11. Begegnungen

 

Als die vier das Büro des Sheriffs erreichten, glaubten sie zuerst, es sei keiner da. Die Tür war geschlossen, und auf ihr Klopfen antwortete Frank Wall nicht. Mildred dachte sich nichts weiter dabei und öffnete die Bürotür. Im ersten Moment waren sie alle starr vor Schreck. Das Bild, das sich ihnen bot, war grauenvoll. Frank Wall lag neben seinem Schreibtisch, er röchelte stark und schnappte unnatürlich nach Luft, so, als wäre es ihm nicht möglich, den Sauerstoff aus der Luft im Raum aufzunehmen. Neben ihm lagen Spuren von Erbrochenem, er schien starke Krämpfe zu haben. Mit weit aufgerissenen Augen sah er sie an. Es dauerte einige Sekunden, bis sich der Doktor aus seiner Erstarrung löste. Der sonst so behäbige Mann war nicht mehr wiederzuerkennen. Präzise gab er seine Anweisungen. Mildred verständigte den Krankentransport und stellte für Doktor Masters eine Verbindung zum Krankenhaus her. Den Sergeant und Nigel wies er an, ihm behilflich zu sein. Sie richteten Frank auf.

Der Doktor machte seine Untersuchungen und versuchte, Frank Wall das Atmen zu erleichtern: »Wir müssen dafür sorgen, dass sein Kreislauf nicht zusammenbricht.«

Doktor Masters arbeitete präzise wie ein Uhrwerk, er wusste genau, was er tat. Sergeant Milton dachte die ganze Zeit nur, was für ein großartiger Mann der Doktor war. Er selbst hatte natürlich eine Erste-Hilfe-Ausbildung und frischte seine Kenntnisse, wie alle Bewohner der Neuen Welt, regelmäßig auf. Aber in diesem Moment hätte er nicht gewusst, was er hätte tun sollen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Krankentransport kam. Sie legten Frank Wall auf die Bahre und der Doktor setzte eine Infusion, die er selbst hielt. Er wich nicht von der Seite seines Patienten. Er rannte neben der Bahre her und hielt immer noch die Infusion. Er gab sie nicht aus der Hand, als würde das eine Art Aufgeben bedeuten im Kampf um das Leben des Sheriffs.

Die Sanitäter hoben die Bahre behutsam in den Krankenwagen. Der Doktor saß bei Frank, bis das Fahrzeug das Krankenhaus erreichte. Zum Glück konnten die Menschen in der Neuen Welt in solchen Notfällen auf die alten Fahrzeuge aus der Traurigen Zeit zurückgreifen. Im Krankenhaus waren bereits Vorkehrungen getroffen worden. Der Doktor hatte die Anweisungen noch im Büro Mildred zugerufen, die sie dann direkt an den Gesprächspartner am anderen Ende der Telefonleitung weitergegeben hatte. Auch das war parallel neben der Erstversorgung seines Patienten geschehen. Im Krankenhaus blieb der Doktor bei Frank.

Als die anderen im Krankenhaus ankamen, gab es noch keine Neuigkeiten. Sie hörten nur von einem Arzt, dass Doktor Masters eine Magenspülung vornehmen würde.

Nigel reichte einem der Ärzte das Tütchen mit der Probe, die er auf Doktor Masters Geheiß von Frank Walls Erbrochenem genommen hatte. Nigel war tief betroffen. Obwohl er Frank Wall bisher nicht als Freund betrachtet hatte, fühlte er sich jetzt so, als würde er um einen bangen. Er hatte Frank Walls Hand gehalten, als er da am Boden gelegen hatte. Er hatte ihm zeigen wollen, dass er nicht alleine war und immer wieder auf ihn eingeredet: »Durchhalten Sheriff, Sie müssen durchhalten.«

Auf einmal kam Bewegung in das Krankenhauspersonal. Alle rannten in die gleiche Richtung. Der Sergeant, Nigel und Mildred hinterher. Die Flügeltüren hatten sich geöffnet. Sie sahen den Doktor, er brüllte etwas in Richtung seiner Kollegen und Mitarbeiter. Dann beugte er sich über den Körper von Frank Wall. Jeder wusste, was hier geschah. Der Doktor schlug mit beiden Fäusten auf die Brust des Sheriffs ein. Er beatmete ihn und blies Luft in seine Lunge. Immer wieder holte er aus und schlug auf das Herz des Sheriffs.

Dann schrie er: »Frank, Frank, Sie werden uns das jetzt nicht antun, verdammt!« Und wieder folgte ein gewaltiger Schlag.

Dann endlich rief jemand: »Wir haben ihn, wir haben ihn!«, und der Doktor ließ erschöpft die Arme sinken.

Unter der Tür standen Mildred, Nigel und der Sergeant, und ihnen liefen Tränen der Erleichterung über das Gesicht.

Der Doktor drehte sich um und blaffte sie an: »Los, los, alle raus, die nicht zum medizinischen Personal gehören. Ich kann niemanden gebrauchen, der im Weg herumsteht.«

Es dauerte noch einmal volle zwanzig Minuten, bis Doktor Masters auf dem Gang des Krankenhauses erschien. Seine ganze Haltung hatte sich wieder verändert. Jetzt war er wieder der gutmütige, etwas phlegmatisch scheinende Doktor Masters, den alle kannten. Die drei rannten auf ihn zu.

