

Mildred war froh, dass Anne mit ihr sprach, das vermittelte ihr ein wenig das Gefühl, dass Anne ihr nicht böse war.

Deshalb erwiderte sie fast eifrig: »Wie hätte ich meine Anwesenheit erklären sollen? Wie hätte ich Rabea belasten können, ohne mich selbst zu belasten? Wer hätte mir ohne Beweise geglaubt?«

Sergeant Milton kam ein anderer Gedanke, er wollte Mildred keine Zeit für Ausflüchte lassen, deshalb sprach er ihn direkt aus.

Sein Tonfall war hart, als er zu ihr sprach: »Warum haben Sie Marie getötet?«

Mildreds Antwort kam ohne Zögern: »Weil ich musste!«

Während Nigel aufstöhnte, dachte Anne nur: Und es kann doch immer noch schlimmer kommen! und schüttelte den Kopf.

Mildred empfand das als Aufforderung, sich zu erklären: »Dieses dumme Geschöpf stand plötzlich in der Gasse. Bepackt mit zwei großen Taschen. Sie sagte, sie suche Dave Lorden. Ich konnte es nicht mehr verhindern, dass sie die Leiche entdeckte, der Müllcontainer stand noch offen. Jetzt wusste ich zumindest, wer der Tote war. Rabea hatte also Dave Lorden erschossen. Vermutlich, um an das Foto zu gelangen. Das hätte nicht passieren dürfen.«

Wieder schien es, als hätte Mildred ihre eigenen Taten vergessen. Als würde die Überzeugung, aus Notwendigkeit gehandelt zu haben, die Schuld von ihr nehmen.

Jetzt sprach das erste Mal Nigel O’Brian: »Was war mit Marie?«

Mildred drehte sich nicht zu ihm um.

Sie senkte den Kopf, als sie weitersprach: »Sie war ein Opfer der Umstände.«

Nigel wollte schon aufspringen und etwas erwidern, aber Doktor Masters hielt ihn am Arm fest und signalisierte ihm zu schweigen. Seltsamerweise ließ sich Nigel stumm auf seinen Stuhl zurückfallen. Auch er schien die Kraft für den Kampf verloren zu haben.

Mildred fuhr fort: »Die Kleine wurde völlig hysterisch. Ich musste sie schnellstmöglich von der Straße wegbringen. Also erzählte ich ihr, dass ich alles regeln würde, aber wir müssten schnell in ihre Wohnung, auf der Straße sei es zu gefährlich. Ich erzählte ihr, ich wäre vom Sheriff-Büro, was nicht gelogen war, und ich würde mich um alles kümmern. So schleifte ich sie hinter mir her. Sie wohnte ja direkt in der Rosestreet. In ihrer Wohnung erfuhr ich dann, dass Dave ihr Freund gewesen war und dass er sie aus der Stadt bringen wollte. Sein Bruder Joseph hätte Marie abholen sollen. Sie wären dann Richtung Osten geritten. Dave hatte unten auf seinen Bruder gewartet. Er hätte Marie aus der Wohnung geholt, wenn Joseph mit den Pferden angekommen wäre.«

Den anderen war klar, dass auch das Rabeas Geschichte bestätigte. Deshalb hatte Joseph Lorden zwei Pferde dabeigehabt. Eines war für Marie White bestimmt gewesen.

Niemand sagte etwas, und Mildred erzählte ihre Geschichte weiter: »Diese törichte Marie! Als ihr das Warten zu lange wurde, dachte sie, sie könne ihr Gepäck schon einmal nach unten bringen. Die Kleine war wirklich nicht die Hellste. Obwohl ihr Dave gesagt hatte, dass er Angst um ihre Sicherheit hätte, blieb sie nicht in der Wohnung.«

Anne wusste genau, was zu diesem Zeitpunkt in Dave vorgegangen war. Nur zu gut konnte sie sich daran erinnern, wie ihn seine Schuldgefühle bezüglich seiner ersten Frau – Laura – aufgefressen hatten. Er hatte Marie um jeden Preis schützen wollen. Also hatte sie die Gemeinschaft verlassen müssen.

Und obwohl es noch keinen konkreten Hinweis auf eine drohende Gefahr gegeben hatte, hatte Dave dieses Mal nichts riskiert. Dass die Ermittlungen heikel werden würden, das war ihm sicherlich klar gewesen. Wenn er befürchtet hatte, Anne Reeve als Gegner zu haben, dann hätte ihm sicher dieser Grund gereicht, um Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. So hatte Dave instinktiv richtig gehandelt, allerdings aus den falschen Gründen. Leider hatte er auch Maries Tod nicht verhindern können.

