17
«Ich kam zufällig vorbei und sah Ihren Wagen in der Einfahrt stehen, David.» Es war Hugh Lanigan.
«Kommen Sie herein», sagte Rabbi Small zu Barnard’s Crossings Polizeichef, einem untersetzten Mann mit breitem, rotem Gesicht. Die beiden hatten sich schon im ersten Jahr nach dem Amtsantritt des Rabbi befreundet – Grund genug für einen informellen Besuch. Aus langer Erfahrung jedoch wusste der Rabbi, dass es für diese Besuche eigentlich immer einen offiziellen Grund gab, und auch jetzt fragte er sich, was den Polizeichef zum Kommen veranlasst haben mochte.
«Wir wollten eben Kaffee trinken», erklärte Miriam. «Sie leisten uns dabei doch Gesellschaft, nicht wahr? Ich mache gerade eine kleine Atempause bei meinen Vorbereitungen für den Sabbat.»
«Aber gern», antwortete Lanigan. Er legte seine Uniformmütze neben dem Sessel auf den Boden und fuhr sich mit den dicken, kurzen Fingern durch das Gestrüpp seiner kurz geschorenen weißen Haare.
«Hier, versuchen Sie diese mal», drängte der Rabbi. «Wir nennen sie kichelech. Man isst sie zum Kaffee.»
«Mmmm, sehr gut! Wie nennen Sie die? Kichelech? Sie haben Recht, sie passen ganz ausgezeichnet zum Kaffee. Würden Sie Amy das Rezept geben?»
«Mit Vergnügen», antwortete Miriam.
Der Polizeichef trank seinen Kaffee und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. «Dies ist der erste ruhige Augenblick, den ich seit achtundvierzig Stunden habe. Den ganzen Mittwoch waren wir damit beschäftigt, uns auf den Sturm vorzubereiten, und gestern mussten wir den ganzen Tag aufräumen.»
«Ja, aber machen das denn nicht hauptsächlich die städtischen Räumtrupps?», erkundigte sich Miriam.
Der Chief stieß ein kurzes Lachen aus. «Gewiss, die machen die eigentliche Arbeit; umgestürzte Bäume wegräumen oder Wasserrohre reparieren. Der Polizei aber wird gemeldet, welche Straßen blockiert sind. Wir überprüfen die Meldungen und geben die Information an das Amt weiter, das die Reparaturen ausführen muss. Nehmen wir an, ein Schaufenster wird eingedrückt. Dann müssen wir Wache stehen, bis es mit Brettern zugenagelt worden ist. Oder nehmen Sie den Hafen: Zwei Polizeiboote haben vierundzwanzig Stunden am Tag die Vertäuungen kontrolliert und Boote gesucht, die sich losgerissen hatten. Wenn bei Verkehrsunfällen Menschen verletzt werden, müssen wir sie ins Krankenhaus schaffen. Zum Beispiel den alten Kestler, den sie gestern beerdigt haben. Da war es der Beamte vom Streifenwagen, der ihm die Medizin gebracht hat. Und in derselben Nacht noch mussten wir ihm den Krankenwagen schicken, der ihn ins Krankenhaus transportierte. Es fielen also für diesen Mann gleich zwei Polizeieinsätze an. Übrigens, rein aus Neugier: Warum wurde er gestern schon beerdigt? Ich meine, er ist Mittwochnacht gestorben, und ihr beerdigt ihn gleich am nächsten Tag. Gab es einen besonderen Grund, warum ihr nicht länger warten konntet?»
Der Rabbi schüttelte den Kopf. «Wir begraben die Toten immer am nächsten Tag oder sobald es möglich ist. Sehen Sie, wir balsamieren sie nicht ein. Das ist bei uns so Tradition – weil Israel ein tropisches oder subtropisches Land ist, nehme ich an. Es müsste also einen besonderen Grund geben, wenn wir einmal länger warteten.»
«Sie halten keine Totenwache? Sie bahren Ihre Toten niemals auf, damit Familie und Freunde von ihnen Abschied nehmen können?»
