14. Erkenntnisse

 

Wie zwei Diebe schlichen sie Richtung Krankenhaus. Der Sergeant fragte Anne, warum Frank Wall diesen verräterischen Pass überhaupt aufgehoben hatte.

Sie rieb sich die müden Augen, um ihm dann eine äußerst seltsame Antwort zu geben: »Früher, also in der Traurigen Zeit, da hatte ich mal einen Vorgesetzten, der hatte eine interessante Theorie. Er war der Meinung, dass Menschen aus zwei Gründen erwischt werden: Erstens sie lassen sich scheiden, dann sorgt der verschmähte Gatte dafür, dass die Behörden über sämtliche Verstöße des Ex-Partners informiert werden, oder zweitens: Sie bewahren Unterlagen auf, die Zeugnis ihrer Verstöße sind. Offensichtlich hat der Mensch das Bedürfnis, auch über seine Untaten Buch zu führen. Früher oder später gelangen diese Beweise dann in die Hände eines Prüfers, und die selbstgebaute Falle schnappt zu. War bei Frank wohl so ähnlich. Entweder behielt er den Pass als Mahnung oder aber als Erinnerung an seine Vergangenheit.«

Der Sergeant wurde nicht wirklich schlau aus Annes Ausführungen. Bei Gelegenheit würde er Nigel O’Brian dazu befragen, das wäre wahrscheinlich einfacher. Er sah verstohlen zu Anne. Sie machte ein unglückliches Gesicht.

Als sie seinen Blick bemerkte, blieb sie stehen: »Frank Walls Vergangenheit liefert auf jeden Fall ein erstklassiges Motiv. Natürlich wollte er nicht, dass irgendjemand davon erfährt. Ich wette, wenn wir seine Alibis für die Morde und die Angriffe überprüfen, dann wird es zumindest Lücken geben. Lediglich seine eigene Vergiftung spricht für ihn. Während Richter Voyou getötet wurde, lag Frank bereits im Krankenhaus. Aber eine Beteiligung – an was auch immer – ist deshalb noch lange nicht ausgeschlossen. Mag sein, dass es Komplizen gibt.«

Der Sergeant erschrak: »Aber mit wie vielen Menschen, die gegen die Einäscherung immun sind, hätten wir es dann zu tun?«

»Ich weiß es nicht. Und die Antwort auf diese Frage macht mir Angst.«

Als sie das Krankenhaus erreichten, musste der Sergeant kurz überlegen, in welchem Zimmer der Sheriff untergebracht war. Erfreulicherweise war es ein Raum im Erdgeschoss. Als sie versuchten, das entsprechende Fenster zu öffnen, war es verschlossen.

Anne fluchte, während Sergeant Milton genervt den Kopf schüttelte und nach einem großen Stein griff, der wohl irgendwann einmal aus der Mauer gebrochen war. Er wickelte seine Jacke darum und schlug die Scheibe ein.

Anne verpasste ihm dafür einen zornigen Schlag auf den Arm.

»Was?«, flüsterte der Sergeant.

Anne schnaubte: »Sie werden uns noch beide ins Gefängnis bringen.«

Der Sergeant machte sich daran, die Glasscherben zu entfernen und entriegelte das Fenster. Zu Anne drehte er sich um und sagte: »Ach! Und Sie etwa nicht?« Dann schlüpfte er geschickt durch die Öffnung. Anne hatte da schon etwas mehr Mühe.

Endlich standen sie im Zimmer von Frank Wall. Offensichtlich hatte niemand das Geräusch der zerbrechenden Scheibe gehört. Alles schien weiterhin ruhig. Die Sonne fing langsam an aufzugehen, und so war das Krankenzimmer in ein schwaches Dämmerlicht getaucht. Da der Raum relativ groß war, konnte man das Bett vom Fenster aus nicht sehen. Also spähten sie um die Ecke und erschraken fast zu Tode. Anstatt Frank Wall, liegend im Bett, saß eine »Erste-Hilfe-Übungspuppe« aufrecht darauf und starrte sie aus leeren Augenhöhlen an.

»Gütiger Himmel!«, entfuhr es Anne, »Das ist ja schrecklich. Diese Puppe sieht aus wie ein Monster. Sollen damit die zukünftigen Mediziner auf Zombie-Begegnungen vorbereitet werden?«

Dann drehte sie sich zu Sergeant Milton um: »Wir sind im falschen Zimmer. Hoffentlich stimmt wenigstens das Stockwerk.«

Der Sergeant lief rot an. Das war das Peinlichste, was ihm in dieser Situation hätte passieren können.

Anne Reeve klopfte ihm auf die Schulter und lief Richtung Tür: »Kommen Sie schon, wir versuchen, den Gang zu benutzen.«

Glücklicherweise lag Frank Wall nur ein Zimmer weiter, und sie gelangten ungesehen dorthin. Im Raum von Frank brannte eine große Nachttischkerze. Als sie die Zimmertür hinter sich schlossen, hörten sie ein Räuspern aus der Richtung des Betts.

Es war Frank. Er saß von Kissen gestützt im Bett und hielt ein Buch in der Hand. Er sah nicht gut aus, aber es schien trotzdem so, als wäre er auf dem Weg der Besserung.

Anne eilte zu ihm und umarmte ihn überschwänglich: »Frank, du lebst. Wie geht es dir?«

Für den Moment hatte sie den Grund ihres Besuchs vollkommen vergessen. Der Sergeant blieb an der Tür stehen. Frank Wall sah ihm sofort an, dass etwas nicht stimmte. Abgesehen von der Tatsache, dass Anne eigentlich nicht hier sein dürfte. Sie löste sich von ihm und sah ihn an. Frank bemerkte auch an ihr eine Veränderung. Er hatte ein ungutes Gefühl. Das Gefühl, erwischt worden zu sein. Er kannte diese Empfindung noch von früher. Er hatte sie zum Glück nicht oft erlebt. Es war eigenartig, zu wissen, dass gleich alles vorbei sein würde. Später würde sich vielleicht die Erleichterung einstellen, aber im Moment empfand er eine Mischung aus Scham, Schuld, Verzweiflung und Wut. Er hatte befürchtet, dass dieser Tag einmal kommen würde. Komischerweise war er trotzdem nicht darauf vorbereitet.

Er legte das Buch weg und richtete sich etwas auf. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz. Es ging ihm besser, aber er hatte noch mit den Folgen der Vergiftung zu kämpfen. Trotz allem sprach er mit fester Stimme: »Was willst du mir sagen?«

Anne wusste sofort, dass es kein Vorgeplänkel geben würde. Frank war bereits klar, welche Richtung ihr Gespräch nehmen würde. Anne sah zum Sergeant, dann nahm sie Franks Pass aus ihrer Jackentasche und legte ihn auf das Bett.

Frank nahm das Dokument in die Hand. Er verzog sein Gesicht zu einem sonderbaren Lächeln und sagte: »Du hast es also herausgefunden?«

Anne nickte. Das Gespräch war nicht einfach, aber sie wollte das jetzt durchziehen: »Die Ungereimtheiten, das Zurückhalten von Informationen, dein Gedächtnisverlust was den ›Bäcker-Fall‹ betraf, die Initialen ›F. M.‹ … Ich war mir erst nicht sicher, ich kannte ja nur deinen alten Vornamen – François – sonst nichts. Ich habe dich nie nach deinem alten Nachnamen gefragt – wozu auch, nach den Aschentagen spielten unsere alten Namen bald keine Rolle mehr. Gleich nach den Konferenzen konnte jeder, der wollte, den Reset-Knopf drücken und mit einem neuen Namen starten.«

Anne dachte kurz an Nigel, dem diese Formulierung sicher gefallen hätte. Dann wandte sie sich wieder an Frank: »Letztendlich war es doch so einfach: Wall heißt übersetzt Mur, dazu dein Pass, und schon hatte ich ›F. M.‹ gefunden. Frank, was hast du mit den Morden zu schaffen? Sag mir die Wahrheit: Bist du immun gegen die Einäscherungen?«

Frank musste fast auflachen: »Immun gegen die Einäscherung? Wie sollte das denn gehen?«

»Frank bitte, irgendwer ist es, sonst hätten wir nicht so viele Opfer.«

Frank setzte sich noch ein wenig aufrechter hin: »Also schön. Soviel ich weiß, bin ich nicht gegen die Einäscherungen immun. Wissen kann ich es nicht, weil ich das nie ausprobiert habe. Glaubst du denn im Ernst, dass ich durch die Gegend marschiere und Menschen töte? Und warum sollte ich das machen?«

Als er den letzten Satz ausgesprochen hatte, sah er Annes Blick auf den Pass gleiten. Natürlich, sie sah das jetzt anders. Franks Gesichtsausdruck wurde sehr ernst, als er weitersprach.

»Das, das war ein anderes Leben.« Er wedelte mit dem Pass. »Diese Zeiten sind längst vorbei. Sie waren es schon, bevor die Aschentage begannen.«

Anne sah ihn fragend an: »Aber du bist dieser F. M. der in den Akten aufgetaucht ist. Das sind deine Initialen aus der Traurigen Zeit, nach deinem alten Namen François Mur.«

Frank nickte: »Ja, das war mein alter Name, und ja, ich war F. M., aber das ist lange her.«

Anne setzte sich auf die Bettkante und sah Frank direkt in die Augen: »Frank, du warst ein großer Drogenboss der Traurigen Zeit, du hast eine kriminelle Organisation geleitet und hast trotzdem die Aschentage überstanden. Wie war das möglich? Wir müssen das wissen.«

Frank lächelte, als er sie ansah. Sie war wie immer. Hin und hergerissen zwischen ihren Gefühlen und ihrer Vernunft. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Frank ein Freund war, ein guter Mensch. Und die Vernunft sagte ihr das genaue Gegenteil. Wie immer würde sie nicht so schnell eine Entscheidung treffen können.

