9. Die Ermittlungen

 

Mildred war früh im Büro und wartete ungeduldig auf die anderen. Frank Wall kam als Erster, das war klar, er war immer überpünktlich. Dann traf Doktor Masters ein. Er hatte sich bereits Sorgen um Anne gemacht und war erleichtert gewesen, als ihm Mildred mitgeteilt hatte, dass sie dieses Treffen abhalten würden. Endlich konnte etwas unternommen werden.

Dann kam Sergeant Milton. Man sah ihm an, dass er eine kurze Nacht hinter sich hatte. Offensichtlich hatte er diese auf der Wache Süd verbracht. Er war unrasiert und hatte noch die Kleider vom Vortag an. Mildred brachte ihm unaufgefordert ein heißes Getränk.

Frank Wall wollte gerade die Bürotür schließen, als Sergeant Milton ihn stoppte: »Sir, Sheriff, wir sind noch nicht komplett.«

Frank Wall stutzte, und auch die anderen sahen den Sergeant fragend an: »Was heißt denn das nun schon wieder?«

Der Sergeant antwortete umständlich: »Na ja, es fehlt noch jemand.«

Frank Wall würdigte diese überflüssige Erklärung mit seinen berühmten hochgezogenen Augenbrauen und einem sarkastischen »Ach!«. Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment stand auch schon Nigel O’Brian in der Tür.

Frank Wall war außer sich: »Was zum Teufel...!« Er fuhr zu Sergeant Milton herum: »Sagen Sie nicht, wir warten auf den da.«

Der Sergeant nickte und wollte etwas sagen, aber Nigel kam ihm zuvor: »Sheriff, ich kann nur sagen: Was passiert ist, tut mir schrecklich leid. Ich möchte mich dafür entschuldigen. Wirklich, es tut mir aufrichtig leid.«

Frank schnaufte: »Wie können Sie es wagen, sich hier hin zu stellen und so zu tun, als hätten Sie lediglich einen Geburtstagsgruß vergessen? Sie sind doch schuld an dem ganzen Schlamassel. Seit Sie hier aufgetaucht sind, ist alles nur noch schlimmer geworden. Und jetzt sitzt mein Chief-Sergeant im Gefängnis. Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt eine Vorstellung davon haben, was das heißt. Im schlimmsten Fall wird Anne wegen Mordes angeklagt. Mister O’Brian, eine Entschuldigung wird hier nicht reichen, also verschwinden Sie, oder ich vergesse mich.«

Nigel fing ebenfalls an, sich zu versteifen. Sergeant Milton dachte wieder an die beiden Hunde und wusste, dass er dieses Mal dazwischen gehen musste: »Sheriff, Anne Reeve, hat gestern noch mit Mister O’Brian gesprochen, es ist ihr ausdrücklicher Wunsch, dass er uns bei den weiteren Ermittlungen hilft. Ich denke ... also, der Chief-Sergeant denkt, das wäre eine gute Idee.« Sergeant Milton wurde bei seinem letzten Satz immer leiser. Es war nicht so einfach, Frank Wall zu widersprechen.

»Was?« Frank Wall war perplex: »Ist die Frau jetzt von allen guten Geistern verlassen? Da mache ich nicht mit. Ohne mich ...«

Jetzt mischte sich Mildred ein: »Ich denke, Sheriff, nicht nur Mister O’Brian hat dazu beigetragen, dass wir in diesem, wie nannten Sie das noch, ›Schlammassel‹ sitzen. Ich habe gestern mit Anne gesprochen. Sie hat mir von dem Umschlag erzählt. Natürlich ist alles, was ihr die Lordens vorwerfen, Blödsinn. Trotzdem hätte ich ein Recht gehabt, früher davon zu erfahren.«

Mildred machte eine kurze Pause und blickte zu Sheriff Wall. Der Vorwurf war aus ihrer Stimme verschwunden, als sie sagte: »Ich meine, wir sollten Annes Wunsch akzeptieren.«

Frank Wall war peinlich berührt. Erst jetzt ging ihm auf, dass er sich mit dem Vernichten des Umschlags zwar für den Schutz von Anne entschieden hatte, aber gleichzeitig auch gegen die Gerechtigkeit für Paul Grey, Mildreds Vater. Wäre Mildred nicht so von Annes Unschuld in dem Fall überzeugt, hätte sie Frank daraus mehr als nur einen Vorwurf machen können. Er sagte nichts.

Dafür wandte sich Nigel noch einmal an die Anwesenden: »Ich möchte nur helfen.«

»Um Gottes Willen, könnte mir endlich jemand sagen, was hier vor sich geht?« Doktor Masters hielt es vor Spannung kaum noch aus: »Offensichtlich bin ich der Einzige, der unwissend ist. Also raus damit!«

Dann wandte er sich an Frank Wall: »Wenn Anne der Meinung ist, Mister O’Brian wäre für uns eine Bereicherung, dann soll es so sein.«

Frank Wall gab sich geschlagen. Er hob die Arme und brummte ein wütendes »von mir aus«.

Mildred schloss die Bürotür, und alle setzten sich um den großen Tisch. Frank Wall und Nigel O’Brian vermieden es dabei, nebeneinander zu sitzen. Dann fing Sergeant Milton an zu sprechen. Die anderen hörten ihm gespannt zu. Der Sergeant fasste die letzten Tage zusammen. Wie alles mit den Morden an den Lorden Brüdern begonnen hatte, dann die Einäscherung von Karl Hobnitz und die Frage, wieso Anne und Sergeant Milton von ihm angegriffen wurden. Immer noch unklar war, welche Rolle Hobnitz bei der ganzen Sache spielte. Dann der Tod von Marie White und der angebliche Selbstmord von Doktor Calliditas. Sie trugen alle ihre Informationen zusammen.

Da war das Gespräch zwischen Doktor Masters und Doktor Calliditas und Sergeant Miltons Gespräch mit dem Archivar im Waffen- und Sprengstoffarchiv gewesen. Frank Wall erklärte dann seinen Wunsch, den Fall schnell abzuschließen, nachdem er den Umschlag im Haus der Lordens gefunden hatte. Er hatte Anne schützen wollen, deshalb hatte er auch die Information über die verschwundene Munition nicht weitergegeben.

Angst zeigte sich auf den Gesichtern der anderen, als ihnen bewusst wurde, wie viele Patronen noch im Umlauf waren. Doktor Masters hörte jetzt zum ersten Mal davon, dass die Lordens Anne im Verdacht gehabt hatten, etwas mit dem Tod von Paul Grey zu tun zu haben.

