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Während der Sekretär das Protokoll verlas, zählte der Rabbi die Anwesenden: Zwölf saßen außer ihm rund um den Tisch. Das waren fünf oder sechs mehr, als normalerweise an den Vorstandssitzungen teilnahmen, und er schloss daraus, dass Kaplan heftig die Werbetrommel gerührt hatte. Selbst in den Anfangsjahren, als der Vorstand aus 45 Mitgliedern bestand, wurde jeder, der sich dafür interessierte oder den man dazu bringen konnte, sich dafür zu interessieren, in den Vorstand gewählt. Trotzdem waren kaum jemals mehr als fünfzehn bei einer Sitzung anwesend. Und auch jetzt, da der Vorstand achtzehn gewählte Mitglieder hatte, chai, dazu die Amtsträger und die ehemaligen Präsidenten, war fünfzehn immer noch die äußerste Zahl, die sie bei einer Sitzung zusammenbringen konnten, was allerdings den Vorteil hatte, dass sie ein unbestritten beschlussfähiges Quorum bildeten. Von den Anwesenden rechnete der Rabbi die Hälfte zu den direkten Verbündeten des Präsidenten. Sie standen auf der Vorschlagsliste, die Kaplan präsentiert hatte, als er für die Präsidentschaft kandidierte; sie nahmen stets am minjen teil; in aller Wahrscheinlichkeit begleiteten sie ihn auch zu den Klausuren in New Hampshire. In einigen anderen, wie Dr. Muntz und Paul Goodman, erkannte er Kaplans persönliche Freunde, obwohl sie nicht unbedingt seine religiösen Ansichten teilten. Von den Übrigen wusste er nichts, war aber sicher, dass die Tatsache ihrer unerwarteten Anwesenheit allein schon bedeutete, dass sie zu Kaplan halten würden.

«… Vorsitzende des Gebäudeausschusses berichtete, dass drei renommierte Heizungsinstallateure angeschrieben und aufgefordert wurden, Voranschläge einzureichen …»

Niedergeschlagen sinnierte der Rabbi, hätte er praktischer gedacht, dann hätte er einige Vorstandsmitglieder angerufen, einige ehemalige Präsidenten wie Jacob Wasserman, Al Becker oder sogar Ben Gorfinkle, und sie gebeten, an der Sitzung teilzunehmen. Zwar war er keineswegs so sicher, dass sie zu ihm gehalten hätten, aber sie hätten ihm wenigstens freundliches Gehör geschenkt.

«… vom Vorsitzenden als alte Angelegenheit bezeichnet. Nach einer längeren Diskussion wurde dafür gestimmt, die Angelegenheit bis zu der Sitzung vor dem Chanukka-Fest zurückzustellen, da der Vorstand dann besser in der Lage sein werde, zu beurteilen …»

Er fragte sich, ob es klug gewesen war, Marcus Aptaker gegenüber bei seinem letzten Besuch anzudeuten, eine nochmalige Diskussion des Verkaufs liege im Bereich des Möglichen. Würde nun, nachdem diese Hoffnung in ihm geweckt worden war, seine Enttäuschung umso größer sein? Ihm kam der Gedanke, da Aptaker kein Gemeindemitglied war, könnten es einige Vorstandsmitglieder für illoyal halten, dass er, der Rabbi, seine Interessen gegen die Synagoge vertrat. Aber er schob diesen Gedanken sofort beiseite. Als der einzige Rabbi der Stadt war er der Rabbi der gesamten jüdischen Einwohnerschaft und nicht nur jenes Teils, der sein Gehalt bezahlte.

«… wurde der Antrag gestellt und unterstützt, die Synagoge möge das Petersville-Grundstück in New Hampshire erwerben, das zu bezahlen sei mit der für den Verkauf des Goralsky-Blocks von William Safferstein gebotenen Summe in Höhe von 100000 Dollar. Über den Antrag wurde abgestimmt, er wurde einstimmig angenommen, und der Präsident, Chester Kaplan, wurde ermächtigt, die notwendigen Verhandlungen zu führen. Die Sitzung wurde um 10.32 Uhr vertagt. Hochachtungsvoll vorgelegt von Joseph Schneider, Sekretär.»

Chester Kaplan sah in die Runde. «Korrekturen oder Ergänzungen?», fragte er. «Keine? Dann wird der Bericht angenommen wie vorgelesen. Haben wir Berichte der Ausschüsse?» Er sah nacheinander die Vorsitzenden der Ausschüsse an, die allesamt den Kopf schüttelten.