Anne fiel noch etwas ein: »Das heißt, du wusstest nicht, dass sich Joseph nach seinem Treffen mit Rabea auf der Waldlichtung noch mit seinem Bruder Dave treffen wollte?«

Mildred machte große Augen: »Aber nein, woher denn? Ich schwöre dir, ich hatte keine Ahnung, dass Joseph mit seinen letzten Atemzügen Rabea zu seinem Bruder geschickt hat, in der irrigen Annahme, dass sie zu den Guten gehören würde.«

Wieder sprach Anne: »Was ist dann in Maries Wohnung passiert?«

Mildred schnaufte schwer: »Das Mädchen wurde misstrauisch. Sie fragte mich, warum ich überhaupt in der Spielwelt sei. Sie wollte nicht mehr länger warten und einen Sergeant holen. Sie ließ sich nicht zurückhalten und wurde laut. Als sie aufstand, schlug ich mit einem Holzscheit aus dem Kamin zu. Ich traf sie so hart am Hinterkopf, dass sie zu Boden fiel. Als ich mich zu ihr hinunterbeugte, stellte ich fest, dass sie keinen Puls mehr hatte. Natürlich wollte ich das nicht tun, aber sie hatte mich gesehen. Sie wusste, wer ich war. Damit hatte ich keine andere Wahl.«

Nigel stöhnte erneut auf, und wieder ignorierte ihn Mildred: »Dieses Mädchen hatte ich nicht eingeplant. Warum konnte sie denn nicht in ihrer Wohnung warten, bis sie einer der Brüder geholt hätte?«

Mildred zuckte kurz mit den Achseln, bevor sie wieder sprach: »Auf jeden Fall konnte ich sie so nicht zurücklassen. Ich wusste ja nicht, was mit den Leichen der Lordens passieren würde. Rabea hatte Joseph versteckt. Ich bezweifelte, ehrlich gesagt, dass man Dave jemals finden würde. Nach der Leerung der Container wäre das unmöglich gewesen. Zu diesem Zeitpunkt ging ich davon aus, dass mein Plan, Rabea zu vernichten, gescheitert war. Ich wollte mich also erst einmal in Sicherheit bringen, um später vielleicht einen anderen Weg zu finden, Rabea ein Ende zu setzen. Auf keinen Fall konnte ich aber riskieren, dass man den Tod des Mädchens untersuchen würde. Ich täuschte einen Selbstmord vor.«

Wie aus einem Mund riefen Anne und ihr Sergeant: »Einen Selbstmord?«

Mildred lächelte. Dieses Lächeln löste bei Anne und ihrem Sergeant ein gewisses Unbehagen aus, trotzdem versuchten beide, höflich zu bleiben.

Es war wieder der Sergeant, der die Frage stellte: »Wie haben Sie das gemacht?«

Mildred trank erneut von ihrem Wasser. Sie hatte mittlerweile dunkelrote Wangen und man sah ihr an, dass sie schwitzte.

»Ich habe die Blumenkästen auf der Brüstung weggeräumt und den Stuhl hingestellt. Dann habe ich den Teppich, so gut es ging, gereinigt. Ihre Reisetaschen habe ich ausgepackt und die Sachen in die Schränke verteilt. Außerdem habe ich versucht, ihr Alkohol einzuflößen und davon auch eine größere Menge auf ihre Haare und Kleider getan, damit der Eindruck entstehen würde, sie hätte getrunken. Unauffällig durchsuchte ich ihre Sachen. Vielleicht hatte Dave bei ihr irgendetwas hinterlegt. Mein Gott, wenn ich gewusst hätte, dass das Foto die ganze Zeit vor meiner Nase war. Den Holzscheit habe ich mitgenommen und unterwegs entsorgt. Auf den Tisch habe ich einen Zettel mit einer Notiz gelegt ›Warum hast du mich verlassen? Ich kann ohne dich nicht leben, Marie‹. Wegen der Schrift musste ich mir keine Gedanken machen, ich fand genug Vorlagen in diesen komischen Rätselheften. Außerdem ist diese kindliche Schreibweise gut nachzuahmen. Wer hätte bei der Tragik des Todesfalles schon ihre Handschrift verglichen? Außerdem schreibt man nicht in Schönschrift, wenn man betrunken ist und sich umbringen will. Dann habe ich sie über den Balkon geworfen. Das war nicht einfach, ich bin schließlich keine junge Frau mehr.«

Anne unterbrach sie: »Du bist sicher, dass du die Blumenkästen nicht wieder hingestellt hast? Genauso sicher bist du, dass der Stuhl auf dem Balkon an der Brüstung stand und es einen Abschiedsbrief gab?«

Anne und Sergeant Milton tauschten Blicke. Beiden war klar, dass Mildreds Erklärung vollkommen schlüssig war. Was Maries Tod anging, hatten sie die ganze Zeit das Problem gehabt, dass der fehlende Stuhl auf dem Balkon und die zurückgestellten Blumenkästen nicht logisch gewesen waren. Das wäre letztendlich so ein grober Fehler des Mörders gewesen, dass es dafür eine andere Erklärung hatte geben müssen.

