8. Misses Wong

 

Anne Reeve war nervös. Hoffentlich hatten sie keinen Fehler gemacht. Anne dachte an die widerspenstige Misses Wong. Sie wartete ungeduldig auf Entwarnung von Sergeant Milton. Mittlerweile war der Sergeant bereits eine Stunde unterwegs. Das verhieß nichts Gutes.

Anne ärgerte sich erneut darüber, in einer Zelle zu sitzen. Die Anhörung würde in zwanzig Minuten beginnen. Anne waren solche Prozedere zuwider. Aber schließlich konnte sie es sich nicht aussuchen, daran teilzunehmen. Der Große Rat würde wohl darauf bestehen, dass sie als Angeklagte anwesend wäre.

Während sie darüber nachdachte, was sie in der Anhörung erwarten würde, hörte sie aus dem Vorraum Stimmen. Sie hoffte, Sergeant Milton würde mit Neuigkeiten über Misses Wong zurückkommen.

Deshalb verzog sie das Gesicht, als Frank Wall zusammen mit dem Sergeant aus dem Vorraum vor ihrer Zelle stand: »Ach, du bist es.« Anne machte kein Geheimnis aus ihrer Enttäuschung.

Frank, der mehr als angespannt war, erwiderte unwirsch: »Wen hast du erwartet? Eine Eislaufrevue zu deiner Erheiterung?«

»Entschuldige, Frank, ich dachte, dass Sergeant Milton vielleicht bereits zurück sei.«

Frank sah sie erstaunt an: »Zurück von was? Was treibt ihr zwei denn wieder? Du weißt hoffentlich, dass du suspendiert bist, Anne?«

Anne hielt es für besser, ihm keine Antwort zu geben und wechselte das Thema. Sie wollte Frank noch einmal nach dem Inhalt des Umschlages fragen und danach, ob es eine Terminanfrage von Dave Lorden gegeben hatte, entschloss sich dann aber, da der wachhabende Sergeant anwesend war, damit vorerst zu warten.

Stattdessen jammerte sie mit einem leidenden Gesichtsausdruck und mit einer verstellten Stimme: »Oh, Sheriff, werdet ihr mich nun meinem Henker vorführen?«

Frank war nicht zum Spaßen zumute: »Lass den Quatsch, reiß dich bloß zusammen. Denke an das, was ich dir gesagt habe.«

Dann schloss der Sergeant die Tür auf und ließ Anne aus der Zelle treten.

Als Anne an Frank vorbeilief, sah sie die Sorge in seinen Augen. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: »Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen.«

Frank hatte daran die allergrößten Zweifel, aber er schwieg. Auch auf dem Weg zu dem großen Saal, in dem die Anhörung stattfinden sollte, konnten sie nicht ungestört miteinander sprechen.

Frank war jedoch mit Anne schon alles durchgegangen. Kurz nach ihrer Verhaftung hatte er sie in ihrer Zelle besucht. Er hatte eine große Schüssel mit Eis und einen Lappen unter den Arm gepackt. Ohne Kommentar hatte Anne damit ihrer schmerzenden Stirn Linderung verschafft. Frank hatte, wie alle anderen Anwesenden, den Kopfstoß, den sie Nigel O’Brian verpasst hatte, mit großem Erstaunen hingenommen. Doktor Masters hatte später Nigels blutende Nase versorgt. Frank Wall hatte kein Mitleid mit dem Verräter gehabt. Er hatte ihn unbeachtet stehen lassen, um mit Rabea zu sprechen. Natürlich war Rabea froh gewesen, dass Frank nicht derjenige war, den sie hatte verhaften müssen. Trotzdem war ihr Annes Schicksal nahe gegangen. Sie hatte ihn eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass Anne nur eine Chance hätte, aus der Sache herauszukommen: dem Rat den Umschlag zu übergeben. Frank hatte ihr erwidert, dass Anne doch gar nicht mehr im Besitz des Umschlages sei. Er sei laut Ihrer Aussage vernichtet worden.

Rabea hatte ihn fragend angesehen und gesagt: »Ich hoffe das ist auch die Wahrheit. Sag Anne, sie soll sich nicht in Lügen verstricken, der Rat wird das merken und dann ...«

Als sie Franks Gesichtsausdruck gesehen hatte, hatte sie noch schnell hinzugefügt: »Ich konnte es nicht verhindern. Mister O’Brian hat sich direkt an den Großen Rat gewandt. Ich hatte keine Wahl. Wäre ich nicht gekommen, hätten sie wahrscheinlich Bux geschickt. Frank, ich werde für sie tun, was ich kann.«

Frank hatte nur mit einem leisen »Danke!« geantwortet. Später, als er dann bei Anne gewesen war, hatten sie über ihre Aussage vor dem Großen Rat gesprochen.

Frank hatte sie fast angefleht, die Wahrheit über den Inhalt zu sagen: »Wenn du ihnen sagst, dass du in dem Umschlag Notizen gefunden hast, die den Anschein erwecken, du hättest etwas mit Paul Greys Tod zu tun, dann werden sie dir glauben, dass du deshalb in Panik geraten bist und Angst hattest, dass andere den Inhalt des Umschlages zu Gesicht bekommen könnten. Diese Reaktion ist doch menschlich.«

Anne hatte verblüfft geantwortet: »Du bist keine Hilfe, Frank. Wenn ich denen erzähle, die Lordens hätten mich verdächtigt, was denkst du, was dann passieren wird?«

Dann hatte sie mit nasaler Stimme eines der Mitglieder des Großen Rates nachgeäfft: »Wie merkwürdig, dass die Lordens just zu der Zeit getötet wurden, zu der die beiden gegen Sie – Misses Reeve – ermittelt haben.«

Frank hatte geseufzt, er hatte gewusst, dass Anne recht hatte. Und er hatte gewusst, wem ihre Parodie gegolten hatte. Anne war sauer gewesen, als er ihr mitgeteilt hatte, dass Heribert Bux ihre Befragung übernehmen würde. Anne war nicht besonders gut auf Mister Bux zu sprechen. Sie hatte ihn gegenüber Frank einmal als einen »Arschkriecher vor dem Herrn« bezeichnet, der ihrer Meinung nach die Aschentage nur mit viel Glück überlebt hatte.

Frank stockte jedes Mal der Atem, wenn Anne eine ihrer Weisheiten von sich gab, da er stets damit rechnete, dass ihre boshafte Zunge ihr zum Verhängnis würde. Gewöhnlich sagte er dann: »Hör auf damit, ich will nicht Zeuge deiner Einäscherung sein.«

Anne, die mit normaler Stimme fortgefahren war, hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen: »Ich werde denen nicht erzählen, was in dem Umschlag war. Ich sage, es seien private Dinge gewesen, die nichts mit dem Fall zu tun hätten.«

»Anne, das ist gelogen, willst du heute noch eingeäschert werden? Du stehst dort unter Eid und bist zur Wahrheit verpflichtet.«

Anne Reeve hatte verächtlich geschnauft: »Ich bin verpflichtet, diesen Fall aufzuklären. Diese Verdächtigungen der Lordens haben nichts mit dem Fall zu tun. Und weißt du auch, warum? Weil die Lordens sich nämlich geirrt haben. Also lüge ich nicht. Außerdem gibt es noch andere Möglichkeiten.«

Frank war ungeduldig geworden: »Oh, erleuchte mich!«

Anne hatte seine ironische Bemerkung übergangen und weitergesprochen: »Vielleicht hat unser Täter den Umschlag unter Dave Lordens Schreibtischschublade platziert. Handschriften lassen sich leicht fälschen. Hätte ihn jemand anderes gefunden, wer weiß, was dann passiert wäre. Vermutlich hätten sie mich bereits als Mörderin eingekerkert.«

Frank hatte widersprechen wollen, aber Anne war schneller gewesen: »Und wenn der Umschlag tatsächlich von Dave versteckt wurde, ist es ebenfalls besser, niemand weiß von Dave Lordens Verdacht gegen mich. Werde ich als Schuldige verhaftet, ist der wahre Täter mit den Morden davongekommen. So leicht wollen wir ihm das nicht machen. Ich schlage vor, du schaust dir die Besucher bei der Verhandlung genau an. Könnte gut sein, dass der Mörder uns beobachtet. Ich wette, wenn er den Umschlag nicht versteckt hat, dann brennt er genauso wie der Große Rat darauf, zu erfahren, was darin war. Wenn er nicht weiß, was in dem Umschlag war, dann könnte er schließlich vermuten, er hätte versteckte Hinweise auf seine Person enthalten.«

 

Inzwischen hatten sie die Räume des Großen Rates erreicht. Die Vorhalle war fast leer. Anne hatte deswegen bereits eine Vermutung, die sich kurz darauf bestätigte, als ihnen ein aufgeregter Doktor Masters entgegen keuchte: »Sie machen die Anhörung nicht öffentlich, angeblich, um die Ermittlungen nicht zu stören. So etwas hat es noch nie gegeben. Geheimhaltung, was soll das heißen? Das ist eine Frechheit!«

Anne ärgerte sich darüber, dass ihnen damit die Möglichkeit genommen wurde, den wahren Täter unter den Anwesenden zu finden. Zu Doktor Masters gewandt meinte sie nur: »Willkommen in der guten alten Zeit!«

Der sah sie verwirrt an und betastete ohne Vorankündigung ganz selbstverständlich ihre Stirn. Anne ließ es zwar geschehen, zuckte aber kurz zusammen, da die Berührung ein wenig schmerzte.

Doktor Masters konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: »Tja, meine Liebe, du hast den armen Jungen ganz schön zugerichtet. Das hat mich ein bisschen an die Spinnenweibchen erinnert, die ihre Partner nach ...«

Anne unterbrach ihn mit einem lauten: »He! Das reicht!«, auch wenn das nicht ganz ernst gemeint war. Sie wusste, dass sie sich wegen dieser Geschichte noch einiges an Kommentaren würde anhören müssen.

Das Gespräch konnte nicht weitergeführt werden, da sich die Tür öffnete. Rabea persönlich bat sie, einzutreten. Doktor Masters klopfte Anne kurz auf die Schulter und nickte aufmunternd. Frank atmete tief durch, und Rabea lächelte Anne zuversichtlich an. Dann betraten sie den großen Saal.

 

Sergeant Milton rannte zu den Stallungen, als ginge es um sein Leben. Er dachte an Misses Wong. Ihm war es, seitdem er im Krankenhaus aufgewacht war, nicht in den Sinn gekommen, sich wegen Misses Wong Sorgen zu machen. Dafür war er jetzt umso mehr in Panik. Die letzten Tage hatten gezeigt, dass der Mörder nicht lange zögerte, wenn es darum ging, unliebsame Zeugen zu beseitigen. Der Angriff auf ihn selbst, so vermutete der Sergeant genauso wie Anne Reeve, hing wahrscheinlich direkt mit seinem Besuch in der Schulkommission zusammen. Bisher war Misses Wong unversehrt geblieben.

Aber vielleicht war der Mörder nach dem Aufwachen von Sergeant Milton der Meinung, sie doch ausschalten zu müssen. Wenn er annahm, dass sie bisher keine Bedrohung gewesen war, dann nur, weil ohne Sergeant Milton die Ermittlungen nicht weiter in Richtung Misses Wong verlaufen würden.

Misses Wong hatte Anne Reeve keine Auskünfte gegeben. Der Mörder vertraute wohl auf Misses Wongs Stillschweigen. Die Gute hatte außerdem nicht die geringste Ahnung, wie sich ihre Beobachtungen, die sie an Sergeant Milton weitergegeben hatte, auf den Fall auswirken würden. Mit Sergeant Miltons erneutem Auftauchen bei den Untersuchungen, war auch Misses Wong, die womöglich weitere Informationen besaß, bisher aber nicht erwähnte, wieder ein Risikofaktor. Davon ausgehend, dass der Mörder auch weiterhin über alles, was bei den Ermittlungen vor sich ging, unterrichtet war, konnte es gut sein, dass er bereits von Sergeant Miltons Genesung erfahren hatte und es für unabwendbar hielt, Misses Wong zu beseitigen.

Sergeant Milton hatte den Kopf voller Gedanken dieser Art. Er stellte sich die pummelige Misses Wong, auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch liegend, vor, Arme und Beine grotesk verdreht, mit heraushängender Zunge und blutüberströmt. Er dachte an ihre pinkfarbenen Kleider mit den Puffärmeln, die sich fast faltenfrei um ihre strammen Oberarme spannten. Er musste mehrfach den Kopf schütteln, um diese düsteren Gedanken zu verdrängen. Gott sei Dank waren die Reitwege frei, so kam er wenigstens schnell voran.

Als sein Pferd die letzte Biegung nahm, blieb ihm fast sein Herz stehen. Vor der Schulkommission standen Menschen zusammen. Ihre Gesichter zeigten Entsetzen. Es herrschte Aufregung. Die Menschen hatten einen Kreis um etwas gebildet. Mehr konnte der Sergeant im ersten Moment nicht sehen. Er hatte Angst davor, zu erfahren, was sich in der Mitte des Kreises befand.