«Heute nicht, Chet. Es ist nichts geschehen. Wir haben keine Sitzung abgehalten.»

«Hm-hm.»

«Auch nichts Neues bei den Versicherungen, Paul?», erkundigte er sich.

«Tja, Chet, ich warte immer noch auf Nachricht von diesem Mann. Ich würde lieber bis nächste Woche warten und dann den vollständigen Bericht vorlegen.»

«Okay. Dann gehen wir weiter zu den alten Angelegenheiten. Rabbi?», da er die gehobene Hand entdeckte.

«Ich beantrage nochmalige Abstimmung über den Antrag, das Petersville-Grundstück zu erwerben», sagte der Rabbi.

«Unterstützt jemand den Antrag?»

Schweigen.

Kaplans Lippen zuckten, weil er ein belustigtes Lächeln unterdrücken musste. «Da niemand den Antrag des Rabbi unterstützt …»

«Augenblick mal!» Der Rabbi war verärgert. Bei der Vorbereitung seiner Argumente war er nicht auf die Idee gekommen, man werde ihm möglicherweise gar keine Gelegenheit geben, sie vorzutragen. «Ich möchte den Grund für meinen Antrag auf Neuabstimmung erklären.»

«Das geschieht während der Diskussion über den Antrag», erwiderte der Vorsitzende, «und diskutieren können wir nur, wenn der Antrag unterstützt wurde.»

Verstimmt biss sich der Rabbi auf die Lippe. Er erhob sich. «Dann muss ich mein Vorrecht in Anspruch nehmen. Hier handelt es sich um eine Angelegenheit, zu der der Rabbi der Gemeinde gehört …»

Paul Goodman, ein ehemaliger Präsident, rief laut: «Zur Verfahrensordnung, Herr Vorsitzender!»

«Bitte sehr, Paul.»

«Ich möchte darauf hinweisen, und zwar mit allem Respekt, dass der Rabbi kein offizielles Mitglied dieses Vorstandes ist. Er nimmt ausschließlich auf Einladung des Vorsitzenden an den Vorstandssitzungen teil …»

«Nein, Paul», unterbrach ihn Kaplan. «Es stimmt zwar, dass der Rabbi an diesen Sitzungen auf meine Einladung teilnimmt, doch als ich diese Einladung Anfang des Jahres aussprach, machte ich es sofort klar, dass der Rabbi während meiner Amtszeit als volles Mitglied zu betrachten ist. Das heißt mit allen Rechten und Privilegien. Aber», fügte er hinzu, «ich werde bei der Leitung dieser Sitzungen natürlich den Parlamentsregeln folgen. Bitte sehr, Rabbi, Sie haben das Wort.»

«Ich wollte sagen, es gibt bestimmte Angelegenheiten, bei denen der Rabbi der Gemeinde gewisse, seiner Position innewohnende Rechte hat. Das Petersville-Grundstück ist für die Einrichtung einer permanenten Klausur bestimmt. Das ist eine Erweiterung der religiösen Aufgabe der Synagoge und betrifft den Rabbi der Gemeinde daher sogar noch mehr als den Vorstand.»

«Der Antrag enthält nicht den geringsten Hinweis darauf», erwiderte Goodman. «Es heißt keineswegs in dem Antrag, dass das Grundstück als Klausur Verwendung finden soll. Ich persönlich habe dafür gestimmt, weil ich fand, es wäre ein gutes Geschäft für die Synagoge, aber ich dachte dabei eigentlich mehr an ein Sommerlager für unsere Kinder.» Er sah deutlich, dass der Rabbi wütend war, und da es in der Vergangenheit zahllose Gelegenheiten gegeben hatte, da es zum Streit zwischen ihnen gekommen war, machte es ihm besonderes Vergnügen, seine Wut noch zu schüren.

Der Rabbi gab sich große Mühe, seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen. Er setzte sich und brachte sogar ein Lächeln zustande. «Also gut», sagte er, «dann beantrage ich eine nochmalige Abstimmung über den Antrag, den Goralsky-Block zu verkaufen.»

«Das ist Teil desselben Antrags», entgegnete der Sekretär. Die Vorstandsmitglieder grinsten, als ihnen klar wurde, wie geschickt es von ihrem Vorsitzenden gewesen war, den Antrag so zu formulieren, dass er sich auf den Erwerb des Petersville-Grundstücks und auf den Verkauf des Goralsky-Blocks bezog.