»Also Anne, ich war kein Drogenboss, und die Organisation habe ich auch nicht geleitet, ich war nur ein Teil von ihr. Aber es stimmt, ich stand sehr weit oben. Für dieses Leben, das ich damals geführt habe, schäme ich mich heute. Ich war ein Verbrecher – es mit einem anderen Ausdruck zu beschreiben, wäre lächerlich. Aber ich habe dieses Leben hinter mir gelassen, so, wie viele andere Überlebende ihr altes Leben hinter sich gelassen haben.«

Der Sergeant hatte aufmerksam zugehört. Frank Wall war mittlerweile der dritte Überlebende, der die Aschentage überlebt hatte, obwohl seine Taten das nicht unbedingt erwarten lassen würden. Er dachte an Nigel, der den Mörder seiner Mutter getötet hatte, und er dachte an den Archivar Angus, der mit geladener Waffe in der Bank aufgetaucht war. Deren Verhalten konnte der Sergeant allerdings nachvollziehen. Es war die Folge ihres Gerechtigkeitsempfindens, eine Gewissensentscheidung. Angus hatte die Waffe sinken lassen, und Nigel wollte beschützen. Was hatte Frank Wall getan? Der Sergeant blickte gespannt zum Bett.

Er hörte Annes Stimme: »Was hast du mit dem ›Bäcker-Fall‹ zu tun?«

Frank Wall sah sie wieder an, dann erzählte er alles, was er wusste. Frank hatte für die Bäckerei-Kette gearbeitet. Er war ein ziemlich hohes Tier in Verbrecherkreisen gewesen. Ziel war es gewesen, neben den Drogen- und Waffengeschäften auch Informationen zu beschaffen, und die Bäckereifilialen hatten dazu als Tarnung gedient. Die Brotauslieferungen an Firmen und staatliche Einrichtungen waren dabei besonders interessant gewesen.

Frank war maßgeblich an der »Schulung« der Mitarbeiter beteiligt gewesen. Ihre Aufgabe hatte darin bestanden, so viele Informationen wie möglich zu beschaffen. Interessant waren vor allem Zugangscodes und Passwörter, aber auch geplante Projekte und Investitionen gewesen. Wenn möglich, sollten bei solch einem Diebstahl auch immer persönliche Gegenstände mitgenommen werden. Also die Brieftasche eines Mitarbeiters, ein Foto oder ein Handy. Das hatte zwei Gründe gehabt: Zum einen hatte man auch darüber Informationen sammeln können. Franks Organisation hatte richtige Dossiers von Firmenbossen oder anderen interessanten Mitarbeitern geführt. Und was man nicht durch Gespräche, Herumstöbern oder Diebstahl gefunden hatte, hatte man dann in den sogenannten sozialen Netzwerken im Internet gefunden.

Die Daten hatten bei allem geholfen: Erpressung, Entführung, Weiterverwertung. Zum anderen war es um Selbstschutz gegangen. War tatsächlich einer der unechten Bäckerlieferanten erwischt worden, hatte er so nicht nur ein Datenblatt aus dem Schreibtisch der Sekretärin bei sich gehabt, sondern zum Beispiel auch deren Brillenetui. In so einem Fall war es für einen Verteidiger einfach gewesen, den mutmaßlichen Dieb als Stalker zu outen. Das war immer noch besser gewesen, als als Mitglied einer kriminellen Organisation zu gelten. Somit war dann das Datenblatt nur eine zufällige Errungenschaft des Stalkers gewesen, der an allem interessiert war, was irgendwie durch die Hände seines Objekts der Begierde gegangen war.

Die Feststellung, dass ein Stalker die Sekretärin beklaut hatte, war für die Betroffenen nämlich lange nicht so erschreckend gewesen wie der Gedanke, dass gezielt geheime Informationen abgeschöpft worden waren. Mit einem guten Anwalt hatten die Laufburschen nicht viel zu befürchten gehabt, wenn es überhaupt zu einer Anzeige gekommen war. Das System hatte sich über die Jahre hervorragend bewährt.

Man sah Frank Wall an, dass ihm das Gespräch zu schaffen machte. Die Beichte strengte ihn an. Aber er fuhr fort: »Alles lief bestens, bis sich eines Tages mit einem Schlag alles für mich änderte.«

»Die Aschentage?«, fragte Anne leise.

Frank lächelte gequält und erwiderte: »Nein, nicht die Aschentage. Ich erhielt schlechte Nachrichten. Sie hatten bei mir eine unheilbare Krankheit festgestellt. Zwei Monate höchstens, mehr Zeit hatte ich nicht mehr. Plötzlich war mein Leben vorbei ...«

Man konnte Frank Wall ansehen, wie entsetzlich die Erinnerung an diese Situation war. Seine Lippen zitterten, als er weitersprach: »Der Schock war furchtbar. Zu wissen, dass meine Uhr abgelaufen war. Ich war einfach noch nicht bereit. Ich wollte leben – um jeden Preis. Ganz ehrlich, ich hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, wenn mich das hätte retten können.«

Er verstummte und blickte an Anne vorbei. So, als sähe er auf irgendeiner imaginären Leinwand, was damals passiert war.

Dann sah er zu Sergeant Milton: »Sergeant, Sie haben es verdient, ein Überlebender zu sein, ich nicht.«

Der Sergeant wollte etwas erwidern. Er empfand tiefes Mitleid mit dem Mann, der gerade seine traurigen Erinnerungen vor ihnen ausbreitete. Was für ein verzweifeltes Leben musste das gewesen sein, dass er letztendlich so ein Bild von sich hatte …

Frank fuhr fort: »Der Teufel war aber nicht verfügbar, deshalb entschied ich mich sozusagen für die andere Seite. Ich schwor alle Eide, ein neues, ein besseres Leben anzufangen, wenn ich nur mehr Zeit bekäme. Mir blieb nur meine Hoffnung. Ich änderte alles. Ich nahm mein Vermögen, und das war beträchtlich, und verschenkte es an Einrichtungen für Bedürftige. Ich verkaufte meine Häuser und meine Autos und gab das Geld an die, die es nötiger hatten. Eine eigene Familie existierte in meiner Welt nicht. Gleichzeitig verließ ich die Organisation.«

Anne gab einen Laut von sich und Frank nickte mit dem Kopf: »Genau das war das Problem. Sie trauten mir nicht, glaubten mir nicht, dass ich mich aus dem Geschäft zurückziehen wollte. Ich hatte ehrlich nicht vor, einen von ihnen an die Polizei auszuliefern. Das hätte mir nicht zugestanden. Sollten andere über sie richten und urteilen. Aber meine Lippenbekenntnisse reichten ihnen nicht aus. Die Sache eskalierte.«

Anne war in diesem Moment nur die Freundin, nicht die Ermittlerin. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie: »Die Schussopfer im ›Bäcker-Fall‹.«

Frank sah sie erleichtert an, er schluckte schwer bevor er weitersprach. »Ja, die Schussopfer. Ich hatte keine andere Wahl, sie wollten mich liquidieren. Und ehrlich gesagt, als ich meine Waffe damals zog, da tat ich das mit der Gewissheit, dass ich nicht einmal mehr das Ende der nächsten Stunde erleben würde. Ich schoss, und es waren nicht nur meine Kugeln, die ihre Körper zerstörten. Ich schleuderte ihnen all meine Wut über die Grausamkeit unserer begangenen Verbrechen entgegen. Jede Kugel trug ein Stück meiner Angst mit sich, und als mein Magazin leer war und der Rauch sich auflöste, da war ich bereit zu sterben.

Ich kann gar nicht beschreiben, was dann geschah. Ich dachte nur, jetzt ist es soweit: ›Die Hölle öffnet ihre Pforten und der Teufel persönlich holt sich François Mur.‹ Um mich herum entzündeten sich gewaltige Feuer. Wie flammende Tornados. Es waren die Einäscherungen der restlichen Mitglieder der Organisation. Diejenigen, die ich nicht getötet hatte, holte sich das Feuer. Ich war als Einziger in diesem Raum zurückgeblieben. Ich verlor fast den Verstand. Ich lud nach, schoss um mich, feuerte in die Gesichter der Toten und rief wie ein Wahnsinniger: ›Dann hol mich doch, dann hol mich!‹«

Es war das erste Mal, dass Anne Tränen in Franks Augen sah. Sie selbst rang mit der Fassung und brachte nur ein fast stummes »Frank« über ihre Lippen. Sergeant Milton hatte sich mittlerweile gesetzt. Das war eine weitere Geschichte eines Überlebenden, die er da gerade hörte. Was war das für eine Welt gewesen?

Frank wollte jetzt nicht aufhören. Er wollte Anne alles erzählen. Er hatte dieses Geheimnis so lange mit sich herumgetragen, dass es ihn fast aufgefressen hatte.

»Niemand kam, um mich zu holen. Die Welt brach weiter zusammen, die Kämpfe, weitere Einäscherungen, aber immer noch kam niemand, um mich zu holen. Ich machte es mir nicht leicht. Begab mich sehenden Auges in gefährliche Situationen, aber es schien fast so, als hätte man mich vergessen. Als alles vorbei war, versuchte ich denjenigen, die übrig waren, zu helfen.«

Anne lächelte matt, als sie an ihre erste Begegnung dachte: »Du hast den Bus gefahren mit den Kindern.«

Frank nickte. Dann schwiegen sie alle drei.

Der Tagesanbruch stand kurz bevor und schien alle düsteren Gedanken zu vertreiben. Frank atmete hörbar aus: »Ich war ein Überlebender geworden. Meine Krankheit …«, er stockte, wusste nicht, wie er es erklären konnte, »... sie war weg. Einfach weg.«

Anne dachte an das Gewissen. Konnte es sein, dass Frank in letzter Minute sozusagen das Ruder noch herumgerissen hatte? Frank hatte früher sein Gewissen in eine kleine Ecke seines Körpers verbannt. Dann hatte er diese schrecklichen Nachrichten über seinen Gesundheitszustand bekommen und hatte sich ändern wollen. Deshalb hatte er sein Gewissen befreit und ihm allen Platz zur Verfügung gestellt, den er gehabt hatte. Dadurch hatte er die Einäscherungen überstanden. Durch die Befreiung seines Gewissens hatte sich seine Genkombination aufgrund seiner neu gefundenen Menschlichkeit zum Positiven verändert. Sein Gewissen hatte ihn dann zu einem Überlebenden gemacht und dabei wohl auch die tödliche Krankheit in Franks Körper entfernt.

