4. Nigel O’Brian

 

Um 19.00 Uhr lief Rabeas Radiodurchsage. Sie sprach mit viel Bedauern und mit den passenden Worten über das Geschehene. Über die Toten, die Opfer eines sehr kranken Mannes geworden waren. Von einem Täter, der so krank war, dass die Einäscherung erst verzögert eingesetzt hatte. Über die gute Arbeit der Wache Süd und so weiter.

Anne hatte sich danach in die Ställe zurückgezogen. Sie hatte Emil noch Kekse versprochen. Sie brauchte etwas Ruhe, und Emil freute sich über die Sonderbehandlung. Da natürlich die Stallgenossen von Emil nicht benachteiligt werden durften, war Anne eine Weile beschäftigt.

Mister Oliver, der Pferdebetreuer, hatte sie mit einem gutgemeinten Lächeln beobachtet und sagte freundlich: »Chief-Sergeant, Schlafenszeit!«

Anne musste lachen: »Meine Güte, es ist schon 21.00 Uhr, ich habe total die Zeit vergessen. War wie immer schön bei Ihnen, Mr. Oliver.«

Und damit machte sich Anne wieder auf den Weg in ihr Büro, um ihre Jacke zu holen. Sergeant Milton saß noch geschäftig hinter seinem Schreibtisch. »Was machen Sie denn noch da, los, packen Sie zusammen, wir gehen nach Hause.«

Sergeant Milton blickte auf und erwiderte, er wolle noch die Berichte fertig schreiben.

»Keine Widerworte, die können Sie auch noch morgen schreiben.«

Und mit diesem Kommentar drückte sie dem Sergeant seine Jacke in die Hand und sie verließen gemeinsam das Büro.

Auf dem Weg zum Ausgang fragte er Anne: »Chief-Sergeant, denken Sie wirklich, dass der Fall damit abgeschlossen ist? Ich finde nämlich nicht, dass ...«

Anne unterbrach ihn: »Hören Sie, Sergeant, Sie haben gute Arbeit geleistet und wären dazu beinahe heute getötet worden, gönnen Sie sich eine Pause. Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich aus.«

Weiter kam Anne nicht, denn der Sergeant am Empfang der Wache Süd winkte ihr aufgeregt zu. Der Mann war wohl neu hier und in seiner Unsicherheit schwitzte er fürchterlich. Als Anne auf ihn zukam, lief er rot an.

»Was gibt es denn, Sergeant?«, Anne war müde und hungrig. Nach den Unmengen von süßem Gebäck schrie ihr Körper förmlich nach etwas Deftigem.

»Ich habe da einen Mann für Sie, Chief-Sergeant«, brachte der Empfangs-Sergeant hervor.

»Das ist aber sehr aufmerksam von Ihnen, genau das, was ich jetzt brauche.«

Sergeant Milton fiel es schwer, das Lachen zurückzuhalten, und der Sergeant am Empfang verstand den Witz erst etwas zeitverzögert, was dazu führte, dass sein Kopf die Farbe einer vollreifen Hagebutte annahm.

»Ich meine er hat nach Ihnen gefragt – äh, ein Mister Nigel O’Brian.«

Anne gähnte: »Kenne ich nicht, wo ist er denn?«

In diesem Moment trat eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Halle an den Tresen des Empfangs. Anne war sofort hellwach und verfluchte sich als Erstes dafür, dass sie ihre Garderobe morgens immer nach Bequemlichkeit und nicht nach Sexappeal aussuchte. Außerdem fiel ihr ein, dass sie die überflüssigen fünf Kilo noch nicht abgenommen hatte. Dann folgte ein Fluch auf Mildred, die sie immer zwang, diese Teilchen zu essen, von denen eines mindestens 6000 Kalorien hatte. Oh je, und ihre Haare waren voller Krümel, ganz zu schweigen davon, dass sie wahrscheinlich extrem nach Emil dem Pferd roch, mit dem sie vorhin noch intensiv geschmust hatte.

In diesem Moment merkte sie einen Stoß von hinten. Anne meinte ein geflüstertes »Frauen« zu hören, als Sergeant Milton an ihr vorbeiging und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Sie trat ebenfalls einen Schritt vor und stellte sich Mister O’Brian vor.

»Sie sind Anne Reeve?«

Anne nickte nur und sah in die hellblauen Augen ihres Gegenübers. Er musste in ihrem Alter sein.

»Gut, ich muss mit Ihnen sprechen Chief-Sergeant Reeve, ich habe einen Mord zu melden.«

 

Mildred hatte das Büro aufgeräumt und war noch tief in Gedanken, als sie sich auf den Heimweg machte. Sie lief bewusst langsam. Zu Hause würde sie wieder alles an ihren Mann Allen erinnern. Seine Beerdigung lag bereits dreizehn Monate zurück, aber der Schmerz wollte einfach nicht vergehen. Schnell fokussierte sie ihre Gedanken wieder auf die Ermittlungen im Fall der Lorden-Brüder, die sie aufmerksam verfolgte. Sie kannte den Doktor, Frank Wall und Anne Reeve schon lange genug, um zu wissen, dass alle drei heute bei der Besprechung nicht sie selbst gewesen waren. Zu Anne hatte dieses stille Abnicken am Schluss der Sitzung nicht gepasst. Selbst wenn sie von der Theorie überzeugt gewesen wäre, hätte sie einen Kommentar abgegeben. Sie hatte reagiert, als wäre sie auf der Hut. Vielleicht war es wegen Doktor Masters gewesen. Er hatte Anne einen ziemlich eigentümlichen Blick zugeworfen.

Auch der Doktor hatte sich nicht wie immer verhalten. Normalerweise ließ er keine Gelegenheit aus, über Theorien bezüglich der Einäscherungen zu fachsimpeln. Nein, kurz und bündig, das war nicht sein Ding. Und Frank Wall, er war extrem angespannt gewesen. Mildred war aufgefallen, dass selbst Sergeant Milton die Szenerie ungläubig betrachtet hatte, und er arbeitete mit den dreien erst seit ein paar Tagen zusammen. Rabea war das natürlich nicht aufgefallen. Sie war erleichtert gewesen, dass der Fall abgeschlossen war.

Ob die Anderen es wohl auch eigenartig fanden, dass sie die Dinge heute mit solch einer Selbstverständlichkeit hingenommen hatte? Das passte eigentlich nicht zu ihrem Ruf als brillante Wissenschaftlerin.

Mildred musste an ihren Vater denken. Sie hatte ihn oft von seiner Arbeit und von Anne Reeve sprechen hören. Dann verdrängte sie diese Gedanken.

 

Frank Wall saß noch an seinem Schreibtisch im Büro. Es war draußen schon fast dunkel. Mildred hatte ihm noch ein paar Kerzen angezündet, bevor sie gegangen war. Trotz der heimeligen Atmosphäre, die sie schufen, fühlte er sich schlecht. Er wusste, was er zu tun hatte. Er holte den Umschlag aus der Schublade und ließ dessen Inhalt auf den Tisch fallen. Vor ihm lag ein Dossier über Anne Reeve. Offensichtlich hatte es Dave Lorden angefertigt. Es war eine Art Ermittlungsakte mit einer beunruhigenden Überschrift. Darunter kam eine Auflistung von Aschenfällen, an denen Anne gearbeitet hatte. Offensichtlich ging es nur um eine bestimmte Zeit. Frank sah sich die Jahreszahl an: 212 nach den Aschentagen. Vor 48 Jahren also. Dann kamen Daten über ihren damaligen Partner Paul Grey, den Vater von Mildred. Es folgten Notizen über den tödlichen Unfall von Paul Grey. Ebenfalls vor 48 Jahren, Mildred war gerade zwölf Jahre alt gewesen.

Paul war immer gerne in den Bergen unterwegs gewesen. An diesem Tag hatte er vermutlich leichtsinniger Weise den Weg verlassen, dabei war er schwer gestürzt. Als man ihn gefunden hatte, war er gerade noch so am Leben gewesen. Er hatte unbedingt seine kleine Tochter sehen wollen. Sein letzter Wunsch hatte ihm erfüllt werden können, dann war er an den Folgen des Unfalls gestorben. Es war eine furchtbare Zeit gewesen.

Anne hatte tagelang nicht gesprochen, dann war sie eines morgens in Franks Büro gekommen und hatte ohne weitere Erklärung gesagt: »Ich will niemanden mehr in meinem Büro haben, ich arbeite künftig allein.«

Frank hatte ihren Wunsch akzeptiert, und so kam es, dass sie nur dann und wann einen Sergeant zur Ausbildung bei sich hatte. Nie lange genug, um persönliche Bindungen aufzubauen.

Frank sah sich die Unterlagen weiter an. Als Nächstes kamen Details aus Annes Leben. Ihre verstorbenen Ehemänner. Ihre Freundschaft zu Rabea. Keine Erwähnung seines Namens. War es das, was Anne gemeint hatte, als sie ihm gesagt hatte, dass nicht jeder wissen sollte, wer einem nahesteht? Frank raufte sich die Haare. Er hatte den Umschlag in Dave Lordens Schreibtisch gefunden. Dave hatte ihn dort versteckt. Er war an die Unterseite einer Schublade geklebt gewesen. Kein super Versteck, aber nicht jeder hätte sofort dort gesucht. Frank hatte keine Minute gezögert, als er den Inhalt gelesen hatte. Auch die Angst vor der Einäscherung hatte ihn nicht zurückgehalten. Er hatte den Umschlag einfach eingesteckt, obwohl er wusste, dass das nicht richtig war.