 

Anne konnte ein verächtliches Schnauben nicht zurückhalten, als sie den großen Saal betrat und ihr das Gesicht von Heribert Bux entgegenblickte. Sie hatte den Eindruck, einen Ausdruck von Genugtuung darin wahrzunehmen. In der Neuen Welt gab es eigentlich keine Feindschaften. Wer sich nicht mochte, ging sich aus dem Weg. Allerdings versuchten die Menschen, sich zu mögen, was meist gelang, da man im Allgemeinen sehr rücksichtsvoll und tolerant miteinander umging. Trotzdem hatte man natürlich Vorlieben. Heribert Bux gehörte nicht zu Annes Vorlieben. Als Überlebende und damit als ein Kind der Alten Welt gelang es ihr nicht immer, so viel Großmut gegenüber ihren Mitmenschen aufzubringen, wie es zum Beispiel die Neugeborenen taten.

Bei Heribert Bux war es jedoch so, dass nicht nur ihr Großmut nicht ausreichte, sondern dass sie ihm gegenüber überhaupt keinen Großmut aufbringen konnte. Anne hätte nicht sagen können, woran das lag. Dieser Bux war stets höflich zu ihr. Sie waren zwar schon damals nach den Aschentagen in manchen Fragen gegenteiliger Ansicht gewesen. Sie dachte an die Diskussionen über die Spielwelten. Aber es gab auch andere, die ihr nicht zugestimmt hatten, mit denen sie jedoch trotzdem ein gutes Verhältnis hatte.

Nein, mit Heribert Bux war es etwas anderes. Sie mochte nicht, wie er um andere herumschlich, seine übertriebene Hilfsbereitschaft und Unterwürfigkeit empfand sie als unehrlich. Sie traute ihm nicht. Er wiederum mochte Anne nicht. Sie bildete sich manchmal sogar ein, so etwas wie Abscheu in seinem Blick zu sehen. Natürlich hatte er nie irgendetwas dergleichen gesagt oder sich ihr gegenüber unfair oder gewalttätig verhalten. Dafür hatte auch er viel zu viel Angst vor der Einäscherung. Aber Gefühle allein lösten noch keine Einäscherung aus.

Zumindest war Anne das als Grund für eine Einäscherung, bei der Bearbeitung der Aschenfälle, noch niemals untergekommen. Erst die Tat selbst oder die Kombination von Taten oder Unterlassungen hatten die Einäscherungen, die Anne untersucht hatte, ausgelöst.

Sie hatte allerdings bei Heribert Bux noch etwas anderes bemerkt, und das hing mit Rabea zusammen. In manchen Sitzungen hatte sie ihn beobachtet. Wenn er auf Rabea traf, war er überaus aufmerksam. Er war unerträglich eifrig und zuvorkommend, als würde ihn nach jeder seiner Handlungen ein Leckerchen erwarten. Er erinnerte sie dann immer ein bisschen an ihren Hund Boobo, der für ein Stückchen Keks zu allem bereit gewesen war.

Der Gedanke an Boobo schmerzte. Leider waren die Tiere keine Überlebenden. Sie hatten die Aschentage überstanden, soweit sie nicht innerhalb der Unruhen umgekommen waren. Dann starben sie leider nach Ablauf ihrer biologischen Uhr, die genauso tickte wie vor den Aschentagen. Anne schickte ein stummes Gebet an Boobo in den Hundehimmel, um sich für den Vergleich mit Heribert Bux zu entschuldigen.

Wieder sah sie in das teigige Gesicht von Mister Bux. Er mochte nicht viel älter sein als Anne. Er war sicher nie ein Frauentyp gewesen. Nicht so wie Nigel O’Brian. Mechanisch griff sie an ihre schmerzende Stirn. Obwohl Heribert Bux zu Rabea so freundlich war, hatte Anne bei ihren Beobachtungen manchmal das Gefühl gehabt, er würde einen Groll gegen Rabea hegen. Sie wusste, dass er sich in der Traurigen Zeit nichts hatte zu Schulden kommen lassen, trotzdem war sie ihm gegenüber voreingenommen.

Ihr Magen krampfte sich zusammen, als er auf sie zutrat: »Liebe Misses Reeve, ich bedauere die Umstände unseres heutigen Zusammentreffens sehr, ich hoffe, es wird sich bald alles aufklären.«

Anne brummte eine Antwort und folgte Frank an den runden Tisch, an dem die Anhörung stattfinden sollte. Außer ihr, Frank, Rabea und Heribert Bux waren noch acht weitere Mitglieder des Großen Rates vertreten. Die Anwesenden waren unter anderem ausgewählt worden, weil ihre Aufgabenbereiche dem Thema Gesetzesverstoß am nächsten kamen.

Heribert Bux war zum Beispiel Richter. Anne war davon überzeugt, dass er das heute genoss. Schließlich hatten die Richter in der Neuen Welt fast nichts zu tun. Sie beschäftigten sich daher meist mit Studien alter Gesetzestexte und Justizsysteme und versuchten aufgrund ihrer Forschungen das vorhandene Regelwerk der Neuen Welt zu verbessern und zu vereinfachen.

Eines der anderen Ratsmitglieder beschäftigte sich mit Strafvollzug, was in der Neuen Welt ebenso von untergeordneter Bedeutung war wie das Richteramt. Es waren noch ein Psychologe und ein Allgemeinmediziner anwesend. Ein Ratsmitglied, das sich mit der Archivverwaltung befasste, eines aus der allgemeinen Verwaltung und eines, das mit der Schulkommission zusammenarbeitete. Außerdem zwei Ratsmitglieder, die für die Kontrolle über die abgeschalteten Atomkraftwerke zuständig waren. Einer war ein Überlebender, der andere ein Neugeborener. Aus diesem Ressort waren fast bei allen Anhörungen Ratsmitglieder dabei.

Da die Kontrolle der Kraftwerke eine so wichtige Aufgabe war, wurden die Ratsmitglieder, die sich um diese Angelegenheit kümmerten, bei allem, was vor sich ging, einbezogen. In einem Fall wie diesem, in dem es um ein so schweres Vergehen ging, war ihre Anwesenheit unumgänglich. Das Unterschlagen von etwas und im Besonderen von Beweismitteln war für die Gemeinschaften der Neuen Welt kein Kavaliersdelikt. Wahrscheinlich fragte sich schon der ein oder andere der Anwesenden, warum Anne Reeve dafür nicht eingeäschert worden war. So oder so, es sah nicht gut für Anne aus. Zwar lächelte ihr immer mal wieder eines der Ratsmitglieder freundlich zu, aber sie sah auch Misstrauen.

Das Verhältnis zwischen Neugeborenen und Überlebenden der anwesenden Ratsmitglieder war bei der Anhörung ausgeglichen. Heute waren mehr Frauen als Männer anwesend. Neben Mister Bux, der den Vorsitz der Anhörung übernommen hatte, gab es nur noch drei weitere Herren.

Frank war neben Anne der Einzige im Raum, der nicht Mitglied des Großen Rates war. Er fungierte als eine Art Beistand von Anne. Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, fing Mister Bux an, mit seiner nervtötenden Stimme zu sprechen. Selbst Frank, der sich eigentlich von Typen wie Mister Bux nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ, verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, ihm die Zunge herauszureißen, um dieser Ohrmuschel-Folter ein Ende zu setzen.

Gerade fing Mister Bux mit der Befragung an: »Misses Reeve, ist es richtig, dass Sie einen Umschlag im Haus der Lordens gefunden haben, als Sie es im Rahmen ihres Amtes als Chief-Sergeant durchsuchten?«

Anne versuchte, mit ihren Antworten vorsichtig zu sein. Obwohl sie Frank selbstbewusst versichert hatte, dass sie die Einäscherung nicht fürchtete, wollte sie lieber auf Nummer sicher gehen.

Also versuchte sie, so nahe an der Wahrheit zu bleiben, wie es ihr möglich war: »Sie haben recht, Mister Bux, diesen Umschlag gab es.«

Ein kurzes Gemurmel erfüllte den Raum. Die anderen Ratsmitglieder wussten zwar bereits um was es ging, aber offensichtlich erfassten sie erst durch Annes Bestätigung des Sachverhaltes die Situation. Vielleicht hatten sie insgeheim gehofft, es handelte sich um ein Missverständnis. In einem waren sich nämlich alle einig: Es sollte in ihrer Welt keine Unterschlagungen, Betrügereien oder Amtsmissbrauch geben. Niemand von ihnen wollte eine dahingehende Veränderung. Die Überlebenden, die mit diesen Dingen in der Traurigen Zeit ihre Erfahrungen gemacht hatten, waren glücklich, dass die Neue Welt davon bisher verschont geblieben war. Und die Neugeborenen hatten einfach Angst, dass sich die Geschichte wiederholen würde. Sie waren dankbar, von diesen Dingen nur aus Büchern zu erfahren.

Mister Bux räusperte sich gekünstelt: »Misses Reeve, wo ist der Umschlag jetzt?«

Anne antwortete knapp: »Er wurde vernichtet.«

Mister Bux’ Augen glänzten unnatürlich, als er seine nächste Frage stellte: »Misses Reeve, Sie haben also ein Beweismittel vernichtet?«

Anne warf ihm ein »Nein« entgegen. Sie merkte, dass er sich von ihr provoziert fühlte.

Seine nächste Frage klang daher nicht mehr so freundlich: »Was soll das heißen? Sie haben Ermittlungen in zwei Mordfällen geführt?«

Anne nickte und Mister Bux sagte: »Als Sie das Haus der Lordens betraten, lauerte Ihnen Mister Hobnitz auf, der dann eingeäschert wurde, als er auf Sie und ihren Sergeant schoss?«

Wieder nickte Anne.

Heribert Bux hatte sich warm geredet: »Wie wir mittlerweile glauben, war Mister Hobnitz aber nicht der Mörder der Lordens. Leider wurde das dem Großen Rat erst verspätet mittgeteilt.«

Mister Bux wartete auf Annes Nicken. Diese ließ ihn schmoren und bewegte ihren Kopf nicht. Zorn war aus seiner Stimme herauszuhören: »Die Theorie der verzögerten Einäscherung war damit falsch. Das angebliche Motiv von Hobnitz sollte die Ermittler lediglich täuschen. Zumal es nach Ansicht der Wache Süd noch zwei weitere gewaltsame Todesfälle gegeben hat – auch in diesen Fällen schließt man Karl Hobnitz als Täter aus. Es handelt sich dabei um den Selbstmord von Doktor Calliditas, den Sie anzweifeln, und den Tod einer gewissen ...«

Mister Bux kramte in seinen Unterlagen: »Marie White. Außerdem gab es einen Angriff auf Sergeant Milton. Das alles führt wiederum zu dem Schluss, dass es in unserer Gemeinschaft einen Mörder gibt, der gegen die Einäscherung immun ist. Nicht wahr, Misses Reeve?«

Anne vernahm ein entsetztes Aufstöhnen. Offensichtlich war nicht allen am Tisch klar, wie sich der Fall entwickelte hatte.

Anne hielt es für angebracht, zu antworten: »Davon gehen wir aus.« Anne fasste für die Anwesenden die offiziellen Ermittlungsergebnisse zusammen und endete mit dem Satz: »Es ist daher von äußerster Wichtigkeit, den Fall schnell aufzuklären. Wie Sie meinen Ausführungen entnehmen konnten, ist unser Täter über unsere Schritte bestens informiert. So leid es mir tut, so bitte ich doch den Großen Rat um Verständnis dafür, dass wir in diesem Fall weniger offen arbeiten. Wir haben hier eine ungewöhnliche Situation, deshalb bedarf es dieses Mal ungewöhnlicher Methoden. Dazu zähle ich auch Geheimhaltung. Wir müssen diesen Täter überführen. Ich bitte Sie daher, mir bei den Ermittlungen Freiraum zu lassen.«

Anne konnte in den Gesichtern der anderen sehen, dass sie ihren Gedanken folgen konnten. Sie meinte Zustimmung zu sehen. Auch Frank neben ihr entspannte sich. Die Stimmung schien zu Annes Gunsten zu kippen.

Jetzt mischte sich Rabea ein. »Ich denke, Misses Reeve hat recht. Wir müssen ihrem Urteil vertrauen. Sheriff Wall hat bisher mit seinem Team der Gemeinschaft gute Dienste geleistet. Wir sollten die Wache Süd ihre Arbeit machen lassen.«

Rabea lächelte Anne zu, und bis auf Heribert Bux nickten die anderen Ratsmitglieder zustimmend. Der Umschlag war fast vergessen.