«Nun ja», entgegnete der Rabbi, «das tun wir schon. Es gilt als eine gute Tat, die wir als mizwe bezeichnen. In den meisten Gemeinden gibt es eine Art Gesellschaft, die Chewra Kaddischa, die es übernimmt, den Leichnam zu waschen, ihn in Grabgewänder zu hüllen und anschließend die ganze Nacht bei ihm Wache zu halten und aus den Klageliedern vorzulesen.»
«Aber», wandte Chief Lanigan ein, «wie Sergeant Jenkins mir mitteilte, hat Joe Kestler ein fürchterliches Theater gemacht, als der Arzt von einer Autopsie sprach. Er behauptete, es sei gegen seine Religion.»
Der Rabbi nickte. «Ich hätte nicht gedacht, dass Joe Kestler sich so sehr um seine Religion bekümmert, aber es stimmt, auch das gehört zu unserer Tradition. Wir billigen keine Autopsie, es sei denn, alles deutet darauf hin, dass eine Untersuchung der sterblichen Hülle einem anderen Menschen das Leben retten kann oder dass dadurch etwas ganz Bestimmtes in Erfahrung zu bringen ist. Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen; den Körper aufzuschneiden heißt also, dieses Bild zu entweihen.»
«Das scheint mir aber gar nicht zu der Auffassung zu passen, dass der Körper nur Staub ist, wenn die Seele nicht mehr in ihm wohnt», meinte der Chief.
«Sie haben Recht, es passt nicht dazu.» Der Rabbi grinste. «Unsere Einstellung ist in dieser Hinsicht ein bisschen ambivalent. Doch unsere Tradition entspringt ja keinem geplanten System, wissen Sie, wo alles wie bei einem Puzzle zusammenpasst. Sie hat sich über die Jahrhunderte hinweg entwickelt. Die Abneigung gegen das Aufschneiden des Leichnams oder auch seine Verbrennung beruht auf dem Glauben einiger Juden, dass die Toten auferstehen, wenn der Messias kommt. Damit meinen sie die Auferstehung des Körpers und des Geistes. Und darum ist es notwendig, dass der ganze Körper beerdigt wird, damit er wieder ins Leben zurückkehren kann.»
«Das scheint mir aber unfair gegen diejenigen, die schon lange tot sind», sagt Lanigan. «Und gegen Soldaten, die im Krieg einen Arm oder ein Bein verloren haben.»
«Das ist es wohl.»
«Gab es eigentlich einen Grund, warum Sie dem alten Kestler nicht die letzte Ehre erwiesen haben?», fragte der Chief.
«Nein. Aber er kam ursprünglich aus Revere und gehörte immer noch der dortigen Synagoge an.»
«Was für ein Gesprächsthema!», tadelte Miriam. «Und das beim Kaffee!»
«Ich vermute, der Chief arbeitet auf einen ganz bestimmten Punkt hin», sagte ihr Mann mit leichtem Lächeln.
Lanigan warf ihm unter den buschigen Brauen hervor einen kurzen, scharfen Blick zu und stieß ein verlegenes Lachen aus. «Na ja, ich habe da tatsächlich etwas.»
Der Rabbi nickte ihm ermutigend zu.
«Möchten Sie mit David allein sprechen?», erkundigte sich Miriam.
«Aber nein! Keineswegs. Bitte, bleiben Sie.» Chief Lanigan lehnte sich bequem zurück. «Ich bin bei Dr. Daniel Cohen Patient, seit er vor ungefähr einem Jahr hierher kam – nun ja, weil ich ihn mag. Außerdem ist er ein praktischer Arzt, und zwar so ziemlich der einzige in der Stadt, und ich lege Wert auf einen Hausarzt. Alle anderen sind Spezialisten. Deswegen konsultiere ich ihn stets, wenn mir was fehlt, und Amy macht es genauso wie ich. Wenn einem von uns einmal etwas Ernstes zustoßen sollte und er das Gefühl hätte, er sei dem Fall nicht gewachsen, würde er bestimmt nicht zögern, einen Spezialisten hinzuzuziehen.»
Miriam nickte zustimmend.
«Heute war ich zur Untersuchung bei ihm. Nichts Besonderes, nur eine Routinekontrolle. Das mache ich jedes Jahr, weil ich es für besser halte.»
«Das solltest du auch mal tun, David», sagte Miriam automatisch.