Frank zeigte ihnen den Brief von Marie an Nigel, den er bei den Akten aufbewahrte. Sie waren sich einig, dass das darin erwähnte Misstrauen Dave Lordens gegen das System eine Folge des Verdachts gegen Anne war.

Dann war Nigel dran. Er beschönigte nichts und versuchte auch nicht, sich zu rechtfertigen: »Ich habe den Großen Rat informiert, nachdem ich einen Teil des Gesprächs zwischen Anne und dem Sheriff belauscht habe. Das war ein großer Fehler.«

Niemand kommentierte sein Geständnis, nicht einmal Frank Wall. Es war, als wären sie im Stillen übereingekommen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich voll und ganz darauf zu konzentrieren, gemeinsam Anne zu helfen. Frank Wall beschrieb ihnen, was bei der Anhörung passiert war. Die anderen stöhnten auf, als er von Heribert Bux’ selbstherrlicher Vorgehensweise berichtete, und so blieb es auch nicht aus, dass sich Zufriedenheit auf den Gesichtern seiner Zuhörer ausbreitete, als er seine Berichterstattung mit der Einäscherung von Heribert Bux beendete.

Als Nächstes sprach wieder Sergeant Milton. Die Dinge, die er mitzuteilen hatte, waren noch nicht allgemein bekannt. Er erzählte von seinem ersten Besuch bei Misses Wong in der Schulkommission und den Rückschlüssen, die er zusammen mit Anne aus den erhaltenen Informationen gezogen hatte. Dann berichtete er von dem Anschlag auf Misses Wong und das glückliche Eingreifen von Nigel O’Brian. Nigel ergänzte noch, dass ihm Anne am Abend im Krankenhaus von ihrem Plan erzählt hatte, die Schritte des Sergeants zu rekonstruieren. Nach den Ereignissen – damit meinte er Annes Verhaftung – war es ihm am sinnvollsten erschienen, sich an Annes Plan zu halten. Deshalb hatte er die Schulkommission besucht.

Die anderen wussten bereits, dass Katie in einem sicheren Versteck war. Nun erfuhren sie, dass man Misses Wong ebenfalls dort in Sicherheit gebracht hatte.

Es war das erste Mal, das Mildred sich zu Wort meldete: »Dave Lorden hat also etwas in meiner Schulakte gefunden. Etwas, das mein Vater für Anne versteckt hat. Und dann haben die Lordens es falsch interpretiert.«

Im Büro war es unheimlich still, Mildred sah den Sergeant an.

»Genau so ist es«, antwortete dieser. »Ihr Vater war etwas auf der Spur und hat Anne einen Hinweis hinterlassen. Misses Wong hat überhaupt keine Ahnung, um was es geht, sie hat lediglich durch ihre gute Beobachtungsgabe dazu beigetragen, dass ich auf diese Spur gestoßen bin.«

Doktor Masters hatte aufmerksam zugehört, und deshalb stellte er die nächste Frage: »Aber wie konnte der Täter von dem Gespräch zwischen Ihnen, Sergeant, und Misses Wong erfahren? Und inwieweit hätte ihm Misses Wong gefährlich werden können?«

Jetzt schaltete sich wieder Mildred ein: »Misses Wong mag vielleicht gegenüber den Ermittlern störrisch gewesen sein, aber normalerweise ist sie eher ein ...«

Mildred stockte, sie wollte nicht unfair sein, deshalb überlegte sie sich ihre Worte genau. »Sie ist leutselig. Ich kenne sie ja auch schon eine Weile. Sie hat immer mal von den Lordens erzählt, die sie sehr verehrt hat. Sie wusste genau über deren Befinden Bescheid und hielt mit Informationen darüber nicht hinter dem Berg. Ehrlich gesagt, habe ich ihr nie besonders zugehört, jetzt schäme ich mich fast dafür. Vielleicht wäre mir etwas aufgefallen.«

Frank Wall war es immer noch ein bisschen peinlich, dass er Mildreds Belange bei der Sache mit dem Umschlag überhaupt nicht berücksichtigt hatte, deshalb war es ihm wichtig, etwas Tröstendes zu sagen: »Mildred, wie hätte Ihnen etwas auffallen sollen? Was die letzten Tage hier passiert ist, das hätte doch keiner ahnen können. Und was das Gespräch zwischen dem Sergeant und Misses Wong anging, wer weiß, vielleicht wurden sie belauscht.«

Frank konnte sich einen schnellen Seitenblick auf Nigel O’Brian nicht verkneifen: »Oder sie hat davon erzählt, vielleicht nur Andeutungen gemacht. Allerdings könnte der Angriff auf den Sergeant auch gar nichts mit dem Gespräch zwischen ihm und Misses Wong zu tun haben. Der Täter war eventuell grundsätzlich der Meinung, dass er den Ermittler aufhalten muss.«

Sergeant Milton nickte: »Der Chief-Sergeant und ich, wir haben beide das Gefühl gehabt, in der Felsenbucht nicht alleine gewesen zu sein. Aber das Einzige, woran ich mich erinnern kann, ist der Duft von Lavendel.«

Doktor Masters betrachtete den Sergeant mit unverhohlenem Interesse und konnte seine Frage nicht länger zurückhalten: »Was ist das für ein Gefühl, jetzt als Überlebender?« In dem Moment, als er die Frage gestellt hatte, war ihm auch schon bewusst, wie taktlos das war. Der Doktor lief rot an und wollte sich entschuldigen.

Aber Sergeant Milton machte es ihm einfach: »Gut, dass Sie fragen, so muss ich mich dieser Wahrheit wenigstens auch stellen. Es ist ein komisches Gefühl, daran zu denken. Rein körperlich fühle ich mich nicht anders, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft. Vor allem um meine Frau und ...«

Er zögerte kurz, hielt es aber für besser, die anderen einzuweihen, »und um mein Baby.«

Diese Nachricht löste bei den Anwesenden einen kleinen Gratulationssturm aus. Alle wussten, wie schwer es für die jungen Paare war, ein Baby zu bekommen. Doktor Masters erinnerte sich daran, welches Glück er und seine Frau hatten, dass sie zwei Kinder großziehen durften. Auch Mildred war gerührt. Sie war leider eine der Frauen gewesen, der das Glück der Mutterschaft versagt geblieben war.

Nigel und Frank freuten sich einfach darüber, dass ein Geschlechtsgenosse es geschafft hatte, die Art zu erhalten. So waren sie kurz von den düsteren Gedanken um die Todesfälle abgelenkt.