Der Doktor nickte erschöpft: »Es sieht nicht gut aus, aber er lebt. Ich weiß nicht, ob er es schafft.«

Mildred umarmte den Doktor, und die zwei Männer zollten ihm ebenfalls ihre Anerkennung.

Nigel sprach aus tiefstem Herzen: »Doktor, Sie sind wirklich ein fantastischer Arzt.« Der Doktor errötete leicht, und Nigel musste schwer schlucken, als er sich die Szene von gerade eben wieder vor Augen rief: »Ohne Sie hätte er es nicht geschafft!«

Eine kurze Weile sagte keiner ein Wort.

Dann sprach der Doktor. »Er ist noch nicht über den Berg, und ehrlich gesagt, es sieht nicht gut aus. Ich habe keine Ahnung ...«

Er brach ab und sah zu Mildred. »Mildred, haben Sie das Büro abgeschlossen, wie ich es Ihnen gesagt habe?« Mildred nickte. »Gut, dann sollte irgendjemand anfangen, es zu durchsuchen. Sie müssen alle Lebensmittel und Getränke, die Sie finden, zu mir ins Labor bringen, vielleicht können wir feststellen, um was es sich handelt.«

Die drei sahen ihn erstaunt an.

Der Doktor rieb sich mit einem großen Stofftaschentuch über sein Gesicht: »Na, er hat eine schwere Vergiftung. Ich vermute das zumindest. Zu wissen, mit welchem Gift wir es zu tun haben, könnte helfen.« Dann sah er zu Nigel: »Haben Sie die Probe abgegeben?«

Nigel nickte.

»Jemand hat Frank Wall vergiftet?« Mildred flüsterte die Worte nur.

Eigentlich hätte auch ihr klar sein müssen, dass alles andere keinen Sinn machen würde. Überlebende wurden nicht einfach krank. Also musste etwas von außen auf den Körper von Frank Wall eingewirkt haben. Natürlich hätte es ein Selbstmordversuch sein können, aber das war absurd in Anbetracht der jüngsten Ereignisse.

»Ein neuer Mordversuch ...« Dieses Mal war es Nigel, der flüsterte.

Der Sergeant wollte darauf antworten, stoppte aber mitten im Satz, als er sah, dass sie Gesellschaft bekamen.

»Was ist passiert?« Natürlich hatte sich die Nachricht von der Einlieferung des Sheriffs wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Rabea wartete auf eine Antwort.

Wie immer wirkte sie vollkommen. Auch in einer so schweren Stunde schien sie ruhig. Aber dem Sergeant entging nicht, dass es da auch eine starke Anspannung gab. Ihre schlanken Finger hatte sie ineinander verschlungen, und sie presste sie so fest zusammen, dass sie wie ein Knoten wirkten.

Er bewunderte sie dafür, dass sie ihre Haltung bewahrte. Er dachte an sich selbst, Nigel und Mildred, wie sie alle drei wie verängstigte Kinder und unter Tränen um Frank Walls Leben gezittert hatten. Der Sergeant konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Was würde passieren, wenn es Frank Wall nicht schaffen würde?

Während sich der Sergeant diese Gedanken machte, setzte der Doktor Rabea ins Bild. Jetzt schien sie doch die Fassung zu verlieren, denn sie wich von der Gruppe zurück und setzte sich auf einen der Besucherstühle. Was wohl in ihr vorgehen mochte?

Rabea hätte ihre Gefühle in diesem Moment nicht beschreiben können. Sie dachte nur daran, dass Frank Wall eigentlich hätte tot sein müssen. Nur die schnelle Hilfe von Doktor Masters hatte das verhindert. Was wäre, wenn Frank doch noch sterben würde? Sie dachte an die letzte Nacht. Frank hatte sich gegen zwei Uhr morgens zärtlich von ihr verabschiedet. Er war gegangen, ohne zu ahnen, dass es ein Abschied für immer hätte sein sollen. Sie verwünschte diesen Gedanken.

Sie wollte zu ihm, doch der Doktor hielt sie zurück. »Keine Besuche, das ist noch zu früh!«

Dann öffnete sich wieder eine Tür. Das besorgte Gesicht einer Schwester kam zum Vorschein. Der Doktor verstand auch ohne Worte: dem Patienten ging es wieder schlechter. Er ließ die anderen stehen und verschwand im Krankenzimmer des Sheriffs. Sie konnten hier im Moment nichts tun. Der Sergeant versuchte wieder, den Boden unter den Füssen zurückzugewinnen. Besinn dich auf deine Aufgabe!, sagte er sich.

Dann straffte er seinen Körper, räusperte sich und sah zu Nigel und Mildred: »Wir sollten gehen, wir sind hier nur im Weg.«

Rabea blickte sie interessiert an: »Was wollen Sie jetzt tun?«

Es war Mildred, die ungewohnt unfreundlich antwortete. »Wir werden im Sinne des Sheriffs nach bestem Wissen und Gewissen unserer Arbeit nachgehen.« Damit drehte sich Mildred um und lief Richtung Ausgang.

Rabea sah verdattert aus, und der Sergeant beeilte sich zu sagen: »Das ist der Schreck, wir sind alle sehr verstört.«

Dann kam ihm eine Idee: »Aber vielleicht könnten Sie uns helfen?«

Jetzt räusperte sich Nigel, er befürchtete schon, der Sergeant würde noch jemanden einweihen, als dieser fortfuhr und sagte: »Jemand muss es Anne sagen, und wir können nicht zu ihr in die Zelle wegen des Besuchsverbotes!«

Rabea nickte: »Ich verstehe, ich werde zu ihr gehen. Mich werden sie vermutlich passieren lassen.«

Der Sergeant war ihr dankbar dafür, dann machten sich Nigel und er zurück auf den Weg zu Frank Walls Büro.