«Es handelt sich um zwei separate Aktionen», widersprach der Rabbi. «Die kann man doch nicht einfach verbinden, indem man sie in einem einzigen Antrag abfertigt.»

«Warum denn nicht? Der Kongress macht das doch dauernd», antwortete Goodman. «Wenn der Antrag so abgefasst war, dann ist das eben der Antrag.»

Und geflüstert zu seinem Nachbarn: «Der Rabbi sitzt aber schön in der Klemme.»

Kaplan überlegte. «Ich sehe eine gewisse Berechtigung in Ihrer Argumentation, Rabbi. Ich werde den Antrag zulassen. Will ihn jemand unterstützen?»

«Worum geht’s denn jetzt eigentlich?», fragte der Sekretär. «Ich habe den Faden verloren.»

«Der Rabbi hat Neuabstimmung über den Antrag zum Verkauf des Goralsky-Blocks beantragt, und ich lasse den Antrag zu, obwohl der Sekretär zutreffend darauf hingewiesen hat, dass der Verkauf Teil des Antrags zum Erwerb des Petersville-Grundstücks ist. Also was ist – unterstützt jemand den Rabbi?»

Abermals Schweigen.

Kaplan lächelte. Einige andere grinsten und zwinkerten sich voll Genugtuung zu. Paul Goodman lachte laut heraus.

«Unsere Vorstandsmitglieder sind offenbar überzeugt, dass sie schon beim ersten Mal richtig gehandelt haben, Rabbi», sagte Kaplan.

«Oder gut gedrillt waren», gab der Rabbi bitter zurück. «Sie lassen mir keine andere Wahl: Ich werde einen din-tojre abhalten.»

«Was hat er gesagt? Einen din-tojre? Was ist ein din-tojre

«Das ist so etwas Ähnliches wie ein Gerichtsverfahren. Er will ein Gerichtsverfahren abhalten.»

«Wieso? Kann er das denn?»

«Einen Moment mal, Rabbi», sagte Kaplan, dessen Gelassenheit einen kleinen Knacks bekommen hatte. «Gegen wen wollen Sie ein Gerichtsverfahren abhalten?»

«Gegen Sie alle, einzeln und gemeinsam.»

«Lassen Sie mich das mal klarstellen», forderte Kaplan. «Sie wollen ein Gerichtsverfahren oder eine Verhandlung abhalten und uns alle …»

«Mir bleibt ja nichts anderes übrig», antwortete der Rabbi sanft. «Es ist zu einer schweren Übertretung der halacha gekommen.»

«Was redet er da?»

«Was ist halacha

«Er sagt, wir haben das Gesetz übertreten.»

«Was für ein Gesetz? Beschuldigt er uns …»

«Ruhe! Ruhe! Bitte um Ruhe, Gentlemen.» Kaplan betätigte sein Hämmerchen. In die vorübergehende Stille sagte er: «Lassen Sie mich das klarstellen, Rabbi. Ich weiß, dass Sie gegen diesen Beschluß sind. Das haben Sie mir selbst gesagt. Wollen Sie darum jetzt eine Gerichtsverhandlung inszenieren, bei der Sie selbst als Richter, Jury und Kläger fungieren?»

«Das ist ein berechtigter Einwand, Herr Vorsitzender», gab der Rabbi zu. «Ich bin in dieser Angelegenheit nicht neutral. Darum werde ich sie dem Rabbinerrat von Groß-Boston vorlegen. Hält man meinen Antrag für berechtigt, wird man zweifellos einen Rabbi bestimmen, der einen Ruf als Talmudkenner besitzt, etwa Rabbi Jacobs aus Boston, und zwei dajanim, vor denen beide Parteien zu erscheinen und ihre Argumente vorzulegen haben.»

«Kann er das denn?»

«Und wenn wir nicht hingehen?»

«Dann informieren sie die Presse und machen Stunk», kam die geflüsterte Erwiderung.

Kaplan blickte in die Runde und zählte rasch. Von den zwanzig Anwesenden waren ein Dutzend seine Parteigänger, die auch regelmäßig zu seinen Mittwochsempfängen kamen und ihn zu den Klausuren in Petersville begleiteten. Von den Übrigen waren einige nicht an der Klausur interessiert, hielten den Grundstückserwerb aber für ein gutes Geschäft. Die Restlichen hatten zwar keine feste Meinung über die Notwendigkeit einer Klausur, waren aber, etwa wie Paul Goodman, eingeschworene Gegner des Rabbi. Was hatte er also zu befürchten? Er wandte sich an Rabbi Small. «Also, was wünschen Sie, Rabbi?», erkundigte er sich.