«Ich sitze also da in seinem Sprechzimmer, als das Telefon klingelt», erzählte der Polizeichef weiter. «Es ist die Zentrale, und das Mädchen sagt, sie hat einen in der Leitung, der ihn unbedingt sofort sprechen will. Er sagt, stellen Sie durch, und dann höre ich sofort, weil der Mann aus vollem Hals schreit: ‹Sie haben vielleicht Nerven, mir eine Rechnung ins Haus zu schicken!› Na ja, das war mir doch ziemlich peinlich, und wenn ich nicht in der Unterwäsche dagesessen hätte, wäre ich rausgegangen, damit er in Ruhe telefonieren kann. Aber ich konnte nicht gut in den Flur rausgehen, weil da die anderen Patienten warteten, deswegen blieb ich und hörte den Anrufer genauso deutlich, wie Dr. Cohen ihn hörte. Es war Joe Kestler, und der war stinkwütend, weil er gerade die Arztrechnung bekommen hatte. Sehen Sie, die vier Ärzte haben zwar jeder eine eigene Praxis und ein eigenes Sprechzimmer, aber sie haben einen gemeinsamen Buchhalter und eine gemeinsame Sprechstundenhilfe und MTA. Es ist eine Gemeinschaftspraxis, aber eher wie eine Klinik. Und die Klinik verschickt die Rechnungen.»
«Ja, ich weiß, wie das gehandhabt wird», sagte der Rabbi.
«So was gibt es ziemlich häufig, heutzutage. Na ja, Kestler hatte also seine Monatsrechnung bekommen und war empört, denn er meinte, die Behandlung durch Dr. Cohen habe zum Tod seines Vaters geführt. Wahrscheinlich setzte er voraus, das Ableben seines Vaters lösche automatisch alle Schulden der Familie beim Arzt. Er sagte weiter, er werde ihn wegen falscher Behandlung verklagen – ‹auf jeden Cent, den Sie besitzen›, drückte er es aus –, und er habe stichhaltige Beweise, denn Rabbi Small sei zugegen gewesen, als er ihm die Pille gegeben habe …»
«Ich verstehe. So bin ich ins Spiel gekommen.»
Lanigan nickte. «Ganz recht. Also, ich habe nichts zu Dr. Cohen gesagt, als er auflegte. Man merkte ihm an, dass er verlegen war. Aber ich dachte, ich sollte mir die Sache doch mal näher ansehen.» Er lachte entschuldigend. «Im Grunde ist es ja keine Angelegenheit für die Polizei, weil sie uns nicht gemeldet worden ist. Wenn Kestler Dr. Cohen wegen falscher Behandlung verklagen will, so ist das eine Zivilklage und sein gutes Recht. Andererseits wird Kestler nach allem, was ich da am Telefon gehört habe, und da ich ihn ja ein bisschen kenne, bestimmt sein großes Maul aufreißen, und das kann einen Arzt ruinieren, vor allem einen Mann wie Cohen, der sehr schüchtern ist und, da er neu in dieser Gegend ist, sich noch keine Anhängerschaft gesichert hat.»
«Ich verstehe.»
«Die Polizei ist aber auch noch in einer anderen Hinsicht in die Sache verwickelt», fuhr Lanigan fort. «Es war der Beamte aus dem Streifenwagen, der das Medikament ablieferte …»
«Ja, stimmt. Ich habe gesehen, wie der Wagen vorfuhr. Wie kam es dazu?»
«Na ja, Dr. Cohen hatte das Rezept an den Drugstore durchtelefoniert, und einer von den Kunden, ein Mr. Safferstein …» Er sah den Rabbi fragend an.
«Ja, den kenne ich. Ein netter Kerl.»
«Ja. Also, dieser Safferstein erbot sich, das Medikament abzugeben, weil im Drugstore niemand Zeit hatte und Kestlers Haus an seinem Heimweg lag. Aber dann ging der Sturm los, und Safferstein hielt unter einer Straßenlaterne, weil es so stark regnete. Der Streifenwagen entdeckte ihn und hielt ebenfalls, um ihn zu fragen, ob alles in Ordnung sei, und er bat den Beamten, die Flasche mit den Pillen bei Kestler abzugeben.»
«Ich verstehe.»