Frank las noch einmal die Notizen von Dave Lorden:

 

»Anne Reeve – Burnout – gefährlich. War der Tod von Paul Grey ein Unfall, oder hatte Anne Reeve etwas damit zu tun? ...«

 

Es folgten weitere Spekulationen dieser Art und Frank fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Er versuchte, sich den Inhalt zu merken, dann griff er sich eine Kerze und ging hinüber zum Kamin. Unbeweglich beobachtete er die Flammen, wie sie langsam das Papier verschlangen und zu Asche verwandelten.

 

Anne Reeve blickte in Nigel O’Brians Gesicht. Es war ein gutes Gesicht, so voller Charakter. Sie wusste schon jetzt, dass sie dieses Gesicht in Schwierigkeiten bringen würde. Wäre sie alleine gewesen, hätte sie einen tiefen Seufzer ausgestoßen. Sie hatte immer schon eine Schwäche für Vagabunden in der Art von Nigel O’Brian gehabt. Allerdings wusste Anne, im Gegensatz zu anderen Frauen, auf was sie sich dabei einließ. Sie hatte nie die Naivität verstanden, mit der ihre Geschlechtsgenossinnen Typen wie Nigel betrachteten. Sie versuchten immer, nette Kerl aus ihnen zu machen. Witzigerweise sollten sie dann genauso sein wie die vielen netten Kerle, die es bereits gab, die man aber zuvor abgelehnt hatte, weil sie zu nett waren.

Anne hatte schon lange erkannt, dass man niemanden ändern konnte. Ja, vielleicht würde sich der ein oder andere ein wenig anpassen, Kompromisse eingehen, aber einen Erwachsenen umzuerziehen ... Was für ein Unsinn. Und wie sollte das bei einem Überlebenden möglich sein, der bereits seit über 260 Jahren seinen eigenen Weg ging.

Ja, Nigel war ein Überlebender. Anne hätte nicht sagen können, woran sie andere Überlebende erkannte, aber meistens hatte sie recht. Es war etwas mit den Augen. Überlebende blickten ein wenig müder, gehetzter, erschöpfter. Vermutlich hatte man diesen Blick, wenn man aus der Traurigen Zeit stammte.

Nigel O’Brian, der Vagabund. Er hatte etwas Aufmüpfiges, Rebellisches an sich. Die dunklen Haare, die blauen Augen, das unrasierte, maskuline Gesicht. Er war kräftig, aber sicher nicht durch Gymnastik. Er war mehr der Typ »Kneipenschlägerei«. Sie war sich sicher, dass er rauchte und gerne Alkohol trank. Für die Ehre und die Familie würde er sterben. Ein Dickschädel, wie er im Buche stand, immer einen verächtlichen Zug um den Mund. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, aus welchem Teil der Welt er ursprünglich stammte.

 

Anne riss sich zusammen: »Nun, Mister O’Brian, ich denke das sollten wir in Ruhe besprechen. Sie sehen so aus, als könnten Sie einen Drink vertragen, und ich brauche was zu essen. Sergeant, Sie gehen nach Hause!«

»Oh nein, Chief-Sergeant, ich werde Katie eine Nachricht schicken, aber ich denke, ich sollte bei dem Gespräch dabei sein, schließlich ...«

»Schon gut Sergeant, machen Sie, was Sie wollen.«

Und so gingen die drei von der Wache Süd zur nächstgelegenen Kantina. Die Kantinas waren die Kneipen und Restaurants der Neuen Welt. Wer gerne sein Glück in der Gastronomie versuchen wollte, konnte das jederzeit tun. Die Kantina-Betreiber räumten meist ihre Häuser oder Wohnungen so um, dass Gäste darin Platz fanden. So konnte es passieren, dass man in einem fremden Wohnzimmer mit anderen sein Bier trank. Das Schöne war, dass jede Kantina anders aussah, ganz nach dem Geschmack des Hausbesitzers und dessen Möglichkeiten.

Die Kantina, in der die drei jetzt saßen, war gegenüber der Wache Süd. Der erste Stock stand den Gästen zur Verfügung. Diese Kantina bestand aus einem großen Zimmer, von dem mehrere kleine Zimmer abgingen. Wahrscheinlich ein ehemaliges Wohnzimmer mit angrenzenden Kinderzimmern. Eines der kleinen Zimmer war frei, und so saßen sie zu dritt um einen runden Holztisch. Die Kantinabesitzerin, eine kleine, robuste Frau mit ausladendem Hinterteil, hatte Anne eine dampfende Gemüsesuppe mit Brot und etwas Käse gebracht. Der Sergeant trank eine heiße Schokolade und Nigel und Anne teilten sich einen Krug Bier.

Komisch, dachte Nigel, das hätte ich jetzt nicht erwartet ...

Er war unschlüssig in Bezug auf seine Meinung über Anne. Er wusste vieles über sie, sie war bekannt, vor allem durch ihr Engagement für die Spielwelten. Trotzdem arbeitete sie für das System, wie Nigel es gerne ausdrückte. Er hatte heute Abend den Bericht über den Tod der Lorden-Brüder im Radio gehört, daraus ging hervor, dass Anne die Ermittlungen leitete. Die verzögerte Einäscherung, die erwähnt wurde, brachte ihn auf die Idee, sich mit Anne Reeve in Verbindung zu setzen.

Es war ein eigenartiges Gefühl, ihr jetzt gegenüber zu sitzen. Er hatte sich fest vorgenommen, sie nicht zu mögen, und es ärgerte ihn, dass ihm das so schwer fiel. Er hatte ihren Witz gehört, als der Sergeant vom Empfang ihr mitgeteilt hatte, dass er einen Mann für sie hätte. Die Art, wie sie ihn angesehen hatte, war verwirrend gewesen. Er fühlte sich von ihr durchschaut. Im Gegenzug wurde er aus ihr nicht schlau. Welcher seriöse Ermittler sagte zu seinem Sergeant »Machen Sie, was Sie wollen« − und dann diese Kantina.

Er saß hier mit Anne Reeve beim Abendessen. Das Gespräch hätte in der Wache stattfinden sollen. Er hatte sich auf Desinteresse ihrerseits eingestellt. Er war kampflustig zur Wache Süd gekommen, und jetzt? Sein Gegner löffelte Suppe und hatte überall Brotkrümel verteilt. Sie war so ungewöhnlich, sie ging ihm irgendwie unter die Haut. Das hatte er nicht geplant, das fehlte ihm gerade noch. Letztendlich war sie auch nichts anderes als das, was man in der Traurigen Zeit einen Polizisten genannt hätte. Er hatte nie viel mit der Polizei am Hut gehabt.

»Mister O’Brian, als Erstes möchte ich mich für das hier entschuldigen«, Anne machte eine Geste, die erkennen ließ, dass sie die Räumlichkeiten meinte, »aber ich hatte einen anstrengenden Tag, und man kann manchmal außerhalb der gewohnten Umgebung ungestörter Denken.«

Nigel spitzte die Ohren, hatte Anne Reeve vielleicht Bedenken, mit ihm in der Wache zu sprechen? Befürchtete sie Lauscher?

»Also, um auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen zu kommen. Sie wollten einen Mord melden?«

»Ja«, giftete Nigel, »auch wenn Ihnen das egal sein mag, mir ist es das nicht, und gleichgültig, was Sie jetzt sagen werden, ich habe meine Meinung dazu, und die können Sie mir nicht nehmen«.

Sergeant Milton blickte Nigel O’Brian mit großen Augen an.

Anne betrachtete Nigel gelangweilt und sagte vollkommen emotionslos: »Super!« Dann schwieg sie.

Nigel war perplex. Was war denn das für eine Reaktion? So aus dem Konzept gebracht, merkte er, wie er leicht errötete. Er dachte: Auch das noch, dieses verdammte Weib!

Anne schenkte ihnen beiden Bier nach und sagte: »Erzählen Sie uns von dem Mord.«

Nigel setzte erneut an. Dieses Mal nur auf die Fakten konzentriert, fasste er für Anne das Geschehene zusammen: »Sehen Sie, Chief-Sergeant, da, wo ich ursprünglich herkomme – ich denke, Sie wissen, dass ich ein Überlebender bin ...«

Anne nickte.

»Da, wo ich herkomme, wendet man sich normalerweise nicht gleich an die Polizei. Damit Sie verstehen, warum ich hier bin, muss ich Ihnen auch ein Stück meiner Geschichte erzählen. Meine Mutter war ein guter Mensch, allerdings kam sie immer an die falschen Typen. Mit neunzehn Jahren landete sie auf der Straße und wurde von irgendwelchen üblen Kerlen zur Prostitution gezwungen. Mein Vater, den ich nie kennengelernt habe, war einer ihrer Freier.

Meine Mutter versuchte, so gut es ging für mich zu sorgen, aber sie konnte es nicht. Als ich vierzehn Jahre alt war, wurde sie von einem ihrer Zuhälter zu Tode geprügelt. Ich kam dazu und wollte sie retten, aber es war zu spät. Als die Polizei eintraf, fand sie zwei Leichen. Meine Mutter und ihren Mörder. Ich hatte mit einem Messer auf ihn eingestochen, bis er sich nicht mehr bewegte. Die Untersuchungen haben mich von jeglicher Schuld freigesprochen. Notwehr und so weiter. Aber das half nichts, meine Mutter war tot.