Aber Anne war klar, dass ihr Gegenüber sich nicht so leicht geschlagen geben würde: »Werte Kollegen, darf ich hier anmerken, dass das immer noch nicht die Unterschlagung dieses Umschlages erklärt. Misses Reeve, sagen Sie uns doch bitte, was in dem Umschlag war?«

Anne hätte diesem aufgeblasenem Teiggesicht gerne ein paar Dinge gesagt, aber noch blieb sie ruhig: »Werter Herr Vorsitzender«, fuhr sie stattdessen fort, wofür sie von Frank Wall unter dem Tisch einen Tritt erntete, »ich denke, dass meine Ausführungen bereits die Antwort auf ihre Frage geliefert haben. Ich halte es für die Ermittlungen zuträglich, den Inhalt des Umschlages an dieser Stelle noch für mich zu behalten.«

Anne klopfte sich gedanklich für diese unverfängliche Formulierung auf die Schulter. Heribert Bux hatte jedoch nicht die geringste Lust nachzugeben. Wie ein Terrier stürzte er sich auf das Thema »Umschlag«: »Ich bin mir sicher, dass Sie das tun, aber der Große Rat tut das nicht. Denken Sie etwa, Sie können uns den Inhalt nicht anvertrauen? Und dann erklären Sie mir und den anderen Ratsmitgliedern doch bitte, warum Sie diesen Umschlag vernichtet haben. Welche Zuträglichkeit für die Ermittlungen sahen Sie denn in dieser Handlung?«

Anne war auf der Hut. Sie wollte sich nicht in Lügen verstricken, also erwiderte sie knapp: »Es gab Gründe dafür.«

Jetzt schien Mister Bux endlich an dem Punkt zu sein, an dem er sein wollte. Offensichtlich hatte er sich ausgezeichnet vorbereitet. Es gab kein Stammeln und kein Verhaspeln. Er formulierte seine Sätze so exakt, als würde er aus einem Buch vorlesen. Anne war sich sicher, dass er den Text einstudiert hatte. Allerdings machte das seine Anschuldigungen nicht weniger schwerwiegend. Seine schreckliche Nasalstimme durchdrang erst den Raum und dann die Körper der Anwesenden. Man hatte das Gefühl, sie würde sich direkt zu den Nervenenden bewegen und dort wie eine kleine Säge ihre Arbeit verrichten. Anne wusste zwar jetzt, dass sie Heribert Bux richtig eingeschätzt hatte, aber sie konnte sich nicht erklären, was er mit seinem Vorgehen bezweckte. Dass ihn nur die Sorge um das Wohl der Gemeinschaft antrieb, das nahm sie ihm nicht ab.

Mister Bux umkreiste mit vor Aufregung geröteten Wangen den Tisch: »Misses Reeve, ich bin mir sicher, dass es dafür Gründe gab. Ich bezweifle lediglich, dass die Gründe tatsächlich die sind, die Sie uns weis machen wollen. Anstatt uns etwas über Geheimhaltung und durchsickernde Informationen zu erzählen, sollten wir vielleicht einen anderen Ansatz verfolgen. Wo waren Sie denn, Misses Reeve, als all diese Morde passiert sind? Ist es nicht so, dass Sie selbst leicht all diese Verbrechen hätten ausführen können?«

Frank Wall sprang zornig auf: »Was ist das denn für ein Quatsch!«

Aber Mister Bux ließ sich nicht beirren und verwies den Sheriff scharf auf seinen Platz. Frank Wall hätte bei einer weiteren Unterbrechung den Saal verlassen müssen, deshalb saß er zähneknirschend neben Anne, als Heribert Bux mit seinen Beschuldigungen fortfuhr: »Wäre das nicht überhaupt die logischste Erklärung? Sie waren mit den Lordens bekannt, vielleicht hatten die Brüder etwas gegen Sie in der Hand, war das vielleicht in diesem Umschlag?«

Anne antwortete nicht. Sie hatte Bux nie für dumm gehalten. Offensichtlich hatte sie auch damit recht. Er hatte nur eins und eins zusammengezählt, und schon lag die Antwort vor ihm. Sie musste jetzt unnachgiebig bleiben. Er würde versuchen, sie herauszufordern. Wenn sie einen Wutanfall bekäme, würde er das gegen sie verwenden.

Anne bemerkte, dass die Stimmung erneut kippte. Dieses Mal zu ihren Ungunsten. Damit hatte sie natürlich gerechnet, aber dennoch ärgerte es sie, dass sie es nur Heribert Bux’ Eifer zu verdanken hatte, dass die Anhörung noch nicht beendet wurde.

Die anderen Ratsmitglieder hörten ihrem Ankläger sehr gut zu. Sie sah ihren Gesichtern an, dass sie anfingen, sich mit der Lösung anzufreunden. Natürlich wäre das die perfekte Lösung: »Anne Reeve hat alle umgebracht. Fall gelöst.«

Bux schoss weiter in Richtung Anne: »Dann haben Sie Hobnitz benutzt, um ihre Taten zu verschleiern. Wie haben Sie ihn dazu gebracht, auf Sie zu schießen? Wusste Doktor Calliditas davon? Er war sicher auch Ihr Arzt. Als Psychiater hätte er eine abnormale Veranlagung erkannt. Wer weiß, vielleicht hat er eine Geistesstörung bei Ihnen diagnostiziert. Dann wäre das der Grund, warum die Einäscherung bei Ihnen bisher verhindert wurde. Es gab immer schon Fälle in der Medizin, bei der ein kranker Geist sich auf den Körper und seine Fähigkeiten ausgewirkt hat.«

Mit Entsetzen konnte Anne im Augenwinkel erkennen, dass der Psychologe und der Mediziner zustimmend nickten, und Mister Bux schlug weiter zu: »Wahrscheinlich hat Marie White Sie am Tatort gesehen und musste deshalb sterben. Sie hatten keine Skrupel, Ihren eigenen Sergeant anzugreifen, um ihn zu töten.«

Anne kochte vor Wut. Am liebsten hätte sie ihm entgegen geschleudert, dass sie ein Alibi für den Morgen in der Felsenbucht hatte. Aber wäre Nigel ein glaubhafter Zeuge für Heribert Bux? Oder würde er ihn letztendlich als Komplize beschuldigen? Anne hielt es daher für besser, vorerst zu schweigen. Ihre Hände waren unter dem Tisch zu Fäusten geballt. Sie hatte das Gefühl, gleich zu implodieren. Was bildete sich dieser Wicht nur ein?

Aber der »Wicht« hörte nicht auf: »Es wäre für Sie ein Leichtes gewesen, so zu tun, als wollten Sie ihn retten. Wahrscheinlich lebt der Sergeant nur noch, weil Sie zu früh Hilfe geholt haben. Sicherlich lag das daran, dass Ihnen der medizinische Sachverstand fehlt, festzustellen, ob jemand gerade noch lebt oder schon tot ist. Ihre eigene Aussage war: ›Ich dachte er sei tot‹.«

Heribert Bux stand ihr jetzt auf der anderen Tischseite gegenüber. »Gott allein weiß, wie Sergeant Milton zu einem Überlebenden werden konnte. Aber für uns alle ist klar, dass nur ein einwandfreier Charakter dieses Privileg erhält. Wie konnten Sie es fertigbringen, einen solchen Menschen anzugreifen?«

Anne wich seinem Blick nicht aus, als er zum letzten Schlag ausholte: »Werter Großer Rat, ich fordere die sofortige Verhaftung von Anne Reeve und ihre Einlieferung in eine Klinik, damit ihre Geistesstörung behandelt werden kann. Die Einlieferung sollte unbefristet erfolgen.«

Das war zu viel. Während die emotionale Verfassung der anderen Mitglieder des Großen Rates schwer zu deuten war – schätzungsweise war das Verhältnis zwischen den Anhängern und Gegnern von Mister Bux ausgeglichen – waren Rabea, Frank und Anne gleichzeitig aufgesprungen. Rabea war die Erste, die sprach, während Frank versuchte, Anne wieder auf ihren Sitz zu drücken.

Rabeas Stimme war ungewohnt scharf: »Wie können Sie so eine Forderung stellen? Dafür gibt es überhaupt keine Beweise. Ich lehne den Antrag ab.«

Mister Bux schien auch darauf vorbereitet: »Liebe Rabea, ich denke, Sie sind in dieser Angelegenheit nicht in der Lage, objektiv zu entscheiden. Aufgrund Ihrer Freundschaft zu Misses Reeve sind Sie voreingenommen. Es stellt sich die Frage, ob nicht auch Ihre Fehleinschätzung von Misses Reeve die Aufklärung des Falles bisher unmöglich gemacht hat. Vielleicht sollten Sie Ihre Eignung für das Amt der Präsidentin überdenken.«

Rabea war geschockt. Sie sah ihn mit offenem Mund an. Vor Annes innerem Auge formte sich ein Bild. Sie sah den Kopf von Heribert Bux vor sich, auf dem ein kleines Krönchen wackelte. Das Krönchen wurde von einem dünnen Gummi gehalten, der ihm in sein teigiges Gesicht schnitt. Er glich damit einem übergewichtigen Kleinkind in einem Prinzessinnenkostüm.

Anne sah das Bild eines Mannes, der höhere Ziele hatte. Konnte es sein, dass Heribert Bux Präsident der Neuen Welt werden wollte und das auf diesem Wege versuchte? Er würde der Welt eine Mörderin liefern, der Fall wäre aufgeklärt, und gleichzeitig stände Rabea in einem schlechten Licht da. Er würde auf Rabeas Unfähigkeit verweisen, was vielleicht ihren Rücktritt zur Folge hätte. Allerdings war er mit dem Angriff auf Rabea zu weit gegangen. Die anderen Ratsmitglieder schienen empört.

Anne witterte eine Chance, sie musste zurückschlagen, schnell und hart. Nur so konnte sie die Situation noch retten, deshalb rief sie deutlich vernehmbar: »Lieber Mister Bux, und wer soll dann Rabeas Platz einnehmen? Ich nehme an, Sie würden sich gerne dazu bereit erklären?«

Heribert Bux lief rot an. Er hatte einen Fehler gemacht, und das wusste er auch. Anne anzuklagen und für schuldig zu befinden, war eine Sache, aber gegen Rabea vorzugehen, das war unvernünftig gewesen. Er hatte die Zuneigung der anderen, Rabea gegenüber, unterschätzt. Er sah in die Gesichter am runden Tisch und wusste, dass er zu hoch gepokert hatte.

Er konnte sich aber nicht mehr zurückziehen, also griff er weiter an: »Seien Sie nicht albern, Misses Reeve, hier geht es um Ihre Taten, Sie sind eine Mörderin.« Die Nasalstimme wurde immer lauter: »Sie haben unschuldige Menschen getötet und dann die Ermittlungen manipuliert. Sie sind schuldig und müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«

Jetzt ging Frank Wall dazwischen. Seine kräftige Stimme übertönte Mister Bux: »Hören Sie sofort auf mit diesen Beschuldigungen, Sie haben keine Beweise! Wie können Sie so etwas behaupten?«

Aber Mister Bux war nicht mehr zu halten, seine Stimme überschlug sich fast: »Keine Beweise, keine Beweise, dann geben Sie ihr eine Waffe in die Hand und lassen Sie auf jemanden schießen. Dann werden wir ja sehen, ob die Einäscherung bei ihr noch funktioniert.«

Anne konnte so schnell gar nichts erwidern, so perplex war sie. Dafür brüllte erneut Frank Wall: »Sind Sie noch ganz normal? Das ist ein Hexenurteil aus dem Mittelalter. Wie soll das denn funktionieren? Wenn Sie unschuldig ist, dann stirbt Sie? Wie können Sie so etwas ernsthaft in Erwägung ziehen? Vielleicht sollten Sie ihr Amt im Großen Rat einmal überdenken!«

Mister Bux schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er schrie voller Hass in Richtung Anne: »Aber genau das ist Sie, eine Hexe, eine verfluchte Hexe. Wie haben Sie es gemacht? Wie haben Sie die Einäscherung überlebt? Ich werde das hier und heute beenden.«

Er richtete seinen Zeigefinger auf Anne und schrie weiter: »Ich habe mir nie irgendetwas zu Schulden kommen lassen, niemals. Wie können Sie mir Eigennutz unterstellen!? Für mich zählt nur das Wohl der Gemeinschaft. Deshalb werde ich beweisen, dass Sie, Anne Reeve, schuldig sind und damit diesen Morden ein Ende setzen. Ich werde das System wiederherstellen. Ein Ratsmitglied darf sich nicht von persönlichen Gefühlen leiten lassen. Ich beurteile die Situation objektiv. Ich bin nur meinem Amt verpflichtet, und ich werde unsere Welt retten. Ich werde die Ordnung wiederherstellen. Ich werde das System der Einäscherungen retten. Ich werde Anne Reeve aus dem Verkehr ziehen. Selbst wenn das bedeutet, dass ein Hexenurteil gesprochen werden muss. Selbst wenn ich Anne Reeve dafür verbrennen müsste. Dann soll sie brennen! Ich werde ...«

Erst dachte Anne, er hätte sich verschluckt, da er immer mehr ins Stottern und Husten kam. Doch dann war ihr klar, was passierte. Ein »Um Gottes Willen!« kam dem jungen Mediziner neben ihr, einem Neugeborenen, der das nun folgende Schauspiel noch nicht kannte, über die Lippen. Die Überlebenden am Tisch sprangen auf und rissen die Neugeborenen, die nicht in der Lage waren, zu reagieren, mit sich, weg von Heribert Bux. Schon war das teigige Gesicht verzerrt vor Schmerz. Das Feuer nahm sich seiner an. Schreie drangen durch die Flammen. Die Hitze berührte die Gesichter der Anwesenden, als die Einäscherung von Richter Heribert Bux ihren Höhepunkt erreichte. Dann folgte die übliche Stille.