 

Anne war zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage unendlich verzweifelt. Frank Wall lag im Sterben. Keiner wusste, ob er die heutige Nacht überstehen würde. Rabea hatte sie vor wenigen Minuten verlassen. Sie hatte ihr gefasst die Einzelheiten geschildert, soweit sie ihr bekannt gewesen waren. Dann hatte sie kurz Annes Hand gehalten. Viele Worte waren zwischen den beiden Frauen nicht notwendig gewesen. Nicht in diesem Moment. Die tiefe Verbundenheit, die beide in diesem Augenblick des Schmerzes füreinander empfunden hatten, war genug gewesen.

Allerdings drohte Annes Welt zu zerbrechen. Sie schluchzte hemmungslos, jetzt, wo Rabea fort war. Das Gefühl, alleine zu sein, hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie sah keinen Ausweg und erinnerte sich an den schrecklichen Moment in der Felsenbucht, als sie über Sergeant Miltons Körper gebeugt gewesen war.

Sie dachte an das Wesen, sie dachte daran, das alles wieder gut gewesen war, als sie damals im Krankenhaus aufgewacht war. Sie wünschte sich weit weg von alldem. Sie spürte, dass sie die Kraft verließ, weiter zu kämpfen. Und nicht nur ihre Kraft schwand, auch ihr Wille. Sie würde diesen Verlust nicht ertragen können. In Gedanken malte sie sich das Schrecklichste aus, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

Das war das zweite Mal, dass sie das Wesen sah. Wieder war sie eingehüllt von dem intensiven Duft der Vanille. Wieder hatte sie das Gefühl vollkommener Zufriedenheit erfasst. Sie wusste nicht, in welchem Zustand sie sich gerade befand. War es ein Traum, oder war es Wirklichkeit? Sie spürte wieder ein bisschen Hoffnung. Was, wenn ihr das Wesen helfen könnte? Was, wenn das Wesen Frank retten könnte? Was, wenn alles real war?

Das friedliche Gefühl, das sie empfand, verstärkte sich. Aber sie durfte sich diesem Gefühl nicht hingeben, sie hatte Fragen, und sie brauchte die Antworten darauf. Das Wesen sah sie an. Es hielt den Kopf leicht schräg, und erst jetzt wurde Anne bewusst, wie verletzlich es war. Es waren die Augen, die diesen Eindruck erweckten. Die Unschuld, die darin lag, berührte Annes Herz auf eine Weise, die ihr völlig fremd war.

»Wer bist du?« Obwohl Anne den Mund nicht öffnete, konnte sie ihre eigene Stimme hören. Sie sprach in der fremden Sprache des Wesens.

Das Wesen sah sie sanft an, und Anne konnte es antworten hören: »Ich bin ein Teil von dir, wusstest du das nicht, Anne?«

Anne sah wie gebannt auf das Wesen und schüttelte den Kopf. Gleichzeitig empfand sie eine tiefe Zuneigung für ihr Gegenüber.

»Eigentlich dürfte ich nicht mit dir sprechen. Nicht so. Das ist nicht unsere übliche Weise der Kommunikation. Du bist etwas ganz Besonderes, Anne, nur deshalb bin ich jetzt hier.«

Anne fragte erneut: »Aber wer bist du? Kannst du meinen Freund retten? Und was heißt, du bist ein Teil von mir?«

Das Wesen glitt sanft näher: »Wir brauchen Hilfe. Wenn ihr uns keinen Platz mehr lasst, werden wir für immer verschwinden. Nur deshalb bin ich jetzt hier, damit du uns rettest. Er wurde für dich gerettet, nun rette uns. Vergiss das bitte nicht.«

Anne kannte diesen Satz nur zu gut. Vor ihren Augen erschien erneut die Erinnerung. Sie sah den toten Sergeant Milton, sie sah das Wesen, dass sich über seinen leblosen Körper gebeugt hatte. »Du hast ihn zurückgebracht, du hast ihn unsterblich werden lassen und damit zu einem Überlebenden gemacht. Und du brauchst meine Hilfe? Und was heißt wir? Wie viele gibt es denn von euch?«

Das Wesen veränderte wieder ein wenig seine Haltung, so, als würde es unbequem auf einem Stuhl sitzen. Es sah Annes fragenden Blick und erwiderte: »Das ist nicht meine natürliche Umgebung, ich bin nicht gerne außerhalb deines Körpers.«

»Was?« Anne war entsetzt. »Was heißt außerhalb meines Körpers?«

Das Wesen sprach einfach weiter, ohne ihre Frage zu beachten: »Wir werden mit euch geboren, und wir sterben mit euch. Wir führen ein gemeinsames Leben, aber nur wenn ihr das zulasst. Vor den Aschentagen waren dazu leider immer weniger von euch bereit. Wir können nicht überleben, wenn ihr uns keinen Platz in euch gewährt. So starben viele von uns vor der vorgesehenen Zeit. Nicht nur das Ende eures Herzschlages beendet unser Dasein, nein, auch die Verbannung aus eurem Geist. Vor den Aschentagen war es besonders schlimm, und wir fingen an zu verschwinden. Nur wenige von euch boten uns noch einen Platz bei sich an.«