«Ich möchte zu diesem Antrag gehört werden.»

«Nun gut, dann werde ich den Antrag auf Neuabstimmung unterstützen», sagte Kaplan.

«He, Chet, wir hatten doch beschlossen …»

«Das können Sie nicht, Chet. Sie sind der Vorsitzende.»

«Dann gebe ich den Vorsitz ab. Aaron, würden Sie bitte übernehmen?», fragte er den Vizepräsidenten.

«Gern, Chet.»

«Herr Vorsitzender.»

«Mr. Kaplan.»

«Ich unterstütze den Antrag des Rabbi auf Neuabstimmung.»

«Es wurde der Antrag gestellt und unterstützt, nochmals abzustimmen über den Antrag, den Goralsky-Block zu verkaufen und das Petersville-Grundstück zu erwerben», verkündete der Vizepräsident. «Diskussion, bitte. Ja, Rabbi?»

«Ich habe deswegen so auf Anhörung bestanden», begann der Rabbi ungezwungen, «weil ich glaube, dass Sie alle anständige, faire Männer sind und tun werden, was rechtens ist, sobald Sie alle Fakten kennen. Nun sind Sie, wie ich annehme, alle mit mir einer Meinung, dass, wenn jemand die Wünsche eines Erblassers respektieren sollte, es vor allem die Erben sein müssten, diejenigen also, die von seinem Wohlwollen profitieren. Nun, die Synagoge hat von Mr. Goralsky einen wertvollen Immobilienbesitz geerbt, und ich finde, um ihm unsere Dankbarkeit zu erweisen, sollten wir wenigstens seine Wünsche hinsichtlich dieses Besitzes berücksichtigen.»

«Wenn Sie auf die Klausel anspielen, die besagt, dass wir den Block für eine Schule oder eine ständige Dienstwohnung des Rabbi verwenden sollen …»

«Nein, Mr. Kaplan, diese Klausel meine ich nicht. Mir ist klar, dass Mr. Goralsky die Verwendung des Besitzes vermutlich nicht so eingeschränkt wissen wollte. Aber um ganz sicherzugehen, machte ich mir die Mühe, seinen Sohn Ben aufzusuchen. Er bestätigte meine Meinung. In dieser Hinsicht besteht kein Problem. Nein, ich spreche von Mr. Goralskys Wünschen im Zusammenhang mit Aptaker und dem von ihm bewirtschafteten Laden.»

«Aptaker? Wer ist das denn?», fragte Goodman.

«Der Apotheker, der den Drugstore im Goralsky-Block hat.»

«Ganz recht, Mr. Reinhardt», bestätigte der Rabbi. «Er hat an demselben Tag einen Herzanfall erlitten, an dem er ein Schreiben von Mr. Kaplan bekam mit dem Inhalt, der Block werde verkauft, er möge sich wegen der Verlängerung des Mietvertrages, um die er eingekommen war, an den neuen Besitzer wenden. Seine Frau meint, das habe den Herzanfall ausgelöst.»

«Ja, aber dafür kann man die Synagoge doch nicht verantwortlich machen.» Paul Goodman war aufrichtig entsetzt.

«Das stimmt», sagte Dr. Muntz. «Man kann nie vorhersehen, wie ein Mensch auf eine schlechte Nachricht reagieren wird – oder auch auf eine gute. Ich hatte mal einen Patienten, der bekam einen Herzanfall, als er hörte, dass er in der Lotterie gewonnen hatte.»

«Ich gebe Ihnen ja auch nicht die Schuld an Mr. Aptakers Herzanfall», erwiderte der Rabbi. «Ich beschuldige Sie, Mr. Goralskys Wünsche missachtet und Aptakers Mietvertrag nicht verlängert zu haben.»