Sie wollten mich in Heimen unterbringen, aber dort bin ich nicht lange geblieben. In den Jahren bis zu den Aschentagen lebte ich im Rotlichtmilieu. Ich hatte eine Kneipe und bot den Mädchen meine Hilfe an. Ich meine, wenn sie zum Beispiel aussteigen wollten oder wenn ein Typ gewalttätig wurde.

Ich erzähle Ihnen das, damit Sie verstehen, dass ich die Szene kenne − und ich kenne die Mädchen. Ich kann ziemlich gut einschätzen, ob ein Mädchen in Gefahr ist oder nicht. Auf Marie traf das zu, denn jetzt ist sie tot. Die Sergeants von der zuständigen Wache sagen, sie ist entweder freiwillig vom Balkon gesprungen – hat also Selbstmord begangen – oder der Sturz vom Balkon war ein Unfall, eventuell unter Alkoholeinfluss. Ich bin mir aber sicher, dass da mehr dahinter steckt. Als ich das dem zuständigen Sergeant erklärt habe, hat er nur abgewunken. Es könne kein Mord sein, man hätte schließlich kein Aschenhäufchen gefunden.

Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich den Bericht über den Tod der Lorden-Brüder gehört habe und die Geschichte, dass der Täter erst verspätet eingeäschert wurde. Das kam mir alles sehr merkwürdig vor. Hören Sie, Chief-Sergeant, ich will wissen, was mit dem Mädchen passiert ist. Ihr Fall darf nicht so einfach in den Archiven verschwinden.«

In Annes Kopf ratterte es. Sie hatte Nigel nicht unterbrochen. Als er jetzt schwieg, feuerte sie ihm ein »Wo und Wann?« entgegen.

Nigel antwortete knapp: »In der Spielwelt, in der Nacht vom 27. auf den 28.«

Anne stieß die Luft aus und schaute kurz ihren Sergeant an. Sergeant Milton erwiderte den Blick und beugte sich aufgeregt vor.

Bevor er etwas sagen konnte, rief Anne schon nach der Rechnung, dann wandte sie sich an Sergeant Milton: »Letzte Chance, nach Hause zu gehen, ansonsten: Trinken Sie ihre Schokolade aus, und wecken Sie Mr. Oliver. Wir brauchen Pferde.«

Sergeant Milton war schon auf dem Weg zur Tür.

»Bringen Sie die Pferde vor die Kantina. Mister O’Brian, ich möchte als Erstes die Leiche sehen, machen wir uns auf den Weg.«

 

Katie hatte überrascht die Depesche entgegengenommen. Sie bekam selten auf diesem Wege Nachrichten. Umso erfreuter war sie gewesen, als sich herausstellte, dass diese Depesche von ihrem Mann war. Sehr liebevoll hatte er sich dafür entschuldigt, dass er heute länger arbeiten würde. Katie war ein wenig enttäuscht gewesen. Sie hatte die Nachrichten im Radio gehört und gehofft, er würde bald nach Hause kommen, schließlich war der Fall abgeschlossen. Die Geschichte hatte sie beunruhigt. Sie wusste, dass Thomas heute in Gefahr gewesen war. Rabea hatte es im Radio nur angedeutet, aber Katie hatte den ganzen Tag ein ungutes Gefühl gehabt. Gerne hätte sie mit ihm darüber gesprochen. Oh, tapferer Sergeant Milton, hatte Katie im Stillen ausgerufen. Sie wusste, dass er seine Arbeit liebte. Das war sein erster Fall nach der Akademie, und die Arbeit war so völlig anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Wie Katie feststellen konnte, empfand er es als viel aufregender. Wenn er ihr davon erzählte, hatte er rote Backen und ein Glitzern und Funkeln in den Augen. Sie hätte nie damit gerechnet, dass er einmal solchen Gefahren ausgesetzt wäre.

Die Aschenfälle zu bearbeiten, das war die Hauptaufgabe der Sergeants. Verbrechen, wie die Morde an den Lordens, hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen. Katie wusste aber auch, dass sie ihm diesen Beruf nicht ausreden konnte. Also hatte sie die letzten Tage geschwiegen. Erleichtert dachte sie: Gut, dass der Fall jetzt abgeschlossen ist. Dann hat er wieder Zeit für uns. Sie strich sich verträumt über den Bauch. Wie es wohl sein würde, wenn das Baby da wäre?

 

Schweigend ritten die drei in die Nacht hinein, Richtung Spielwelt. Mein Baby, dachte Anne voller Stolz. Natürlich hatte Anne an vielen Projekten mitgewirkt, die sie alle als ihre Kinder betrachtete, aber wie das mit Kindern eben so war, hatte man oft eine Schwäche für das schwierigste unter ihnen. Und die Spielwelten waren weiß Gott schwierig gewesen. Der Widerstand war erheblich gewesen. Und nur die Angst der anderen Überlebenden, eingeäschert zu werden, hatte sie davon abgehalten, Anne bei den Konferenzen auszuschließen.

Die Konferenzen, das war das Zusammentreffen fast aller Überlebender nach den Aschentagen gewesen. Weltweit war man miteinander in Kontakt getreten und hatte die Neuordnung der Welt beschlossen. Während heute die Kommunikation über Funk oder persönlich stattfand, was − je nachdem − eine längere Reise voraussetzte, hatte man nach den Aschentagen noch auf die übriggebliebenen Kommunikationstechniken, wie zum Beispiel das Internet, zurückgreifen können. Da die dafür benötigte Technik aber auf Dauer nicht erhalten, geschweige denn erneuert werden konnte, war damals beschlossen worden, alle vorhandene Computertechnik über die Jahre einzusammeln. Es war ein riesiges Ersatzteillager im Militärstützpunkt angelegt worden, damit man diese Technik an den Stellen, an denen sie noch unverzichtbar war, benutzen konnte, bis man eine andere Lösung finden würde.

Da Rabea die Konferenzen organisiert und möglich gemacht hatte, war es nicht verwunderlich gewesen, dass der Militärstützpunkt heute das Zentrum der Neuen Welt bildete. Außerdem hatte sich hier auch ein Großteil der Überlebenden nach den Aschentagen eingefunden, um dort zu leben. Somit wurde diese Gemeinschaft, die um und in dem ehemaligen Militärstützpunkt errichtet worden war, Vorbild für andere Gemeinschaften, die sich nach und nach gebildet hatten, jedoch viel kleiner waren.

Bei den Konferenzen direkt nach den Aschentagen war als Erstes die Versorgung der Kinder organisiert worden. Dann die Verteilung der vorhandenen Lebensmittel, und als Nächstes hatte man die künftige Nahrungsmittelproduktion besprochen. Wohnraum und Schulen hatten geschaffen werden müssen. Eine Infrastruktur war benötigt worden, genauso wie eine gute medizinische Versorgung. Manches war wesentlich einfacher gewesen, als gedacht. Die Zivilisation vor den Aschentagen hatte eine Welt zurückgelassen, die im Überfluss gelebt hatte. Somit waren viele Dinge vorhanden gewesen, die man noch hatte verwerten können. Man hatte sich daher beeilt, Expeditionsmannschaften zu bilden.

Diese Expeditionsmannschaften waren ständig unterwegs, um nach weiteren Überlebenden zu suchen, aber auch, um hilfreiche Dinge aus den ehemaligen Siedlungen der Menschen mitzubringen. Während in den ersten Monaten meist Lebensmittel und Medikamente eingesammelt worden waren, wurde die Suche nach Brauchbarem mit den Jahrzehnten immer schwieriger.

Die Mannschaften hatten es sich aber auch zur Aufgabe gemacht, in den verlassenen Städten ein erträgliches Maß an Ordnung zu schaffen, damit sie der Natur unbedenklich zurückgegeben werden konnten. Anne konnte sich noch an einen Bericht über eine Expedition in den ersten fünfzig Jahren nach den Aschentagen erinnern, als eine der Expeditionsmannschaften auf ein kleines Dorf gestoßen war, das komplett verschont geblieben war. Dort hatte keine einzige Einäscherung stattgefunden. Man erklärte sich das mit der starken Naturverbundenheit und dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner, deren einzigen Sorgen die tägliche Nahrungsaufnahme und ausreichend Wärme für die Nacht waren. Unter diesen einfachen, aber auch friedlichen Verhältnissen, wo es wenig Platz für Hass, Habgier, Neid und Missgunst gab, bildeten die Menschen offensichtlich nicht die »böse« Genkombination aus, die den Mechanismus der Einäscherung auslösen konnte.

Es wurden dann später noch weitere solcher Siedlungen gefunden, die man einfach in Ruhe ließ, damit die Bewohner ihr glückliches Leben ungestört weiterführen konnten. Interessant war, dass die Menschen in diesen Siedlungen meist mit extremen klimatischen Bedingungen zu kämpfen hatten und in eher unwirtlichen Gegenden lebten. Anne hatte daher einmal gegenüber Frank die Behauptung aufgestellt, dass Sessel Schuld wären am Untergang der Menschheit. Offensichtlich brächte ein bequem geparktes Hinterteil das Arschloch in uns hervor. Frank hatte nur gestöhnt, den Kopf geschüttelt und ihr geraten, diese Ansicht noch ein paar Jahrhunderte für sich zu behalten.

Anne dachte wieder an Frank. Was war nur mit ihm los? Doch ihre Gedanken wurden unterbrochen, als sie am Eingang der Spielwelt ankamen. Diesmal erwartete sie kein Bob Miller, dafür aber ein buntes Treiben. Sie gaben ihre Pferde dem Pferdebetreuer am Eingang, der die Tiere etwas abseits des Lärms und Trubels versorgen würde. Anne kannte sich gut genug in der Spielwelt aus. Sie bewegte sich zielsicher Richtung Krankenhaus.