 

Sergeant Milton konnte nicht länger auf seinem Pferd sitzen bleiben. Er musste absteigen und sich dem Menschenkreis nähern. Sein Magen krampfte sich zusammen, denn er rechnete mit dem Schlimmsten. Als er auf die Gruppe von etwa zwanzig Personen zuging, konnte er bald ein fast kindliches Jammern vernehmen. Und er hörte noch eine Stimme. Eine Männerstimme, die ihm bekannt vorkam. Es war der harte Akzent, der ihm vertraut war. Akzente hatten nur die Überlebenden. Für sie war die neue Sprache eine Fremdsprache. Frank Wall sprach mit einem weichen, singenden Akzent, während Anne Reeve einzelne Worte besonders hart aussprach. Der Akzent, den er jetzt heraushörte, war fast noch ein bisschen härter als der von Anne Reeve. Sergeant Milton erinnerte sich an einen Dozenten von der Akademie, der genauso sprach wie der Unbekannte in der Menschengruppe. Der Dozent bezeichnete seine Sprachfärbung immer als »Klang der Insel«.

Dann wusste Sergeant Milton plötzlich, wen er da hörte. Er zwängte sich durch die Menschen hindurch und wurde zu seiner Erleichterung Zeuge einer bizarren Darbietung. Der Sergeant musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut loszulachen. Vor ihm auf dem Boden saß eine jammernde, aber soweit der Sergeant beurteilen konnte, unverletzte Misses Wong, die ihre mächtigen Oberarme wie eine Schraubzwinge um den Hals von Nigel O’Brian gelegt hatte, der neben ihr kniete. Jetzt blickte Nigel O’Brian auf und erkannte Sergeant Milton. Den Sergeant erfasste eine Welle des Mitgefühls, als er in das Gesicht von Nigel blickte. Abgesehen davon, dass sein Gesicht nach der Attacke von Anne aussah, als käme er gerade aus dem Boxring, lag darin auch noch der Ausdruck von absoluter Hilflosigkeit.

Der Sergeant dachte wieder an sein Jugenderlebnis mit den Hunden. Nigel O’Brian hätte in diesem Moment dem Boxerkopf nicht ähnlicher sein können. Anstelle des albernen Ohrenverbandes hatte Nigel dafür die gute Misses Wong wie ein Joch um den Hals hängen. Der Sergeant konnte kaum ernst bleiben. Während Misses Wong unaufhörlich vor sich hin brabbelte und Nigel immer stärker an sich zog, versuchte Nigel verzweifelt, sich aus ihrem Griff zu befreien. Dabei sprach er beruhigend auf sie ein. Der Sergeant hatte den Eindruck, dass je sanfter Nigel mit Misses Wong redete, desto fester deren Griff wurde. Da der Sergeant schon befürchtete, sie würde dem guten O’Brian gleich das Genick brechen, griff er beherzt ein.

Er kniete sich ebenfalls neben Misses Wong und sprach mit fester Stimme. »Misses Wong, ich bin es, Sergeant Milton! Was ist hier passiert?«

Misses Wong wandte ihm kurz ihr verheultes Gesicht zu, stieß einen spitzen Schrei aus und drückte sich dann wieder fest an Nigel O’Brian. Ein kurzes Grinsen huschte dem Sergeant über die Lippen. Er griff nach Misses Wongs Armen und fing an, sie von Nigels Hals zu lösen. Nur mit vereinten Kräften konnten sie Nigel aus dieser misslichen Lage befreien. Dann kamen auch schon die Sanitäter, die man verständigt hatte.

Sergeant Milton forderte die Umstehenden auf, wieder ins Gebäude zu gehen und dort auf ihn zu warten, da er sie gleich befragen wollte. Den Sanitätern signalisierte er, mit dem Fahrzeug heranzufahren und den lauten Holzmotor abzustellen.

Dann wandte er sich wieder an Misses Wong, die immer noch auf dem Boden saß. Er nahm ihre Hände und sprach erneut: »Misses Wong, was ist passiert?«

Es folgte ein tiefes Schluchzen, dann stammelte Misses Wong: »Man wollte mich umbringen.«

Sergeant Milton sah fragend zu Nigel O’Brian, der sich sein Genick massierte. Nigel nickte bestätigend.

Zu Misses Wong gewandt, sagte der Sergeant: »Misses Wong, das ist jetzt wichtig. Sie müssen mir erzählen, was passiert ist, dann werden wir Sie ins Krankenhaus bringen.«

Misses Wong schrie auf: »Ins Krankenhaus? Niemals! Dort bin ich nicht sicher, ich will bei ihm bleiben!«, und damit deutete sie mit einem ihrer wurstigen Finger auf Nigel O’Brian.

Jetzt konnte sich der Sergeant ein breites Grinsen nicht verkneifen, das Nigel mit einem stummen »Vielen Dank« beantwortete, das er mit den Lippen formte.

Der Sergeant versuchte es nochmals: »Gut, wir bringen Sie nicht ins Krankenhaus. Wenn die Sanitäter sich vergewissert haben, dass Ihnen nichts fehlt, suchen wir für Sie einen sicheren Ort. Einverstanden?«

Misses Wong nickte.

Die Sanitäter stiegen aus ihrem Fahrzeug und liefen zielsicher auf Nigel zu. Sie machten ungläubige Gesichter, als ihnen Sergeant Milton zu verstehen gab, dass Misses Wong die Patientin sei. Dann folgten sie den Anweisungen des Sergeants und warteten etwas abseits, bis die Befragung von Misses Wong beendet war.

Misses Wong hatte sich so weit beruhigt, dass sie das Geschehene wiedergeben konnte: »Ich konnte doch nicht ahnen, dass so etwas passieren würde. Es kam ganz plötzlich. Ich hörte nur den Knall, dann kam auch schon mein Retter. Ich hörte noch einen Knall, dann lag ich am Boden. In was für einer Welt leben wir mittlerweile, dass man Angst haben muss, erschossen zu werden?«

Sergeant Milton überließ Misses Wong den Sanitätern und ging auf Nigel O’Brian zu: »Sie haben sie gerettet, vielen Dank.«

Er war froh, dass sie nicht noch eine Leiche hatten. Nigel zuckte mit den Schultern: »Das war Glück. Ich hörte den ersten Schuss, bevor ich das Büro der Lady betrat. Daraufhin rannte ich hinein und konnte sie vor dem zweiten Schuss noch auf den Boden ziehen. Dann hörte ich schon die anderen Mitarbeiter, die in Panik waren. Plötzlich rief jemand ›Feuer!‹ und alle rannten nach draußen. Ich schaffte Misses Wong ebenfalls ins Freie. Dann ging ich nochmal zurück und durchsuchte die Zimmer. Ich wollte sichergehen, dass das Gebäude geräumt war.«

Der Sergeant wurde stutzig: »Gab es denn ein Feuer?«

Nigel schnaubte: »Eben nicht, das ist es ja gerade. Ohne diesen Alarm hätte ich die Verfolgung des Schützen aufgenommen. Der ist natürlich längst über alle Berge. Die Schüsse gingen durch das Fenster an der Rückseite, da schließen sich unwegsames Gelände und Wald an. Der perfekte Fluchtweg. Herrgott, ich hätte den Schützen vielleicht noch erwischen können.«

Der Sergeant hakte noch einmal nach: »Wer hat den Feueralarm gegeben?«

Nigel zuckte wieder mit den Schultern: »Alle riefen durcheinander, schwer zu sagen, wer den Alarm als Erster gegeben hat.«

Er kramte in seiner Jacke und holte sich einen Tabakbeutel heraus. Umständlich drehte er sich eine Zigarette. Sergeant Milton bemerkte sein leichtes Zittern. Als sich Nigel die fertig gedrehte Zigarette in den Mund steckte, folgte er dem Blick des Sergeants.

Er sah auf seine zitternde Hand und sagte. »Wohl war, ich hatte schon bessere Tage.«

 

Sie hatten Anne wieder in ihre Zelle gebracht. Die Anhörung war erst einmal unterbrochen worden. Anne hasste es, zu warten. Und sie hasste es, jetzt alleine zu sein. Sie hatte das dringende Bedürfnis, das eben Erlebte mit jemandem zu besprechen. Endlich hörte sie Schritte. Hoffentlich würde sie bald jemand aus dieser Zelle holen. Obwohl Anne sich eigentlich Gesellschaft wünschte, verfluchte sie sich im nächsten Moment dafür. Mildred stand vor ihrer Zellentür und blickte sie mit großen Augen an.

Anne hatte bei ihrem Anblick manchmal noch das Gefühl, das kleine 12-jährige Mädchen von damals vor sich zu sehen. Mildred war wie ein Familienmitglied für Anne. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Mildred im Zellentrakt auftauchen würde. Natürlich wollte sie wissen, was passiert war. Außerdem machte sie sich Sorgen um Anne.

»Hallo Anne, ich habe dir etwas mitgebracht.« Damit reichte Mildred ihr ein kleines Päckchen.

Anne konnte, ohne die Packung zu öffnen, den Duft der köstlichen Blätterteigteilchen von Bäckermeister Beigel wahrnehmen. Mildred quetschte die Packung durch die Stäbe, und Anne bedankte sich. Wie sollte sie sich ihr gegenüber verhalten?

Anne zögerte kurz und traf eine Entscheidung: »Ich weiß, dass du mich nicht fragen wirst, was passiert ist. Ich denke aber, du hast das Recht, es zu erfahren.«

Mildred sah sie fragend an. Anne fuhr fort: »Du weißt sicher, dass ich hier sitze, weil ein Umschlag, der im Haus der Lordens gefunden wurde, verschwunden ist.«

Mildred nickte, sagte aber nichts. »Nun, die Beschuldigungen sind berechtigt, der Umschlag wurde unterschlagen und vernichtet.«

Mildred stöhnte, und Anne deutete das als einen Ausdruck der Enttäuschung. Das machte es Anne nicht leichter weiterzusprechen.

»Hör zu Mildred, was da auch immer passiert ist, ich möchte, dass du mir glaubst, dass ich mit den Morden nichts zu tun habe.«

Jetzt stöhnte Mildred erneut. Dieses Mal war es jedoch eindeutig ein Zeichen der Empörung: »Anne, wie kannst du annehmen, dass ich das auch nur eine Sekunde lang glauben würde? Was auch immer mit diesem verflixten Umschlag passiert ist, ich weiß genau, du hattest deine Gründe dafür. Ich habe und werde dir immer vertrauen. Für mich stellt sich nur die Frage, wie ich dir helfen kann.«

Anne war gerührt. So viel hatte sie nicht erwartet. Ihr fiel es immer schwerer, Mildred die ganze Wahrheit mitzuteilen. Sie zögerte, fuhr aber fort: »Mildred, ich denke, ich sollte dir von dem Inhalt des Umschlages erzählen.«

Und bevor Mildred etwas sagen konnte oder Anne den Mut verlieren würde, sprach sie weiter: »Die Lordens haben gegen mich ermittelt. Oder sagen wir, sie hatten einen Verdacht gegen mich.«

Jetzt räusperte sich Anne: »Sie haben mich verdächtigt, etwas mit dem Tod deines Vaters – Paul Grey – zu tun zu haben.«

Endlich war es heraus. Anne bemerkte, wie ihr Herz hämmerte.

Mildred blickte ernst in Annes Gesicht, als sie sprach: »Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe. Die Lordens haben sich geirrt.«

Anne atmete erleichtert aus. Mildreds unerschütterlicher Glaube in sie machte Anne fast schon verlegen. Sie hätte verstanden, wenn Mildred gezweifelt hätte. Eigentlich hatte sie damit fest gerechnet. Aber in Mildreds Blick lag nicht der geringste Zweifel.

Sie trat einen Schritt vor und griff durch die Stäbe nach Annes Hand: »Ich weiß, dass du unschuldig bist.«

Kurz schwiegen die beiden Frauen. Es war ein angenehmer Moment, der ihre ganze Zuneigung füreinander ausdrückte.

Mildred war die Erste, die sprach: »Anne, was genau stand denn in dem Umschlag?«

Jetzt lief Anne rot an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sollte sie Mildred erzählen, dass eigentlich Frank derjenige war, der den Umschlag an sich genommen und später verbrannt hatte?