Anne hob erstaunt die Augenbrauen: »Ich kann mich jetzt ehrlich gesagt nicht daran erinnern, dass ich jemandem einen Platz ...«, sie zögerte kurz, »... in meinem Körper angeboten hätte!?«

Anne fuhr sich unbewusst über den Bauch. Der Gedanke, dass jemand in ihr wohnen sollte, kam ihr doch zu fantastisch vor. Bei der Vorstellung, alle ihre Geheimnisse mit jemandem oder etwas zu teilen, fühlte sie sich nicht wohl. Andererseits wäre damit vielleicht das Rätsel der überschüssigen fünf Kilo Körpergewicht gelöst. Anne krauste unbewusst die Stirn, als sie darüber nachdachte.

»Oh Anne!« Das Wesen sah jetzt aus, als würde es lächeln und erwiderte: »Ich war immer schon stolz auf deine Fähigkeit, das Positive in allem zu sehen.« Das Wesen fuhr fort: »Die Aschentage haben so viele von euch vernichtet. Die, die eingeäschert wurden, waren meist schon leere Hüllen, die uns bereits verbannt hatten. Aber nicht alle. Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn uns nur noch eine kleine Ecke eures Geistes zum Leben bleibt, das ist, wie langsam zu ersticken. Viele von uns saßen zusammengekauert in einem dunklen Winkel und hofften bis zum Schluss auf Einsicht ihrer menschlichen Behausung. Meist vergebens. Die Folgen der Einäscherung sind für uns genauso grausam wie für euch. Aber wir können euch nicht verlassen, weil wir außerhalb nicht überleben können. Wir haben keine Wahl. Entweder ihr gebt uns Platz oder wir sterben. Vor und während den Aschentagen starben dann auch noch so viele unschuldige Opfer vor ihrer Zeit und damit jedes Mal auch einer von uns. Du siehst, wie groß unsere Not wurde, deshalb haben wir das erste Mal in den Kreislauf von Leben und Tod eingegriffen.«

»Wie? Dann greift noch einmal ein und rettet Frank.«

Annes Herz raste, sie konnte es kaum erwarten, mehr zu erfahren.

»Wir haben bei denen, die noch von euch übrig waren, die Zeit angehalten.«

»Was? Wie ist das möglich? Ihr habt uns, die Überlebenden, geschaffen? Aber wieso? Wieso zum Beispiel habt ihr mich ausgesucht? Wieso nicht die Kinder? Wieso habt ihr die Einäscherungen nicht gestoppt, wenn ihr so mächtig seid?«

Wieder sah das Wesen aus, als würde es lächeln: »So viele Fragen Anne, genau wie damals als Kind! Du hast dich nicht verändert, das ist wahrhaftig eine Freude. Es ist ein Glück für mich, bei dir zu sein. Aber du hast noch nicht begriffen, wer wir sind, wer ich bin. Ich werde es dir erklären. Diejenigen von uns, die während den Aschentagen noch existierten, sahen, wie immer mehr von euch starben. Sei es durch Einäscherungen oder durch die Kämpfe. Wir wussten nur, was ihr wusstet – also nichts. Zu dieser Zeit war auch uns nicht bekannt, dass nur die Schuldigen starben. Da viele von uns schon in der Zeit davor durch eure ablehnende Haltung uns gegenüber verschwunden waren, hatten wir Angst, nicht zu überleben. Wären die Menschen alle gestorben, hätte auch von uns keiner überlebt, unsere Existenz wäre damit nicht mehr möglich gewesen. Also hielten die von uns, die ein glückliches Zuhause bei einem von euch hatten, so wie ich zum Beispiel, und vor allem, die sich noch frei in euch bewegen konnten, die Alterung ihres Menschen an. Manchmal ist der Wille zu überleben so stark, dass man das Unmögliche schaffen kann. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen, da manche Geheimnisse eben Geheimnisse bleiben müssen. Vielleicht solltest du noch erfahren, dass das bei Kindern nicht möglich ist. Erst ein Erwachsener bietet den richtigen Lebensraum für uns. Jedes Kind wird mit einem von uns geboren. Erst wenn das Kind erwachsen ist, entscheidet es, ob wir bleiben dürfen oder nicht. Und deine Frage nach unseren Fähigkeiten kann ich verstehen. Aber es war und ist uns nicht möglich, die Einäscherungen zu verhindern, wenn wir uns auch noch so große Mühe geben. Hat ein Mensch erst einmal seinen Weg gewählt, sind wir machtlos.«

»Aber wie konntest du Sergeant Milton retten, wenn du doch eigentlich zu mir gehörst? Und kannst du auch Frank Wall retten?« Anne konnte noch nicht fassen, was sie da erfuhr.