Da man auf der Hauptstraße sein eigenes Wort nicht verstand – es fand gerade irgendein farbenfroher Umzug statt –, wartete Anne, bis sie die Nebenstraße zum Krankenhaus erreicht hatten, um Nigel noch eine Frage zu stellen: »Sagen Sie, warum ist Marie hierhergekommen? Gab es dafür einen bestimmten Grund?«

Nigel zögerte. Marie hatte zu den Neugeborenen gehört. Sie war gerade 23 Jahre alt gewesen, als sie bei ihm in der Kantina aufgetaucht war. Er war nach den Aschentagen in einer Gemeinschaft im Norden gelandet. Er liebte das raue Klima des Meeres. Nicht so wie hier im Süden, wo die Nächte keine Abkühlung brachten. Er musste sich allerdings eingestehen, dass es ihm gefiel, dass das Leben hier auf der Straße stattfand, und diese Spielwelt im Süden war wirklich ein riesiges, verrücktes Fest.

Die Spielwelt im Norden war nach dem gleichen Konzept aufgebaut, natürlich etwas kleiner, aber er fühlte sich dort wohl. Als er damals bei den Konferenzen das erste Mal von Anne Reeve und ihrer Idee der Spielwelten gelesen hatte, war er natürlich sofort hellhörig geworden. Sie wollte ihm schließlich seine Welt zurückgeben, nur besser. Er war nicht persönlich zu den Konferenzen gekommen. Er hatte die Berichte über das Internet am Computer gelesen.

Während den Konferenzen, nach den Aschentagen, hatte den Überlebenden diese Technik noch zur Verfügung gestanden. So hatten viele informiert werden oder sich zu Wort melden können. Nach den Konferenzen wurde diese Technologie nur noch beschränkt benutzt, zumal sich die technischen Gegebenheiten mit den Jahren verschlechtert hatten. So kommunizierten manchmal noch die Wissenschaftler, die Vertreter der Gemeinschaften oder die Ermittler miteinander via Internet, wenn es um wichtige Probleme ging.

Nigel schaute sich weiter in der Spielwelt Süd um. Er hatte sich oft gefragt, warum er in einer der Spielwelten lebte. In den letzten 260 Jahren hatte er so einiges über sich erfahren. Während er anfangs gedacht hatte, er hätte während der Traurigen Zeit nur zum Schutz der Mädchen seine Zeit im Rotlichtmilieu verbracht, wusste er nun, dass es auch andere Gründe gegeben hatte. Es war eine Faszination, die von diesem Leben ausging, die er nur schwer erklären konnte. Auf jeden Fall wollte er nach 260 Jahren immer noch nicht woanders sein.

Er konnte sich noch an die Artikel über Anne Reeve erinnern. Er hatte ihre Reden gelesen. Sie hatte eine interessante Argumentationskette gehabt. Anne hatte geglaubt, dass eine Welt ohne Laster nicht lebenswert wäre.

So hatte sie die anderen Überlebenden aufgefordert, sie zu unterstützen: »Die Kinder, die wir großziehen, werden Fragen haben. Wir haben beschlossen, ihnen alle Antworten zu geben und ihnen all unser Wissen zur Verfügung zu stellen. Sie werden aber auch Bedürfnisse haben, und diese werden nicht nur geistiger Natur sein. Wir wissen doch aus der Geschichte, dass man Tugend nicht erzwingen kann. Wir geben ihnen in allen Bereichen die Möglichkeit zu wählen. Dann müssen wir ihnen auch hier die Möglichkeit geben.

Entweder sie nehmen die Spielwelt an oder nicht. Aber sie müssen die Wahl haben. Und außerdem will auch ich nicht in einer Neuen Welt ohne Spaß leben. Letztendlich wird die Spielwelt ein Vergnügungspark für Erwachsene werden. Es wird Glücksspiel geben, Tanz und Musik, verrückte Attraktionen, Alkohol und Tabak und auch Prostitution. Und auch hier muss man sich einfach vor Augen halten, dass das das älteste Gewerbe der Welt ist. Ich denke, wenn etwas so lange überlebt, dann nur, weil es ein unverzichtbarer Teil des Ganzen ist.«

Es waren flammende Reden von Anne Reeve gewesen. Sie hatte dann auch noch mit einem Tabu gebrochen. Normalerweise sprach niemand darüber, welche Personen, Bevölkerungsschichten oder Berufsgruppen besonders von der Einäscherung betroffen gewesen waren. Das hing damit zusammen, dass die Vergangenheit keine Rolle mehr spielen sollte. Um den Gleichheitsgedanken besser umzusetzen, hatte jeder Überlebende nach den Aschentagen bei Null angefangen.

Anne hatte sich darüber hinweg gesetzt und damit argumentiert, dass viele Prostituierte die Aschentage überlebt hatten. Zum einen hatte sie das damit erklärt, dass eine große Zahl von ihnen Opfer gewesen waren. Für sie hatte nach 2018 ein neues Leben begonnen. Zum anderen hatte sie aber auch von denen gesprochen, die dem Gewerbe nicht aus Zwang nachgegangen waren, sondern die dort immer schon ihren Platz gesehen hatten. Dass sie alle von den Einäscherungen verschont geblieben waren, war für Anne Reeve genug Beweis für die Existenzberechtigung der Spielwelten.

Manchen der Anwesenden hatte es bei diesen Äußerungen die Farbe aus dem Gesicht getrieben. Man hatte sogar gewitzelt, dass sich der Raum durch die zahlreichen blassen Gesichter erhellt hatte. Anne hatte natürlich auch ihre Unterstützer gehabt. Da war ein angesehener Psychologe, ein Doktor Calliditas, gewesen, der die Empfehlung gegeben hatte, solche Welten einzurichten, um ein Ventil für die Menschen zu schaffen. Er hatte auf Gefahren hingewiesen, die entstehen, wenn Bedürfnisse auf Dauer unterdrückt werden. Außerdem hatten sie natürlich die Prostituierten unter den Überlebenden unterstützt, die diese Spielwelten als neue Heimat gesehen hatten. Und andere, wie zum Beispiel Nigel O’Brian, der ein Kind dieses Lebens war.

 

Anne sah Nigel erwartungsvoll an und wiederholte ihre Frage: »Mister O’Brian, warum kam Marie hierher?«

Nigel rieb sich über die Augen: »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Marie war eine Neugeborene. Sie arbeitete seit ungefähr einem Jahr in der Spielwelt Nord. Sie war begeistert von dem Leben dort. Dann, vor ungefähr zwei Monaten, kam sie zu mir in die Kantina und erzählte mir von ihrem Entschluss, nach Süden zu gehen. Ich mochte die Kleine, ich war nicht verliebt, wenn Sie das meinen, nein, sie war einfach nett, und ich machte mir ein bisschen Sorgen. Sie erzählte mir von den warmen Nächten und den vielen Dingen, die es hier gäbe.«

»Und woher wusste sie darüber Bescheid, hatte sie zu jemandem hier Kontakt?« Anne war unschlüssig, wie sie weiter vorgehen sollte.

Nigel zögerte kurz, bevor er antwortete.

Anne hatte das bemerkt und setzte nach: »Bitte sagen Sie mir alles, was Sie wissen, aber auch das, was Sie vermuten. Wir müssen allem nachgehen.«

»Na ja, ich hatte das Gefühl, sie ist jemandem begegnet. Sie sprach nicht darüber, aber eigentlich hatte ich gehofft, sie hätte einen Mann kennengelernt, der sie glücklich machen würde und dass sie deshalb in den Süden ziehen wollte. Das ist wohl die Macht der Gewohnheit, auch wenn die Mädchen heute ganz anders leben, will ich sie immer noch alle retten.«

Nigel kratzte sich jetzt ein bisschen verlegen am Hinterkopf und wich Annes Blick aus. Oh, ist der süß!, schoss es Anne durch den Kopf, sie war so in Gedanken versunken, dass sie erst Sergeant Miltons Räuspern auf den Boden zurückholte. Als Sergeant Milton jetzt auch noch à la Frank Wall ermahnend eine Augenbraue hochzog, dachte Anne: Jetzt wird der Bursche auch noch frech, na warte!

Schweigend gingen sie bis zum Krankenhaus. Meistens war hier nicht viel los, da sich das wilde Nachtleben doch sehr von dem unterschied, wie man es aus der Traurigen Zeit kannte. Meist gab es keinen Behandlungsbedarf aufgrund von Gewalttätigkeiten oder übermäßigem Alkoholkonsums. Das Krankenhaus diente der ärztlichen Versorgung der Bewohner der Spielwelt. Im Keller wurden die Toten bis zu ihrer Beerdigung aufbewahrt. Eine junge Ärztin am Empfang hörte sich Annes Anliegen an und führte sie nach unten. Im Leichenraum war es kalt und düster.

Es stand nur eine Bahre in dem Raum. Für gewöhnlich gab es hier nicht viele Tote. Die Leiche von Dave Lorden war bereits am Vortag zu Doktor Masters gebracht worden. Anne fühlte sich unwohl und Sergeant Milton konnte sie ansehen, dass es ihm genauso ging. Nigel O’Brian verkrampfte seinen Kiefer beim Anblick der zugedeckten Leiche. Anne nickte der jungen Ärztin zu und diese hob sanft das Tuch.