Mildreds Mundwinkel verzogen sich zu einem feinen Lächeln: »Natürlich, du warst es gar nicht, die den Umschlag gefunden hat. Jetzt wird mir einiges klar. Dein Nigel O’Brian hätte dich doch niemals verraten. Der Sheriff hat den Umschlag genommen, und Mister O’Brian hat davon erfahren.«

Anne brachte es nicht fertig, Mildreds Schlussfolgerungen zu kommentieren. Was hätte sie auch sagen sollen.

Mildred setzte weiter die Puzzlestückchen zusammen: »Frank Wall! Er hat den Umschlag gefunden. Als er erkannte, dass du von den Lordens verdächtigt wurdest, hat er den Umschlag vernichtet. Und Mister O’Brian nahm die Gelegenheit war, einen Rivalen zu beseitigen. Was für Dummköpfe!«

Anne erwiderte empört, aber nicht ganz ernst: »Mildred, was redest du denn da!?«

Mildred sah Anne verschwörerisch an: »Deshalb weißt du gar nicht genau, was in dem Umschlag stand. Tja, Mister O’Brian wusste es wohl auch nicht, sonst wäre er mit seinen Beschuldigungen etwas vorsichtiger gewesen. Sieh mich nicht so an, wir sind uns doch darüber einig, dass er keinen anonymen Tipp bekommen hat. Mister O’Brian hat von dem Umschlag erfahren und gehandelt. Und du hast versucht, Frank Wall aus der Sache herauszuhalten, indem du die Schuld auf dich genommen hast. Was hast du jetzt vor, Anne?«

Anne antwortete, ohne zu überlegen: »Ich werde diese Ermittlungen zu Ende führen.«

»Bravo, das hätte ich auch nicht anders erwartet. Also nun sag mir, wie ich helfen kann.«

Anne überlegte, ob sie Mildred überhaupt mit einbeziehen sollte. Schließlich waren diese Ermittlungen nicht ungefährlich.

Mildred bemerkte Annes Zögern: »Du kannst mir entweder sagen, wie ich helfen kann, oder ich tue, was ich für richtig halte. Und das wird dir dann noch weniger gefallen.«

Anne seufzte: »Also schön, du gibst doch keine Ruhe. Aber du musst mir versprechen, äußerst vorsichtig zu sein.«

Mildred nickte.

Dann erzählte Anne von ihrem Gespräch mit Sergeant Milton und den Vermutungen, die sie beide angestellt hatten. Sie erzählte alles, angefangen mit Dave Lordens Erbleichen bis hin zu dem möglichen Hinweis in Mildreds Schulakte. Mildred Grey hörte aufmerksam zu.

Anne Reeve ergänzte ihre Ausführungen: »Jemand muss mit Frank reden, ich weiß nicht, wann ich ihn das nächste Mal sehe.«

Anne ließ die letzte Stunde noch einmal Revue passieren. Die Einäscherung von Mister Heribert Bux war völlig unerwartet gekommen. Nach Annes Meinung war sie auch nicht gerechtfertigt gewesen. Zumindest konnte sie nicht glauben, dass allein sein Wutausbruch ihr gegenüber dafür verantwortlich sein sollte. Zorn und Wut, böse Worte, das alles waren Dinge, die es zwischen Menschen vielleicht nicht geben sollte. Aber Anne hatte, seit sie in den Aschenfällen ermittelte, nie erlebt, dass das alleine zur Einäscherung führen konnte. Sie wusste mittlerweile, dass die Einäscherung erst durch das schlechte »Gesamtpaket« eines Menschen ausgelöst wurde. Bei Bux hatte letztendlich das aktive Handeln oder das bewusste Unterlassen gefehlt.

Mildred konnte Anne ansehen, dass dieser eine Idee gekommen war, deshalb fragte sie nur: »Was?«

Anne antwortete: »Mir kam da so ein Gedanke. Sag Frank, dass du mit mir gesprochen hast und dass ich dich in alles eingeweiht habe. Sag ihm auch, er soll überprüfen, ob es zwischen Heribert Bux und den Lordens irgendeine Verbindung gab. Ihr müsst auch prüfen, ob er Karl Hobnitz gekannt hat. Schließlich war er Hausmeister in den Räumen des Großen Rates.«

Mildred hatte ganz automatisch ihren Block heraus gekramt und machte sich jetzt eifrig Notizen. Anne musste bei ihrem Anblick lächeln. Mildred war wirklich mit Leib und Seele die Mitarbeitern von Frank Wall.

»Dann müsst ihr euch abstimmen. Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein, denn wir können kaum jemandem vertrauen. Ich möchte, dass außer dir und Frank nur noch Sergeant Milton und Doktor Masters eingeweiht werden. Ihr müsst euch gegenseitig auf den neuesten Stand bringen. Solange ich hier unten sitze, kann ich nichts unternehmen. Wer weiß, wo sie mich als Nächstes hinbringen … Vertraut niemand anderem. Das ist wichtig. Frank muss euch so wortgetreu wie möglich den Inhalt des Umschlages wiedergeben. Vielleicht lässt sich daraus etwas schließen. Ach, und noch etwas: Dave Lorden wollte kurz vor seinem Tode einen Termin mit Frank vereinbaren. Überprüfe das. Befrage Frank dazu, das könnte uns auch weiterbringen. Wobei ich davon ausgehe, dass es zu keiner Terminvereinbarung mehr kam, sonst hätte uns Frank sicher darüber unterrichtet.«

Anne verfolgte kurz einen anderen Gedanken, den sie aber schnell wieder fallen ließ.

Mildred hatte das bemerkt: »Anne, du darfst nicht anfangen, deinen Freunden zu misstrauen. Mister Wall hätte es sicher erwähnt, wenn Dave Lorden mit ihm einen Termin hätte vereinbaren wollen.«

Anne lächelte Mildred dankbar an.

Als alles gesagt war, verabschiedete sich Mildred, und Anne widmete sich erleichtert dem Päckchen mit den Blätterteigteilchen.

 

Sie hatten Misses Wong in das gleiche Versteck wie Katie gebracht. Der Sergeant hatte ein schlechtes Gewissen. Er hatte sich viel zu schnell von Katie verabschiedet. Zum einen, weil er zurück zur Wache Süd und zu seinen Ermittlungen kommen wollte, zum anderen, weil er das Gespräch mit Katie noch weiter hinauszögern wollte. Noch versuchte er, seine neue Situation zu verdrängen. Die Aussprache mit Katie hätte ihm das nicht mehr erlaubt, dann hätte er sich der Tatsache, ein Überlebender zu sein, stellen müssen. Sie waren jetzt auf dem Weg zur Wache. Nigel O’Brian ritt hinter ihm. Der Arme hatte noch einigen Körperkontakt mit Misses Wong zu ertragen gehabt, die ihn beinahe nicht hatte gehen lassen wollen. Sergeant Milton war gespannt auf Anne Reeves Reaktion, wenn sie von dieser Geschichte erfahren würde. Es erheiterte ihn immer noch, wenn er an die Szene vor der Schulkommission dachte.

Nigel hatte bisher nicht viel gesagt. Als der Weg jetzt breiter wurde und sie auf gleicher Höhe waren, sprach er das erste Mal: »Wie geht es ihr?«

Sergeant Milton hatte mit einer Frage dieser Art gerechnet. Er wusste aus ureigenster Erfahrung wie schmerzhaft Liebeskummer war. Wie hatte er selbst gelitten, als er während seinen ersten Verabredungen mit Katie geglaubt hatte, sie würde seine Liebe nicht erwidern. Auch heute war seine größte Angst, sie zu verlieren.

Der Sergeant mochte diesen Nigel O’Brian, der so plötzlich in der Wache Süd aufgetaucht war. Er fragte sich nur, wie es möglich war, dass jemand nach Hunderten von Jahren nicht in der Lage war, in punkto Frauen das Richtige zu tun. Sollte das vielleicht der endgültige Beweis dafür sein, dass das einfach unmöglich war?

Verständnisvoll beantwortete er deshalb Nigels Frage: »Sie hält sich eigentlich ganz gut, also dafür, dass sie in einer Zelle sitzt.«

Wieder schwiegen sie. Nigel blickte mehrmals verstohlen zu Sergeant Milton.

Dieser seufzte und fuhr fort, er hatte einfach Mitleid mit dem »Boxerkopf«, obwohl dieser Mist gebaut hatte: »Sie ist immer noch sauer. Aber das wird vergehen.«

Nigel O’Brian musste lächeln: »Sergeant, Sie sind wirklich ein feiner Kerl. Aber ich denke nicht, dass das so einfach vergehen wird. Ich habe dafür gesorgt, dass sie im Gefängnis sitzt, Frauen mögen so etwas nicht.«

Der Sergeant musste jetzt ebenfalls lächeln: »Oh, ich habe nicht gesagt, dass es einfach sein wird.« Und dann konnte der Sergeant nicht anders, und es platzte aus ihm heraus: »Können Sie mir vielleicht verraten, wie man auf so eine blöde Idee kommen kann? Man sollte doch annehmen, dass Sie nach all der Zeit etwas mehr Erfahrung im Umgang mit Frauen haben.«

Dann stockte der Sergeant und murmelte: »Entschuldigung«.

Nigel zögerte kurz, bevor er sprach: »Wissen Sie, was in dem Umschlag war?«

Sergeant Milton war kein guter Lügner, deshalb sagte er: »Ja, aber ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen darf. Sie sollten direkt mit ihr sprechen.«

Nigel sagte nichts, dann stellte er seine nächste Frage. »Was ist das zwischen den beiden?«

Jetzt fühlte sich der Sergeant unbehaglich. Er hatte sich diese Frage auch schon gestellt, wusste aber keine Antwort: »Auch das sollten Sie sie selbst fragen.«

Dieses Mal brummte Nigel abfällig: »Sie wird nicht mit mir sprechen wollen.«

Der Sergeant wusste nicht, warum er den folgenden Satz sagte, aber in diesem Moment schien er ihm richtig: »Ich werde Sie zu ihr bringen, erzählen Sie ihr die Geschichte mit Misses Wong, das wird ihr gefallen.«

Nigel O’Brian verzog das Gesicht und bediente sich eines unschönen Ausdrucks, um den Vorschlag des Sergeants, der jetzt frech grinste, zu quittieren. Danach entspannte sich Nigel etwas. Den Rest des Weges ritten die beiden Männer schweigend nebeneinander her.

 

Endlich tauchte Sergeant Miltons Gesicht vor Annes Zellentür auf. Er sah erschöpft aus. Anne hielt die Frage nach seinem Befinden für überflüssig. Es war deutlich zu sehen, dass es ihm nicht gut ging.

Der Sergeant hielt sich seinerseits nicht lange mit Begrüßungsfloskeln auf: »Sie lebt, aber es war knapp.«

Anne atmete erleichtert auf, konnte sich aber nicht verkneifen zu meckern: »Wo waren Sie denn so lange? Die Schulkommission ist doch quasi um die Ecke. Haben Sie eine Ahnung davon, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Ganz zu schweigen von dem Vorfall bei der Anhörung ...«

Sergeant Milton kannte seine Chefin mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie wirklich Angst um ihn hatte. Er ließ daher die Schimpftirade ohne Kommentar über sich ergehen, um dann mit einem Augenzwinkern zu antworten: »Als Vorfall würde ich die Einäscherung von Mister Bux nicht gerade bezeichnen.«

Anne hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie über ihre eigene Wortwahl schmunzeln musste: »Sie haben recht, Sergeant, das würde der Sache wirklich nicht gerecht werden.«

Anne fasste die Anhörung für den Sergeant zusammen.

Dieser hatte mit geweiteten Augen zugehört und fragte schockiert: »Er wollte Sie verbrennen?«

Anne war sich plötzlich bewusst, wie bizarr das Verhalten von Heribert Bux während der Anhörung gewesen war. Deshalb schüttelte sie den Kopf: »Ich denke nicht, dass er mich wirklich angezündet hätte. Ich denke, er wollte damit ausdrücken, dass er mich als Bedrohung sah. So langsam wird mir das unheimlich. Wieso halten mich plötzlich alle für gefährlich?«

Sergeant Milton dachte an das ramponierte Gesicht von Nigel O’Brian, aber er gab ihr keine Antwort. Stattdessen lenkte er das Thema auf Misses Wong. Er hatte sich bereits ausgemalt, wie er ihr von Nigel O’Brians Heldentat erzählen würde. Sie sollte dann versöhnlich gestimmt sein, um selbst mit Nigel zu sprechen. Jetzt schien ihm das keine gute Idee mehr zu sein. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Wie hatte er sich nur aus lauter Mitleid dazu hinreißen lassen können? Aber es war zu spät. Nigel wartete bereits vor dem Zellenbereich und zog wahrscheinlich nervös an einer seiner selbstgedrehten Zigaretten.