Allerdings brachte sie Sergeant Milton schnell wieder auf Kurs: »Sie werden sicher alle verstehen, dass es für mich im Moment nichts Wichtigeres gibt, als diesen Fall aufzuklären. Nur so kann ich die Zukunft meiner Familie wieder sicher machen.«

Die anderen stimmten ihm zu. Nigel räusperte sich und stellte seine erste Frage: »Sie sagten, Sie hätten sich nur an den Duft von Lavendel erinnern können, hat sich Anne denn an etwas anderes erinnert?«

Der Sergeant war Nigel dankbar, dass er das Thema wieder aufgriff. Er wollte nicht weiter über seine Familie und sein künftiges Dasein als Überlebender sprechen. Deshalb antwortete er schnell: »In der Tat, sie sagt zwar, dass ihre Erinnerungen verschwommen seien und mehr einem Traum glichen, aber sie sah eine Art schwebende Gestalt. Das könnte zum Beispiel auf jemanden hindeuten, der ein langes Gewand, einen Mantel oder Ähnliches getragen hat. Außerdem erinnert sie sich an den Duft von Vanille.«

»Ah, Vanille! Das ist ihr Lieblingsduft!«

Frank Wall hatte diese Bemerkung einfach so in den Raum geworfen und keiner nahm groß Notiz davon, außer Nigel, dem diese Vertrautheit zwischen Frank und Anne einen kleinen Stich gab, trotzdem machte er so, als hätte er sie nicht gehört.

Nigel überging also Frank Walls Bemerkung und hakte nach: »An was erinnert sie sich noch?«

Der Sergeant war ein bisschen zögerlich, sprach dann aber doch: »Sie meinte, eine fremde Sprache gehört zu haben. Ihr Eindruck war, dass die ganze Szene sehr real war, obwohl diese Gestalt, die sie geglaubt hat zu sehen, irgendwie fremdartig erschien. Außerdem konnte sie sich noch an den Satz ›Er wurde für dich gerettet, nun rette uns‹ erinnern«.

»Diesen Satz hat sie auch ständig im Krankenhaus wiederholt. Hat sie eine Idee, was das bedeuten soll?« Frank Wall sah den Sergeant erwartungsvoll an.

Der Sergeant schüttelte den Kopf: »Sie weiß selbst nicht, ob sie sich das alles eingebildet hat, komisch ist aber, dass meine dürftigen Erinnerungen an die Ereignisse in der Felsenbucht ähnlich sind. Ich hatte auch das Gefühl, dass da jemand war. Anne war sich sicher, dass sie mich nicht hatte retten können. Dafür sah sie aber dieses Wesen, das sich über mich beugte. Wir haben keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Vielleicht sind das wirklich nur Folgen der Unterkühlung.«

»Oder ...«, unterbrach ihn Doktor Masters, »... wir sind dabei, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.«

»Welchem Geheimnis?« Mildred sah ihn erstaunt an.

Doktor Masters schien gerade in seine eigene Welt abzutauchen und ließ sich nur sehr unwillig davon abhalten. Deshalb klang er auch ein wenig ungeduldig, als er jetzt antwortete: »Das Geheimnis der Aschentage, das Geheimnis der Überlebenden. Was wissen wir denn bis jetzt? Wir reimen uns irgendetwas zusammen mit Genen, die in bestimmten Kombinationen bestimmte Reaktionen auslösen. Wer sagt denn, dass das Ganze nicht viel komplexer ist?«

Als er Mildreds immer noch erstauntes Gesicht sah, veranlasste ihn das zu weiteren Erklärungen: »Wir gehen immer davon aus, dass alles, was passiert ist, nur durch etwas ausgelöst worden sein kann, das wir auch kennen. Allerdings können wir keine wirklich befriedigenden Erklärungen finden. Das heißt doch, dass der Ansatz vielleicht geändert werden muss. Die Wissenschaft sollte neue Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

Frank Wall sah ihn eindringlich an: »Und was sind das für neue Möglichkeiten? Fremde Wesen?«

Man merkte Frank Wall an, dass er dieser Theorie äußerst skeptisch gegenüber stand.

Aber Doktor Masters strich sich über seinen dicken Bauch und ließ sich nicht beirren: »Warum nicht? Bloß weil wir nicht wissen, wer oder was sie sind, können wir sie doch nicht von vornherein ausschließen. Bakterien mussten auch erst entdeckt werden.«

»Bei der Vorstellung fühle ich mich nicht wohl.« Mildred sprach damit den anderen aus der Seele.

»Das mag sein, aber das ist nicht entscheidend.« Der Doktor gab sich damit zufrieden.

Sergeant Milton wollte sich jedoch nicht weiter mit Theorien dieser Art aufhalten: »Möglich ist alles Doktor, aber das sollten wir ein anderes Mal untersuchen. Sicher wird Ihnen der Chief-Sergeant gerne Rede und Antwort stehen, wenn diese leidige Angelegenheit vom Tisch ist. Also fassen wir noch einmal zusammen: Wir hatten beide den Eindruck, dass in der Felsenbucht noch jemand war.«

Jetzt kam eine etwas unangenehmere Aufgabe auf den Sergeant zu, er musste Frank Wall auf den Zahn fühlen. Also sprach er von der Information, die er von Misses Wong erhalten hatte, in der es um diese eventuelle Terminvereinbarung zwischen Frank Wall und Dave Lorden ging.

Frank Wall zog wieder einmal die Augenbrauen in die Höhe.

»Was???« Seine Überraschung schien echt: »Ich hatte davon keine Ahnung! Mildred, ist Ihnen darüber etwas bekannt?«

Mildred verneinte ebenfalls, und der Sergeant hatte keine Zweifel an der Aufrichtigkeit des Sheriffs. Damit war auch dieser Punkt geklärt.

Jetzt musste das unerfreuliche Thema des Umschlags nochmals auf den Tisch: »Sheriff, der Chief-Sergeant hat mich ausdrücklich darum gebeten, sie nochmals nach dem Inhalt des Umschlages zu fragen. Sie meinte, wir bräuchten so viele Informationen darüber wie möglich. Vielleicht würden wir dann auf das stoßen, was Paul Grey mit seiner Nachricht eigentlich mitteilen wollte.«

Der Sheriff konnte diesen Gedankengang nachvollziehen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er kramte in seinem Gedächtnis. Er hatte ja vor dem Vernichten des Umschlages versucht, sich den Inhalt einzuprägen.