Anne riss ihre Augen weit auf: »Sie ist rothaarig, das darf alles nicht wahr sein.«

Nigel sah Anne verständnislos an, während Sergeant Milton sofort wusste, dass die Akte Lorden eben wieder geöffnet wurde.

Anne trat einen Schritt auf die Tote zu, streckte die Hand aus, strich ihr damit vorsichtig über die gewellten roten Haare und flüsterte: »Leb wohl, Marie.« Dann drehte sie sich abrupt um und sah ihren Sergeant an: »Veranlassen Sie, dass Marie zu Doktor Masters gebracht wird, er soll sofort mit den Untersuchungen beginnen.«

 

Doktor Masters erinnerte sich an das Gespräch mit dem Psychologenteam. Ein netter junger Mann war ihm zur Verfügung gestellt worden, um ihm alle seine Fragen zu beantworten. Er erinnerte sich auch an die Besprechung in Frank Walls Büro. Wie erleichtert alle gewesen waren, dass Karl Hobnitz der Täter war. Die Erklärung, dass er aufgrund seines Geisteszustandes erst bei dem Mordversuch auf Anne eingeäschert wurde, hatte zumindest Anklang gefunden. Rabea hatte befreit gewirkt. Gerade Rabea, die emotional meist eher unbeteiligt schien, war ihm an diesem Abend besonders ängstlich vorgekommen. Das war natürlich kein Wunder gewesen, schließlich war sie zum Mittelpunkt der Morde geworden.

Frank war nur interessiert daran gewesen, den Fall abzuschließen. Eigentlich passte das nicht zu ihm. Doktor Masters seufzte, das ganze Gespräch war vollkommen anders verlaufen, als er erwartet hatte. Er war sich sicher gewesen, dass Frank Wall und Rabea seine Theorie bzw. die des Psychologenteams zerlegen würden. Aber es waren keine Widerworte gekommen. Bei Anne wusste er genau, dass sie nicht überzeugt gewesen war. Sie hatte zwar auf seinen Blick hin den Mund gehalten, aber er wusste, dass sie ihm nicht viel Zeit lassen würde. Trotzdem war er überzeugt, dass er richtig gehandelt hatte. In seinem Kopf schwirrte noch das Gespräch mit Doktor Calliditas herum. Er hatte nicht damit gerechnet, auf ihn zu treffen. Viele hielten Calliditas für ein bisschen verrückt.

Er selbst behauptete das von sich übrigens auch: »Wenn man seine Nase ständig in andere Leute Köpfe steckt, nimmt man irgendwann auch mal eine Prise des fremden Wahnsinns mit nach Hause.«

Trotzdem war er eine Legende in der Ärzteschaft. Ein Überlebender, der schon das stolze Alter von achtzig Jahren erreicht hatte, als er das Geschenk oder den Fluch des ewigen Lebens erhalten hatte.

Doktor Calliditas war ein großgewachsener Mann mit vollem grauem Haar, das wie die Mähne eines in die Jahre gekommenen alten Löwen aussah. Er hatte schlaue kleine Augen, die einen selten direkt anblickten. Meistens folgte sein Blick, recht unstet, einer imaginären Fliege im Raum. Doktor Masters war nach der Besprechung mit dem jungen Arzt, er hatte dessen Namen schon wieder vergessen, direkt auf Doktor Calliditas gestoßen, der plötzlich wie ein Känguru hinter einer Ecke hervor gehüpft war.

Doktor Masters hatte sofort gewusst, wen er vor sich gehabt hatte. Doktor Calliditas hatte Doktor Masters kurz angesehen, dann hatte er abwechselnd die Deckenbeleuchtung und das Muster des Fußbodens beobachtet: »Sie sind gekommen wegen der ›verzögerten‹ Einäscherung, was?«

Doktor Masters hatte genickt.

»Was haben Ihnen meine Kollegen denn erzählt?«

Doktor Calliditas war während der Traurigen Zeit einer der berühmtesten Neurologen und Psychologen gewesen. Doktor Masters hatte ausführlich und wahrheitsgemäß geantwortet. Er war sich so vorgekommen, als wäre er wieder Mitte zwanzig und müsste eine Prüfung bestehen. Als er mit seinen Ausführungen fertig gewesen war, hatte Doktor Calliditas geschwiegen und seinen Blick kreuz und quer durch den Raum gleiten lassen.

Dann hatte er sich am Kopf gekratzt und geringschätzig mit der Zunge geschnalzt: »So, das meinen die Herren also. Sehr interessant!«

Doktor Masters hatte einen Augenblick gewartet, und als er gemerkt hatte, dass dem nichts folgen würde, hatte er sich ein Herz gefasst und Doktor Calliditas ganz direkt gefragt: »Sind Sie denn anderer Meinung, Doktor Calliditas?«

Dieses Mal hatte Doktor Calliditas den Blick direkt auf Doktor Masters gerichtet, als er sprach: »Und Sie mein Junge, sind Sie anderer Meinung? Los, los, raus damit!«

Doktor Masters hatte nicht einmal gezögert, als er geantwortet hatte: »Ehrlich gesagt, ja, ich bin anderer Meinung. So etwas ist vollkommen unwahrscheinlich. Ich habe die Aschenfälle studiert, die neuen und die alten. Gut, ich bin kein Neurologe, Psychologe oder Genforscher, ich bin praktischer Mediziner, aber ich kann mich mit der Theorie von der ›verzögerten‹ Einäscherung bei einem Geisteskranken nicht anfreunden, denn entweder ist der Mann geisteskrank gewesen oder nicht. Meiner Meinung nach kann es bei einem Geisteskranken überhaupt nicht zu einer Einäscherung kommen. Die chemischen Reaktionen im Körper bleiben dann nämlich aus. Das ergibt sich auch aus allen Forschungen, die bisher dahingehend unternommen wurden. Wir wissen, dass manchmal erst eine Folge von Taten die Einäscherung auslöst. Zum Beispiel, wenn jemand anfängt, kleinere Verbrechen zu begehen, aber im Laufe der Zeit die Schwere der Taten zunimmt. Dann sprechen wir aber nicht von einer ›verzögerten‹ Einäscherung. In diesen Fällen geht es darum, dass sich die ›böse‹ Genkombination langsamer entwickelt als zum Beispiel bei einem Mord. Bei Karl Hobnitz passt das nicht. Der Mord an einem Menschen ist eine unverzeihliche Tat, die alle Voraussetzungen für eine sofortige Einäscherung schafft, es sei denn, der Täter ist geisteskrank. Wie aber ist es möglich, dass Karl Hobnitz bei der Tötung der Lorden-Brüder überhaupt nicht reagiert, sondern quasi als Geisteskranker von der Einäscherung verschont bleibt, aber bei dem Versuch, Anne Reeve zu erschießen, finden alle üblichen Reaktionen statt, die zur Einäscherung führen?«

»Was denken Sie, mein Lieber, warum ist das so?« Doktor Calliditas Blick hatte den Weg der Fußleiste von einer Seite des Raumes zur anderen verfolgt.

»Dafür gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen: Entweder er hat die Lorden-Brüder aus direkter Notwehr heraus erschossen ...«

Doktor Calliditas hatte wie ein schmollendes Kind die Mundwinkel nach unten gezogen, sodass Doktor Masters sich beeilt hatte hinzuzufügen: »Oder er hat sie gar nicht erschossen. Eine Geisteskrankheit schließe ich bei Karl Hobnitz auf jeden Fall aus.«

Daraufhin hatte Doktor Calliditas gegrinst und dabei nicht mehr wie ein alter Löwe ausgesehen, sondern eher wie ein Osterhase. Dann hatte er seinen knochigen Zeigefinger ausgestreckt und damit Doktor Masters an die Stirn getippt: »Zögern Sie nie, das hier zu verwenden, mein Junge, und seien Sie vorsichtig. Wägen Sie gut ab, wem Sie trauen können und wem nicht. Ach, meine besten Grüße an Anne Reeve.«

Damit hatte er sich wie eine Ballerina auf dem Absatz umgedreht und war davongerauscht. Zurück geblieben war ein ziemlich verdatterter Doktor Masters. Ähnlich verdattert war er gewesen, als am gleichen Abend gegen 23.00 Uhr an seiner Tür geklopft wurde und ihm eine Depesche überreicht worden war. Sie war von Sergeant Milton, der ihn in Annes Namen gebeten hatte, zum Forschungszentrum zu kommen. Doktor Masters hatte sich sofort auf den Weg gemacht. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer neuen Leiche.

Die junge Frau, die jetzt vor ihm auf dem Untersuchungstisch lag, war außerordentlich hübsch gewesen. Das konnte man trotz ihrer Verletzungen noch erkennen. Eine Rothaarige, das war heutzutage selten. Sergeant Milton hatte ihm nur mitgeteilt, dass sie als Gesellschafterin in der Spielwelt gelebt hatte. Doktor Masters konnte sich vorstellen, dass sie sehr begehrt gewesen war. Er selbst machte sich nicht viel aus sexuellen Abenteuern, er war glücklich verheiratet. Trotzdem kannte er natürlich die Spielwelt. In seiner Jugend war er dort öfter Gast gewesen. Heute kam das seltener vor. Und wenn, dann ging es nicht um Damenbesuche. Er bevorzugte das Casino und die Theater, und seine Frau liebte die Varietévorstellungen.