»Das geschah aus Angst.«

Jetzt war Anne wie vor den Kopf gestoßen. »Aus Angst? Erklär es mir!«

Das Wesen sah immer durchsichtiger aus. Anne befürchtete schon, es würde sich auflösen, als es antwortete, war seine Stimme sehr leise: »Das war eigentlich nicht ich, sondern der von uns, der zu Sergeant Milton gehört. Es war notwendig, erneut einzugreifen, wegen dir, Anne.«

Anne war völlig ratlos: »Wegen mir? Was habe ich denn getan?«

Das Wesen kam wieder ein Stück auf sie zu, als ob es befürchtete, zu weit von ihr entfernt zu sein: »Anne, du hattest aufgegeben, du wolltest nicht mehr leben. Ich habe deine Verzweiflung gespürt. Wir konnten das nicht zulassen. Verstehst du denn nicht? Du musst die Ordnung wieder herstellen! Wenn die Traurige Zeit zurückkommt, ist unser aller Existenz bedroht. Wir wollen überleben, du musst uns retten, nur du kannst das. Deshalb haben wir einen Weg gefunden, deinen Freund zu retten. Wir werden das nie wieder tun können, es ist uns nur dieses eine Mal gelungen. Ihn ins Leben zurückzuholen war furchtbar schwierig, das Stoppen seines Alterungsprozesses war lediglich eine ungewollte Folge seiner Wiederbelebung. Für deinen Freund Frank Wall können wir leider nichts tun. Anne, unsere ganze Hoffnung ist, dass du uns rettest. Löse den Fall.«

Anne schämte sich jetzt fast ein bisschen dafür, dass sie aufgeben wollte, sie fühlte die Verzweiflung des Wesens. Wahrscheinlich hatte es genauso die ihre gespürt, als Sergeant Milton tot vor ihr am Strand gelegen hatte und auch als sie jetzt um Frank weinte.

»Ihr seid so mächtig, warum habt ihr uns nicht vor all dem gewarnt? Warum hast du mich nicht gewarnt? «

Anne verstand immer noch nicht, mit wem sie da gerade sprach.

»Aber Anne«, das Wesen sprach jetzt ganz sanft, »das tun wir doch pausenlos! Erinnerst du dich noch, was ich dir über unseren üblichen Kommunikationsweg am Anfang unseres Gesprächs gesagt habe? Ich warne dich ständig, weißt du das denn nicht, Anne? Das ist meine Aufgabe. Ich bin schließlich dein Gewissen.«

 

Anne erwachte. Das war faszinierend gewesen, war das denn möglich? Hatte sie gerade wirklich mit ihrem Gewissen gesprochen? Sie richtete sich auf und versuchte, ihren Traum oder Vision oder Einbildung – darüber war sie sich noch nicht im Klaren – zu sortieren. Was würde sie darum geben, jetzt mit Doktor Calliditas sprechen zu können ... Sie versuchte es mit Logik und sprach laut aus, was sie dachte, ganz so, als hätte sie einen unsichtbaren Zuhörer: »Jeder Mensch wird mit einem Gewissen geboren. Kinder kommen unschuldig zur Welt und bleiben es auch bis zu einem gewissen Alter. Das würde erklären, warum die Kinder die Aschentage überlebt haben. Das Gewissen entwickelt sich in der Kindheit bis zum Erwachsenenalter und bildet die Grundlage unseres Handelns.«

Soweit fand Anne das Ganze nachvollziehbar. Das war auch die Erklärung dafür, warum bei Kindern die Lebenszeit oder genauer der Alterungsprozess nicht angehalten werden konnte. Schließlich war das Gewissen vor einem gewissen Alter noch nicht komplett ausgebildet. Die Kinder waren zu den späteren Neugeborenen geworden, während bei den Erwachsenen, die mit ihrem Gewissen in Eintracht gelebt hatten, der Alterungsprozess gestoppt worden war. Sie waren die Überlebenden geworden. Eigentlich widersprach das nicht den Theorien der Forschungsmannschaft. Die Gewissenlosen starben, die anderen überlebten. Ob nun eine Kombination der entsprechenden Gene oder das Fehlen des Gewissens die Einäscherung verursachte, machte für Anne keinen Unterschied.

Allerdings hatte das Wesen ihr versichert, dass es nicht für die Einäscherung verantwortlich war. Dieses Rätsel blieb also nach wie vor ungeklärt. Ein bisschen gruselig fand Anne die Vorstellung von einem Mitbewohner schon. Sie dachte an außerirdische Lebensformen aus alten Science-Fiction-Filmen aus der Traurigen Zeit. Allerdings klang diese Symbiose sehr vielversprechend. Was hatte das Wesen noch gesagt?

Richtig, viele Menschen hatten ihr Gewissen vor den Aschentagen aus ihrem Körper verbannt. Auch das fand Anne logisch. Alle, die bei den Aschentagen durch die Einäscherungen gestorben waren, hatten es verdient gehabt, weil sie gewissenlos gehandelt hatten. Das waren die leeren Hüllen gewesen, von denen das Wesen gesprochen hatte. Aber nicht alle waren leer gewesen. Offensichtlich war es auch möglich, mit einem Gewissen im Körper eingeäschert zu werden. Aber so wie Anne es verstanden hatte, hatte das Gewissen dann keinen großen Platz mehr in seinem Menschen. Es war eingepfercht.

Natürlich würde das Gewissen versuchen, sich wieder mehr Lebensraum in jenem Körper zu verschaffen, aber das war sicher schwierig. Natürlich, was könnte es anderes tun? Freiwillig aus dem Körper zu verschwinden würde den Tod bedeuten. Es blieb also im Körper, so lange es konnte. Entweder wurde es dann irgendwann ganz verbannt oder erlebte in einem kleinen Winkel seiner menschlichen Behausung die Einäscherung mit. Was für eine grausame Vorstellung.

Vor den Aschentagen hatte man ohne Gewissen leben können. Heute folgte auf Gewissenlosigkeit normalerweise der Tod durch Einäscherung.