Er stieß hörbar die Luft aus und fing an: »Es war eine Art Dossier über Anne. Es war handschriftlich verfasst. Für mich sah es nach Dave Lordens Handschrift aus. Es waren keine zusätzlichen Unterlagen oder Abschriften von einem anderen Autor im Umschlag. Im Dossier selbst gab es Aufzeichnungen über Annes Arbeit, dann etwas über Paul Greys Unfall. Schließlich folgten Notizen über Annes Gesundheitszustand. Es waren Mutmaßungen wie zum Beispiel: ›Ist Anne Reeve gefährlich? Was hat sie mit Paul Greys Tod zu tun? Hat sie die Burnout-Krankheit? Wirkt sich das negativ auf ihren Geisteszustand aus? Macht sie ihr Burnout gefährlich? Wusste das Paul Grey, musste er deshalb sterben? Warum hat dann bei ihr die Einäscherung nicht funktioniert?‹«

Er sah im Augenwinkel, wie Mildred schluckte. Er versuchte, sich besser zu erinnern und schloss dafür die Augen. »Ja, es gab diese Überschrift ›Anne Reeve − Burnout − gefährlich‹

Mildred schreckte hoch: »Was? Wie war das geschrieben?«

Der Sheriff sah sie verdattert an und überlegte.

Mildreds Blick bohrte sich in sein Gesicht, und er stammelte: »Mit Bindestrichen?«

Mildreds Gesicht glühte fast ein bisschen, als sie jetzt sprach: »Da stand also ›Anne Reeve − Burnout − gefährlich‹

Sie hatte diese Worte, während sie sprach, auf ihren Block gekritzelt und hielt ihn jetzt Frank Wall vor die Nase.

Dieser nickte und sagte: »Ja, genau so, aber ich verstehe nicht ...«

»Aber ich«, sagte Mildred triumphierend, »Ich weiß, was das bedeutet!«

Die Spannung im Raum war fast greifbar. Alle Augen waren auf Mildred gerichtet.

Doktor Masters sprach für sie alle: »Was, Mildred? Nun sprechen Sie schon!«

Mildred lehnte sich mit einem Lächeln zurück: »Das heißt nicht, Anne Reeve hatte ein Burnout und wurde dadurch gefährlich. Was Sie hier sehen, ist der Hinweis auf einen Aschenfall.«

»Was???«

Der Ausruf kam von allen vier Männern gleichzeitig. Mildred lächelte noch ein bisschen mehr.

»Sehen Sie, das ist ganz einfach. Die Archivierung der Aschenfälle war damals sehr unhandlich. Daran hat sich bis heute übrigens nichts geändert. Mein Vater wollte deshalb die Ablage, beziehungsweise die Verwaltung der Fallakten, verbessern. Dafür hat er sich immer wieder neue Methoden überlegt, die auch eine einfache Suche im Computer ermöglichen sollten. Ich wette, Anne Reeve kann sich daran noch gut erinnern. Diese Art der Darstellung entspricht seiner Idee, eine Akte anhand von drei Merkmalen im Archivcomputer abzulegen, zu bearbeiten und suchen zu können. Diese Merkmale sind der Name des Ermittlers, der Fallname und der Fallstatus. Also so, wie das hier geschrieben ist, bedeutet das in unserem Fall, dass Anne Reeve der Ermittler sein soll, der den Fall bearbeitet. Der zweite Teil ist der Fallname, hier ›Burnout‹. Und der dritte Teil ist der Status. Allerdings sollte da normalerweise geklärt oder ungeklärt stehen oder etwas in der Art. Ich denke, wir wissen daher alle, was es zu bedeuten hat, dass hier das Wort ›gefährlich‹ steht. Also: Was der Sheriff in den Unterlagen von Dave Lorden als ›Überschrift‹ bezeichnet, ist für mich der Hinweis meines Vaters – der Rest entspringt der Fantasie von Dave Lorden.«

Sergeant Milton stieß einen leisen Pfiff aus. »Also wollte Ihr Vater Anne mitteilen, dass sie den Fall ›Burnout‹ untersuchen soll. Vermutlich ein Fall, den Anne nicht kannte. Außerdem warnt er sie in diesem Zusammenhang vor einer Gefahr.«

Mildred nickte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich so verhalten hat.«

Jetzt schaltete sich Doktor Masters ein: »Aber hätte er nicht auch einen Fall meinen können, an dem Anne bereits gearbeitet hat? Einen Fall, der ihr vertraut war?«

Frank Wall hatte die Stirn in Falten gelegt: »Das würde aber wenig Sinn machen. Wenn Anne bereits mit dem Fall vertraut gewesen wäre, der für irgendwen hätte gefährlich werden können, dann hätte Paul niemals damit gewartet, Anne über mögliche Gefahren zu informieren. Dann hätte er ihr das gleich gesagt. Nein, ich denke, es muss etwas sein, von dem Anne bisher nichts wusste. Etwas, das Paul entdeckt hat, das er aber für so entsetzlich hielt, dass er deswegen Angst um seine Tochter hatte. Deshalb wollte er, dass Anne erst nach Mildreds Tod davon erfährt und ermittelt. Offensichtlich war er der Meinung, dass die Gefahr nicht bestand, solange niemand den Fall ›Burnout‹ untersuchen würde.«

Mildred nickte: »Das würde zu meinem Vater passen. Er hätte weder mich noch meine Mutter einer Gefahr ausgesetzt.«

Nigel hatte schweigend zugehört. Während der ganzen Unterhaltung hatte er das Gefühl, dass sie irgendetwas übersehen hatten. Dieses Gefühl machte ihn fast wahnsinnig. Er konzentrierte sich, ging das eben gehörte noch einmal durch, wieder und wieder, während die anderen über Paul Greys Motive sprachen.

Dann endlich konnte er es greifen, ohne Rücksicht auf Höflichkeiten unterbrach er das Gespräch: »Aber was hat Dave Lorden jetzt genau in Mildreds Akte gefunden? Diese Notizen im Umschlag, sagen Sie, waren Aufzeichnungen von Dave Lorden. Also stellt sich doch die Frage, wo ist der Original-Hinweis von Paul Grey?«

Sergeant Milton klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte: »Das ist eine wirklich gute Frage! Sie wären ein guter Ermittler geworden, Nigel O’Brian!«

Nigel stöhnte, konnte aber darauf nicht mehr antworten, da es an der Tür klopfte. Genervt erhob sich der Sheriff und öffnete. Rabea stand vor der Tür.

Frank war erstaunt: »Rabea, was kann ich für Sie tun?«

Es kam ihm heute das erste Mal lächerlich vor, sie nicht zu duzen. Mit Anne war das etwas anderes, mit ihr schlief er schließlich nicht. Als er den besorgten Blick von Rabea auffing, vergaß er diesen Gedanken und stellte sich auf schlechte Nachrichten ein.