Frank sprach erneut: »Das war ein Geschenk, Anne. Ein Geschenk!«

Anne gab Frank einen Kuss auf die Wange, dann lehnte sie sich zurück: »Ja, das war es.«

Sie entspannte sich etwas. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Frank nach allem was sie eben gehört hatte, in der Lage gewesen wäre, einen der Morde zu begehen oder sich daran zu beteiligen. Trotzdem war es noch nicht vorbei.

»Frank, was ist mit unseren Ermittlungen?«

Frank rückte ein wenig in seinem Bett herum: »Es tut mir leid, Anne. Ich habe die Nerven verloren. Um ehrlich zu sein zwei Mal!«

Sergeant Milton hielt gespannt die Luft an. Er hoffte zwar auf eine Aufklärung der Morde, wünschte sich aber gleichzeitig, dass der Sheriff dafür nicht verantwortlich war.

»Ich habe vor 48 Jahren das Exemplar vom ›Bäcker-Fall‹, das für die Enzyklopädien bestimmt war, unterschlagen. Vielleicht hatte ich Angst, dass in diesem Fall irgendwer einmal einen Zusammenhang zwischen F. M. und mir herstellen würde. Ich habe mir gesagt, dass es niemandem schaden würde, wenn dieser Fall nicht veröffentlicht werden würde. Das war dumm von mir.« Frank schwieg.

Anne sah ihm an, dass ihm der zweite Teil seines Geständnisses schwerer fallen würde. »Nun sag es schon Frank, was ist sonst noch?«

Frank verzog das Gesicht: »Das ist wohl nicht so leicht zu entschuldigen. Als ich den Umschlag bei Dave Lorden fand, da hatte ich wirklich Angst, dass du in Schwierigkeiten stecken könntest.«

Er sah Anne auf eine Weise an, die in ihr ein warmes Gefühl aufsteigen ließ. Das erste Mal, seit sie sich kannten, fragte sie sich, ob sie jemals als Paar eine Chance gehabt hätten. Aber hier war weder der Ort noch die Zeit für solche Gedanken.

Frank sprach weiter: »Bei mir gingen alle Alarmglocken los. Als Erstes vernichtete ich den Umschlag, so würde niemand erfahren, dass Dave Lorden gegen dich einen Verdacht gehabt hatte. Die Erwähnung von Paul Grey in den Notizen von Dave Lorden brachte mir natürlich sofort den ›Bäcker-Fall‹ in Erinnerung. Ich war in Panik. Auf keinen Fall sollte jemand auf François Mur stoßen, daher beschloss ich, den Inhalt der Computerakte des ›Bäcker-Falls‹ zu löschen und die Papierakte zu vernichten. Ich verschwieg die Sache mit der fehlenden Munition, um nicht unnötig Staub aufzuwirbeln.«

Jetzt meldete sich das erste Mal der Sergeant zu Wort: »Aber warum haben Sie die Akte denn nicht schon viel früher vernichtet?«

Frank Wall sah in die Richtung des Sergeants: »Als Paul damals ermittelte, litt ich echte Qualen. Ich rechnete jeden Tag damit, dass er eine Verbindung zu mir herstellen würde. Aber F. M. interessierte ihn gar nicht. Also wollte ich mein Glück nicht überstrapazieren und ließ die Akte, wo sie war. Eine fehlende Akte hätte damals vielleicht nur unnötig Aufmerksamkeit erregt. Außerdem wollte ich keine unrechten Dinge tun. Erst mit den jüngsten Ermittlungen, hatte ich das Gefühl, ich müsste etwas unternehmen, um meine Vergangenheit weiter geheim zu halten. Anne, du kannst dich sicher noch erinnern, dass ich diesen Sheriffposten überhaupt nicht wollte.«

Anne musste grinsen. Sie wusste noch, wie er sich damals mit Händen und Füßen gegen dieses Amt gewehrt hatte.

»Aber heute sehe ich das anders. Ich liebe meine Aufgabe, und ich versuche, mich an alle Regeln zu halten. Ich will unsere Neue Welt erhalten und schützen. Ich weiß, ich hätte den Umschlag nicht nehmen dürfen. Ich habe an dir gezweifelt, und das tut mir sehr, sehr leid. Und ich hätte die Unterlagen im ›Bäcker-Fall‹ niemals vernichten dürfen. Aber ich schwöre dir, ich hätte niemals irgendjemandem etwas angetan.
Hätte Dave Lorden etwas über meine Vergangenheit herausgefunden, dann hätte ich nichts geleugnet. Ich versichere dir aber, dass er keinen Kontakt mit mir aufgenommen hat, um mich um einen Termin zu bitten. Anne, ich habe damals eine zweite Chance bekommen. Glaubst du etwa, ich würde sie so leichtsinnig aufs Spiel setzen? Ich hoffe, dass ich nie wieder in meinem Leben in eine Situation gerate, in der ich einen anderen Menschen töten muss, aber ganz gewiss würde ich keinen kaltblütigen Mord begehen, um meinen Ruf zu retten. Für die Unterschlagung der Akten bin ich verantwortlich, aber mit den Morden habe ich nichts zu tun.«

Frank zögerte kurz, dann sagte er: »Ich werde mein Amt zurückgeben und eine Erklärung vor dem Großen Rat abgeben. Ich werde die Wahrheit nicht länger verheimlichen.«

»Bitte?« Annes Tonfall hatte sich verändert. »Die Wahrheit nicht länger verheimlichen? Amt zurückgeben? Ich glaube, das Gift ist bis in dein Gehirn vorgedrungen.«

Der Sergeant schnappte nach Luft. Er kannte Annes verbale Übergriffe mittlerweile, aber trotzdem war er jedes Mal aufs Neue geschockt. Jedoch wurde ihm schnell klar, dass sie damit nur versuchte, den Sheriff in das Hier und Jetzt zurückzuholen.

»Frank, keiner von uns Überlebenden muss sich für seine Vergangenheit rechtfertigen. Was in der Traurigen Zeit passiert ist, bleibt in der Traurigen Zeit. Wir haben unsere Namen geändert, wenn wir wollten, und sind Menschen der Neuen Welt geworden. Wir alle sind uns darüber einig, dass die Überlebenden aus guten Gründen Überlebende sind. Sie alle hatten genug Menschlichkeit und vor allem Gewissen in sich, um die Einäscherungen zu überleben. Nur das zählt.«

Sie dachte an das Gespräch mit ihrem Gewissen, und es war ihr mittlerweile egal, ob sie all das nur geträumt hatte. Sie mochte die Vorstellung von ihrem neuen Mitbewohner.

Dann sah sie wieder zu Frank: »Viele der Überlebenden sind der Meinung, sie hätten das nicht verdient. Ich bin fast sicher, dass es uns allen so geht. Keiner von uns war in seinem früheren Leben ein Engel. Also ich zumindest nicht. Und wir sind es auch heute noch nicht. Aber dass wir alle versuchen, dem so nahe wie möglich zu kommen, das ist doch das, was zählt.«

Frank zog die Augenbrauen hoch. Anne empfand das als gutes Zeichen. Das war Frank, wie sie ihn kannte. Immer zweifelte er an ihren Worten und zog dazu eine Braue nach oben.

»Anne, du weißt nicht, wovon du sprichst. Du hast nicht meine Vergangenheit ...«

Anne fiel ihm ins Wort und war um keine Antwort verlegen: »Nein, die habe ich nicht, aber ich war schließlich beim Finanzamt, und ich bin mir sicher, dass die Menschen in der Traurigen Zeit mich deshalb auf einer Dämonenskala von eins bis zehn bei einer guten Acht eingeordnet hätten.«

Frank musste lachen. Der Sergeant verstand zwar nicht wirklich, wie Anne das meinte, fand aber die Vorstellung einer Dämonenskala amüsant. Er sah in das Gesicht von Frank Wall. Der Mann war angespannt, kein Wunder.

Der Sergeant sah die ganze Angelegenheit wie Anne. Was interessierte die Vergangenheit von Frank Wall, egal, wie schillernd sie sein mochte, er hatte ganz bestimmt Vergebung verdient. Der Sergeant kannte genug der alten Geschichten, in denen es darum ging, wie viele Menschen Frank Wall während den Aschentagen und in der schweren Zeit danach gerettet hatte. Die Schuld seiner Vergangenheit trug er sowieso immer bei sich. War das in diesem Fall nicht genug?

Der Sergeant stand auf und streckte sich übertrieben: »Entschuldigung, Sheriff, ich war wohl eingenickt. Die Anstrengungen der letzten Tage, meine Frau, die nicht mehr mit mir spricht, weil ich zu viel arbeite, ein Freund, der in meinem Haus seinen Rausch ausschläft.« An dieser Stelle bedachte er Anne mit einem Seitenblick, die überrascht die Augen aufriss, »eine Vorgesetzte auf der Flucht … Wo waren wir also? Hat der Chief-Sergeant Sie schon gefragt, ob Sie sich an irgendetwas bezüglich des ›Bäcker-Falls‹ erinnern können?«

Frank Wall sah den jungen Sergeant mit großen Augen an. Selten hatte ihm jemand so großzügig die Hand gereicht. Er empfand tiefe Hochachtung vor dem Jungen. Anne ging es ähnlich. Mit fast mütterlichem Stolz betrachtete sie ihren Sergeant.

Schnell führte sie das Gespräch fort, bevor Frank noch auf die Idee kam, zu widersprechen: »Oh, ich als entflohener Sträfling dürfte sowieso nicht hier sein, von daher kann ich hier auch kein Gespräch mit dir geführt haben. Ich denke, Sheriff, Sie sollten dem Sergeant jetzt seine Fragen beantworten, dann kann er die Ermittlungen weiterführen.«

Frank Wall war dankbar für das tiefe Gefühl aufrichtiger Freundschaft, das er in diesem Moment erleben durfte. Er sah erneut zu Sergeant Milton. Wie oft im Leben bekam man eine dritte Chance?