Mildreds Schilderung der Vorgänge war absolut glaubhaft. Wenn man die Wohnung von Marie so, wie von Mildred beschrieben, vorgefunden hätte, wären niemals Zweifel an ihrem Selbstmord aufgekommen. Der kleine Blutfleck auf dem Teppich hätte keine Beachtung gefunden. Im Zusammenhang mit dem Tod der Lorden-Brüder, vorausgesetzt, man hätte deren Leichen jemals gefunden, hätte man keine Erklärungsnöte gehabt. Wäre man auf die Verbindung zwischen Dave und Marie gestoßen, dann wäre Anne selbst auch davon ausgegangen, dass Dave Marie verlassen hatte, um diese zu schützen. Sie hätten angenommen, dass Marie die Nerven verloren und sich betrunken vom Balkon gestürzt hätte.

Mildred nickte zustimmend: »Ja, Anne, genau so, wie ich es dir sage, war es. Ich war vollkommen fassungslos, als im Fall Marie White plötzlich wegen Mordes ermittelt wurde. Ich dachte erst, es muss sich um eine Verwechslung handeln.«

Anne bemerkte ein leichtes Ziehen hinter den Augen. Es waren die ersten Vorboten einer fiesen Migräne. Sie sah Nigel an. Das war das zweite Mal seit ihrer ersten Begegnung, dass er ihr Kopfschmerzen verursachte. Nigel hielt ihrem Blick stand. Es war ein Blick des Bedauerns mit ein klein wenig Trotz. Anne massierte sich die Schläfen und dachte: Was hat der Mann nur für unglaubliche Augen, wie schade, wenn ich sie ihm nachher auskratzen muss.

Sergeant Milton blickte abwechselnd von Anne zu Nigel. Dieses Mal wollte er unbedingt dabei sein, wenn der Chief-Sergeant gegenüber Mister O’Brian die Kontrolle verlieren würde. Ihm war, genau wie Anne, eben klar geworden, was sich, nachdem Mildred die Wohnung von Marie verlassen hatte, ereignet hatte.

 

Madeleine Rose, Frank Wall und Doktor Masters sahen es Anne Reeve und Sergeant Milton an, dass die beiden soeben ein weiteres Rätsel gelöst hatten und blickten fragend zu den zwei Ermittlern. Aber die ignorierten sie.

Anne stöhnte auf. Es folgte ein wüster Fluch. Sowohl Mildred als auch Nigel fühlten sich angesprochen. Anne ließ offen, wen sie meinte, dann blickte sie zu Mildred. Mittlerweile hatte diese eine ungesunde Gesichtsfarbe. Man merkte ihr an, dass sie Probleme hatte, zu atmen. Anne füllte ihr erneut das Glas mit Wasser und reichte es ihr wortlos.

Dann versuchte sie ruhig, die nächste Frage zu stellen: »Mildred, wir wissen, dass du versucht hast, Misses Wong zu töten, stimmt das?«

Mildred nickte und murmelte ein »Ja«.

Der Vollständigkeit halber fragte sie Mildred auch noch nach Doktor Calliditas. In diesem Fall bestritt sie jegliche Schuld. Anne und Sergeant Milton nickten sich zu. Sie gingen beide davon aus, dass er tatsächlich Selbstmord begangen hatte. Zum einen, weil er nicht mit dem Wissen über die Morde leben konnte, für die er alleine Rabea verantwortlich machte. Zum anderen um die Untersuchungen weiter am Laufen zu halten.

Anne sammelte sich noch einmal. Die nächste Frage würde ihr schwer fallen. Aber noch schwerer würde die Antwort auf ihr lasten. Trotzdem musste es getan werden, also sagte sie: »Mildred, warum wolltest du Sergeant Milton in der Felsenbucht töten?«

Sergeant Milton hielt die Luft an. Er empfand es als eigenartig, seiner »Beinahe-Mörderin« gegenüberzusitzen.

Die Anwesenden waren gespannt, aber erwarteten keine neuen Erkenntnisse. Sie rechneten mit den gleichen Begründungen, die sie eben schon gehört hatten. Keiner ging davon aus, dass Mildred ein persönliches Motiv hatte, den Sergeant anzugreifen. Sie alle erwarteten, dass Mildred ihre Tat wie bei Marie oder Misses Wong auch dieses Mal mit der Notwendigkeit begründen würde. Doch sie alle wurden erneut von den Ereignissen überrollt. Mildred hatte die Frage gehört und blickte nun auf. Ihre Augen richteten sich ungläubig auf Anne.