Rabea reckte den Hals, um zu sehen, wer außer Frank noch da war. Erstaunt erblickte sie Nigel O’Brian in der Runde. Frank, der ihrem Blick gefolgt war, zuckte nur mit den Schultern. Rabea gab ihm zu verstehen, mit ihr in den Vorraum zu kommen.

Dort sprach sie aufgeregt: »Sie haben eine weitere Anhörung angesetzt. Anne ist gerade auf dem Weg zum großen Saal. Den Vorsitz übernimmt ein neues Ratsmitglied. Ein Neugeborener, der erst kürzlich als Mitglied des Großen Rates gewählt wurde. Er ist gestern Abend hier angekommen. Stammt aus irgendeiner kleinen Gemeinschaft, drei Tagesreisen entfernt. Da er neu ist und zufällig ein Experte der alten Rechtssysteme, hat man ihm Bux’ Platz angeboten.«

Sie lächelte schüchtern: »Das heißt, ich wurde heute Morgen geschickt, um ihn darum zu bitten, den Vorsitz zu übernehmen, und er war einverstanden.«

Frank sah sie fragend an: »Rabea, nun sag schon, was hattest du für einen Eindruck von ihm?«

Sie runzelte ihre sonst so makellose Stirn: »Also ich fand ihn nett.«

Sie ahnte, dass Frank ihre Aussage, besonders das Wort »nett«, sogleich ungeduldig hinterfragen würde, deshalb setzte sie schnell erneut an: »Ich denke, er kann helfen. Allerdings hat er darauf bestanden, heute noch mit Anne zu sprechen.«

Frank war verstimmt, das fehlte gerade noch. Hoffentlich hatte Rabea recht und dieser Neue würde dazu beitragen, Annes Arrest zu beenden. Er verabschiedete sich schnell von den anderen. Sie nickten sich verschwörerisch zu. Das war zumindest eine Gelegenheit, Anne über ihre neuen Erkenntnisse zu informieren. Vielleicht konnte sie mit den neuen Hinweisen etwas Licht in die Angelegenheit bringen.

Als Frank Rabea zum großen Saal folgte, sagte diese nichts. Sie hatte natürlich bemerkt, dass in Franks Büro etwas vor sich ging. Allerdings hielt sie es zu diesem Zeitpunkt für klüger, Frank nicht zu bedrängen.

 

Frank wollte unbedingt mit Anne sprechen. Sie saß schon auf ihrem Platz. Die Ratsmitglieder hatten den Saal ebenfalls betreten, standen aber etwas abseits in einer Ecke des Raumes. Frank konnte sofort erkennen, dass zwei neue Räte dabei waren. Der junge Mediziner und das Ratsmitglied aus dem Ressort Strafvollzug hatten sich offensichtlich austauschen lassen. Anne wurde von ihnen nicht beachtet, sie vermieden es sogar, sie anzublicken. Frank begrüßte seinen Chief-Sergeant daher umso herzlicher, und auch Rabea demonstrierte ihre Freundschaft zu Anne.

Anne Reeve lächelte gequält: »Nett von euch, aber es wird nichts ändern. Es wäre wahrscheinlich das Beste, wenn ich mir schon einmal einen Fluchtplan überlege. So, wie die mich ansehen, wird die Anhörung ein Witz. Ich bin doch bereits verurteilt.«

Frank wollte sie trösten und ihr die neuen Erkenntnisse mitteilen, aber so weit kam er nicht mehr, denn es öffnete sich eine der hinteren Türen, und der neue Vorsitzende betrat den Raum. Wenn Anne nicht so angespannt gewesen wäre, hätte sie sich bei dessen Anblick mit einem wohligen Grinsen zurückgelehnt. Sie musste unwillkürlich an einen Ausspruch ihrer Großmutter denken, der ihr mehr als passend erschien. Was für ein Bild von einem Mann!

Anne schätzte den neuen Vorsitzenden auf höchstens dreißig Jahre. Er war groß, und auch unter seinem weiten Oberteil konnte man seine muskulöse Figur erkennen. Er hatte sanfte braune Augen und einen Dreitagebart. Und obwohl er keine Haare hatte − oder vielleicht gerade deshalb − wirkte er unglaublich sexy. Anne hatte sich noch nie gefragt, ob sie Männer mit Glatze anziehend fand. Ab heute würde sie diese Frage jedoch mit »Ja« beantworten. Anne sah zu Rabea. Sieh an, dachte Anne. Selbst unser Engel kann sich den irdischen Gefühlen nicht ganz verschließen. Auch die anderen Damen im Raum konnten ihre Überraschung über die Erscheinung des neuen Ratsmitglieds kaum verbergen. Auf jeden Fall schien sich zumindest das weibliche Geschlecht im großen Saal zu entspannen.

Jetzt trat der »Neue« auf die Gruppe der Ratsmitglieder zu und begrüßte sie freundlich. Dann näherte er sich Rabea, und man konnte ihm ansehen, wie beeindruckt er von deren Schönheit war. Interessanterweise wirkte er irgendwie vertraut mit Rabea. Das sprach für ihn, die meisten Männer waren in ihrer Nähe eher eingeschüchtert. Sollte Anne je wieder bessere Zeiten erleben, dann würde sie bei Rabea deswegen auf jeden Fall nachhaken. Der neue Vorsitzende begab sich auf seinen Platz und legte einen Packen Papiere vor sich. Erst jetzt richtete er das Wort an Anne. Er schien sie zu taxieren. Anne bemerkte sofort seine schlauen Augen. Der Mann war schwer einzuschätzen, sie war auf der Hut. Die Sache mit Bux steckte ihr noch in den Knochen.

Wer konnte schon wissen, welche Pläne ihr neuer Ankläger hatte: »Misses Reeve, mein Name ist Voyou, und ich bin damit beauftragt worden, dieser Anhörung vorzusitzen. Ich hatte nicht viel Zeit, die Unterlagen zu studieren. Allerdings schien es mir notwendig, die Sache voranzutreiben. Misses Reeve, wie es aussieht, halten Sie die meisten hier für eine Hexe, deshalb meine erste Frage an Sie: Sind Sie eine?«

Anne war sprachlos. »Was?« Sie stammelte, das war schlecht, also beeilte sie sich, zu widersprechen: »Nein, natürlich nicht! Ich hatte nichts mit der Einäscherung zu tun ...«

Richter Voyou hob die Hand und grinste: »Schön, dann hätten wir das geklärt. Damit hoffe ich, meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen, ist diese Diskussion um Misses Reeves übernatürliche Zauberkräfte ein für alle Mal erledigt.«

Richter Voyou blickte in die Runde, und das ein oder andere Ratsmitglied senkte betreten den Kopf. Offensichtlich stand diese Anschuldigung ernsthaft im Raum.