Wie jeder Neugeborene kannte er die Geschichten aus der Traurigen Zeit über das harte Leben, das viele Prostituierte damals geführt hatten. Es war eigentlich kaum zu glauben, wenn man bedachte, wie diese Frauen und Männer heute respektiert wurden. Es gab einen richtigen Kult um sie. Sie wurden dafür geschätzt, dass sie der Gesellschaft einen Dienst erwiesen. Heute war man der festen Ansicht, dass viel mehr Menschen Opfer von Gewalttaten wären, wenn nicht die männlichen und weiblichen Gesellschafter durch ihre Dienste ermöglichen würden, dass Menschen ihre besonderen Neigungen oder Fantasien ausleben konnten. Bei den Konferenzen hatte man dieses Argument aushebeln wollen mit dem Gegenargument, dass Gewalttaten durch die Einäscherung bestraft werden würden.

Die Befürworter aber hatten widersprochen. Denn da die Einäscherung meist erst während der Tat oder direkt danach einsetzte, waren die Opfer auf jeden Fall dem Angriff ausgesetzt. Das sollte man ihnen ersparen. Außerdem wäre es viel wünschenswerter, wenn es erst gar nicht zu einer Gewalttat kommen würde. Wenn ein potenzieller Täter also durch die Möglichkeit, einen Gesellschafter oder eine Gesellschafterin aufsuchen zu können, nicht zum Täter würde.

Es galt die Regel, dass alles erlaubt war, was im gegenseitigen Einvernehmen stattfand, es durfte nur kein Außenstehender in irgendeiner Weise belästigt werden. Außerdem war Gesundheitskontrolle ein wichtiges Stichwort. Vor allem, da nicht nur die Damen und Herren, sondern auch die Kunden Nachweise über ihren Gesundheitszustand bringen mussten. Heute galten die Prostituierten als kultivierte Gesellschafterinnen und Gesellschafter, die sich ihre Gäste aussuchen konnten. Sie waren komplett in das soziale Netzwerk der Gemeinschaften integriert und konnten auch jederzeit eine andere Tätigkeit ausüben.

Obwohl viele der Überlebenden zu Anfang geglaubt hatten, dass die Prostitution in den Spielwelten auf Dauer keine Überlebenschance haben würde, fanden sich immer wieder Frauen und Männer unter den Neugeborenen, die ein Leben als Gesellschafter oder Gesellschafterin für sich wählten.

Genauso, wie es viele Neugeborene gab, ebenfalls Frauen und Männer, die in der Spielwelt ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit den Gesellschaftern oder Gesellschafterinnen machten. Aber auch für viele Überlebende wurde die Spielwelt ein wichtiges Element ihres Lebens. Dort konnten sie ihre Bedürfnisse befriedigen, ohne die Verpflichtung, eine Beziehung einzugehen, was vielen Überlebenden ja schwer fiel. Aber die Spielwelt bot schließlich für jeden etwas.

Einen viel größeren Anteil hatten die zahlreichen Tanzclubs, Theater und Casinos. Die Spielwelt zu besuchen, gleich aus welchem Grund, war vollkommen normal für die Neugeborenen, und niemand setzte sich damit irgendwelchen Vorurteilen aus. Das Leben in den Spielwelten lief normalerweise friedlich ab, daher war es umso trauriger für Doktor Masters, dieses schöne Geschöpf vor sich liegen zu haben. Er hatte seine Untersuchungen abgeschlossen und spürte wieder diese Unruhe.

Was hatte das zu bedeuten? Anne war natürlich darin verwickelt, aber ihr Sergeant rückte nicht mit der Sprache raus. Er teilte ihm lediglich mit, dass Anne noch ins Forschungszentrum käme. Doktor Masters rieb sich den dicken Leib und dachte darüber nach, ob er sich im Pausenraum ein kleines Mitternachtshäppchen gönnen sollte, bis Anne hier eintraf.

 

»Was hat das zu bedeuten Chief-Sergeant?« Sie hatten das Krankenhaus mittlerweile verlassen. Der Sergeant war mit der Leiche Richtung Forschungszentrum unterwegs, Anne wollte sich noch die Wohnung von Marie ansehen. Nigel hielt Anne am Arm fest. Es war ein fester Griff.

Anne schüttelte ihn nicht ab: »Als Erstes erklären Sie mir einmal, warum Sie überhaupt hier sind?«, entgegnete sie stattdessen schroff. »Sie haben uns erzählt, Sie mochten das Mädchen, waren aber nicht verliebt. Sie ging weg, wahrscheinlich in eine bessere Zukunft. Warum also tauchen Sie hier auf? Und, vor allem, seit wann sind Sie hier?« Dann blickte Anne auf ihren Arm, und Nigel ließ sie sofort los.

»Ich machte mir eben Sorgen um das Mädchen, wie es aussieht, offensichtlich zu Recht. Da ich noch nie im Süden war, dachte ich, es wäre eine gute Idee hierherzukommen. Angekommen bin ich gestern gegen Mittag. Als ich mich dann nach Marie erkundigt habe, sagten sie mir, dass man sie am Morgen tot aufgefunden hatte. Ich war also zu spät.«

Anne wusste, dass er log, dass er etwas verheimlichte, und Nigel wusste, dass Anne es wusste. Anne zögerte noch kurz, dann schenkte sie ihm ein gespieltes Lächeln und sagte: »Gut« und ging in Richtung Zentrale davon.

»He, Chief-Sergeant, Sie haben mir noch nicht gesagt, was es mit den roten Haaren auf sich hat!?«

Anne drehte sich um und rief: »Und Sie haben mir noch nicht gesagt, warum Sie hier sind.«

 

In der Zentrale angekommen, traf Anne wieder auf Bob Miller. Er war überrascht sie zu sehen und witzelte: »Du hast gemerkt, dass ich meinen Oberkörper trainiere, was? Und jetzt kannst du die Finger nicht mehr von mir lassen? Wenn wir uns künftig jeden Tag sehen werden, wird bald die Luft raus sein aus unserer Beziehung.«

Anne betrachtete Bob Miller belustigt. »Bob, du wirst mich nie langweilen.«

Nigel räusperte sich. Anne überlegte kurz: »Was soll’s!«, dachte sie, »Ich kann ihm nicht verbieten, bei dem Gespräch dabei zu sein.«

Grundsätzlich galt, dass Behörden nichts für sich behalten durften, es sei denn, das Preisgeben von Informationen würde die Rechte eines anderen verletzen. Marie war bereits tot, und der Fall Lorden war kein Geheimnis. Offiziell ermittelte Anne noch nicht einmal. Also stellte sie Bob Miller vor. Nigel rutschte ein »Gratuliere zum Trainingserfolg« heraus, was Anne zu einem Kichern verleitete, während Bob ein fragendes Gesicht machte.

Anne klopfte ihm auf die Schulter und teilte ihm kurz den Grund ihres Besuches mit: »Warum hast du mir nichts von dem zweiten Todesfall gesagt, als wir gestern hier waren?«

»Ganz einfach, liebe Anne, ich wusste nichts davon. Das gestern mit der Leiche, das war furchtbar, eine Ausnahme. Deshalb wurde ich eingeschaltet. Informationen über einen Selbstmord oder Unfall, so schrecklich das auch immer ist, werden nicht an mich weitergegeben.«

Bob war in Sorge. Die Sache mit dem Schussopfer hatte ihn aus der Bahn geworfen, und er war froh gewesen, dass alles aufgeklärt war. Jetzt kam Anne hierher und sprach von einer zweiten Leiche. Er hatte kein gutes Gefühl. Bereitwillig suchte er für Anne die Akte von Marie heraus, die im Archiv der Spielwelt, das sich in der Zentrale befand, aufbewahrt wurde. Allerdings enthielt die Akte nur die üblichen Unterlagen und die Angabe, dass Marie aus der Spielwelt im Norden kam.

Bob stutzte, als er die Adresse sah: »Aber das ist ja in der Rosestreet.«

Anne nickte kurz, sie hatte schon eine Verbindung zu Dave Lorden vermutet. Bob gab ihr Maries Wohnungsschlüssel, der in der Zentrale verwahrt wurde, bis ein Angehöriger oder Freund den Nachlass regeln würde. Dann wurde der Sergeant gerufen, der Maries Fall aufgenommen hatte. Ein netter Kerl, der sichtlich über den Tod der jungen Frau erschüttert war. Er versicherte Anne, dass er die Wohnung lediglich versiegelt hatte. Er hatte nichts verändert und keine Durchsuchung vorgenommen. Weitere nützliche Informationen hatte er nicht.

 

»Das ist die Straße, in der dieser Dave Lorden gefunden wurde?« Nigel sah Anne von der Seite an.

»Ja, ganz recht, das ist die Straße.« Anne war kurz angebunden. Sie war ein wenig beleidigt, dass ihr dieser Nigel O’Brian nicht den wahren Grund verraten hatte, warum er hierhergekommen war. Das zwang sie, ihm zu misstrauen, was sie eigentlich nicht wollte. Die ersten romantischen Gefühle verabschiedeten sich also schon wieder und wurden von einem Gefühl der Wut ersetzt.

Endlich betraten sie die Wohnung von Marie. Es waren wunderschöne Räumlichkeiten. Die Bewohner der Spielwelt hatten immer schon die ausgefallensten Ideen, was die Nutzung der vorhandenen Architektur und die Schaffung neuer Bauwerke anging. Die Gesellschafter und Gesellschafterinnen lebten im Vergleich zu den Bewohnern der Gemeinschaften etwas glamouröser. Die Ausstattungen der Wohnungen waren die gleichen, genauso wie die farbenfrohen Elemente, derer man sich oft bediente. Aber in der Spielwelt kam noch mehr Glitzer, ein bisschen mehr Kitsch und mehr Eigenartigkeit bei der Inneneinrichtung zum Einsatz.