Der Sergeant schnappte sich einen Stuhl, stellte ihn an Frank Walls Bett, zog einen kleinen Notizblock hervor und erzählte dem Sheriff ohne Überleitung von seinem Gespräch mit dem Archivar. Der Sheriff hörte aufmerksam zu. Er kramte in seinem Gedächtnis, um auf etwas zu stoßen, das helfen könnte. Könnte er einen Beitrag leisten, dann würde er sich nicht mehr so schuldig fühlen.

Der Sergeant erzählte von dem Tütchen mit den Kapseln und die Frage nach der Beteiligung des Militärs.

Franks Züge entspannten sich etwas, als er antwortete: »Ich habe ja erzählt, wie das System bei der Bäckerei-Kette funktionierte. Wenn ich die Militärsache höre, dann denke ich sofort an den Militärstützpunkt. Da bin ich mir zu hundert Prozent sicher, dass dessen Kantine zu den Kunden der Bäckerei gezählt hat. Die bekamen mit Sicherheit jeden Tag eine Brotlieferung.«

»Unser alter Militärstützpunkt?« Der Sergeant fügte die Puzzlestücke zusammen. »Natürlich, Paul Grey ist auf etwas gestoßen, das den Militärstützpunkt betrifft. Wenn die Bäckerei-Organisation bei ihren Kunden Informationen gestohlen hat, dann hätte es doch sein können, dass in den Unterlagen zu dem ›Bäcker-Fall‹ auch geklautes Material aus dem Militärstützpunkt war.«

Anne sprang auf: »Genau, da hatte Paul die ›Anti-Burnout-Kapseln‹ her, und da muss er noch mehr gefunden haben.«

Frank versuchte zu verstehen: »Ihr denkt, dass das, was Paul dir mitteilen wollte, nichts mit der Bäckerei-Organisation zu tun hat, sondern mit dem Militärstützpunkt?«

»Aber ja!« Annes Wangen waren hochrot. »Das würde auch erklären, warum er es für gefährlich hielt. Alles, was mit Militär zu tun hat, ist gefährlich!«

Der Sergeant überlegte weiter: »Also Paul Grey findet, wie wir vermutet haben, etwas im ›Bäcker-Fall‹. Das, was er findet, ist etwas, das mit dem ehemaligen Militärstützpunkt in unserer Gemeinschaft zu tun hat.«

Anne und der Sheriff nickten so eifrig wie zwei Wackeldackel. »Wir wissen, dass er diese Kapseln gefunden hat, und wir sind uns ziemlich sicher, dass es außerdem noch weiteres Material gab. Denn wie sonst hätte er seine Schlussfolgerung bezüglich des Militärs ziehen können?«

Anne ergänzte die Ausführung des Sergeants: »Wir brauchen unbedingt den Originalhinweis.«

Frank sah sie fragend an.

Voller Ungeduld fuhr sie fort: »Na, der Hinweis, den Paul Grey in Mildreds Schulakte für mich hinterlassen hat und den versehentlich Dave Lorden erhielt. Eben der Originalhinweis, der immer noch verschwunden ist.«

Die drei sahen sich an und wussten, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Plötzlich flog die Tür von Franks Zimmer auf. Sergeant Milton hatte eben noch die Geistesgegenwart, den Pass von Frank Wall einzustecken.

»Misses Reeve, welch überraschender Besuch und so zeitig am Tage.«

Anne sah sich dem Arzt gegenüber, der erst vor ein paar Tagen Sergeant Milton und auch sie behandelt hatte. Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Sergeant: »Sieh an, mein medizinischer Wunderpatient hat sich auch wieder eingefunden. Ist es nicht erstaunlich, dass sich manche Patienten erst eigenmächtig selbst entlassen, um dann ganz unerwartet irgendwo anders im Krankenhaus wieder aufzutauchen? Natürlich am besten im Zimmer eines schwer Kranken, der eigentlich seine Ruhe braucht? Oder ist das hier ein gezielter Angriff auf mein Nervenkostüm?«

Eigentlich war Anne erleichtert, dass gerade er es war, der sie wahrscheinlich innerhalb der nächsten Minuten den Behörden ausliefern würde. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, als sie beschlossen hatte, Frank Wall im Krankenhaus aufzusuchen.

Der arme Sergeant Milton hatte sie mit der allergrößten Besorgnis zur Kenntnis genommen. Er hatte vehement widersprechen wollen, aber sie hatte ihn einfach ignoriert. Anne hatte sich die ganze Sache gründlich überlegt. Die Geschichte mit Frank war ein Problem gewesen. Sie hatte mit ihm sprechen müssen. Es wäre nicht fair gewesen, das alleine Sergeant Milton zu überlassen. Außerdem hatte sie es Frank geschuldet. Er hatte die Gelegenheit haben müssen, sich zu erklären.

Sie fühlte jetzt, nach dem sie die Wahrheit kannte, eine große Erleichterung. Allerdings fehlte ihr momentan ein Plan »B« für den Rückzug. In ihrem Kopf spielte sie verschiedene Möglichkeiten durch, wie sie aus dieser Sache wieder herauskommen könnte. Vor allem wollte sie den Sergeant aus der Angelegenheit heraushalten. Aber wie sollte das gehen?

Noch bevor sie reagieren konnte, sprach der Arzt in ironischem Ton weiter: »Nun gut, da Sie schon einmal hier sind, werden Sie sich auch meine fachliche Meinung anhören müssen. Misses Reeve, offensichtlich ist Ihnen nicht klar, dass es einige Leute in der Gemeinschaft gibt, die glauben, dass Sie uns verlorengegangen sind. Sicherlich wären diese Leute mehr als entzückt, wenn sie wüssten, dass Sie sich hier aufhalten. Misses Reeve, ganz ehrlich, ich halte Sie für eine leichtsinnige Person, die erst handelt und dann denkt.«

Frank wollte aus seinem Bett heraus protestieren, doch der Arzt hob gebieterisch die Hand: »Sie sind unberechenbar und unvernünftig. Trotzdem zweifle ich nicht an Ihrer Kompetenz, was die Aufklärung dieser Verbrechen angeht. Das ist auch der einzige Grund, warum ich noch nicht bei der Wache Süd Alarm gegeben habe. Sie werden jetzt ihren verrückten Hintern aus meinem Krankenhaus schaffen. Dann suchen Sie nach diesem Verbrecher, der seit Tagen unsere Welt auf den Kopf stellt. Sie werden ihn finden und verhaften, und wir können endlich wieder ruhig schlafen. Erst dann, und auch nur vielleicht, will ich Sie wieder in diesen heiligen Hallen sehen. Und Sie, Sergeant Milton, Sie schulden mir noch einige Untersuchungen. Die werden Sie ohne Widerworte durchführen lassen, wenn Sie Ihrer Chefin geholfen haben, den Fall zu klären. Dann werde ich auch ein schönes, neues Fenster von Ihnen beiden für unseren Verbandsraum bekommen.«

Frank Wall sah fragend zu seinen zwei Besuchern. Aber Anne schüttelte nur den Kopf.

Der Arzt wandte sich jetzt an Frank: »Mister Wall, wir versuchen wirklich unser Bestes, Sie wieder auf die Beine zu kriegen. Ihre Mitarbeit lässt allerdings einiges zu wünschen übrig. Es sieht also so aus: Ich habe gerade ein unbändiges Verlangen, die Toilette aufzusuchen. In genau zehn Minuten werde ich die Bedürfnisanstalt verlassen und erneut die Tür dieses Zimmers öffnen. Dann wird Folgendes passieren: Dieser Raum wird im Dämmerlicht des Morgens liegen. Es wird hier außer mir nur noch eine Person geben, und das sind Sie, Mister Wall. Sie werden flach in Ihrem Bett liegen. Sie werden weder denken noch lesen oder sprechen. Sie werden nur schlafen und genesen. Ich wiederhole – schlafen und genesen.«

Dann blickte er sie alle nacheinander an: »Mister Wall weiß, was er zu tun hat, und Ihnen beiden viel Glück. Schnappen Sie sich diesen Mistkerl!« Damit schloss er die Tür.

 

Anne war erleichtert. Frank Wall hatte nichts mit der Sache zu tun. Außerdem hatten sie eine Spur. Sie mussten in Richtung Militärstützpunkt ermitteln. Der Sergeant würde noch heute mit Rabea sprechen. Sie war, soweit man wusste, die einzige Überlebende des Stützpunkts. Sie hatte außerdem ein ausgezeichnetes Gedächtnis, vielleicht wusste sie irgendetwas. Was hatten der Stützpunkt und diese »Burnout-Sache« miteinander zu tun?

Ungeschickt hangelte sie sich aus dem Fenster, das sie für ihren Besuch bei Frank eingeschlagen hatten. Sergeant Milton sollte den Hauptausgang nehmen, er war schließlich nicht auf der Flucht, und vor dem Arzt brauchte er sich nicht mehr zu verstecken. Sie berührte mit den Füßen den etwas unebenen Boden. Neben sich sah sie im trüben Morgenlicht die Schatten der Bäume und Sträucher. Kurz hatte sie das Gefühl, dass sie eine Bewegung wahrgenommen hätte. Jetzt wurde es ihr unheimlich. Mit dem Sergeant war es weitaus weniger beängstigend gewesen, hier herumzuschleichen.

Anne bekam eine leichte Gänsehaut. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Diese Ecke war aber auch besonders dunkel und unheimlich. Ohne wirklich daran zu glauben, jemanden zu entdecken, entschied sich Anne trotzdem dazu, sich unerwartet, blitzschnell umzudrehen, um einen vermeintlichen Verfolger damit zu überraschen und ihn gegebenenfalls zu überwältigen. Anne hatte das einmal in einem alten Film gesehen.