«Als der Block in unseren Besitz kam, wurde er unser Eigentum», entgegnete Kaplan. «Und somit hatten wir das Recht, damit zu tun, was wir für richtig hielten. Da wir ihn verkaufen wollten, habe ich Aptakers Mietvertrag natürlich nicht verlängert, denn das hätte unter Umständen den Verkauf verhindert. Als der Vorstand den Verkauf beschlossen hatte, schrieb ich Aptaker und teilte ihm mit, dass ein neuer Besitzer den Block übernehmen werde, sobald die entsprechenden Papiere unterzeichnet sein würden, und schlug ihm vor, sich wegen der Vertragsverlängerung an diesen zu wenden. Ich bin nicht verantwortlich für das, was Safferstein tut, sobald er den Block übernommen hat. Es ist ein legaler Geschäftsabschluss.»

«Ja, das ist es, nehme ich an», gab der Rabbi traurig zurück. «Die Synagoge verkauft den Besitz, weil das ein gutes Geschäft für sie ist. Und ein kleiner Mann wie Aptaker, der sein Leben mit dem Aufbau seines Geschäfts verbracht hat, wird einfach auf die Straße geworfen, aber das ist legal, weil das eine geschäftliche Angelegenheit ist.»

«Das kommt doch immer wieder vor, Rabbi», sagte Kaplan. «Man kann dem Fortschritt doch nicht im Wege stehen.»

«Fortschritt!»

Kaplan grinste. «Na schön, dann Veränderung. Man kann auch der Veränderung nicht im Wege stehen.»

Der Rabbi nickte. «Ja, im Laufe der Veränderungen wird so mancher Einzelne kurzerhand überfahren. Das ist alles rein geschäftlich, wie Sie sagen. Aber ist das eine Art Geschäft, wie eine Synagoge sie machen soll? Unsere Religion ist eine moralische Religion. Soll eine dieser Religion gewidmete Institution tatsächlich so etwas tun?»

«Nun, Rabbi, als Anwalt muss ich sagen, wenn’s legal ist, ist es auch moralisch», erklärte Goodman.

«Schön, Mr. Goodman, überlegen wir, ob es wirklich legal ist.» Der Rabbi bückte sich, nahm einen Aktenkoffer vom Fußboden auf und legte ihn vor sich auf den Tisch. «Hier habe ich die Korrespondenz Mr. Aptakers über die Verlängerung seines Mietvertrags, zuerst mit Mr. Goralsky und dann mit Mr. Kaplan. Ich werde sie später herumgehen lassen, wenn Sie das wollen, aber ich kann es auch für Sie zusammenfassen.» Er entnahm dem Koffer einen Stoß Papiere. «Hier ist Mr. Aptakers Bitte um Verlängerung des Mietvertrages, der in wenigen Monaten ausläuft. Und hier ist Mr. Goralskys Antwort.» Er las ihnen das Schreiben vor. «Beachten Sie bitte den Wortlaut; keineswegs der übliche Geschäftsstil, nicht wahr? Ich habe seine Sekretärin danach gefragt. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, denn sie musste den Brief zweimal schreiben. Beim ersten Mal redigierte sie sein Diktat, wie üblich, nach den üblichen Geschäftsrichtlinien. Doch diesmal war Mr. Goralsky unzufrieden damit und verlangte, sie solle alles genauso schreiben, wie er es ihr diktiert hatte, weil er Aptaker zeigen wollte, wie sehr er dessen Geschäftsgebaren während all der Jahre geschätzt hatte. Also schrieb sie den Brief noch einmal um und formulierte ihn, vielleicht ein bisschen boshaft, genau nach seinen eigenen Worten. Diesen Brief unterzeichnete er, die Anwälte wurden entsprechend instruiert und bereiteten den neuen Mietvertrag vor.»

«Ja, aber dann wurde Aptaker habgierig», erwiderte Kaplan. «Er verlangte, dass eine der Klauseln gestrichen wurde, wenn ich mich recht erinnere.»

«Ganz recht», stimmte der Rabbi zu. «Er schrieb noch einmal an Goralsky, teilte ihm mit, die Klausel, dass er seine Schaufensterscheiben versichern lassen müsse, sei bei den vorangegangenen Mietverträgen gestrichen worden, und bat, sie auch diesmal wieder zu streichen.»

«Und was hat Goralsky dazu gesagt?», fragte Goodman.

«Gar nichts. Er starb.»

«Na, dann hat Aptaker eben Pech gehabt», fand Goodman.

«Der Brief an Aptaker wurde geschrieben, als Mr. Goralsky bereits mit jener Krankheit zu Bett lag, an der er starb. Zu jenem Zeitpunkt hat er auch sein Testament geschrieben», erklärte der Rabbi.

Goodman zuckte die Achseln. «Na und? Im Testament steht davon nichts, und nur, was im Testament steht, zählt.»