Der Sergeant zäumte das Pferd von hinten auf: »Wir haben Misses Wong zu Katie gebracht, damit sie in Sicherheit ist.«

Anne nickte kurz, dann zog sie die Augen zusammen: »Wir? Was heißt ›wir‹?«

Und wieder war es passiert. Sergeant Milton hatte einer Frau noch nie etwas verheimlichen können. Das war auch damals als Kind schon so gewesen. Er fand diese Fähigkeit der Frauen unheimlich. Seit er denken konnte, lasen die Frauen in ihm wie in einem offenen Buch. Erst seine Mutter, dann Katie und nun Anne Reeve. Er musste an seinen Vater denken. Am Tage seiner Hochzeit mit Katie hatte er ihn morgens beiseite genommen. Sein Vater war ein wunderbarer Mensch gewesen. Er hatte nie viel gesprochen, aber wenn er es getan hatte, dann hatte es sich gelohnt, zuzuhören.

An jenem Morgen hatte er seinen Sohn in die Arme genommen, ihn ganz fest gedrückt und gesagt: »Thomas, es gibt zwei Dinge, die du beachten musst, wenn du dir mit Frauen den Planeten teilen willst. Erstens: Versuche nie, die Reaktionen einer Frau vorherzusehen. Und zweitens: Versuche nie, ihr etwas vorzumachen. Beides ist nämlich unmöglich und daher Zeitverschwendung.«

Fast glaubte er jetzt, seinen Vater am Ende des Ganges stehen zu sehen, wie er mitleidig den Kopf schüttelte und sagte: »Junge, hast du denn nicht zugehört?«

Anne Reeves Stimme riss den Sergeant aus seinen Erinnerungen: »Sergeant, was heißt ›wir‹?«

Der Sergeant trat instinktiv einen Schritt zurück, als er antwortete, so, als ob er fürchtete, Anne Reeve würde ihn durch die Gitterstäbe hindurch erwürgen.

»Nigel O’Brian ...«

Der Sergeant trat noch einen Schritt zurück und zog ein bisschen das Genick ein, weil er nun mit einem verbalen Massaker rechnete. Aber Anne sagte nichts. Dem Sergeant wurde es unheimlich. Er dachte erneut an die Ratschläge seines Vaters. Ja, sein Vater war, bei Gott, ein weiser Mann gewesen. Der Sergeant konnte nicht warten. Mittlerweile war er so nervös, dass er ständig sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. Daher begann er hastig, die ganze Geschichte zu erzählen. Er gab sich besonders viel Mühe bei der Episode, bei der er Nigel O’Brian half, aus den »Schraubstockarmen« von Misses Wong zu entkommen und glaubte sogar, ein belustigtes Aufflackern in Annes Augen zu erkennen. Sicher war er sich aber nicht.

Er fuhr mit den Details fort: »Mister O’Brian wusste wohl von Ihnen, dass Sie meine Ermittlungen rekonstruieren wollten. So kam er auf die Idee, er könne nach Ihrer Verhaftung ...«, kurz zögerte der Sergeant, »... helfen, wenn er das übernehmen würde. Als er zur Schulkommission ritt, wusste er ja noch nicht, dass ich bereits wieder bei Bewusstsein war.«

Der Sergeant fühlte sich unbehaglich. Warum sagte sie denn nichts, sonst quatschte diese Frau doch auch ohne Punkt und Komma? Er hielt es für ratsam fortzufahren: »Von den anderen Mitarbeitern konnte sich jeder daran erinnern, dass ›Feuer‹ gerufen wurde, aber sie sind sich nicht einig, von wem.«

Sergeant Milton zog einen kleinen Block aus der Tasche und blätterte ein paar Seiten um: »Sieben Leute meinen, sie hätten eine Frau gehört. Acht schwören, es sei ein Mann gewesen. Keiner kann sagen, ob es eine fremde Stimme oder vielleicht nur ein Kollege war. Drei hatten nichts gehört, nur die Rufe der anderen, das Gebäude zu räumen. Einer hatte gemeint, es hätte auch ein Kind gewesen sein können, und einer war sich sicher, es hätten zwei Personen im Chor gerufen, wobei es sowohl ein gleichgeschlechtliches als auch ein gemischtgeschlechtliches Paar hätte sein können. Auf jeden Fall war das ein gekonntes Ablenkungsmanöver. Zum Glück war heute nur die Notbesetzung im Gebäude der Schulkommission. Die anderen Mitarbeiter waren alle bei der Monatsbesprechung, die wie gewöhnlich in den Räumen des Großen Rates stattfindet. So gab es wenigstens keine Massenpanik.«

Endlich sagte Anne etwas: »Hat Ihnen diese Misses Wong noch etwas erzählt?«

Der Sergeant wog sich fast in Sicherheit, vielleicht hatte Anne Reeve vergessen, dass Nigel O’Brian mit ihm zusammen bei Misses Wong gewesen war. Er hoffte mittlerweile, es wäre so, dann würde er Nigel einfach sagen, dass er jetzt nicht zu ihr könnte, und alles wäre vorbei.

Er sprach daher schnell wieder über Misses Wong: »Sie stand so schwer unter Schock, dass ich sie nicht befragen konnte. Ich denke, ich werde mich morgen noch einmal mit ihr unterhalten.«

Anne sah den Sergeant kurz an. Sie wusste, dass ihm in seiner Rolle als Vermittler nicht wohl war, jetzt stöhnte sie kurz und sagte: »Sergeant, Sie sollten vielleicht Mister O’Brian mitnehmen, womöglich gelingt es ihm, nachdem sich zwischen den beiden so zarte Bande entwickelt haben, unsere gute Misses Wong etwas gesprächiger zu machen. Und schicken Sie ihn endlich rein, Sie machen mich sonst noch ganz nervös mit Ihrem Gezappel.«

 

Frank hatte heute einiges zu klären gehabt. Ihm war schon klar gewesen, dass die Anhörung ein weiterer Sargnagel für ihn werden würde, aber, ehrlich gesagt, so hatte er sich das nicht vorgestellt. Die Einäscherung von Richter Heribert Bux war unerwartet gekommen. Anne würde ihm sicher zustimmen, dass das hysterische Verhalten von Richter Bux allein eigentlich keine Einäscherung hätte auslösen dürfen. Dabei war anfangs alles so gut gelaufen. Die anderen wollten bereits zustimmen. Anne hätte dann vorerst keine Aussage über den Inhalt des Umschlages machen müssen, damit die Ermittlungen nicht gefährdet würden. Dieser Bux war dann plötzlich vollkommen fanatisch an die Sache herangegangen. Was für ein schrecklicher Mensch. Erst hatte er Anne mit Handschlag und vertraulichen Floskeln begrüßt, nur um sie dann zwei Minuten später auf den Scheiterhaufen zu schicken. Eigentlich war die Einäscherung so gesehen dann doch nicht so ungewöhnlich. Wenn er weiter darüber nachdachte, dann hatte es Bux verdient.

Es klopfte an seiner Bürotür, und Rabea betrat den Raum. Sogleich entspannte sich Frank. In ihrer Gegenwart fühlte er sich immer ausgesprochen wohl, zumal er äußerst angespannt war. Er hatte sein Büro erst gegen 23.00 Uhr betreten, das war vor zwanzig Minuten gewesen. Er wollte Anne so spät nicht mehr in ihrer Zelle aufsuchen. Außerdem ging er davon aus, dass ein reger Besucherverkehr im Zellentrakt herrschte, sodass Anne über alles informiert war.

Der Vorraum zu seinem Büro war leer. Mildred war natürlich schon zu Hause. Allerdings hatte sie ihm eine Notiz hinterlassen. Offensichtlich hatte Mildred für den nächsten Vormittag eine Besprechung mit ihm, Doktor Masters und Sergeant Milton organisiert. Wie aus der Nachricht hervorging, war dies auf Bitten von Anne und unter strenger Geheimhaltung geschehen. Frank bemerkte, wie schmerzhaft es war, an die Traurige Zeit erinnert zu werden. Geheimhaltung, Verschwörung, Mord und Totschlag, daran wollte er eigentlich nie wieder denken. Er hatte mit seiner Vergangenheit vor den Aschentagen abgeschlossen.

Es erstaunte ihn nicht, dass Mildred zwischenzeitlich mit Anne gesprochen hatte. Er war nicht davon begeistert, dass seine Chef-Ermittlerin, gegen die selbst ermittelt wurde, ihre Arbeit aus ihrer Zelle heraus delegierte. Aber auf der anderen Seite musste diese Sache endlich aufgeklärt werden, und dazu war Annes Mitarbeit nötig. Sie konnten natürlich nicht alle gleichzeitig vor Annes Zelle auftauchen. Dass ihnen der Zugang bisher nicht verwehrt wurde, war wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass keiner in der Wache Süd wusste, wie man sich in Annes Fall zu verhalten hatte. Deshalb kam es dem Sergeant vor dem Zelleneingang auch gar nicht in den Sinn, die Besuche zu verbieten.

Frank dachte an den nächsten Tag. Die Anhörung musste weitergehen. Er war gespannt, wer den Vorsitz übernehmen würde. Anne war in einer Zwickmühle. Wenn sie den Inhalt preisgab, würde man sie vermutlich als Mörderin beschuldigen. Wenn sie ihn für sich behielt, wäre es nicht anders, da man ihre Geheimhaltung als Vertuschung ihrer Schuld deuten würde. Solange sie aber in der Zelle saß, konnte sie nicht ermitteln. Würde sie unter Eid über den Inhalt des Umschlages lügen, könnte ihr die Einäscherung drohen.

Wenn er nur wüsste, wie er Anne aus der Zelle holen könnte. Anne hatte definitiv verloren. Frank hatte Gerüchte gehört, wonach keines der Ratsmitglieder im Moment dazu bereit wäre, den Vorsitz bei der Anhörung zu übernehmen. Sie hatten Angst vor ihr. Hinter vorgehaltener Hand hieß es bereits, dass Anne Reeve etwas mit Bux’ Einäscherung zu tun gehabt hätte.

Frank rieb sich die Augen. Die Welt stand Kopf. Er hatte die selben Befürchtungen wie Anne. Was würde passieren, wenn das bisherige System nicht mehr funktionieren würde?

Rabea trat hinter ihn und massierte ihm sanft die Schultern. Eine Vertraulichkeit, die ihn überraschte. Ihre wohltuende Stimme hüllte ihn ein, als sie sich nach seinem Befinden erkundigte: »Du siehst müde aus, Frank.«

Was sollte er dazu sagen, genauso fühlte er sich auch.

Rabea sprach erneut: »Du solltest nochmals mit Anne sprechen, vielleicht wäre es doch besser, sie wäre in diesem Fall nicht so stur. Ich kann nichts mehr für sie tun.«

Erst jetzt fiel es Frank wieder ein, dass Bux nicht nur Anne angegriffen hatte, sondern auch besonders scharf gegen Rabea vorgegangen war. Er hatte sie sogar versteckt zum Rücktritt aufgefordert. Er bedauerte, dass er das einfach vergessen hatte. Sie musste sich schrecklich fühlen: »Es tut mir leid, was heute passierte ist. Heribert Bux ist kein guter Mensch gewesen. Was er gesagt hat, war das Ergebnis von Neid und Missgunst, das darfst du dir nicht zu Herzen nehmen.«

Dann stand er auf und streichelte ihr sanft über die Wange. »Was Anne angeht, du kennst sie, sie trifft ihre eigenen Entscheidungen.«

Rabea hakte nach: »Aber was kann denn so Wichtiges in dem Umschlag gewesen sein, dass sie es nicht einmal dem kleinen Kreis der Ratsmitglieder mitteilen kann?«

Frank war müde, er gab ihr darauf keine Antwort. Er hatte überlegt, sie zu dem Treffen morgen mit den anderen zu bitten, aber Anne hatte sich diesbezüglich gegenüber Mildred nicht geäußert. Wahrscheinlich war es besser, wenn nicht noch weitere Personen in die Ermittlungen und die damit verbundenen »Geheimtreffen« hineingezogen wurden. Anne wollte Rabea sicher nicht in Schwierigkeiten bringen.

Deshalb schwieg er dazu und sagte nur: »Lass mich dich nach Hause bringen, es war ein langer Tag.«

 

Es war ein komisches Gefühl, als sie sich gegenüber standen. Anne ärgerte sich ein wenig darüber, dass sie nicht die Möglichkeit gehabt hatte, sich ein bisschen herzurichten. Gleichzeitig ermahnte sie sich für diesen Gedanken. Schließlich spielte es keine Rolle mehr, wie Nigel O’Brian ihr Aussehen beurteilen würde. Er war immerhin der Feind, oder? Nigel kaute auf seiner Unterlippe. Anne war schon aufgefallen, dass er das immer tat, wenn er nervös war. Sie schämte sich, als sie sein ramponiertes Gesicht sah. Sie hasste Unbeherrschtheit, obwohl das einer ihrer Charakterzüge war. Außerdem verabscheute sie Ungerechtigkeit.