Anne bedrückte es, dass die Gewissenswesen den Menschen so ausgeliefert waren. Sie ihrerseits wollte nicht auf Gedeih und Verderb von einem anderen Menschen abhängig sein. Anne empfand plötzlich ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber diesem zarten Wesen in ihr. Sie seufzte. Aber wie konnte ein Gewissen den Alterungsprozess anhalten?

Das Wesen hatte gesagt, dass das ein Geheimnis wäre. Vielleicht musste man an die Sache ein wenig technischer herangehen. Anne war aufgeregt und führte den Gedanken weiter. Wenn das Wesen im Körper »lebte«, dann hatte es auch Zugang zu allem. Anne dachte jetzt an eine große Schaltzentrale. Vielleicht hatte es Zugriff auf die Gene oder die DNA, oder wie das Zeug hieß, von dem Doktor Masters immer quatschte?

Also hatte es einfach ein paar Strippen gezogen, und die Uhr war stehengeblieben. Wer wusste schon, ob es vielleicht eines Tages die Uhr wieder antippen würde und es wäre vorbei mit dem ewigen Leben? Anne fand, dass das eine gute Erklärung war. Schließlich hatte sie immer geglaubt, dass die Unsterblichkeit nur ein vorübergehendes Geschenk sei. Obwohl man so gesehen dann eigentlich nicht von einem Geschenk sprechen konnte. Die Gewissenswesen hatten sich dadurch vor der Vernichtung schützen wollen. Im Prinzip eine sehr eigennützige Maßnahme.

Anne zuckte mit den Schultern. Sie empfand es trotzdem als Geschenk, warum sollten nicht alle profitieren? So wurde auch klar, wie sie Sergeant Milton ins Leben zurückgeholt hatten. Sie waren in seine Schaltzentrale vorgedrungen und hatten den Motor wieder angeworfen. Offensichtlich war das etwas ganz Besonderes gewesen.

Dann überfiel sie wieder einen Moment lang das Gefühl der Hilflosigkeit. Das Wesen hatte ihr auch deutlich gesagt, dass es – oder seine Artgenossen – in Franks Fall nicht helfen konnten. Offensichtlich war es ihr nur erschienen, um sie erneut um Hilfe zu bitten. Anne wurde sich über Eines klar: Sie durfte trotz ihrer Angst um Frank und ihrer Verzweiflung nicht aufgeben. Es ging schließlich noch um andere Leben. Dann stoppte sie ihren Gedankengang – war das wirklich real gewesen, oder war sie doch eine geistesgestörte Mörderin und das eben war ein weiteres Voranschreiten ihrer Geisteskrankheit?

Anne dachte an die Anschuldigungen von Heribert Bux. Nein, auf keinen Fall würde sie jetzt an sich zweifeln. Was auch immer das eben gewesen war, es half ihr, neuen Mut zu schöpfen und gab ihr Kraft. Es war etwas Gutes gewesen, das hatte sie gespürt. Selbst wenn es nur ein Traum gewesen war. Annes Gedanken gingen zurück zu dem Gewissenswesen, wie sie ihre Traumbekanntschaft mittlerweile nannte. Sie stellte es sich nicht einfach vor, den menschlichen Körper zu steuern. Das Wesen hatte sicher nicht umsonst davon gesprochen, dass eine Rettung wie bei Sergeant Milton nicht noch einmal möglich wäre. Anne runzelte erneut die Stirn. Konnte es sein, dass sich das Gewissen die Gewissenfrage stellte: »Greife ich ein oder nicht?«

Wie dem auch sei, noch einmal zurück zur Beantwortung der schwierigsten Frage. Konnte es überhaupt ein Gewissenswesen geben? Als sie im Krankenhaus aufgewacht war, war sie sich so sicher gewesen, dass Sergeant Milton nicht überlebt hatte. Der Arzt hatte ihr erklärt, dass ihr Verstand vorübergehend beeinträchtigt gewesen sei. Der Stress der letzten Tage, der Schock, das kalte Wasser – eben die Gesamtsituation – hätten Halluzinationen ausgelöst.

Zuerst hatte sie ihm geglaubt. Sie war so erleichtert gewesen, als sie Sergeant Milton gesund vor sich gesehen hatte. Allerdings waren ihre angeblichen Halluzinationen viel realistischer geworden, als die Ärzte festgestellt hatten, dass aus Sergeant Milton plötzlich ein Überlebender geworden war. Das konnte nicht mit einem Schock erklärt werden. Sie hatten es dann auf das Nahtoderlebnis in Verbindung mit seiner positiven Genkombination geschoben. Seine Bereitschaft, für die gute Sache zu sterben und so weiter. Anne fand ihre Erklärung besser. Sie sah auf die kahle Zellenwand.

Dann erinnerte sie sich an Dinge, die sie einmal gehört oder gelesen hatte. Wie war das mit dem Sterben? Sprachen nicht manche davon, dass die Seele unseren Körper verlassen würde? Gab es nicht Berichte über nebelartige Wesen, die über den Toten schwebten? In wie vielen Geistergeschichten wurden Gespenster genau so beschrieben! Waren letztendlich solche Sichtungen die letzten Momente eines Gewissens, wie es noch kurze Zeit sichtbar umherirrte?