«Nicht nach jüdischem Recht», widersprach der Rabbi.

«Wie bitte?»

«Was soll das heißen?», fragte Kaplan. «Wer sagt das?»

«Das sagt das Talmud-Kapitel Gittin, und ebenfalls der Schulchan Aruch. Das jüdische Gesetz, das heißt das Talmud-Gesetz, macht im Zusammenhang mit dem Testament einen Unterschied, und zwar aufgrund des Gesundheitszustands eines Erblassers. Ist der Erblasser bari, also gesund, lautet das Gesetz wie das säkulare Gesetz: Es zählt nur das, was im Testament steht. Ist der Erblasser aber schechiv mera, schwer krank und bettlägerig, und mehr noch, wenn es sich, wie in Mr. Goralskys Fall, um eine Krankheit mit tödlichem Ausgang handelt, dann verlangt es das Gesetz, dass seine Wünsche ausgeführt werden, auch wenn sie nicht im Testament stehen. Der Grund für diese Ausnahme im Gesetz ist der, dass es dem Sterbenden in seinen letzten Tagen inneren Frieden verschaffen soll. Nun war es eindeutig Mr. Goralskys Wunsch, Aptakers Mietvertrag zu verlängern, daher ist dieser Wunsch nach jüdischem Recht ebenso gültig wie die im Testament niedergelegten Wünsche.»

«Ja, aber woher sollten wir das wissen?», fragte Goodman.

«Das konnten Sie nicht wissen; darum erwartet man ja auch, dass Sie sich bei Ihrem Rabbi Rat holen», antwortete der Rabbi zuckersüß.

«Nein, ich meine, was Goralsky mit Aptaker vorhatte.»

«Aus Aptakers Brief, den er der Synagoge schrieb. Ich werde ihn Ihnen vorlesen.» Er nahm ein Blatt Papier aus dem Aktenhefter und schob seine Brille auf die Stirn, um besser lesen zu können. «Hier steht’s. ‹Kurz vor seinem Tod erklärte sich Mr. Goralsky einverstanden, meinen Mietvertrag zu denselben Bedingungen zu verlängern, und war so freundlich, mir zu schreiben, er tue das gern, da er mich für einen guten Mieter halte. Wie aus beigefügtem Schreiben ersichtlich.› Und das ist eine Kopie des Briefes, den ich Ihnen eben vorgelesen habe.»

Die Vorstandsmitglieder bewegten sich unruhig auf ihren Stühlen und warfen Kaplan verstohlene Blicke zu, als erhofften sie sich von ihm Verhaltensmaßregeln. Jetzt sprach zum ersten Mal Dr. Muntz. «Damit wollen Sie sagen, Rabbi, die Synagoge sei aufgrund des Talmudgesetzes verpflichtet, dem Gesuch Aptakers um Mietverlängerung zu entsprechen, weil Mr. Goralsky es so wollte?»

«Genau, das wollte ich damit sagen, Doktor.» Der Rabbi sah sich triumphierend um.

Jetzt regte sich Kaplan wieder. «Augenblick mal, Rabbi! Ich bin kein Talmudkenner, aber mein Schwiegervater war einer, und ich habe mit Edie zu Beginn unserer Ehe einige Jahre bei ihm gewohnt. Außerdem habe ich Jura studiert. Wir haben häufig über das Recht im Allgemeinen diskutiert, und ich erinnere mich, dass er sagte, sobald ein Unterschied zwischen dem Talmudgesetz und dem Landesgesetz bestehe, gelte nur das Landesgesetz.»

Der Rabbi nickte. «Dina de-maichuta, dina. Das Gesetz des Landes ist das Gesetz.»

«Na, aber dann …» Kaplan lehnte sich, ein selbstzufriedenes Lächeln auf den Lippen, bequem zurück.

«Dieser Grundsatz ist aber stark eingeschränkt», erwiderte der Rabbi, ebenfalls lächelnd. «Einige Rabbiner meinen, er solle nur auf Fälle angewandt werden, die ausschließlich die Verwaltung des Landes betreffen, etwa bei der Besteuerung. Verständlicherweise kann er nicht durchweg angewendet werden, sonst würde dadurch ja der Talmud, das Gesprochene Gesetz, in dem wir, genau wie im Geschriebenen Gesetz, der Thora, das Wort Gottes sehen, ganz und gar außer Kraft gesetzt werden. Nein, nein, nur dort, wo unser Gesetz dem säkularen Gesetz widerspricht, wo es nicht mit ihm übereinstimmt, wo etwas, das wir für legal halten, unter dem säkularen Gesetz illegal ist, findet dieser Grundsatz Anwendung, und zwar aus auf der Hand liegenden, rein praktischen Gründen.»