Das hing natürlich auch mit den Diensten zusammen, die die Damen oder Herren anboten. Maries Wohnung war beherrscht von der Farbe rosa. Alles sah sehr gemütlich aus, und Anne fiel noch etwas auf: In dieser Wohnung war schon jemand auf Spurensuche gewesen, und er hatte es eilig gehabt. Auf den ersten Blick konnte man das nicht gleich erkennen, denn der Eindringling hatte versucht, seine Spuren zu verwischen. Aber auf den zweiten Blick sah man, dass gekramt wurde. Die leichte Unordnung, die hier noch herrschte, stammte nicht von der Eigentümerin dieser Wohnung.

»Was denken Sie, Mister O’Brian, was könnte in Maries Besitz sein, das jemand anderes haben wollte?« Anne setzte sich auf einen der rosa Plüschsessel und ließ den Raum auf sich wirken. »Wie witzig!« Marie hatte an einem alten Schrank eine Porträtecke angebracht.

Eine Sitte der Neuen Welt. Da man versuchte alles wiederzuverwenden, hatte sich mit der Zeit eine Mode entwickelt, die vor allem bei den Neugeborenen sehr verbreitet war. Sie hatten angefangen aus alten Zeitungen und Zeitschriften, aber auch aus fremden Fotoalben, die alle aus der Traurigen Zeit stammten, Personen auszuschneiden um damit Wände oder Möbel zu bekleben. Meistens waren die Bilder schon ausgeblichen, was zusätzlich einen schönen Effekt brachte. Auf den Märkten gab es sogar Stände, an denen man kleine Bündel bereits schön ausgeschnittener Bilder erwerben konnte. Die Neugeborenen liebten dieses Dekorationsmittel, während die Überlebenden meist nicht das Bedürfnis hatten eine solche Bilderwand in ihrer Wohnung einzurichten. Anne machte sich aber immer einen Spaß daraus, an diesen Porträtecken bekannte Gesichter herauszusuchen. Sie war manchmal überrascht, wer da so nebeneinander hing.

Die meisten Personen auf den Bildern waren für die Neugeborenen kein Begriff. Anne dachte oft, dass alleine die Tatsache, dass die Porträtecken vor allem aus Bildern von Sportlern und Schauspielern bestanden, die vor den Aschentagen die beliebtesten Motive der Zeitschriften gewesen waren, und selten große Wissenschaftler oder Friedenskämpfer zeigten, die in der Traurigen Zeit fast nie abgelichtet worden waren, vieles über die Traurige Zeit selbst aussagte. Wie deutlich las man da heraus, dass echte Leistung und große Taten damals nicht gefragt gewesen waren. Wenn Anne nur daran dachte, wie viel in der Traurigen Zeit ein Sportler für seine Teilnahme an einem Spiel oder Wettkampf kassiert hatte und wie lächerlich klein dagegen die Dotierung des Nobelpreises für Medizin gewesen war ...

Und dann die Presse selbst, welchen Einfluss hatte sie gehabt! Die objektive Berichterstattung hatte es fast gar nicht mehr gegeben. Den ernsten Journalisten war das Leben schwer gemacht worden. Sie dachte wieder an Joseph. Ständig hatte sich in den Klatschblättern alles um sogenannte Stars und Sternchen gedreht. Riesige Summen waren für Details über das Sexleben eines Schauspielers bezahlt worden oder für ein Foto vom nackten Busen einer Politikerfrau. Manche dieser Prominenten hatten schon längst kein Privatleben mehr gehabt und sich deshalb hinter dicken Mauern verstecken müssen. Allerdings hatten die sogenannten Paparazzi dem Volk nur das gegeben, was es gewollt hatte. Diese Blätter hatten einen reißenden Absatz gefunden. Jeder hatte dabei verdient.

Die Neugeborenen waren in Diskussionen über solche Themen immer ganz fassungslos. Wie konnte eine ganze Welt da mitmachen? Aber so war es gewesen. Das Perverse an der Perversität ist eben, dass sie niemand als pervers empfindet.

 

Nigel setzte sich Anne gegenüber und lehnte sich zurück. Annes Blick blieb an einem Stapel Rätselhefte hängen.

Nigel war ihrem Blick gefolgt. »Marie liebte Rätsel aller Art. Kreuzworträtsel, aber auch Denksportaufgaben. Sie war so jung. Das ist nicht fair.«

»Nein, das ist es nicht«, entgegnete Anne und fragte sich, ob sie mit Freund oder Feind hier saß. »In Ordnung, Sie kannten Marie ein wenig. Fangen wir an, die Wohnung zu durchsuchen. Vielleicht fällt Ihnen danach auf, ob irgendetwas fehlt. Außerdem sollten wir uns den Balkon ansehen. «

Doch Nigel war keine große Hilfe, er konnte mit den vielen Dingen, die Marie angesammelt hatte, wenig anfangen. Außerdem erinnerte er sich an keinen Gegenstand, der ihr besonders wichtig gewesen war. Anne merkte ihm an, dass er überfordert war. Dann traten sie auf den Balkon. Er war klein und überfüllt mit Blumentöpfen und -ampeln. Marie musste wirklich einen grünen Daumen gehabt haben. Er hatte ein gemauertes Geländer, das Anne mit ihren 1,70m bis fast unter den Busen ging. Das Geländer war breit, sodass man bequem Blumenkästen daraufstellen konnte. Marie hatte fast keinen Platz ungenutzt gelassen.

»Marie war ganz verrückt nach Blumen«, Nigel betrachtete die bunte Pracht, »die wären bei uns im Norden gar nicht gewachsen.«

Anne hörte nur mit einem Ohr zu und sah sich weiter den Balkon an. Dann hob sie die Blumenkästen an und setzte sie wieder ab. Sie beugte sich über das Geländer und lief wieder in das Wohnzimmer. Auf einem Tischchen stand ein leerer Krug. Anne schnüffelte hinein und konnte den Rest eines hochprozentigen Getränks ausmachen. Dann suchte sie den Boden ab, bis sie gefunden hatte, was sie suchte und ließ sich wieder auf den Plüschsessel fallen. Sie rieb sich die Augen und dachte: Was für ein beschissener Tag!

 

Es war nicht leicht gewesen, Nigel abzuschütteln. Aber Anne wollte unbedingt alleine mit Doktor Masters sprechen. Sie hatte Mister O’Brian also versichert, dass sie erst am nächsten Tag weiter an dem Fall arbeiten würde und hatte mit ihm ein Treffen auf der Wache Süd verabredet. Nigel blieb in der Spielwelt zurück. Mittlerweile war es weit nach Mitternacht. Sie hoffte, dass Doktor Masters noch im Labor war.

Der Fall Marie hatte eigentlich nur bestätigt, was sie befürchtet hatte. Die Welt hatte sich verändert. Darüber täuschte auch die Einäscherung von Karl Hobnitz nicht hinweg. Anne hatte von Anfang an Zweifel an der Theorie von der verzögerten Einäscherung aufgrund eines gestörten Geisteszustandes gehabt. Und selbst wenn eine Geisteskrankheit eine Verzögerung möglich machen würde, so konnten sie doch nicht einfach davon ausgehen, dass Karl Hobnitz geisteskrank gewesen war. Dann war dieser Nigel aufgetaucht und hatte ein weiteres Mordopfer präsentiert. Nach dem, was sie in der Wohnung gesehen hatte, stand es außer Frage, dass Marie ermordet worden war. Allerdings war sich Anne über das weitere Vorgehen ganz und gar nicht sicher. Sie ermahnte sich selbst dazu, Ruhe zu bewahren. Sie war übermüdet und konnte nicht klar denken. Das Gefühl der Unsicherheit überkam sie, hoffentlich half das Gespräch mit Doktor Masters weiter.

 

Als Anne im Labor ankam, traf sie auf ihren Sergeant. »Warum sind Sie denn noch hier?« Anne war überrascht, denn sie hatte ihren Sergeant total vergessen. Als er eine Antwort geben wollte, schnitt sie ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und sagte: »Schon gut, ich weiß, Sie wollen dabei sein.«

Zusammen machten sie sich auf den Weg zu Doktor Masters, der mit einem seligen Gesichtsausdruck vor einem dampfenden Stück Apfelstrudel saß. Als er Anne sah, war es mit der Seligkeit jedoch schnell vorbei. Er hievte sich von seinem Stuhl hoch, warf einen sehnsüchtigen Blick auf seinen Teller und trat auf Anne und Sergeant Milton zu.

Er sagte: »Wir gehen am besten in mein Labor!«

Anne nickte, und die drei liefen stumm durch die leeren Gänge. Doktor Masters dachte noch: So fühlt es sich also an, wenn man im Auge des Orkans ist, noch ist alles unnatürlich ruhig, aber dann ... Und wahrhaftig, als Doktor Masters die Tür seines Labors hinter sich schloss, brach der Sturm los.

Anne war aufgebracht, als sie jetzt Doktor Masters gegenübertrat: »Sag mir auf der Stelle, was du bei der Besprechung mit Rabea verheimlicht hast, und erzähle mir nicht, dass ich mir das einbilde. Hier stimmt etwas nicht. Das Mädchen auf deinem Tisch wurde ebenfalls ermordet. Ich denke, du weißt etwas, was mit diesem Unsinn über die verzögerte Einäscherung zu tun hat, also raus damit oder ich schwöre, ich verprügle dich hier und jetzt.«

Doktor Masters war amüsiert über die Vorstellung eines tätlichen Angriffs auf seinen mächtigen Leib durch Anne Reeve, vergaß aber nicht den Ernst der Situation und blickte in Richtung Sergeant Milton.