Im Fall von Nigel war sie zwar sicher, dass er seine Meldung an den Großen Rat vollkommen eigennützig und aus Gehässigkeit gegenüber Frank Wall gemacht hatte, trotzdem war es sein gutes Recht, sich wenigstens zu erklären. Anne wünschte, sie wäre wütender auf ihn, aber das verhinderte ein anderer ihrer Charakterzüge, und das war der der Großzügigkeit. Anne Reeve war kein nachtragender Mensch. Außerdem hatte sie noch nie Probleme damit gehabt, sich selbst ins Zentrum der Kritik zu stellen. So hatte sie sich beispielsweise den Kopf zermartert, warum die Lordens sie verdächtigt hatten. Sie hatte alle ihre Äußerungen und Handlungen hinterfragt, die eine solche Annahme der Lordens hätten auslösen können. Genauso hatte sie sich natürlich gefragt, inwieweit auch sie Schuld an der jetzigen Situation hatte.

Heute war ihr klar, dass Nigel ein Zeichen der Sicherheit von ihr gebraucht hätte. Er war ein empfindsamer Mensch, und sie konnte ihm ansehen, wie sehr er unter seiner falschen Entscheidung litt. Sie war sich sicher, dass Nigel nicht allzu oft etwas falsch machte. Er war sonst wahrscheinlich sehr geradlinig. Trotz allem hatte er sich von seiner Leidenschaft steuern lassen. Würde eine solche Beziehung gut funktionieren?

Anne schalt sich eine Idiotin. Wie konnte sie ernsthaft über eine Beziehung mit einem Mann nachdenken, der sie ins Gefängnis gebracht hatte und dem sie im Gegenzug dafür die Nase gebrochen hatte?

Andererseits war das Leben zu lang, um alleine zu bleiben. Es gab schon Beziehungen, die schlechter begonnen hatten. Ihr fiel zwar keine ein, aber sie war trotzdem sicher, dass es welche gab. Wieder einmal stellte sie fest, dass sie in Beziehungsangelegenheiten ein reiner Gefühlsmensch war. Normalerweise handelte sie kopfgesteuert, aber bei Beziehungen setzte ihr Verstand meist aus. Allerdings wusste sie auch, dass sie damit immer gut gefahren war. Sowohl während der Traurigen Zeit als auch danach. Beziehungen sollten Herzensangelegenheiten sein.

»Wie geht es dir?« Während Nigel die Frage stellte, blickte er sie mit seinen durchdringenden Augen an und Anne spürte ein Kribbeln im Bauch.

Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, ihr fielen tausend sarkastische Bemerkungen ein, und bei jedem anderen hätte sie ihre Sprüche wie die Salven eines Maschinengewehrs abgefeuert, aber jetzt hielt sie es für unangebracht.

Ihre Antwort kam daher zögernd und leise: »Es geht mir so weit gut.«

Nigel war mit dieser Antwort aus dem Konzept gebracht. Er hatte mit Vorwürfen und lautstarken Beschimpfungen gerechnet. Darauf hatte er sich vorbereitet. Jetzt sah es so aus, als müsste er sich einen neuen Plan überlegen. Sie stand hinter dem Gitter und blickte ihn an, als würde sie auf etwas warten. Sollte er einfach anfangen, ihr alles zu erklären? Oder wäre es besser, sich zu entschuldigen? Vielleicht erwartete sie von ihm, dass er sie aus der Zelle befreien würde? Wer konnte schon wissen, wann Frauen welche Reaktion von Männern erwarteten? Gewöhnlich hatte man als Mann eine Chance von eins zu eintausend, das Richtige zu tun.

Nigel fühlte sich, als müsste er gleich einen vollbesetzten Jet landen. Das hätte er nämlich genauso wenig gekonnt, wie mit dieser Frau zu reden. Sein Herz schlug wie verrückt, und er wusste, dass er stottern würde, wenn er jetzt zu sprechen anfangen würde.

Anne ging näher an die Gitter. »Das tut mir leid mit deiner Nase, das hätte ich nicht tun dürfen.«

Jetzt endlich fing Nigel an zu sprechen, erst langsam, dann wie ein Wasserfall. Er sprach von seiner Eifersucht, von seiner Wut, seiner Angst, sie zu verlieren und von seiner Liebe.

Und er sprach von seinem Plan, sie aus der Zelle zu holen: »Ich werde ihnen sagen, dass ich das alles erfunden habe, dass es nie einen Umschlag gab. Ich werde sagen, dass ich das getan habe, um gegen das System zu kämpfen ...«

Anne unterbrach ihn mit einem Lächeln: »Ich habe doch bereits zugegeben, dass es diesen Umschlag gegeben hat.«

Nigel hatte sich auf dieses Argument vorbereitet. Er war fest entschlossen, Anne zu befreien. Hätte sie nicht mit ihm sprechen wollen, wäre er ohne Rücksprache zum Großen Rat gegangen und hätte seine Aussage widerrufen.

»Du wirst sagen, dass dein Geständnis ein taktisches Manöver war. Du wirst sagen, dass du den Täter damit aufschrecken wolltest.«

Anne berührte seine Hände, die die Gitterstäbe von außen umklammerten. »Nigel, das werden wir nicht tun!«

Anne sagte das mit großer Bestimmtheit, dann fuhr sie sanfter fort: »Wenn du jetzt deine Aussage zurückziehst, wird das den Verdacht gegen mich nur noch erhärten. Jeder kann sich zusammenreimen, dass du dich mir zuliebe so verhältst. Sie werden an deiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Zum Schluss sitzen wir dann beide hier.«

Nigel wollte unbedingt seinen Fehler wieder gut machen, deshalb hakte er nach: »Anne, dann sage ich etwas anderes, was du willst, ich gestehe die Morde, wenn du damit wieder auf freien Fuß kommst. Ich will dir unbedingt helfen.«

Dieses Mal war Annes Stimme scharf: »Nigel O’Brian, untersteh dich, irgendetwas in dieser Richtung zu unternehmen. Ich schwöre dir, dass ich dir dann nicht nur die Nase brechen werde. Versprich mir, dass du nichts dergleichen tust.«

Nigel gab nicht nach: »Ich werde nicht länger zusehen, wie du hier in dieser Zelle sitzt, und das auch noch für ...«

Er brach ab. Er wollte das Thema Frank Wall nicht anschneiden. Allerdings schien es fast unvermeidlich. Er konnte immer noch nicht verstehen, warum Anne die Schuld auf sich genommen hatte. Anne atmete schwer aus. Natürlich, Nigel nahm immer noch an, sie würde Frank Wall decken.

Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Entweder würde sie jetzt schweigen und damit Nigel in dem Glauben lassen, dass Frank Wall in ihrem Leben eine so bedeutende Rolle spielte, dass sie bereit war, für ihn ins Gefängnis zu gehen – oder sie würde ihm die Wahrheit sagen.

Die Wahrheit, die hieße: »Nigel, du hast mich richtig in Schwierigkeiten gebracht.« Anne stellte sich selbst die Frage, ob sie Nigel vertrauen konnte. Was würde er tun, wenn sie ihm von dem Verdacht der Lorden-Brüder erzählte? Was würde er tun, wenn er wüsste, dass die Lordens Anne verdächtigt hatten? Anne war müde vom Denken und Grübeln. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.

Als sie zum Ende ihrer Erklärungen kam, sagte sie: »Du siehst, ich hatte keine andere Wahl. Frank Wall wollte mich schützen. Wenn er verhaftet worden wäre, hätte er nicht Lügen können, sonst wäre er vielleicht eingeäschert worden. Hätte er geschwiegen, dann hätten sie ihn ewig festgehalten.«

Nigel hatte das Gefühl, einen Tritt in den Magen bekommen zu haben. Was hatte er nur getan? Das Ganze war noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Jetzt hätte er sich am liebsten selbst die Nase gebrochen.

Anne sah ihm seine Gefühle an, das konnte sie ihm jetzt nicht abnehmen. Das war eine dieser »Durch-Schaden-wird-man-klug-Situationen«, von denen in ihren Kindheitstagen immer die alten Frauen gesprochen hatten. Sie hasste solche Sprüche. Wahrscheinlich weil in ihnen so viel Wahrheit steckte.

Nigel spürte einen unglaublichen Zorn in sich aufsteigen. Er hasste sich für das, was er getan hatte.

Es war Anne, die jetzt sprach: »Nigel, du hast gesagt, du willst mir helfen?«

Nigel sah ihr in die Augen: »Ich würde alles für dich tun, Anne. Auch wenn du mir nie verzeihen wirst.«

Anne streckte ihre Hand durch die Gitterstäbe und berührte sein Gesicht. Es war fast so wie in jener Nacht in der Spielwelt. Sie zog ihn sanft zu sich. Es war die unromantischste Versöhnung aller Zeiten. Sich durch die engen Gitterstäbe zu küssen, war eine akrobatische Meisterleistung. Zumal Nigels Gesicht jedes Mal schmerzte, wenn er das kalte Metall berührte. Dann mussten sie beide über ihre unglücklichen Versuche lachen, und Nigel spürte, wie sich seine Augen vor Erleichterung mit Tränen füllten.

 

Plötzlich erschien Sergeant Milton hinter ihnen. Er hoffte inständig, dass das, was er da sah, kein Akt des Kannibalismus’ war, sondern eine unorthodoxe Art, eine Beziehung zu führen. Er räusperte sich, und die beiden blickten in seine Richtung. Nigel blinzelte schnell und rieb sich am Auge, ganz so, als hätte er ein Staubkorn darin. Sergeant Milton war ein guter Beobachter. Er freute sich für Nigel und Anne.

Allerdings gab es neue Probleme: »Ich unterbreche ungern, aber wir haben nicht viel Zeit. Der Sergeant, der am Eingang des Zellentraktes seinen Dienst tut, hat mir fünf Minuten gegeben. Vom Großen Rat kam die Anweisung, keine Besucher mehr zu Anne Reeve zu lassen, da das die Ermittlungen gefährden könnte.«

Nigel stöhnte. Anne war ganz ruhig. Sie hatte mit solchen Sanktionen gerechnet. Allerdings beunruhigte sie das Gesicht ihres Sergeants.

Sie sah ihm an, dass da noch mehr war, deshalb sagte sie: »Und was gibt es noch, Sergeant?«

Sergeant Milton hatte die Lippen aufeinander gepresst. Er schluckte, dann versuchte er, so ruhig wie möglich zu sprechen: »Er hat mir außerdem verraten, dass sie über ein Gerichtsverfahren nachdenken und ...«, es fiel ihm schwer, die Information weiter zu geben, »... sie wollen sich eine angemessene Bestrafung überlegen, falls es zu einer Verurteilung kommt.«

Anne bekam weiche Knie. Bisher hatte sie diesen Gedanken verdrängt. Wie konnte sie nur so naiv sein? In der Neuen Welt wurde so gut wie nie eine Verurteilung ausgesprochen, und wenn, betraf das kleine Vergehen. In diesen Fällen rehabilitierten sich die Schuldigen durch soziale Dienste. Es gab keine Gefängnisse, in denen Straftäter über Jahre einsaßen. Wenn die Sache schlecht ausgehen würde, wäre sie womöglich die Erste.

Nigel riss sie aus ihren Gedanken: »Das werde ich nicht zulassen, ich hole dich hier raus.«

Sergeant Milton blickte auf seine Taschenuhr. Ihnen blieb nicht viel Zeit, das signalisierte er auch Anne.

Diese riss sich zusammen: »Gut, das können wir jetzt nicht mehr ändern. Wir müssen schnell überlegen, wie wir weiter vorgehen. Ich vermute, sie werden gleich jemanden vom Rat herschicken, der überprüft, ob das Besuchsverbot eingehalten wird. Das Wichtigste ist jetzt, dass ihr alle zusammenarbeitet. Das schließt Frank Wall und Doktor Masters mit ein. Sprecht mit Mildred, sie wird uns ebenfalls helfen.«

Anne blieb noch die Zeit, den beiden von ihrem Gespräch mit Mildred zu erzählen. Dann kam auch schon der Sergeant vom Eingang aufgeregt und mit verschwitztem Gesicht um die Ecke und mahnte zum Aufbruch, bevor es eine Kontrolle gäbe. Nigel küsste Anne noch einmal umständlich durch die Gitterstäbe, dann lief er mit Sergeant Milton schnell zum Ausgang. Anne rief ihm noch hinterher, dass er seine Finger von Misses Wong lassen solle, was ihn veranlasste, sich noch einmal umzudrehen und Anne zuzuzwinkern.

Als Nigel und Sergeant Milton gegangen waren, stand der Sergeant, der Anne bewachte, noch einen Moment an der Ecke und blickte zu ihr. Er nickte ihr zu, und sie erwiderte sein Nicken. Als er gegangen war, nahm sie sich vor, ihm, wenn diese Sache vorbei wäre, ihren ganzen Dank auszudrücken. Er hatte Sergeant Milton wichtige Informationen gegeben und ihnen noch Zeit gelassen, sich zu besprechen.