»Misses Reeve, es freut mich, dass wir so gut vorankommen. Sie sind keine Hexe, also gehe ich davon aus, dass ich nicht als Aschenhäufchen enden werde, wenn ich Ihnen die nächste Frage stelle.«

Anne war gleichzeitig amüsiert und verärgert. Unter anderen Umständen hätte sie diese Art von Humor sehr geschätzt, aber in Anbetracht der Tatsache, dass man sie vielleicht für immer wegsperren könnte, war ihr nicht zum Lachen zumute. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, zwinkerte der Richter jetzt auch noch vergnügt in ihre Richtung.

Anne Reeve war nun mal Anne Reeve, und so folgte, was folgen musste, und sie sagte mit zusammengekniffenen Augen zu ihm: »Weiß nicht, bei Ihnen könnte es vielleicht eng werden.«

Frank Wall glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können, und es entwischte ihm ein aufgebrachtes »Anne!«

Rabea stöhnte, und die anderen Ratsmitglieder zuckten erschreckt zusammen. Der Richter sah sie kurz an, dann fing sein mächtiger Oberkörper an zu beben, und es ertönte eine laute Lache, die den ganzen Raum erfüllte. Es war ein albernes Gelächter, was es umso ansteckender machte. Anne versuchte, sich zu beherrschen und nicht einzustimmen, schließlich war sie verärgert, aber ein Lächeln konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen.

Der Richter lachte und deutete mit dem Finger auf Anne: »Ich habe schon gehört, dass Sie ein echter Witzbold sein können, Misses Reeve.«

Frank atmete hörbar neben ihr aus, und Rabea musste sogar ein wenig kichern. Die anderen Ratsmitglieder waren verunsichert. Sie konnten mit der Art des neuen Vorsitzenden wenig anfangen. Richter Voyou tupfte sich mit seinem Ärmel die Augen, murmelte eine Entschuldigung und räusperte sich.

Dieses Mal sprach er ernst: »Misses Reeve, Ihnen wird vorgeworfen, Beweise unterschlagen zu haben. Sie geben das sogar zu. Allerdings wollen Sie uns nicht sagen, um was für Beweise es sich handelt. Was soll das?«

Anne erwiderte trotzig seinen Blick und schwieg. Sie wusste keine Lösung für die Situation.

Der Richter setzte erneut an: »Misses Reeve, geschätzte Ratsmitglieder: Ich habe mir die Unterlagen der letzten Anhörung angesehen. Ich habe aufmerksam die Todesfälle verfolgt und studiert. Ich halte diese Situation für äußerst dramatisch, und ich bin mir darüber im Klaren, dass wir keine Vergleichsfälle haben, die wir zu Rate ziehen können. Es fehlt uns an Erfahrung. Mir ist auch nicht entgangen, dass einige unter ihnen gerne ihren Sitz in diesem Anhörungsgremium abgeben würden. Zwei von ihnen haben das bereits getan. Es hat mich daher nicht verwundert, dass mir der Vorsitz dieses Ausschusses angetragen wurde. Zum einen sicher, weil ich erst in der Gemeinschaft angekommen bin und daher in gewisser Weise Misses Reeve gegenüber unvoreingenommen bin, zum anderen, weil es von den anderen Räten niemand machen möchte. Das hängt wiederum mit dem Schicksal von Mister Bux zusammen. Nun obliegt es also mir, das weitere Vorgehen zu bestimmen. Ich habe die Akten studiert und bin ausreichend über die Arbeit und die Verdienste von Misses Reeve informiert. Außerdem bin ich Experte in alten Rechtssystemen. Somit ist mir durchaus bekannt, dass es in der Geschichte der Gerichtsbarkeiten immer Fälle gab, in denen Tatsachen aus bestimmten Gründen nicht offenbart wurden. Meist zum Schutz einer Person oder der Ermittlungen. Ich richte deshalb einen Vorschlag an Sie alle hier. Das schließt Sie, Misses Reeve, mit ein. Ich werde Ihnen, Misses Reeve, die Möglichkeit geben, sich mir gegenüber in einem Vier-Augen-Gespräch über den Inhalt des Umschlages zu äußern.«

Anne machte große Augen. Was hatte dieser Voyou vor? Sie hasste es, unvorbereitet zu sein. Sie fühlte sich wie in einer Falle.

Sie musste sich konzentrieren, um dem Richter zu folgen: »Wenn Misses Reeve sich bereit erklärt, zu kooperieren, dann werde ich aufgrund der neuen Erkenntnisse, die ich durch unser Gespräch erlange, entscheiden, was mit Misses Reeve passieren wird. Für diese Entscheidung werde ich dann die volle Verantwortung und das Risiko übernehmen. Ich werde Ihnen, Misses Reeve, mein Wort geben, dass ich mir sehr genau überlegen werde, wem ich zu welchem Zeitpunkt über den Inhalt unseres Gesprächs berichten werde, falls das überhaupt nötig sein sollte. Umgekehrt verlange ich, dass Sie meine Entscheidung bezüglich Ihrer Zukunft, die ich nach diesem Gespräch treffen werde, akzeptieren werden. Über den Wahrheitsgehalt Ihrer Aussage denke ich, brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, da Sie während des Gesprächs mit mir, genauso wie während dieser Anhörung, unter Eid stehen werden. Und da wir uns nun einig sind, dass Misses Reeve keine Hexe ist, wird auch sie die Einäscherung im Falle einer Lüge unter Eid fürchten.«

Jetzt fasste sich doch eines der anderen Ratsmitglieder ein Herz und ergriff das Wort: »Aber wenn sie immun ist gegen die Einäscherung, dann kann sie Ihnen ja alles erzählen! Schließlich wurde sie bei der Unterschlagung auch nicht eingeäschert.«

Man sah dem armen Mann an, dass ihn diese Frage viel Überwindung gekostet hatte. Er betastete unsicher sein Gesicht, so, als wollte er prüfen, ob ihn schon ein Fieber als Vorbote der Einäscherung befallen hatte.

Richter Voyou winkte ab: »Das Risiko sehe ich nicht, denn wenn Misses Reeve immun wäre, dann hätte sie Ihnen allen doch schon längst eine Lüge aufgetischt und wäre bereits als freier Mensch aus der Wache Süd herausspaziert. Dass sie bei der Unterschlagung nicht eingeäschert wurde, ist für mich eher eine Bestätigung dafür, dass keine bösen Absichten hinter ihrer Handlung steckten.«

Dieses Argument schien einleuchtend.