Da sie nicht wirklich jemanden zu sehen erwartete, blieb ihr beinahe das Herz stehen, als sie sich drehte. Sie sah die Umrisse eines Körpers, sonst nichts. Dann blitzte etwas auf, das eine Sekunde später wie ein Fallbeil in ihre Richtung sauste.

Anne hatte gerade noch die Geistesgegenwart, sich auf die Seite zu werfen. Ihr Instinkt trieb sie an, zu überleben. Sie konnte an nichts anderes denken als an den blitzenden Stahl, der ihr jetzt, wenn sie sich nicht rechtzeitig umgedreht hätte, im Rücken stecken würde.

Sie wollte nicht sterben, nicht so, nicht jetzt. Zur Angst mischte sich Wut. Ihre Wut ließ sie um sich treten und schlagen. Ihr fiel eine weitere Waffe ein, die sie besaß, und ohne zu zögern benutzte sie diese Waffe: Anne fing an zu schreien. Sie schrie so laut sie konnte. Sie schrie, als hätte sie der Teufel an den Füßen gepackt und wollte sie in einen Feuerschlund ziehen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Kerzen wurden in den Fenstern entzündet.

Sie hörte Geräusche und Stimmen, dann einen Knall, lauter als alles, was sie aus ihrem Alltag kannte, dann ein Zweiter. Es folgten weitere. Anne war verstummt. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie hatte keine Orientierung. Dann hörte sie Schritte und Rufe. Erst so, als würde sie Ohrenstöpsel tragen, dann leuchtete ihr jemand ins Gesicht. Sie hatte das Gefühl, keinen einzigen Muskel mehr in ihrem Körper zu haben, als wäre sie komplett aus Pudding. Anne wollte etwas sagen, aber die Kraft verließ sie, und endlich fiel sie in eine erlösende Ohnmacht.

 

Der Arzt des Krankenhauses hatte ihnen großzügig sein kleines Büro zur Verfügung gestellt. Außerdem hatte er dem Sergeant eine Tasse mit einer heißen Flüssigkeit in die Hand gedrückt. Das Getränk hatte eine entspannende Wirkung auf den Sergeant, vermutlich lag das an irgendeiner alkoholischen Geheimzutat. Den Damen hatte der Arzt nichts angeboten. Offensichtlich war er der Meinung, dass sie keinen medizinischen Beistand benötigten. Madeleine Rose war zwar angespannt, aber nicht panisch, und Rabeas Gemütszustand konnte man wie immer nicht einschätzen.

Nur Sergeant Milton wirkte vom Schicksal gebeutelt. Er hatte soeben das erste Mal in seinem Leben eine Waffe auf einen Menschen abgefeuert. Er ging zumindest davon aus, dass er auf einen Menschen gezielt hatte. Getroffen hatte er nicht. Das Erschreckende war, dass er nicht sagen konnte, ob ihn diese Tatsache erleichterte oder ärgerte. Seine Hände zitterten noch, und er schüttelte immer wieder den Kopf hin und her. Seine Ohren waren zugefallen, und so wollte er sein normales Hörvermögen zurückbekommen. Angus würde das gefallen. Er hatte fast die gesamte Munition verschossen und keinen einzigen Treffer gelandet. Das Abfeuern der Waffe war wie aus einem Reflex heraus geschehen.

Der Sergeant hatte die Schreie gehört und sofort gewusst, dass es Anne Reeve war, die um ihr Leben schrie. Wie unter Strom war er losgerannt, die Waffe bereits in der Hand. Als er hinter dem Krankenhaus angekommen war, sah er im Halbdunkel die zwei Gestalten. Eine lag am Boden und schrie fürchterlich, die andere war über sie gebeugt und hantierte mit etwas, vermutlich einem Messer.

Als der Sergeant aufgetaucht war, hatte die Gestalt mit dem Messer die Flucht ergriffen, und er hatte geschossen. Sergeant Milton hatte die Verfolgung aufgenommen, hatte aber schon bald die harten Hufschläge eines Pferdes gehört, das zu einem scharfen Galopp angetrieben wurde. Er war zu Anne zurückgerannt. Die Ärzte und Pfleger hatten sie bereits in eines der Krankenhausbetten verfrachtet.

Jetzt saß er hier, im Büro des Arztes, zusammen mit seiner neuen Vorgesetzten, Sheriff Madeleine Rose, und Rabea. Er hatte die Geschichte mit dem Angreifer bereits erzählt. Jetzt warteten sie auf weitere Erklärungen. Nigel O’Brians unaufgefordertes Eintreten verschaffte ihm allerdings noch etwas Zeit.

»Wo ist er?« Nigel stürmte an den beiden Frauen vorbei als wären sie Luft. Dafür widmete er sich umso intensiver seinem Freund, dem Sergeant. Er trat auf ihn zu und drückte den Sergeant fest. Dann klopfte er ihm auf die Schultern und drückte ihn erneut. »Du hast sie gerettet, danke!«

Mehr Worte bedurfte es nicht. Sergeant Milton wusste, wie dankbar Nigel ihm war. Anne hatte keine Verletzungen erlitten. Wahrscheinlich stritt sie schon wieder mit dem behandelnden Arzt wegen ihrer Entlassung. Was würde jetzt mit ihr passieren? Schlimmer konnte eine Flucht überhaupt nicht scheitern. Noch war Nigel einfach glücklich, dass Anne unversehrt war. Aber spätestens, wenn sie wieder in einer Zelle sitzen würde, kämen die Vorwürfe – und das nicht zu Unrecht.

Der Sergeant hätte sich gerne die Haare gerauft, hielt diese Geste aber im Moment für unangebracht. Man könnte glauben, dass nicht sie dem Täter auf den Fersen waren, nein es schien eher umgekehrt. Nigel drehte sich kurz zu den beiden Frauen um und nickte in deren Richtung. Dann sah er noch einmal den Sergeant an und setzte sich auf einen freien Stuhl. Der Sergeant konnte nur mit Mühe ein Grinsen zurückhalten. So, wie es aussah, hatte sich Mister O’Brian entschieden, diesem Gespräch beizuwohnen. Der Sergeant war gespannt, wie ihn Sheriff Rose wieder hinauskomplimentieren würde.

Zum Erstaunen des Sergeants war es allerdings Rabea, die einen zaghaften Versuch machte, Nigel die Tür zu weisen: »Mister O’Brian, wir wollten gerade ein vertrauliches Gespräch mit dem Sergeant führen, vielleicht ist es besser, wenn Sie später wiederkommen und stattdessen Anne besuchen.«

Rabea sagte das ganz freundlich. Es lag keine Überheblichkeit in ihren Worten und auch keine Abneigung. Der Sergeant war gespannt. So eine freundliche Bitte konnte Nigel schlecht ablehnen.

Allerdings wurde er eines Besseren belehrt: »Vielleicht ist es aber auch nicht besser!«, war alles, was Nigel antwortete, dabei äffte er Rabeas Art zu sprechen nach und verharrte unbeweglich auf seinem Stuhl.

Sergeant Milton hatte fast den Eindruck, dass Nigel eine Abneigung gegen Rabea hatte. Das war ungewöhnlich. Normalerweise begegneten die Herren der Schöpfung der Präsidentin mit ausgesprochener Höflichkeit und Rücksichtnahme.

Auch Sheriff Rose wunderte sich ein bisschen über Nigel O’Brian. Allerdings sagte ihr ihre Erfahrung, dass sie es mit einem Mann zu tun hatte, der gerade schwer verliebt war. Sie würden hier über seine Partnerin, seine Geliebte sprechen, und die war in Schwierigkeiten. Unwahrscheinlich, dass ein Typ wie Nigel O’Brian sich aus dem Zimmer schicken ließ wie ein kleines Kind, das den Streit seiner Eltern nicht hören sollte. Sicher war ihm sowieso bewusst, dass sie ihn aufgrund der Strukturen des Ermittlungssystems der Neuen Welt gar nicht wegschicken konnten.

Wenn es um Anne ging, dann konnte er sich darauf berufen, ihr Partner zu sein und sie hier zu vertreten. Es gab keine Bestimmungen, die ihm das verbieten konnten. Deshalb beschloss Madeleine es auf eine andere Art.

»Sagen Sie, Mister O’Brian, haben Sie Misses Reeve bei der Flucht eigentlich geholfen?«

Nigel O’Brian nahm jetzt das erste Mal Madeleine Rose war. Sie war ihm sympathisch mit ihren Pausbacken. Trotzdem war sie ein Typ Mensch, den man nie unterschätzen sollte. Sie durfte allerdings auch umgekehrt nicht glauben, Nigel wäre so leicht einzuschüchtern. Behörden hatten ihm noch nie Angst gemacht.

Also grinste er und sagte: »Und wenn das so wäre?«

Sergeant Milton wäre am liebsten im Erdboden versunken. Er hatte das ungute Gefühl, dass sie alle gleich auffliegen würden.

Das Pausbackengesicht von Madeleine Rose verzog sich zu einem breiten Grinsen: »Das dachte ich mir. Nun, da Sie so eng mit Misses Reeve verbunden sind, denke ich, es kann nicht schaden, wenn Sie hier bleiben.«

Das kam wiederum unerwartet. Selbst Rabea hob überrascht die Brauen. Sergeant Milton durchlebte die schlimmste emotionale Berg- und Talfahrt seines Lebens, und Nigel wusste nicht, wohin mit all den Kampfansagen, die er sich bereits in seinem Gedächtnis zurechtgelegt hatte.

Madeleine Rose wirkte jetzt entspannt. Sie räusperte sich und fing an zu sprechen: »Ich habe gute Nachrichten. Der Große Rat hat nachgegeben.«

Sergeant Milton starrte sie mit offenem Mund an. Falls es das bedeutete, was er hoffte, dann fragte er sich, wie diese zarte Person das hinbekommen hatte.

Auch Nigel war gespannt: »Und was heißt das?«

Madeleine sah ihn interessiert an. Sie hoffte, eines Tages auch einmal einen Mann zu finden, der sie so liebte wie augenscheinlich Nigel seine Anne. Allerdings würde sie sich eine weniger unberechenbare Variante von Mister O’Brian wünschen.