Als Mildred jetzt sprach, war ihre Stimme ganz ruhig: »Wie kannst du nur annehmen, dass ich Sergeant Milton töten wollte? Niemals, niemals hätte ich einen Sergeant verletzen können. Das hätte ich schon wegen meines Vaters niemals getan. Glaubst du, ich weiß nicht, wie auch du damals getrauert hast? Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, wie gut du mit Sergeant Milton zusammengearbeitet hast? Ihr seid ein so fantastisches Team. Du musst mir glauben, ich habe damit nichts zu tun.«

Dann blickte sie zu Sergeant Milton. Ihr Flehen wurde noch stärker: »Sergeant Milton, Sie müssen mir glauben, ich schwöre Ihnen bei der Seele meines Vaters, ich habe nichts mit dem Anschlag auf Sie zu tun.«

Das hatte der Sergeant nicht erwartet. Offensichtlich war auch Anne Reeve darauf nicht vorbereitet gewesen, denn ihr entwich erneut ein wenig damenhafter Fluch.

»Was ist mit der Vergiftung von Frank Wall und dem Angriff auf mich vor dem Krankenhaus?«

Jetzt liefen Mildred das erste Mal während des Verhörs Tränen über die Wangen. Sie schrie ihre Antwort fast heraus: »Niemals, Anne, niemals würde ich so etwas tun. Du bist meine Familie, und der Sheriff, er ist der beste Mensch, den ich kenne ...«

Mildreds Stimme versagte, und sie fing laut an zu schluchzen, dann blickte sie wieder zu Sergeant Milton: »Sie müssen mir glauben!«

Sergeant Milton war geneigt, ihr zu glauben. Er sah die Verzweiflung in ihrem Blick. Sie wich dem seinen nicht aus. Er konnte nicht anders, er nickte. Mildred atmete aus. Anne war aufgestanden und tigerte jetzt durch das Zimmer. Sie hasste ungelöste Rätsel. Sie hasste fehlende Antworten.

Deshalb wagte sie noch einen Versuch: »Mildred, ich frage dich noch einmal: Du gestehst Joseph Lorden, Marie White und Rabea getötet zu haben. Außerdem hast du versucht, Misses Wong zu erschießen. Ist das richtig?«

Mildred antwortete, ohne zu zögern: »Ja, das ist richtig!«

Anne setzte nach: »Du behauptest außerdem, dass du Sergeant Thomas Milton, Frank Wall und mich nicht angegriffen hast?«

Mildred richtete sich in ihrem Sessel auf: »Ja, das ist richtig. Ich schwöre es.«

Dann glitt Mildred zurück in den Sessel und atmete schwer. Anne tigerte weiter durch den Raum. Keiner sprach. Anne drehte sich erneut zu Mildred und wollte eine weitere Frage stellen, als sie stockte.

»Mildred?«

Mildred atmete jetzt noch schwerer. Doktor Masters war, als er Annes Blick auffing, aufgesprungen und griff jetzt nach Mildreds Handgelenk. Auch die anderen gruppierten sich mittlerweile um den Sessel. Aus Mildreds Kehle kam ein eigentümliches Röcheln. Ihre Augen fingen an zu flattern, und sie wurde von einem Krampf, ähnlich einem epileptischen Anfall, geschüttelt. Doktor Masters versuchte, sie zu stabilisieren, als Mildred plötzlich hochschoss.

Ihre Augen suchten die Gesichter ab. Dann streckte sie ihre Hände aus und klammerte sich an Anne. Mit letzter Kraft, so schien es, zog sie sich hoch.

Ihre Stimme war schwach und unter Anstrengung rief sie: »Ich habe dir die Wahrheit gesagt! Glaub mir bitte, ich wollte dir nie Kummer bereiten. Anne, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der gleichzeitig so nah dran und so weit davon entfernt ist, perfekt zu sein, und dafür liebe ich dich.«

Dann sank Mildred kraftlos zurück. Anne wollte weinen und schreien, sie war schrecklich aufgewühlt. Doch es blieb ihr keine Zeit, darüber nachzudenken, denn im nächsten Moment setzte bei Mildred erneut ein Krampfanfall ein. Dieses Mal wussten sie alle, was vor sich ging. Sergeant Milton wandte sich ab und stellte sich vor Madeleine Rose, während Doktor Masters und Frank Wall sich gegenseitig zurückzogen. Nigel hatte Anne nach hinten gerissen und schützend die Arme um sie gelegt. Es war unerwartet, und es war grauenvoll. Es war die Einäscherung von Mildred Grey.