Egal, wie man es nennen würde, ob Geist, Seele oder Gewissen – es wäre der Teil, der uns zu einem besseren Menschen machen könnte, der mit uns lebte und mit uns starb. Der Teil, den viele Religionen versuchten zu retten. Der Teil, der alle Menschen friedlich miteinander verbinden könnte.

Obwohl der Gedanke Anne gefiel, führte er zwangsläufig auch zu einem anderen, und der gefiel Anne ganz und gar nicht. Sie fragte sich nämlich, welche Wesen der Mensch denn sonst noch in sich tragen würde. Und wären diese alle so, wie das ihr vertraute Geschöpf mit dem Vanilleduft? Vielleicht hatte eines dieser anderen Wesen die Einäscherung ausgelöst, vielleicht ein Rachewesen, das sich mit wildem Zorn die Bestrafung der Menschheit zur Aufgabe gemacht hatte. Nein, das war absurd, daran wollte sie jetzt auf keinen Fall denken. Zum Glück hörte sie in diesem Moment Schritte und wurde abgelenkt.

 

Irgendjemand näherte sich ihrer Zelle. Anne hob erstaunt den Kopf, es musste bereits weit nach Mitternacht sein. Sie hörte erneut ein Schlurfen. Der vermeintliche Besucher bewegte sich langsam in ihre Richtung. Den Geräuschen nach erwartete sie einen alten Mann. Dann plötzlich, im spärlichen Licht, sah sie ein vertrautes Gesicht. Allerdings hatte es sich verändert. Während am Nachmittag so viel Lebendigkeit darin gelegen hatte, sah sie jetzt die Augen eines Mannes, der seinem schlimmsten Alptraum begegnet war.

»Richter Voyou ...« Anne flüsterte seinen Namen.

Mühsam hielt sich der Mann an Annes Zellentür fest: »Anne ... Zeit zu gehen ...«

Er keuchte die Worte und schloss umständlich die Zellentür auf. Sie wollte etwas sagen, aber dazu blieb keine Zeit. Der Richter brach vor ihr zusammen, doch Anne gelang es, ihn ein wenig zu stützen. Er lag in ihren Armen und kämpfte mit dem Tod.

Heiser kamen ihm die Worte über die Lippen: »... Ausgang … hinter unterem Archiv ... Freund wartet ...« Der Richter schloss die Augen.

Anne war in Panik. Sie rief seinen Namen, legte ihn flach auf den Boden und wollte seinen Puls fühlen. Als sie ihn berührte, fühlte sie es. Die klebrige Flüssigkeit hatte bereits sein Oberteil durchtränkt.

»Richter Voyou?« Anne liefen Tränen über die Wangen, als sie erneut seinen Namen sagte.

Für einen kurzen Moment öffnete er erneut seine Augen, er sah sie an und versuchte ein schwaches Lächeln. Das Sprechen gelang ihm nicht mehr. Anne hatte sein Hemd geöffnet und sah die große blutende Wunde, welche vermutlich ein Messer verursacht hatte. Sie sah ihm in die Augen. Was für ein schöner Mensch. Richter Voyou war einer der wenigen, der innere und äußere Schönheit besaß. Anne wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Etwas von seinem Blut blieb dabei an ihrer Haut zurück. Es war ihr gleichgültig, sie wusste, dass der Richter gerade für sie starb.

Sie versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen und hielt seine Hand: »Danke!«

Sein Lächeln wurde etwas intensiver, und sie glaubte, in dem schwachen Licht zu erkennen, wie er ihr zuzwinkerte. Dann schloss er für immer die Augen.

 

Nigel war nervös, hoffentlich hatte er nichts vergessen. Die Depesche des Richters hatte ihn überrascht. Aber er war froh gewesen, denn endlich war Bewegung in die Sache gekommen. Er hatte bereits im Bett gelegen, als der Bote ungeduldig an der Tür von Sergeant Miltons Haus geklopft hatte. Umso erstaunter war er gewesen, dass der Bote auf der Suche nach ihm gewesen war. Man hatte dem Mann ansehen können, dass er nervös war.

Die Depeschenboten wurden selten nachts rausgeschickt. Und wenn doch, dann waren es meist keine guten Nachrichten, die sie zu überbringen hatten. Dieses Mal schien es jedoch anders zu sein. Der Bote hatte das strahlende Gesicht von Nigel gesehen und hatte sich gerne noch, so wie es Brauch war, zu einem Schluck Wein einladen lassen. Es war durchaus üblich, dass man die Boten zu einem Getränk oder einem kleinen Imbiss einlud. Zum einen waren sie manchmal bereits lange unterwegs gewesen, zum anderen sprach man damit auch seinen Dank für den geleisteten Dienst aus. Die Boten ihrerseits nahmen die Einladung nur an, wenn sie sahen, dass der Empfänger die Nachricht, die ihm überbracht wurde, gut aufnahm.

Als sich der Bote zehn Minuten später verabschiedet hatte, hatte Nigel dem Sergeant den Brief gezeigt. Dieser hatte das Schreiben kommentiert, indem er einen Ausdruck verwendet hatte, den Nigel gewöhnlich bei jeder Gelegenheit von sich gab. Obwohl Sergeant Milton nur eine leise Ahnung hatte, was er bedeutete – Nigel sagte das Wort immer in seiner alten Sprache – hatte er sich dessen Verwendung zu seinem eigenen Leidwesen angewöhnt.