«Geben Sie uns ein Beispiel, Rabbi», schlug Dr. Muntz vor.

«Nun gut. Da wir gerade von Testamenten sprechen, werde ich Ihnen ein Beispiel aus dem Erbrecht geben. Wenn ein Mann stirbt, ohne ein Testament hinterlassen zu haben, wird sein Nachlass nach dem säkularen Recht unseres Landes zwischen seiner überlebenden Frau und seinen Kindern aufgeteilt, wobei männliche und weibliche Nachkommen den gleichen Anteil erhalten. Im jüdischen Recht aber wird der Nachlass nur unter die männlichen Nachkommen verteilt, wobei der Erstgeborene den doppelten Anteil erhält. Der Unterhalt unverheirateter Töchter und ihre Mitgift gehen jedoch zu Lasten der Erbmasse und haben Vorrang vor der Erbschaft der Söhne. In einer derartigen Angelegenheit würde zweifellos das säkulare Recht Anwendung finden. Nehmen wir andererseits den Fall einer Frau, die von einem säkularen Gericht geschieden wird. Nach dem säkularen Recht darf sie wieder heiraten. Aber nicht nach dem jüdischen Recht – jedenfalls nicht, bis sie ein jüdisches Scheidungsurteil bekommen hat, einen get. Hier läuft das jüdische Recht dem säkularen Recht nicht zuwider, sondern es kommt ergänzend hinzu. Ähnlich liegt unser gegenwärtiger Fall, bei dem sowohl das jüdische als auch das säkulare Recht daran interessiert sind, dass die Wünsche des Erblassers ausgeführt werden. Aus eindeutig verwaltungstechnischen Gründen und um endlose Streitigkeiten zu vermeiden, verlangt das säkulare Recht, dass der Erblasser seine Wünsche in einem Testament niederlegt, während alles, was nicht in diesem Dokument erwähnt wird, für die Erben nicht bindend ist. Damit geht auch das jüdische Recht konform, nur nicht im Fall des schechiv triera, des todkranken Mannes. Hier sagen wir, um ihm in seinen letzten Tagen den inneren Frieden zu erhalten, dass wir seine Wünsche auch dann für bindend erklären, wenn er nicht mehr dazu kommt, sie im Testament niederzulegen.»

«Aber das ist doch nur Ihre Auslegung, Rabbi», entgegnete Kaplan halsstarrig. «Meiner Meinung nach sind wir berechtigt, dem säkularen Recht zu folgen, vor allem, da der Erlös aus dem Verkauf des Blocks für einen wahrhaft religiösen Zweck verwendet werden soll, für die Erneuerung der Religion …»

«Religion!», sagte der Rabbi aufgebracht. «Bei uns ist Religion moralisches Verhalten. Sie sind ein praktizierender Jude, Mr. Kaplan. Sie beten täglich mit den Phylakterien. Sie küssen die mesusa an Ihrer Tür jedes Mal, wenn Sie daran vorbeikommen. Aber was ist denn das alles wenn nicht eine ständige Mahnung, auf dem Weg des Herrn zu schreiten? Wenn es das nicht ist, dann ist Ihre Frömmigkeit, Ihre gewissenhafte Befolgung der Zeremonien, einfach nur noch Hokuspokus. ‹Was sind mir eure Opfer?›, fragte der Prophet. ‹Euer Sabbat und euer Neumond, meine Seele hasst sie … Hört vielmehr auf, Böses zu tun … sucht Gerechtigkeit, erlöst die Unterdrückten.›» Von seiner eigenen Redekunst erwärmt, fuhr er mit erhobener Stimme fort: «Mag sein, dass ihr da oben in eurer Klausur im Wald eine Religion erneuert, aber das ist nicht die jüdische Religion. Und wenn das der Weg sein soll, den unsere Synagoge einschlägt, dann will ich nichts damit zu tun haben.»

Wie um die Mahnrede des Rabbi zu unterstreichen, begann überall im Gebäude eine Glocke zu schrillen. Die Männer im Vorstandszimmer fuhren zusammen. Es war die Glocke, die das Ende der Sonntagsschule ankündigte.