»Außerdem möchte ich Sie an dieser Stelle noch darüber in Kenntnis setzen, dass es gestern noch einen weiteren Angriff auf eine Zeugin gegeben hat. Die Zeugin konnte zum Glück gerade noch gerettet werden. Auf die Zeugin wurde geschossen. Wieder fehlte das Aschenhäufchen.«

Die Ratsmitglieder waren entsetzt. Eine der Frauen stieß einen spitzen Schrei aus. Der Richter hatte Mühe, wieder Ruhe in den Saal zu bringen.

Eigentlich hatte der die Absicht gehabt, diese Information zugunsten von Annes Glaubwürdigkeit zu verwenden: »Liebe Kollegen, ich erzähle Ihnen das vor allem, damit Sie Ihre Haltung gegenüber Misses Reeve noch einmal überdenken können. Der Anschlag auf die Zeugin passierte, während Misses Reeve in ihrer Zelle saß, sodass wir sie in diesem Fall als Täterin eindeutig ausschließen können.«

Obwohl der Richter diese Information aus ehrenwerten Motiven an die Räte weitergegeben hatte, bewirkte er damit das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte. Auf den meisten Gesichtern konnte Anne Skepsis erkennen. Offensichtlich machte die Tatsache, dass Anne während dem Anschlag auf Misses Wong in ihrer Zelle saß, das Ganze nicht besser, sondern schlimmer. Die Räte schienen erneut über Annes mögliche Fähigkeiten zu spekulieren. Anne spürte förmlich, wie sich die Fronten ihr gegenüber verhärteten. Was war nur plötzlich los mit dieser Welt? Wie konnten diese Menschen, die sie bereits so lange kannte, ihr gegenüber so voreingenommen sein?

Der Psychologe unter den Ratsmitgliedern wollte etwas sagen. Anne sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick. Die beiden kannten sich durch Doktor Calliditas. Anne hatte eine Idee davon, was ihm im Kopf herumging. Sicher überlegte er, inwieweit Annes Geisteszustand eine Immunität gegen die Einäscherung verursachen könnte. Anne rechnete damit, dass er das Argument anführen würde.

Stattdessen machte er einen Umweg: »Verehrter Vorsitzender, ich würde an Ihren Vorschlag eine Bedingung knüpfen.«

Anne merkte, wie ihr Blut pulsierte. Sie hatte einen gesunden Respekt vor Psychologen. Sie dachte an Doktor Calliditas. Obwohl sie ihn sehr gemocht hatte, hatte sie immer das Gefühl gehabt, er würde sie tranchieren.

Doktor Calliditas hatte über diese Empfindung von Anne herzlich gelacht und geantwortet: »Das mache ich auch, liebe Anne, und wenn du Pech hast, dann setze ich dich hinterher nicht mehr richtig zusammen.«

Alle blickten gespannt zum Richter, der mit einer ausladenden Handbewegung den Sprecher zum Fortfahren aufforderte. »Ich möchte, dass Sie mir gestatten, Misses Reeve einer psychologischen Untersuchung zu unterziehen und meine Ergebnisse in ihre Entscheidung einfließen lassen.«

Anne riss die Augen auf. Der Richter stimmte sofort zu. Dann blickte er zu den anderen Ratsmitgliedern: »Selbstverständlich können Sie sich darüber in Ruhe beraten, es ist, wie gesagt, nur ein Vorschlag meinerseits.«

Man konnte den meisten Räten ansehen, dass sie die Verantwortung grundsätzlich an den Richter abgeben wollten. Keiner von ihnen hatte eine Idee, wie sie mit Anne verfahren sollten. Schließlich waren da die ungeklärten Todesfälle, und es mussten Lösungen her. Man sah aber auch die Angst in ihren Gesichtern. Konnten sie es wirklich riskieren, die Entscheidung alleine einem Mann zu überlassen? Was, wenn er Anne freilassen würde, obwohl sie schuldig wäre?

Richter Voyou hatte eigentlich nicht mit so zähen Verhandlungen gerechnet. Aber er wusste, was er tat, und deshalb wusste er auch, wann es Zeit war, Druck auszuüben und wann nicht.

Deshalb sprach er ganz ruhig: »Ich schlage vor, Sie ziehen sich in Ruhe zu einer Beratung zurück.«

Dieser Vorschlag wurde mit zustimmendem Nicken quittiert. Dann wandte er sich an Anne. Ihr konnte er keine Bedenkzeit einräumen. Annes Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, wie sie zu dem Vorschlag stand. Alle Augen waren nun auf Anne Reeve gerichtet. Anne hatte sich das Gehirn zermartert, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollte. Dieser Richter Voyou bot ihr einen Weg. Allerdings war sie sich nicht sicher, wohin sie dieser Weg führen würde. Es war ein Risiko, ihm die Wahrheit anzuvertrauen. Dann dachte sie an die psychologische Untersuchung. Vielleicht war es an der Zeit, etwas zu riskieren. Sie fühlte sich geistig gesund. Zumindest so gesund wie viele andere Menschen, die sie kannte. Ein positives Ergebnis der Untersuchung würde helfen. Stolz und Eitelkeit waren jetzt nicht angebracht. Sie musste aus der Zelle raus. Dieser Weg führte nun mal über das Wohlwollen der anwesenden Ratsmitglieder. Ihre einzige Chance war jetzt Kooperation.

Der Richter wartete auf ihre Antwort. Frank Wall hatte keine andere Wahl, er musste Anne jetzt über die Neuigkeiten informieren. Sicherlich würde das ihre Entscheidung leichter machen, also hob er die Hand.

Richter Voyou sah ihn fragend an, dann sagte er mit einem belustigten Unterton: »Sheriff Wall, wie schön, was möchten Sie denn zu den Sorgen der Menschheit beitragen?«

Der Sheriff hatte das Gefühl, ihm würde ein männliches Gegenstück von Anne Reeve gegenüber sitzen, allerdings war hier und heute nicht der geeignete Rahmen für ein Wortgefecht.