Etwas, was damit zusammenhing, dass er so viel Zeit mit Nigel verbrachte. Die beiden verstanden sich mittlerweile wie alte Freunde. Trotzdem war Sergeant Milton nicht mit Nigels unflätiger Ausdrucksweise einverstanden. Da Nigel wiederum wusste, dass der Sergeant die Flucherei missbilligte, musste er jedes Mal grinsen, wenn dem Sergeant ein Kraftausdruck herausrutschte. Er kommentierte dies aber nicht weiter.

Kurz darauf stand Nigel im Dunkeln vor einem Hinterausgang der Wache Süd und hoffte, dass alles gut gehen würde. Er hatte die Begleitung des Sergeants abgelehnt: »Sollten wir erwischt werden, wäre es besser, wenn Sie nicht dabei wären. Einer muss uns dann ja retten.«

Der Sergeant hatte das überhaupt nicht lustig gefunden. Nigel wusste, dass Sergeant Milton nur ungern zugesehen hatte, wie er Annes Flucht vorbereitet hatte. Allerdings war ihnen beiden klar gewesen, dass ihnen die Alternativen ausgegangen waren. Frank Wall lag immer noch in der Klinik und kämpfte um sein Leben. Der Große Rat konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen, und dann hatten sie auch noch ein Besuchsverbot ausgesprochen.

Nigel wartete ungeduldig vor dem Eingang und versuchte, die Pferde zu beruhigen. Es war schon seltsam, wie diese sensiblen Geschöpfe seine Nervosität spürten. Nigel hatte keine Ahnung, was vorgefallen war. Der Richter hatte ihm nur eine kurze Anweisung übermittelt. Lediglich die Uhrzeit und der Treffpunkt, an dem er Anne abholen sollte, waren in der Nachricht vermerkt. Außerdem hatte Voyou um absolutes Stillschweigen gebeten.

Endlich öffnete sich die Tür. In der Dunkelheit konnte man nicht erkennen, wer gerade das Gebäude verlassen hatte. Dann hörte er ein Stolpern. Er musste lächeln, das war sie wohl, niemand sonst war so ungeschickt. Die Gestalt kam näher und Nigel erkannte Annes Silhouette. Er trat mit den Pferden aus dem Schutz der Bäume hervor. Endlich erhellte sich der Himmel etwas, da sich der Mond hinter den Wolken hervorschob. Anne erkannte Nigel und rannte auf ihn zu. Sie warf sich in seine Arme.

Er war überrascht. Natürlich hatte er eine herzliche Begrüßung erwartet, aber irgendwie anders … Hier stimmte etwas nicht. Er schob sie etwas von sich weg und konnte das Blut in ihrem Gesicht und die Verzweiflung in ihren Augen sehen. Sie hatte geweint.

»Oh Gott, Anne, was ist passiert?«

Anne dachte, nun etwas erleichterter: Wie gut, dass er da ist. Dann erzählte sie ihm von Voyou. Nigel merkte, wie sich alle seine Muskeln anspannten. Sie waren hier auf keinen Fall sicher.

Ohne lange Worte half er Anne auf das Pferd. Er hatte Emil dabei. Der Sergeant hatte ihm empfohlen, Annes Liebling zu satteln. Als er das Pferd aus der Box holte, hatte Nigel laut aufgestöhnt. Warum musste sich Anne auch das optisch auffälligste Tier im ganzen Stall als Favorit aussuchen? Das würde das Untertauchen nicht einfacher machen.

Jetzt war er froh, dass er Emil mitgenommen hatte. Die Vertrautheit zwischen Anne und dem Tier würde helfen. Als auch er aufgesessen hatte, schnappte er sich die Zügel von Emil und führte die Pferde von dem Gelände der Wache Süd.

Als sie die Gemeinschaftsgrenze erreichten, fragte Anne: »Was hast du vor?«

Er ritt dichter an sie heran und berührte ihr Gesicht: »Ich wollte dich eigentlich in den Norden bringen, dort kenne ich mich aus, und ich wüsste genug Möglichkeiten, dich zu verstecken«. Er sah, wie sich ihre Augen weiteten und hob die Hand, um ihren Einspruch zu verhindern, dann fuhr er fort: »Aber da mir klar ist, dass du zum jetzigen Zeitpunkt die Gemeinschaft nicht verlassen wirst, habe ich mir erlaubt, auf Freunde von dir als Verbündete zurückzugreifen.«

Damit deutete er eine Verbeugung an, so wie es ein vornehmer Ritter vor einem edlen Fräulein getan hätte. Annes Züge entspannten sich. Sie fühlte sich sicher in seiner Nähe.

»Wer sind die Freunde?« Anne war neugierig.

Nigel lächelte und sagte nur: »Überraschung!«

Dann trieb er sein Pferd zum Galopp an. Sie versuchte, mit Emil genauso schnell zu reiten, was dieser sichtlich nicht so spaßig fand wie sein Kollege, ein schlankes, schwarzes Pferd, das mit Nigel immer weiter voranstürmte. Dann stoppte Nigel und bog auf einen Nebenweg ab. Anne konnte zwei weitere Pferde erkennen, und gespannt trottete sie mit Emil auf die Gruppe zu. Die anderen waren bereits abgestiegen. Jemand entzündete eine Laterne.

Anne konnte die Tränen der Rührung über so viel Loyalität kaum zurückhalten. Neben Nigel standen Peter und Sebastian. Sie kamen auf sie zu, um sie herzlich in der Freiheit zu begrüßen.