Der Sekretär sah ungläubig auf die Uhr. «Himmel, zwölf Uhr! Hört mal, ich muss meine Kinder nach Hause bringen. Meine Frau schlägt Krach, wenn wir uns verspäten.» Er klappte sein Notizbuch zu und erhob sich von seinem Stuhl.

«Ich muss auch gehen.»

Kaplan hob beide Hände, um den Aufbruch, der zum allgemeinen Exodus zu werden drohte, zu stoppen. «Hört zu, Männer, wir können die Sache doch nicht einfach in der Luft hängen lassen. Wir müssen …»

«Stellen wir sie bis nächste Woche zurück.»

«Einen Moment, nur einen Moment noch! Ihr tut, als wärt ihr ‘ne Horde Kinder. Wir wollen dies doch ordnungsgemäß machen. Jemand muss einen Antrag stellen.»

«Na schön. Ich stelle den Antrag, den Antrag des Rabbi auf Neuabstimmung zurückzustellen.»

«Ich unterstütze den Antrag.»

«Rabbi? Einverstanden?»

«Nun, ich finde, es müsste erst noch eine ausführlichere Diskussion …»

«Hören Sie, Chet, wichtige Angelegenheiten stellen wir doch immer für mindestens eine Woche zurück.»

«Das haben Sie bei dem ursprünglichen Antrag, für den ich die Neuabstimmung beantragt habe, aber nicht gemacht», bemerkte der Rabbi.

«Darf ich was sagen?», rief Dr. Muntz laut. «So, wie ich die Sache sehe, meint der Rabbi, Aptaker müsste seine Mietverlängerung bekommen. Schön und gut, woher wissen wir, dass Bill Safferstein den Vertrag nicht verlängern wird? Wenn er den Vertrag verlängert, dann ist nach der halacha doch alles in Ordnung, nicht wahr, Rabbi?»

«Er wird es nicht tun», stellte Kaplan fest. «Das weiß ich genau.»

«Aber es kann nicht schaden, wenn wir ihn fragen, oder?»

«Na schön, ich werde ihn fragen. Aber ich weiß, dass er es nicht tun wird.»

«Dann beantrage ich, diese Angelegenheit zurückzustellen, bis unser Vorsitzender mit Safferstein über Aptakers Mietvertrag gesprochen hat.»

«Ich unterstütze den Antrag.»

«Alle, die dafür sind, sagen ja. Dagegen – nein. Ja hat die Mehrheit. Bekommen wir jetzt einen Antrag auf Vertagung, Paul?»

«Ich stelle nicht den Antrag auf Vertagung, Chet», erklärte Goodman. «Wenn du das möchtest, werde ich es natürlich tun. Aber ich habe ums Wort gebeten, weil ich finde, der Rabbi dürfte nächste Woche, wenn wir über die Angelegenheit diskutieren, nicht anwesend sein. Ich finde zwar nicht, dass man hierzu einen Antrag stellen sollte, aber …»

«Warum soll der Rabbi nicht dabei sein?», fragte Al Muntz. «Mir scheint, da er die Sache zur Sprache gebracht hat …»

«Weil er praktisch uns alle beschuldigt hat, in diesem Zusammenhang das jüdische Gesetz übertreten zu haben, und weil er gesagt hat, er werde uns alle – ‹einzeln oder gemeinsam›, hat er gesagt – vor einen Din-weiß-nicht-was zitieren. Okay, er steht also auf der einen Seite und wir auf der anderen. Er ist der Kläger, wir sind die Beklagten. Der gesunde Menschenverstand muss einem doch sagen, dass der Kläger nicht bei einer Versammlung der Beklagten anwesend sein darf.»

«Aber, Paul …»

«Ich finde, was Mr. Goodman sagt, hat einiges für sich», erklärte der Rabbi. «Ich finde selbst, dass ich an der nächsten Sitzung nicht teilnehmen sollte. Ich habe meine Meinung dargelegt, nun liegt es bei Ihnen, wie Sie darüber entscheiden werden. Es macht mir nichts aus, eine Woche zu warten.»

«Einen Moment! Nächste Woche findet keine Sitzung statt», sagte Goodman.

«Warum nicht?»

«Frauenklubfest.»

«Ach ja! Dann also die Woche danach. Einverstanden, Rabbi?»

«Wenn ich eine Woche warten kann, werde ich auch zwei warten können», antwortete der Rabbi.