Die erwartungsvollen Blicke der Herren ließen sie weitersprechen: »Ich habe fast die ganze Nacht verhandelt. Die Flucht von Misses Reeve ist beendet. Ab sofort hat sie den Status einer Zeugin und wird nicht mehr von uns gesucht.«

»Oh, Gott sei Dank!«, brach es aus Sergeant Milton heraus.

Er sagte das mit solch einer Inbrunst, dass Nigels Erleichterung dagegen wie ein Witz wirkte. Während Sheriff Rose und Rabea die Reaktion des Sergeants nicht verstanden, konnte Nigel ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. Zum einen war das ein Zeichen seiner eigenen Erleichterung, zum anderen aber auch seiner Belustigung.

Nigel O’Brian wusste nur zu gut, wie sehr der Sergeant unter dieser Situation gelitten hatte. Die Welt der Intrigen und Lügen war nicht die Welt von Sergeant Milton. Dafür war er viel zu ehrlich und geradlinig, was auch der Grund war, warum Nigel O’Brian seinen neuen Freund so sehr schätzte.

Schmerzlich war sich Nigel bewusst, dass er selbst am Unglück, das in den vergangenen Tagen geschehen war, eine Mitschuld hatte. Er hätte sich niemals einmischen dürfen. Vielleicht wäre der Richter dann noch am Leben ... Nigel konnte diese Gedanken nicht zu Ende führen. Er wusste, dass sich an dem, was geschehen war, nichts mehr ändern lassen würde.

Rabeas Stimme lenkte ihn ab: »Ich denke, wir alle sind darüber erfreut«, sagte sie und schenkte dem Sergeant ein verständnisvolles Lächeln. »Misses Rose hat hervorragende Arbeit geleistet.«

Der Sergeant hatte das Gefühl, unhöflich gewesen zu sein und wandte sich mit leicht roten Wangen an Sheriff Rose. »Entschuldigung, Sheriff, ich wollte Sie nicht unterbrechen, bitte fahren Sie doch fort.«

Sheriff Rose lächelte zurück und erzählte ihnen von ihren Verhandlungen mit dem Großen Rat: »Neben den Anschlägen auf Misses Wong und auf den Sheriff, bei denen Misses Reeve bereits in ihrer Zelle saß, war der Richter selbst mein bestes Argument. Er hatte beschlossen, dass Misses Reeve auf freien Fuß gesetzt werden sollte. Er fand das so wichtig, dass er sich während seines Todeskampfes noch zu der Zelle von Misses Reeve geschleppt hat. Somit war das auch keine Flucht, sondern eine Freilassung. Damit hat Misses Reeve nicht gegen das Gesetz verstoßen. Und die Kompetenz des Richters anzuzweifeln, fiel den Mitgliedern des Rates, jetzt, da er tot war, nicht so leicht. Dann kam wieder das Thema Umschlag. Ich konnte den Damen und Herren versichern, dass der Inhalt des Umschlags nicht die Schuld von Misses Reeve beweisen würde. Wie ich eben auch nochmals zu unserer Präsidentin gesagt habe, wird niemand etwas über den Inhalt des Umschlages erfahren, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Die Zurückhaltung dieser Information ist notwendig, um die Untersuchungen nicht zu gefährden. Alles, was im Zusammenhang mit unseren Ermittlungen steht, wird vorerst nicht bekannt gegeben, damit nicht noch weitere Personen gefährdet werden.«

Madeleine hatte sich damit weit vorgewagt. Aber wäre es besser gewesen, etwas anderes zu sagen? Die Geheimhaltung des Umschlages konnte den Ermittlungen tatsächlich dienen. Madeleine Rose war nicht dumm. Das war natürlich eine gefährliche Sache, was der jüngste Anschlag auf Anne Reeve bewies. Solange ihr Täter glaubte, dass der Umschlag ihm schaden würde, würde er handeln. Das war vielleicht ihre einzige Möglichkeit, ihn zu erwischen.

Wenn der Täter wüsste, dass der Umschlag nur einen Tipp auf einen Fall enthielt, den es eigentlich nicht gab, nämlich den »Burnout-Fall«, dann würde er sich eventuell zurückziehen und sie würden ihn nie vor Gericht stellen. Auf jeden Fall hatte sie sich gestern Nacht dazu entschieden, die Dinge so darzustellen, was ja nicht gelogen war. Was hätte sie sonst machen können? Hätte sie dem Großen Rat erzählen sollen, dass der Umschlag im Zuge eines kindischen Eifersuchtsdramas missbraucht wurde?

Sie hatte die Unterlagen gelesen und eins und eins zusammengezählt. O’Brians Anzeige gegen Frank und Annes Geständnis bezüglich der Unterschlagung. Madeleine Rose war klar geworden, dass es wahrscheinlich tatsächlich Frank Wall war, der den Umschlag genommen hatte um Anne zu schützen. Nigel O’Brian wusste das nicht und der ganze »Kindergarten« kam in Bewegung. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle?

Sie sah Anne Reeve wirklich nicht als Täterin, und sie vertraute Sergeant Milton. Die Verbindung zu Paul Grey, der Anne eine Nachricht in der Schulakte von Mildred hinterlassen hatte, war für sie glaubhaft. Dass man daraufhin Hinweise in alten Fällen von Paul Grey suchte, war ebenfalls logisch. Aber das meiste waren doch nur Mutmaßungen. Hätte sie davon erzählt, wären die Ratsmitglieder vielleicht nicht bereit gewesen, ihr zu glauben.

Menschen wollten einfache Erklärungen, alles andere machte ihnen Angst. Wenn der Fall aufgeklärt wäre, dann könnten alle Details bekannt gegeben werden. Allerdings wusste sie jetzt schon, dass das die Neue Welt verändern würde. Eigentlich war sie bereits verändert, nur war das den meisten noch nicht klar. Die Neue Welt hatte ihre Unschuld verloren. Madeleine blieb dabei, außer ihr, dem Sergeant, Mildred, Doktor Masters und Frank Wall, waren keine weiteren Eingeweihten notwendig. Außerdem wussten noch Anne Reeve und damit vermutlich auch Nigel O’Brian Bescheid.

Es ging schließlich nicht nur darum, Wahrheiten zurückzuhalten, es ging auch um Schutz. Es hatte weitere Menschen gegeben, die Bescheid wussten, und die waren jetzt nicht mehr am Leben. Andere waren nur knapp dem Tod entkommen. Sie würde nicht zusätzlich noch das Leben eines Ratsmitglieds oder der Präsidentin riskieren. Es war die Aufgabe der Ermittler und des Sheriffs, Risiken einzugehen, wenn sie für die Ermittlungen unumgänglich waren.

Anne Reeve und Sergeant Milton waren die Richtigen für diese Aufgabe, und keiner der beiden würde sich davon abhalten lassen. Daher wäre es sträflicher Leichtsinn, die beiden von den Ermittlungen abzuziehen.

Sheriff Rose bemerkte, dass sie die anderen anstarrten, sie warteten auf das Ende ihres Berichts, also sprach sie weiter: »Wir haben einen Kompromiss gefunden. Misses Reeve wird die Ermittlungen nicht mehr leiten, das werden Sie ab jetzt machen, Sergeant Milton.«

Jetzt wollte der Sergeant protestieren. Schließlich war Anne seine Vorgesetzte, er wollte nicht ihre Position.

Madeleine Rose beschwichtigte ihn: »Nun, Sergeant, da Sie die Ermittlungen leiten, bleibt es Ihnen überlassen, ob Sie dafür eine Zeugin bei sich haben müssen oder nicht.« Dann sah sie ihn mit ihrem bezaubernden Lächeln an, und der Sergeant lehnte sich entspannt zurück, während Nigel aufsprang und das Zimmer verließ.

Kurz darauf hörten sie ein Stimmengewirr auf dem Flur, dann wurde die Tür aufgerissen. Ein ziemlich genervter Arzt trat in das Zimmer, dicht gefolgt von Anne Reeve und Nigel O’Brian.

»Ich habe Ihnen gesagt, dass es mir gut geht. Ich kann nicht noch länger im Bett liegen bleiben!«

Der Arzt hatte wohl mittlerweile aufgegeben und sagte nur noch: »Ich werde Sie nicht entlassen, Sie sollten mindestens noch einen Tag hier bleiben. Aber Sie machen ja sowieso wieder ...«

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment fiel ihm auf, dass das Büro nicht leer war. Er erinnerte sich wieder, dass er es Sheriff Rose überlassen hatte. Er bedachte alle mit einem Blick, der sagen sollte: »Macht doch, was ihr wollt!« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ schulterzuckend den Raum.

Anne schnaufte verächtlich, konnte aber nichts mehr dazu sagen, weil bereits Rabea auf sie zukam und sie herzlich umarmte: »Schön, dich zu sehen. Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«

Anne wurde ruhiger. Rabeas Worte besänftigten sie. Verstohlen warf Anne einen Blick auf den Sergeant, der sofort verstand. Anne wollte wissen, ob Rabea eingeweiht worden war. Der Sergeant schüttelte verneinend den Kopf. Dann bemerkte Anne eine weitere Person. Sie löste sich sanft aus Rabeas Umarmung und trat Sheriff Rose gegenüber. Das war die Frau, die sich so für sie eingesetzt hatte. Sie hatte Nigel zuerst nicht glauben wollen, als er ihr vor ein paar Sekunden die gute Nachricht gebracht hatte. Jetzt konnte Sie endlich wieder an den Ermittlungen teilnehmen. Ob als Chief-Sergeant oder als Zeugin, das war ihr vollkommen gleichgültig.