Anne winkte ab. »Schon gut, ich vertraue dem Sergeant zu hundert Prozent, ich bin sogar langsam geneigt zu sagen, dass er noch der Einzige ist, dem ich vertraue.«

Sergeant Milton wurde leicht rot. Das war für ihn ein großes Kompliment von seinem Chief-Sergeant, aber er horchte auch auf. In der Neuen Welt, gab es keine Vertrauensbrüche. Und jetzt sprach Anne Reeve davon, dass sie niemandem mehr vertrauen könnte.

Doktor Masters trommelte mit den Fingern auf seinen Wamst. Er seufzte und verließ sich wieder auf sein Bauchgefühl. Also erzählte er ihnen von seiner Begegnung mit Doktor Calliditas.

Sergeant Milton hatte den Mund noch offen, als Doktor Masters seinen Bericht beendete.

Anne sprang auf: »Du hast mit Calliditas gesprochen? Ich wusste nicht, dass er wieder hier ist. Er sollte eigentlich noch mit irgendeiner Expedition unterwegs sein. Warum hast du das denn nicht bei der Besprechung erzählt?«

Doktor Masters sah Anne an: »Weil er mich gewarnt hat, ich solle mir überlegen, wem ich vertraue. Und er hat ausdrücklich an dich Grüße ausrichten lassen. Als wir bei Frank im Büro saßen, hatte ich einfach das Gefühl, ich müsste erst mit dir darüber sprechen. Ich hatte nur bisher keine Gelegenheit dazu. Außerdem heißt das nicht, dass Doktor Calliditas und ich recht haben.«

Anne verzog das Gesicht: »Ich bitte dich, was redest du denn da, natürlich habt ihr recht. Alle anderen Theorien sind unlogisch. Nach dem Motto: weil nicht sein kann, was nicht sein darf, hat uns das Psychologenteam die Theorie von der verzögerten Einäscherung zusammengestrickt. Sicherlich in allerbester Absicht. Aber ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass Karl Hobnitz nicht der Mörder der Lorden-Brüder ist. Außerdem befürchte ich, dass Marie ebenfalls ermordet wurde. Wir haben also drei Mordopfer und mindesten einen Mörder, der gegen die Einäscherung immun ist. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, besteht das Team, das Licht ins Dunkel bringen soll, aus einem Dreiergespann, das so viel Ahnung von einer Mordermittlung hat wie ein Bär vom Porträteckenbasteln.«

Anne schnaufte wütend und fuhr sich durchs Haar, das danach so aussah, als könnte es keine Bürste der Welt je wieder in Ordnung bringen.

 

Als Sergeant Milton nach Hause kam, war Katie noch auf. Sie wollte ihm von dem Baby erzählen. Als sie sein Gesicht sah, zögerte sie: »Was ist los?«

Sie drängte ihn nicht. Sergeant Milton ließ sich auf einen Stuhl fallen und verschränkte die Hände.

»Liebe Katie, ich möchte, dass du weißt, dass du das Wichtigste für mich auf der Welt bist. Ich möchte, dass du ein paar Tage verreist. Du hast doch eine Freundin im Osten, Mimi oder Lili, du fährst mit der nächsten Kutsche.«

»Nein!«

Katies »Nein« unterbrach Sergeant Milton. Er sah sie an. »Wenn du willst, dass ich irgendwohin fahre, dann will ich wissen, warum. Entweder Sergeant, rückst du mit der Sprache raus, oder dieses Gespräch ist hier und jetzt beendet.«

Sergeant Milton überlegte. Bisher hatte er Katie immer von seiner Arbeit erzählt. Das, was er heute zu erzählen hatte, war allerdings etwas anderes. Es war grausam, weil es um Dinge ging, die sie bisher nur aus Geschichtsbüchern kannten. Ein Mörder, der ungestraft herumlief. Welch ein Alptraum. Was sollte er tun? Katie blickte ihn mit ihren schönen großen Augen an. Er hatte plötzlich dieses wunderbare Gefühl des Daheimseins. Er fühlte sich geborgen und sicher, und er hatte das Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden.

Wie ein Sturzbach ergossen sich die Worte. Er erzählte alles, angefangen mit der Durchsuchung des Lorden-Hauses und dem Zusammentreffen mit Karl Hobnitz. Dann der Schuss auf ihn und Anne, die Einäscherung von Hobnitz, das Treffen mit Rabea und dann das Auftauchen von Nigel O’Brian. Die Einschätzung von Doktor Calliditas und Doktor Masters, dass eine verzögerte Einäscherung nicht möglich sei. Zum Schluss erzählte er Katie von Marie.

»Marie hatte also eine Verbindung zu Dave Lorden?« Katie sah ihren Mann neugierig an.

»Ja, Anne Reeve hatte den Zusammenhang hergestellt. Es war in der Leichenhalle in der Spielwelt. Es waren die Haare von Marie. Sie war rothaarig, und der Chief-Sergeant meinte, sie wäre fast ein Ebenbild von Dave Lordens verstorbener Frau Laura. Sie war ebenfalls rothaarig. Die Frau, um die er so getrauert hatte und deren Todestag er sich auf den Unterarm hatte tätowieren lassen. Es konnte kein Zufall sein, dass diese Frau ihre Wohnung in der Straße hatte, in der Dave Lordens Leiche gefunden wurde. Sie starb quasi um die gleiche Zeit. Nur wurde ihre Leiche vor der von Dave Lorden gefunden. Ihren Tod hielt man für einen Unfall oder Selbstmord. Wie hätte man auch etwas anderes vermuten können?«

Katie unterbrach ihn: »Das heißt also, dass dieser Dave Lorden ein Kunde von Marie war?«

»Ja, davon gehen wir zumindest aus. Das würde auch erklären, warum er in der Spielwelt war. Allerdings haben wir für den Kontakt zwischen den beiden bis jetzt keine eindeutigen Beweise gefunden, die Wahrscheinlichkeit einer Verbindung ist aber sehr groß.«

»Aber«, überlegte Katie, »wieso glaubt ihr, dass sie ebenfalls ermordet wurde?«

Sergeant Milton rieb sich die Augen. »Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens fand Anne Reeve in der Wohnung von Marie Blutspuren auf dem Teppich. Es könnte also sein, dass man sie niedergeschlagen hat, um sie bewusstlos zu machen. Feststellen konnte das Doktor Masters allerdings nicht mehr. Dafür waren die Verletzungen nach dem Sturz zu zahlreich. Zweitens wurde die Wohnung von Marie durchsucht und drittens: der Balkon.«

»Der Balkon?« Katie war neugierig: »Was ist mit dem Balkon?«

»Der Balkon hat ein gemauertes Geländer, das relativ hoch ist, das heißt: Um versehentlich herunterzufallen, müsste man schon auf der Brüstung tanzen – das waren Anne Reeves Worte – außerdem bräuchte man einen Stuhl, um hinaufzukommen. Es stand aber kein Stuhl oder etwas Ähnliches auf dem Balkon. Zusätzlich standen auf der Brüstung lauter Blumentöpfe. Marie hätte diese vor einem Sprung erst einmal wegräumen müssen, die Blumentöpfe standen aber alle noch da. Das würde bedeuten, dass Marie, ohne Stuhl, quasi aus dem Stand, circa 1,50m hätte überwinden müssen. Die Brüstung ist geschätzt 1,15m hoch, plus die Blumentöpfe mit Pflanzen, das sind nochmal ungefähr 40 Zentimeter. Wahrscheinlicher ist es da, dass sie jemand niedergeschlagen hat und dann die Brüstung frei geräumt hat, um sie vom Balkon zu werfen. Allerdings hat dieser Jemand einen Fehler gemacht, indem er die Pflanzentöpfe wieder auf die Brüstung gestellt hat.

Anne Reeve vermutet, dass das ein Reflex war. Hätte der Täter einen Stuhl auf dem Balkon platziert und die Blumentöpfe nicht wieder auf die Brüstung gestellt, hätte alles für Selbstmord gesprochen. Anne Reeve ist auch aufgefallen, dass die Blumenkästen nicht wie sonst standen. Sie sah das an den Rändern, die sie auf der Brüstung hinterlassen hatten.«

»Aber ...«

Sergeant Milton unterbrach seine Frau: »Kein Aber, die Sergeants, die die Wohnung nach dem Fund der Leiche betreten haben, schwören, nichts angerührt zu haben. Der Balkon war unverändert.

»Wow«, Katie war beeindruckt, »auf die Idee wäre ich nie gekommen.«

»Das Gleiche habe ich auch zum Chief-Sergeant gesagt, und ihre Antwort war, dass sie darüber froh wäre. Denn das würde zeigen, dass ich ein guter Mensch ohne böse Absichten bin.«

Katie und ihr Mann sahen sich eine Weile an. »Du denkst ich sollte die Gemeinschaft verlassen, weil ein Mörder unter uns ist?«

»Ja, mein Engel, ich habe Angst.«

»Das ist leider ein schlechter Zeitpunkt für mich zu reisen – in meinem Zustand.«

Ihr Mann sah sie einen Moment verständnislos an, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und Katie musste lachen, als auch ihr vor Glück Tränen über die Wangen liefen.