Anne war klar, dass er dabei nur auf sein Gewissen gehört und damit die Dienstanweisungen ignoriert hatte, obwohl ihn das in Schwierigkeiten bringen könnte. Das beeindruckte sie zutiefst.

 

Katie war erschöpft. Sie hatte einen langen Tag hinter sich. Jetzt saß sie Misses Wong gegenüber, die offensichtlich ein sprudelnder Quell belangloser Informationen war. Katie hatte sich gerade die fünfte Variante von »Misses Wong trifft auf Nigel O’Brian« angehört.

Jetzt kam wieder die Stelle, an der Misses Wong mit Anne Reeve ins Gericht ging: »Diese Anne Reeve hat völlig den Verstand verloren. Wie kann sie einen Mann nur so behandeln? Mister O’Brian war einfach fantastisch ...«

Katie gähnte. Außer ihr waren noch ihre Gastgeber anwesend. Ein unglaublich nettes Pärchen, das mit Anne Reeve schon lange befreundet war. Sie waren sofort bereit gewesen, Katie in ihrem Haus einen sicheren Unterschlupf zu gewähren und hätten auch Misses Wong als weiteren Schützling niemals abgelehnt. Ihr Haus war in der Spielwelt, allerdings in einer abgelegenen Straße, die das normale Publikum nicht nutzte. Die beiden hatten zusätzlich im Zentrum der Spielwelt eine Kantina eingerichtet, die sich großer Beliebtheit erfreute. Zum einen, weil ein sehr gutes Essen angeboten wurde, zum anderen wegen des ausgefallenen Charakters der Kantina. Die beiden hatten im Zuge des Recyclings eine außergewöhnliche Idee gehabt.

Sie nannten ihre Kantina das »Badezimmer«, und der Name machte dem Betrieb alle Ehre. Das Paar hatte mit Unterstützung von Freunden alte Badewannen, Toilettenschüsseln und Waschbecken eingesammelt, gründlich gereinigt und desinfiziert, um sie dann als Einrichtungsgegenstände zu verwenden. Die Toilettenschüsseln waren ausgegossen und mit Sitzen und Sitzkissen versehen worden. Die Badewannen waren umgedreht worden und dienten als Tische. Die Waschbecken waren auf stabilen Stützen befestigt worden und wurden als Sitzflächen verwendet. So waren extravagante Barhocker entstanden. Die Thekenrückwand bildeten alte Spiegelschränke, in denen die Flaschen und Gläser untergebracht wurden.

Der Clou aber war die Theke: Dazu hatten sie einen Holzrahmen mit alten Badevorlegern gefüllt. Diese waren dafür fest zusammengerollt und aufeinander gepresst worden, bis es so ausgesehen hatte, als würden lauter dünne, bunte Würste übereinander liegen. Die ganze Konstruktion war durch die Dichte der Teppichlagen stabil und herrlich farbenfroh. Die Holzplatte der Thekenoberfläche war mit Kacheln und Mosaiken beklebt, ebenso die Wände. Überall fand man Badezimmerzubehör. Gut erhaltene Duschvorhänge waren zu Tischdecken umfunktioniert worden, und Spiegelstücke dienten als Platzteller.

Katie kannte das »Badezimmer«, sie war das erste Mal mit Thomas dort gewesen. Katie fühlte sich schlecht. Sie dachte an ihren Streit mit Thomas vor dem Angriff auf ihn. Sie hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, mit ihm darüber zu sprechen.

Ihr ging es nicht gut, sie machte sich Sorgen um das Baby. Die Schwangerschaft verlief nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie war unkonzentriert, und ihr Gedächtnis verließ sie manchmal. Sie machte den Schlafmangel dafür verantwortlich. Sie schlief schlecht ein, und wenn sie schlief, hatte sie schreckliche Träume. Als sie heute Nachmittag kurz eingedöst war, hatte sie geträumt, dass sie Thomas, der von einem großen Mann bedroht worden war, hatte retten müssen. Aber sie hatte keine Waffe gehabt. Stattdessen hatte sie einen Strauß Blumen in der Hand gehalten. Es waren kurze Pflanzen mit rosa Blüten gewesen. Sie hatte sich selbst sehen können, wie sie die kleinen Blümchen auf einer feuchten Wiese am Hang gepflückt hatte. Dann war da plötzlich ein Messer in ihrer Hand gewesen, aber anstatt den großen Mann abzuwehren, hatte sie damit die Blumen zerschnitten. Thomas hatte hinter ihr nach dem Baby geschrien – dann war sie endlich schweißgebadet aufgewacht. Kurze Zeit später war Thomas erschienen, zusammen mit dieser schrecklichen Misses Wong.

Katie gähnte erneut und Peter, ihr Gastgeber, bemerkte es: »Du solltest ins Bett gehen Katie, du siehst erschöpft aus.«

Katie war ihm dankbar, damit konnte sie sich zurückziehen, ohne Misses Wong gegenüber unhöflich zu sein. Deshalb antwortete sie: »Ich denke, das mache ich, es war ein langer Tag.«

Jetzt machte Misses Wong ein betretenes Gesicht: »Oh, Kindchen, und ich sitze hier und schwatze die ganze Zeit von meinen Problemen, wie rücksichtslos von mir. Peter hat recht, du solltest schleunigst ins Bett.«

Katie hatte jetzt ein bisschen ein schlechtes Gewissen, da sie bezüglich Misses Wong so garstige Gedanken gehabt hatte. Deshalb verabschiedete sie sich freundlich von ihr und wünschte ihr angenehme Träume.

Sebastian begleitete Katie nach oben. Als sie im Gästezimmer alleine waren, richtete er das Wort an Katie. Er wusste über ihre Situation Bescheid: »Weißt du Katie, Peter und ich sind bald seit fünfundvierzig Jahren zusammen. Als ich ihn kennenlernte, war ich ein junger Mann. Heute bin ich alt.«

Katie wollte widersprechen, aber Sebastian lächelte milde und hob die Hand: »Ich bin alt und keine fünfundzwanzig mehr. Als wir uns das erste Mal begegnet sind, da wusste ich sofort: den oder keinen. Es war mir egal, dass er ein Überlebender war. Es war mir egal, dass nur ich altern würde. Heute sieht er immer noch blendend aus mit seinen optischen fünfunddreißig, und ich habe jeden Morgen mehr Schwierigkeiten, mich selbst im Spiegel zu erkennen. Und weißt du was? Es ist mir immer noch egal, denn ich denke auch heute noch: den oder keinen.«

Katie ließ sich auf das Bett sinken: »Ich wünschte, ich wäre mir auch so sicher. Was wird sein, wenn ich ihm kein Halt mehr bin, sondern nur noch eine Last?«

Sebastian schmunzelte: »Du hast es nicht verstanden, Katie, es ist für sie viel schwerer als für uns. Wir wissen, was passieren wird. Wir wissen, eines Tages ist es vorbei. Nur heißt das für uns, wir sind nicht mehr da. Für sie heißt es, alleine zurückzubleiben. Und nicht nur für ein paar Jahre. Du wirst deinem Mann niemals eine Last sein, sondern immer seine Verbindung zum Leben. Wenn ich eines Tages Peter zurücklasse, dann mit der Gewissheit, dass ich ihn glücklich gemacht habe.«

Katie hatte jetzt Tränen in den Augen: »Aber wie kannst du dir da so sicher sein?«

Sebastian beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn: »Weil ich es jeden Tag in seinen Augen sehen kann, genauso, wie du es in Thomas’ Augen sehen wirst, und jetzt schlaf gut und lass die Dinge einfach geschehen.«

Katie lag noch lange wach und dachte über Sebastians Worte nach. Sie musste auch an das denken, was ihr Anne Reeve im Krankenhaus gesagt hatte. War das wirklich möglich, dass eine Verbindung zwischen einem Überlebenden und einem Neugeborenen so viel tiefer und intensiver sein konnte als zwischen zwei Neugeborenen? Ihre Angst vor der Zukunft blieb, als sie einschlief. Auch in dieser Nacht verfolgten sie wieder hässliche Träume.

 

Als Sebastian zurück in den Wohnraum kam, hatte sich auch Misses Wong bereits zu Bett begeben. Er setzte sich ein bisschen umständlich auf seinen Lieblingssessel. Peter beobachtete ihn dabei genau. Er hatte schon vor ein paar Tagen bemerkt, dass sein Partner sich nicht ganz wohl fühlte. Offensichtlich machten ihm seine Gelenke wieder zu schaffen.

Peter vermied es, das Thema anzusprechen. Stattdessen füllte er Sebastians Glas nach, und reichte es ihm mit einem liebevollen Blick. Schweigend saßen sie beieinander. Peters Angst, Sebastian eines Tages zu verlieren, wuchs seit dem Tag ihrer ersten Begegnung. Er verfluchte sich oft dafür, ein Überlebender zu sein. Der Gedanke, zurückzubleiben, war für ihn entsetzlich. Dann dachte er an das Versprechen, das er Sebastian hatte geben müssen, bevor dieser einer Ehe zugestimmt hatte. Es war töricht gewesen, darauf einzugehen. Sebastian hatte ihm jedoch keine Wahl gelassen. Peter hatte ihm schwören müssen, dass er sich nicht das Leben nehmen würde, wenn Sebastian eines Tages nicht mehr da wäre. Er hatte ihm versprechen müssen, dass er sein Leben weiterführen und sich auch einer neuen Partnerschaft nicht verschließen würde.

Sebastian hatte für ihn einen »Letzten Brief« beim Notar hinterlegt, das wusste Peter. Er musste lächeln. Sebastian wusste immer genau, was er wollte und was nicht. Er traf die meisten Entscheidungen spontan. So war es gewesen, als sie sich kennengelernt hatten und dann auch, als sie in die Spielwelt gezogen waren und ihre Kantina eröffnet hatten.

Er verdrängte den Gedanken, eines Tages ohne ihn zu sein. Sebastian hatte ihm beigebracht, sich an den schönen Dingen des Lebens zu erfreuen. So verscheuchte er die Grübeleien mit der Freude darüber, wie einfach und selbstverständlich es in der Neuen Welt war, als gleichgeschlechtliches Paar zu leben. Alles hatte sich diesbezüglich geändert. Es gab keine Vorurteile oder schiefe Blicke mehr. Natürlich, 2018 war die Welt offener für das Thema gewesen als noch dreißig Jahre zuvor, aber homosexuelle Paare hatten immer noch für ihre Rechte und die Gleichbehandlung kämpfen müssen. Nach den Aschentagen war das vorbei gewesen. Es gab keine Benachteiligungen mehr für Minderheiten. Homo- oder heterosexuell zu sein, war so nebensächlich geworden wie die Haarfarbe eines Menschen. Die Welt hatte sich wirklich zum Guten gewandelt.

Es war für ihn und Sebastian natürlich keine Frage gewesen, Anne Reeve zu helfen. Peter kannte Anne und auch Frank Wall seit den großen Konferenzen nach den Aschentagen. Das war eine lange Zeit. Peter und Anne hatten sich zusammen für die Gründung der Spielwelten eingesetzt. Obwohl er damals aufgrund seiner Erfahrungen vor den Aschentagen daran zweifelte, dass sich die Welt zum Guten ändern würde, hatte Anne ihn mit ihren Ideen begeistern können. Letztendlich war es von ihr richtig gewesen, an ihrem Traum von der besseren Welt festzuhalten.

»Was denkst du, wie es ihr jetzt geht?«

Peter schmunzelte über die Frage. Wie immer hatte Sebastian Peters Gedanken gelesen. »Ich denke, es geht ihr schlecht. Sie wird das natürlich nicht zugeben, aber ja, ich denke, es geht ihr richtig schlecht.«

Sebastian drehte sich ein wenig in seinem Sessel und blickte Peter mit einem verschwörerischen Lächeln an, als er sagte: »Wir werden ihr natürlich helfen, egal was nötig ist?«

Er sagte es als Frage, aber Peter wusste, dass es eine Feststellung war. Typisch Sebastian, auch bei diesem Thema hatte er seine Entscheidung bereits getroffen.

Peter entspannte sich: »Natürlich werden wir das.«

Dann herrschte wieder ein kurzes Schweigen. Peter ahnte, welches Thema als Nächstes kommen würde.

Und er konnte sein Gelächter nicht zurückhalten, als Sebastian unschuldig sagte: »Der ist schon nett, dieser Nigel O’Brian?«

Abgesehen davon, dass auch das wieder als Frage formuliert war, obwohl es eine Feststellung sein sollte, wusste Peter, dass Sebastian mit »nett« weit mehr meinte als das, was man für gewöhnlich darunter verstand.

Er warf seinem Partner eines der Sofakissen an den Kopf und konnte kaum ernst bleiben, als er sagte: »Du und Anne, ihr habt wirklich einen furchtbaren Männergeschmack. Warum muss es immer der größte Raufbold sein?«

Sebastian konterte mit einem: »Weil die auch immer das größte Herz haben, deshalb habe ich ja auch dich geheiratet.«