Anne hatte Respekt vor der jungen Frau. Genau wie Richter Voyou hatte sie sich nicht beirren lassen und ihre eigenen Entscheidungen getroffen. Anne war nicht oft auf solche Menschen gestoßen. Hätte es vor den Aschentagen mehr von ihnen gegeben, dann wäre die Welt vielleicht niemals so zugrunde gerichtet worden. Wieder dachte sie an das Gewissenswesen. Seit sie diesen Kontakt oder diese Vision gehabt hatte, sah sie Menschen anders. Sie sah den Körper, das Gesicht, die Haltung und Kleidung, aber dann stellte sie sich auch noch ein Gewissenswesen vor, das irgendwo in ihrem Gegenüber verborgen war. Das von Madeleine Rose war in Annes Vorstellung sehr glücklich. Es strahlte die ganze Zeit und summte lustige Lieder. Ja, da war sich Anne sicher, Madeleine Roses Gewissen hatte eine besondere Reinheit. Sie fixierte immer noch ihre neue Vorgesetzte.

Ein Räuspern ihres Sergeants löste Anne aus ihrer Starre: »Entschuldigung, ich weiß nicht, was ich sagen soll. ›Danke‹ scheint mir nicht genug ...« Dann streckte sie Sheriff Rose ihre Hand hin. Madeleine nahm sie und drückte sie fest. Die beiden Frauen empfanden sofort gegenseitige Sympathie füreinander.

Anne wusste, dass sie in Madeleine Rose einmal eine gute Freundin haben würde, und Madeleine Rose wusste, dass sie sich zu Recht für Annes Freilassung eingesetzt hatte.

Rabea sah die beiden Frauen, und dabei überkam sie eine leichte Traurigkeit. Sie fühlte sich wieder einmal ausgeschlossen. Sie beneidete andere um ihre offene Art. Natürlich war sie herzlich und mitfühlend, aber es gelang ihr nie, diese spontane Wärme zu vermitteln wie Anne es manchmal tat. Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, verabschiedete sie sich mit der Begründung, dass es höchste Zeit sei, die gute Nachricht im Radio zu verkünden.

Anne ging auf sie zu, verabschiedete sich und sagte: »Ich würde später noch mal in dein Büro kommen, wir haben da vielleicht noch etwas, bei dem du uns behilflich sein könntest.«

Rabea nickte eifrig und freute sich darüber, dass die Freundin sie doch noch einbezogen hatte.

Als Rabea den Raum verlassen hatte, sprach Sheriff Rose als Erste: »So, und jetzt würde mich doch mal interessieren, was euch zwei Herzchen dazu veranlasst hat, mitten in der Nacht in ein Krankenhaus einzubrechen – oh ja, das mit der kaputten Scheibe kam mir zu Ohren – wie gesagt einzubrechen, um dann einen kranken Patienten zu belästigen. Und zu guter Letzt, gelingt es Ihnen beiden dann nicht einmal, wieder sicher nach Hause zu kommen. Sie, Chief-Sergeant, werden angegriffen, und Sie, Sergeant Milton, spielen Krieg.«

Nigel O’Brian konnte die Schadenfreude über die Zurechtweisung nicht verbergen. Er selbst hätte den beiden gerne einen ordentlichen Rüffel verpasst. Sheriff Rose war das nicht entgangen, deshalb feuerte sie noch eine Salve in seine Richtung ab: »Mister O’Brian, Sie haben sich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Sie können froh sein, dass Sie nicht zu meinen Ermittlern gehören.«

Das brachte Nigel einen hämischen Blick von Anne und Sergeant Milton ein, bevor Sheriff Rose fortfuhr: »Künftig ersparen Sie mir bitte solche Dummheiten.«

So, wie Madeleine Rose diese Worte sagte, fühlten sich alle drei veranlasst, verstehend und zustimmend mit dem Kopf zu nicken. Sheriff Rose nahm das fast amüsiert zur Kenntnis: »Und nun will ich wissen, was Sie herausgefunden haben.«

Anne Reeve und Sergeant Milton blickten sich kurz an, dann begann Sergeant Milton zu berichten. Er ließ alles weg, was mit Frank Walls Vergangenheit zu tun hatte und beschränkte sich darauf, dass der Besuch im Krankenhaus dazu gedient hatte, gemeinsam über den »Bäcker-Fall« zu spekulieren. Die Erinnerungen von Anne und Frank Wall an diesen Fall und die Information von Angus dem Archivar bezüglich der »Anti-Burnout-Kapseln« hätten sie dann auf die Idee gebracht, dass Paul Grey in der »Bäcker-Akte« etwas gefunden hatte, was die kriminelle Organisation hinter der Bäckereikette vermutlich auf dem Militärstützpunkt entwendet hatte.

Sheriff Rose hatte aufmerksam zugehört: »Sie denken also, Paul Grey hat das Tütchen mit den Kapseln und einen Hinweis, der die Verbindung zum Militärstützpunkt herstellen würde, gefunden?«

Anne Reeve antwortete: »Das wäre zumindest sehr wahrscheinlich. Wenn wir einen Fall aus dem Einäscherungsarchiv zugeteilt bekommen, dann wundern wir Ermittler uns manchmal, was alles in der dazugehörigen Kiste abgelegt wurde. Ein Tütchen mit Tabletten ist nichts Ungewöhnliches. Allerdings hat es nur selten eine Bedeutung. Meist sind es einfach nur Medikamente.«

Sheriff Rose war besorgt: »Aber welchen Hinweis hat Paul Grey außer dem Tütchen noch gefunden? Und wo ist der jetzt?«

Sergeant Milton hatte sich dazu bereits seine Gedanken gemacht: »Im Prinzip kann es alles Mögliche sein. Aber ich vermute, es ist etwas Kleines, Unauffälliges.«

»Und wieso?« Sheriff Rose machte sich Sorgen um ihren Sergeant. Er hatte eben erst eine Waffe abfeuern müssen. Das machte ihm sicher noch zu schaffen.

Der Sergeant sprach weiter: »Weil der Hinweis in Mildreds Schulakte gepasst hat. Da liegt die Vermutung nahe, dass es ein Schriftstück war. Paul Grey wird die Worte ›Anne Reeve – Burnout – gefährlich‹ wohl kaum auf eine Schneekugel graviert haben. Zumal wir davon ausgehen, dass dies nur ein Teil des Hinweises ist.«

»Klingt logisch!« Nigel wollte einfach etwas sagen, um seinen Freund zu unterstützen. Die beiden Männer schenkten sich ein verschwörerisches Lächeln.

Anne sah zu Madeleine Rose, die über die beiden schmunzeln musste. Anne bekam langsam ein ungutes Gefühl: »Wir sollten schleunigst diesen Hinweis finden. Irgendwer weiß nämlich, dass es ihn gibt. Aber genauso wie wir, weiß unser Täter nicht, wo er ist. Also, was wissen wir darüber?«

Sergeant Milton spann den Faden weiter: »Vermutlich ist er klein und aus Papier.«

»Richtig«, fuhr Anne fort, »und er war für mich bestimmt. Und Dave Lorden hatte ihn zuletzt. Also wo hat er ihn versteckt?«

»Sie denken, er hat ihn noch gehabt, als er starb?«

Sheriff Rose schien überrascht, aber Anne war sich sicher: »Dave Lorden hatte ihn noch. So, wie ich ihn kannte, hat er ihn gut verwahrt.«

Sheriff Rose blieb skeptisch: »Er hat den Hinweis versteckt. Was aber hat er mit den Kapseln gemacht?«

Anne hatte darüber bereits nachgedacht. Sie antwortete Sheriff Rose: »Dave hat die Kapseln in seinen Notizen nicht erwähnt. Es ist deshalb fraglich, ob das Tütchen ebenfalls in Mildreds Schulakte war. Sollte er die Kapseln jedoch dort gefunden haben, dann werden sie zusammen mit dem Hinweis in einem Versteck sein. Dave Lorden war äußerst vorsichtig.«

Dann sprach Nigel, nicht ohne Bedauern und Sorge: »Aber er war nicht vorsichtig genug. Das heißt, dass jeder, der etwas über den Hinweis weiß, in großer Gefahr ist.«

Die anderen sahen ihn an.

Dann übernahm Sheriff Rose: »Und das ist genau der Punkt. Warum stellen diese Geschichte, die Kapseln oder der Hinweis, für irgendjemanden heute noch ein so großes Problem dar, dass dafür Morde begangen werden? Und wie konnte das Paul Grey wissen? Um was geht es überhaupt?«

Annes Gehirn arbeitete auf Hochtouren: »Das ist die Frage: Was ist der ›Burnout-Fall‹? Was meinte Paul damit?«

Überraschenderweise war Nigel der Einzige, der sich diese Frage bereits beantwortet hatte: »Na kommt schon, das ist jetzt aber nicht euer Ernst. Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass es dabei um die Krankheit geht. Wenn das Militär damals damit zu tun hatte, dann müsst ihr anders denken. Da geht es um Tarnung und Decknamen. Da ist nichts so, wie es scheint.«

Die anderen sahen ihn mit großen Augen an.

Anne sprach als Erste: »Du hast recht, den Fall nur mit der Krankheit in Verbindung zu bringen, ist zu klein gedacht. Wir müssen mit Rabea sprechen.«

Sheriff Rose hob mahnend die Brauen.

Doch Anne beruhigte sie: »Keine Sorge, ich werde ihr so wenig wie möglich erzählen. Aber vielleicht sollten Sie Sergeants zu ihrem Schutz abstellen. Sie ist die einzige Überlebende des Stützpunktes. Ich denke, unser Täter weiß das auch. Bisher war sie offensichtlich noch keine Bedrohung für ihn, aber ...«

»Sie haben recht. Reden Sie mit ihr, und sagen Sie ihr auch, dass sie Schutz bekommt. Ich werde zwischenzeitlich Doktor Masters und Mildred Grey ins Bild setzen. Alle müssen sehr vorsichtig sein. Sie müssen noch einmal zurück zu Dave Lordens Haus und in sein Büro, um diesen Hinweis zu finden. Wir werden kein Risiko eingehen.«

Sie wollten sich schon auf den Weg machen, als sie Sheriff Rose noch einmal zurückhielt: »Kein Risiko! Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen.«

Als die vier das Krankenhaus verließen, fühlten sie sich der Lösung näher, wenn sie auch noch nicht greifbar war. Sie trugen aber auch ein Gefühl in sich, das sich wie ein Parasit ausbreitete und dadurch immer stärker wurde. Das würde die eigentliche Herausforderung sein: gegen dieses Gefühl anzukommen, ohne es aber gänzlich zu ignorieren. Sie alle hofften, dass es ihnen gelingen würde, ihre Angst zu kontrollieren und sich nicht von ihr beherrschen zu lassen.