Deshalb blieb Frank höflich, als er das Wort an den Vorsitzenden richtete: »Ich wollte nur die Bitte äußern, mich mit meiner Mitarbeiterin kurz besprechen zu dürfen.«

Der Richter sah von Anne zu Frank und wieder zurück, machte »so so« und gab mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er dagegen keinen Einwand hatte. Frank beugte sich also zu Anne und teilte ihr im Flüsterton die neuen Erkenntnisse mit. Anne machte große Augen und beugte sich an Franks Ohr, um Mildreds Ausführungen zu bestätigen. Sie konnte sich noch gut an Paul Greys Anstrengungen bezüglich der Neuorganisation des Archivs erinnern. Endlich hatten sie eine Spur. Endlich konnte sie sich bezüglich des Umschlags verteidigen. Es war wesentlich leichter, zu erzählen, dass Paul Grey einen Hinweis für sie hinterlegt hatte und dann die Fehlinterpretation der Lordens zu erklären, als lediglich von einer Fehlinterpretation zu sprechen, ohne sagen zu können, wie diese zustande kam.

Anne richtete sich auf: »Ich werde Ihr Angebot annehmen.«

Frank Wall war erleichtert. Dieser Richter Voyou war, trotz seines eigenwilligen Humors, ein Himmelsgeschenk. Er bot Anne die Möglichkeit, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Frank hatte befürchtet, sie würde nicht einwilligen, weil sie dafür eine psychologische Untersuchung über sich ergehen lassen müsste.

Nach all den Jahren hatte ihn Anne Reeve wieder einmal überrascht. Aber Frank hatte auch noch ein anderes Gefühl neben der Erleichterung, und das war ein Gefühl der Schuld. Was wäre passiert, wenn er diesen Umschlag nicht vernichtet, sondern gleich an Anne ausgehändigt hätte?

Frank fühlte sich schuldig. Es ärgerte ihn, dass er im Vergleich zu Nigel O’Brian viel mehr Schuld trug. Nigel hatte aus Eifersucht gehandelt und wollte Frank Wall aus dem Weg haben. Aber er, Frank Wall, hatte aus Angst gehandelt. Er hatte Angst um Anne Reeve gehabt. Aber was ihn daran beschämte, war die Tatsache, dass er Angst um sie gehabt hatte, weil er an ihr gezweifelt hatte. Er hatte ihr das Schlimmste zugetraut, und sie wusste das.

Nach der Anhörung verabschiedete sie sich von ihm: »Ihr müsst den Originalhinweis finden, ich hoffe, ich kann euch bald dabei helfen.«

Dann sah sie ihn kurz an, legte ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Ich hätte genauso gehandelt, mach dir keine Gedanken.«

Er wusste, dass das eine Lüge war.

 

In Frank Walls Büro herrschte Unruhe. Alle warteten gespannt auf die Rückkehr des Sheriffs. Wie lange konnte so eine Anhörung denn dauern? Sie hatten sich alle auf eine längere Wartezeit eingestellt. Nigel war nervös auf und ab gegangen, während Mildred für alle Getränke und Brote gerichtet hatte. Doktor Masters hatte das mit großer Freude zur Kenntnis genommen und einmal mehr die Gelegenheit gehabt, seine Theorie über den Zusammenhang von gutem Essen und geistiger Leistungsfähigkeit zum Besten zu geben. Den anderen war allerdings nicht nach Nahrungsaufnahme zumute gewesen. Endlich öffnete sich die Tür. Wie immer war die Miene des Sheriffs verschlossen, sodass niemand daraus etwas über den Ausgang der Anhörung hätte schließen können.

Frank Wall ging wortlos zu seinem Schreibtisch und griff nach der Flasche Hochprozentigem, die er dort für »Gemütsnotfälle« jeglicher Art bereitgestellt hatte. Er schenkte sich einen kräftigen Schluck ein und stellte dann die Flasche zur allgemeinen Nutzung auf den Tisch. Nigel goss sich ebenfalls ein ordentliches Glas ein und leerte es in einem Zug. Endlich begann Frank zu sprechen. Er gab ihnen eine detaillierte Zusammenfassung der Anhörung und seinem kurzen Gesprächen mit Anne. Als er fertig war, herrschte Unruhe.

»Sehr klug von Anne, dass sie zugestimmt hat. Vor allem keine Einwände gegen die psychologische Untersuchung zu erheben, ist ihr sicher schwer gefallen!«, sagte Doktor Masters.

Die anderen sahen ihn erstaunt an. Doktor Masters war jedoch offensichtlich der Meinung, dass sich seine Aussage selbst erklärte, und er griff erneut zu der Platte mit den Broten, um sich davon ein besonders großes zu angeln.

»Wie meinen Sie denn das?« Nigel kaute nervös auf seiner Unterlippe, nach dem er die Frage gestellt hatte.

Doktor Masters schaute ihn verdutzt an, dann begriff er, dass die anderen auf eine Erklärung von ihm warteten.

Bedächtig strich er sich über seinen dicken Bauch und sprach: »Zwei Dinge: Erstens, sie wird sich selbst davon überzeugen wollen, dass sie nicht an irgendeiner Geistesstörung leidet, von der sie nichts weiß ...«

Bei dieser Aussage schnaufte Nigel verächtlich, was Doktor Masters aber überging: »Und zweitens wird sie durch ihre Bereitschaft glaubwürdiger.«

»Halten Sie diesen Voyou für einen guten Mann, Sheriff?«

Es war das zweite Mal am heutigen Tage, dass Nigel das Wort direkt an den Sheriff richtete.

Dieser sah Nigel O’Brian einen Moment an, bevor er antwortete: »Ich denke ja. Er scheint mir der Richtige für diese Situation zu sein.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Es geht ihr soweit gut, sie ist tapfer.«

Nigel und die anderen wirkten ein wenig erleichtert. Trotzdem konnte keiner von ihnen entspannen.

Sergeant Milton sprach aus, was sie alle dachten: »Was, wenn die Räte nicht zustimmen?«

Bei diesem Gedanken hielt Mildred unwillkürlich die Luft an. Den Doktor erschreckte die Vorstellung so sehr, dass er seine Hand zurückzog, mit der er gerade erneut nach einem der Brote greifen wollte, und Nigel O’Brian schlug wütend mit der Faust auf den Tisch, sodass alle erschrocken zusammenzuckten. Frank Wall sah in ihre bestürzten Gesichter. Er wusste keine Antwort.

Sergeant Milton fasste sich als Erster: »Wir sollten überlegen, wie wir weiter vorgehen können. Offensichtlich bestätigt der Chief-Sergeant Mildreds Theorie bezüglich der Notizen von Dave Lorden. Außerdem sind wir uns wohl alle darüber einig, dass wir den Originalhinweis von Paul Grey finden müssen. Dann haben wir diesen Fall namens ›Burnout‹. Wenn es so einen Aschenfall gibt, dann sollten wir ihn doch im Archiv finden?«