 

Anne war erleichtert, sich wieder wie jeder andere in der Gemeinschaft bewegen zu können. Offensichtlich hatte die Radiodurchsage schon die meisten Bewohner erreicht, denn sie sah keine Furcht in den Gesichtern der Menschen, die ihr unterwegs begegneten. Einige nickten ihr sogar aufmunternd zu, so, als wollten sie sagen: »Ich habe gleich gewusst, dass Anne Reeve nichts mit diesen schrecklichen Verbrechen zu tun hat.«

Anne ging zusammen mit Nigel in ihre Wohnung. Dort holte sie sich schnell ein paar Sachen. Sie hatten beschlossen, vorerst zusammen zu bleiben, deshalb zog Anne ins Gästezimmer von Sergeant Milton, in dem Nigel schon Quartier bezogen hatte. Das würde ihnen etwas mehr Schutz bieten, und sie konnten sich noch besser absprechen.

Gegen Mittag brachten die Männer Anne zu Rabea, während sie sich auf den Weg zum Haus der Lordens machten. Sergeant Milton und Nigel wollten noch einmal gründlich die Wohnräume der Lordens und anschließend deren Büro in der Schulkommission durchsuchen. Anne sollte in der Zwischenzeit mit Rabea sprechen. Sie winkte den Männern kurz hinterher und begab sich dann in die Büroräume des Großen Rates, wo sich auch Rabeas Büro befand.

Es war sehr still in den Gängen. Einmal begegnete ihr eine Überlebende, die in irgendeinem Gremium saß. Der Frau fiel es schwer, unbefangen zu wirken, als sie Anne sah. Trotzdem grüßte sie freundlich. Offensichtlich waren nicht alle Mitglieder der Gemeinschaft froh, Anne auf freiem Fuß zu wissen. Sie dachte an Heribert Bux und machte sich gedanklich eine Notiz. Sie wollte unbedingt wissen, wie weit die Ermittlungen bezüglich seiner Einäscherung waren. Sie würde deshalb später die zuständigen Ermittler befragen.

Vor Rabeas Büro blieb sie kurz stehen. Sie ging noch einmal im Geiste alles durch, was sie mit Rabea besprechen beziehungsweise nicht besprechen wollte. Es widerstrebte ihr, der Freundin gegenüber nicht offen zu sein.

Als Rabea sie erblickte, strahlte sie: »Anne, wie schön, komm herein.«

Anne folgte ihrer Aufforderung und ließ sich, wie gewöhnlich, auf einen der bequemen Sessel fallen. Rabea schloss die Tür. Normalerweise tat sie das selten. Allerdings war es bei Annes Besuchen nicht ungewöhnlich, da die beiden Freundinnen auch über private Dinge sprachen. Heute war der Grund für die verschlossene Tür ein anderer. Alles, was die Ermittlungen in den Mordfällen betraf, wurde vertraulich behandelt. Rabea ging also zu Recht davon aus, dass niemand ungewollt etwas darüber erfahren sollte.

Anne streckte die Beine aus: »Wie geht es dir, Frau Präsidentin?«

Rabea schmunzelte. Anne gab ihr immer solche Spitznamen, wenn sie alleine waren. Das war ein weiterer Grund, warum sich Rabea in Annes Nähe wie eine ganz normale Frau fühlte, die sich mit einer Freundin traf.

Anne sah zu ihr hinüber: »Wenn das alles vorbei ist, dann müssen wir uns endlich einmal wieder einen schönen Abend machen.«

Rabea lächelte, blickte in Annes Gesicht und sagte: »Wird das denn gehen, jetzt, wo Mister O’Brian in dein Leben getreten ist?«

Anne lachte laut: »Ok! Erwischt! Ja, ich denke es wird sich einiges ändern.«

Rabea neigte leicht den Kopf zur Seite: »Was Ernstes?« Rabea kannte Anne und daher kannte sie auch schon deren Antwort. Trotzdem hatte sie die Frage gestellt.

Anne nickte, und aus tiefstem Herzen kam ihr ein »Ja« über die Lippen. Dann räusperte sie sich und richtete sich gerade auf: »Rabea ich bin leider dienstlich hier.« Dann fiel ihr ein, dass sie momentan keine offizielle Position hatte und fügte noch an: »Also wegen der Ermittlungen!«

Rabea verstand und lächelte erneut.

Anne kam direkt zum Punkt. »Hör zu, ich kann dir keine Fragen beantworten, und ich werde dir auch nichts erzählen. Die Sache ist einfach die, dass alle, die zu viel wissen, in Gefahr sind. Das ist auch der Grund, warum der neue Sheriff dir zwei Sergeants zu deinem Schutz abstellen wird.«

Anne hielt es für besser, nicht darauf hinzuweisen, dass das letztendlich ihre eigene Idee war. Rabeas Reaktion bestätigte sie darin.

Die Präsidentin der Neuen Welt sprang auf: »Was? Das ist doch Unsinn! Ich möchte das nicht!« Rabeas sonst so sanfte Stimme wurde lauter als gewöhnlich: »Ich brauche keine Bewacher.«

Die Heftigkeit, mit der Rabea reagierte, überraschte Anne. Rabea bemerkte das und hatte das Bedürfnis, sich zu erklären.

Sie sprach jetzt wieder ganz ruhig: »Weißt du, ich will einfach nicht, dass jemand das Gefühl bekommt, dass ich etwas Besonderes bin. Ich will keine Präsidentin sein, die nichts mehr mit den Menschen zu tun hat, in deren Diensten sie eigentlich steht. Leibwächter vermitteln den Menschen aber genau diesen Eindruck.«

Anne konnte Rabeas Befürchtungen verstehen. Sie dachte an die Staatsmänner und -frauen in der Traurigen Zeit. Die wenigsten von ihnen waren wirklich noch Diener des Volkes gewesen. Sie hatten sich wie die Fürsten und Herzöge des Mittelalters verhalten. Nur ein kleiner Kreis Eingeweihter hatte direkten Zugang zu ihnen gehabt. Und ständig waren sie von einer Entourage, bestehend aus Wirtschaftsbossen, Anwälten, Leibwächtern und persönlichen Sprechern, umgeben gewesen. Huldvolle Auftritte vor dem niederen Volk hatte es bisweilen gegeben, sie hatten aber, außer vor Wahlen, als lästig gegolten. Das Theaterensemble der Weltpolitik hatte den Menschen vorgegaukelt, in den besten Händen zu sein. Aber leider waren es manchmal Hände gewesen, die in schmutzigen Geschäften oder in imaginären Hosentaschen gesteckt hatten. So oder so, die wenigsten Hände hatten angepackt. Die Folgen waren allen bekannt.

»Rabea, aber darum geht es doch gar nicht. Es geht um deinen Schutz. Jeder, der in Gefahr wäre, würde von uns beschützt werden, egal, was für ein Amt er inne hätte.«

»Aber warum sollte ich mehr in Gefahr sein als andere?«

»Gut, diese Frage muss ich dir wohl beantworten. Wir vermuten, dass die Morde mit etwas zusammenhängen, das mit dem alten Militärstützpunkt zu tun hat. Und da du die einzige Überlebende bist ...«

Rabea erschrak. Sie wurde kreidebleich. Anne hatte schon Angst, sie würde in Ohnmacht fallen. Rabea setzte sich auf ihren Stuhl und sagte keinen Ton. Sie sah aus, als stände sie unter Schock. Anne machte sich Vorwürfe. Vielleicht hätte sie ihr das schonender sagen müssen?

Rabea schluckte schwer, dann riss sie sich zusammen: »Und was genau soll das sein?«

Bevor Anne ihre Fragen stellen konnte, sprach Rabea weiter: »Ich habe die meiste Zeit in Schulen verbracht. Hier war ich nur selten. Mein Vater ...« – Rabea stockte, als würde sie die Erinnerung quälen – »... er war Pfarrer, er war oft mit den Soldaten im Einsatz.«

Anne war geduldig: »Ich weiß, aber vielleicht hast du trotzdem einmal etwas aufgeschnappt. Eine Unterhaltung gehört, oder dein Vater hat eine Bemerkung gemacht?«

Rabea sah sie fast trotzig an. »Über was?«

Anne zögerte nicht: »Sagt dir ›Burnout‹ im Zusammenhang mit dem Stützpunkt irgendetwas?«

Rabeas Gesichtsmuskeln spannten sich. Für Anne sah es so aus, als würde sie fieberhaft über die Frage nachdenken, als würde sie grob in ihren Erinnerungen graben.

Es dauerte eine Weile, bis Rabea antwortete: »Ich weiß nicht. Es kann sein, dass ich mal etwas von einer Studie gehört habe, in der es um Stressbewältigung ging. Sie hatten hier auch kranke Soldaten betreut. Vielleicht war es das, sicher bin ich mir aber nicht.«

Anne ließ nicht locker: »Weißt du vielleicht noch, wer davon gesprochen hat? Kennst du irgendeinen Namen? Fällt dir noch irgendetwas ein? Bitte, Rabea, das ist sehr wichtig.«

Rabea dachte nach: »Tut mir leid. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob ich auf dem Stützpunkt oder in der Universität davon gehört habe. Wie kommt ihr überhaupt darauf?«

Anne lächelte milde: »Tut mir leid, zu deiner eigenen Sicherheit ist es besser, wenn du nicht mehr weißt. Sei so lieb und melde dich bei mir, wenn dir noch mehr einfällt.«

Damit stand Anne auf. Hier kam sie nicht weiter. Rabea ließ sich von der Freundin umarmen: »Natürlich, wenn mir noch etwas einfällt, dann melde ich mich sofort.«

Sie stand noch eine Weile im Zimmer und blickte auf die Tür, durch die Anne Reeve gerade gegangen war.