«Dann wurde die Polizei wieder hineingezogen, als der Krankenwagen den Alten ins Krankenhaus brachte. Kestler begann an Ort und Stelle, in dem Zimmer, in dem sein toter Vater lag, Dr. Cohen zu beschuldigen. Er behauptete, sein Vater sei an den Pillen gestorben. Darum machte der Arzt, der mit dem Krankenwagen gekommen war, den Vorschlag, die Polizei solle die Pillen in Aufbewahrung nehmen.» Lanigan holte seine Brieftasche aus der rückwärtigen Hosentasche und entnahm ihr einen Zettel, den er auf den Teetisch warf. «Das ist die Kopie der Quittung, die der Sergeant ihm ausgestellt hat.»
Der Rabbi nahm den Zettel und las laut: «Erhalten von Joseph Kestler zur polizeilichen Aufbewahrung eine Flasche mit achtzehn Pillen.» Er brach ab und sah Lanigan an. «Achtzehn?»
«Aha, es fällt Ihnen also ebenfalls auf.»
«Chai», murmelte Miriam, und ihr Mann lächelte.
Der Chief sah sie beide fragend an.
Der Rabbi erklärte ihm, was sie meinten. «Chai heißt achtzehn auf hebräisch, aber es heißt auch Leben. Das ist eine Art Numerologie, mit der sich einige der alten Rabbis beschäftigten. Sehen Sie, das hebräische Alphabet ist zugleich ein Zahlensystem. A ist eins, B ist zwei, C ist drei und so weiter. AB wäre also zwölf, BC dreiundzwanzig und ABC einhundertdreiundzwanzig.»
«Ich verstehe.»
«Einige der Zahlen ergeben Wörter, und das hat zu vielen komplizierten und mystischen Bibelauslegungen geführt. Einige dieser Wörter-Zahlen-Verbindungen blieben hängen und wurden zum Allgemeingut. Eine davon war chai, achtzehn, das auch die Bezeichnung für Leben ist. Man gibt wohltätige Spenden etwa in Höhe von achtzehn oder dem Mehrfachen von achtzehn.» Er lächelte. «Und das ist überaus vorteilhaft. Wenn jemand zum Beispiel fünfzehn Dollar spenden will, ist es kinderleicht, die Spende hochzutreiben, indem man vorschlägt, die Leute sollten doch chai Dollar spenden, also achtzehn: ein Nettogewinn von drei Dollar und so gut wie schmerzlos.»
«Und wenn dieser Jemand nun zwanzig geben will? Soll er die Spende dann aus demselben Grund auf achtzehn reduzieren?», fragte der Chief.
Miriam lachte. «Ein guter Spendensammler würde versuchen, ihn auf sechsunddreißig hochzutreiben, dem doppelten chai.» Sie nahm ihrem Mann die Quittung aus der Hand und studierte sie. «In diesem Fall erscheint mir chai jedoch nicht so recht angebracht. Was ist Besonderes an achtzehn Pillen?»
Der Polizeichief sah sie voll Zuneigung an. «Nun, wenn achtzehn in der Flasche sind und er eine genommen hat, dann heißt das, dass ursprünglich neunzehn vorhanden waren, und das ist eine ungewöhnliche Anzahl für ein Rezept. Außerdem stand auf dem Etikett, der Patient müsse viermal am Tag eine Pille nehmen, neunzehn waren also …»
«Ah, ich verstehe!», sagte Miriam aufgeregt. «Sie glauben, man hat ihm zwei gegeben, und dann ist er daran gestorben.»
«Was meinen Sie, David?» Der Chief wandte sich an den Rabbi. «Sie waren dabei.»
Der Rabbi krauste nachdenklich die Stirn. «Warten Sie. Ich hörte die Klingel, blickte aus dem Fenster und sah den Streifenwagen. Dann kam Mrs. Kestler mit den Pillen herauf. Ich erinnere mich, dass sie den Deckel von der Flasche geschraubt und den Wattepfropfen herausgenommen hat.» Er schüttelte den Kopf. «Das ist alles. Dann habe ich mich abgewandt.»
«Aber warum? Was war passiert?»
Der Rabbi schüttelte den Kopf. «Gar nichts Besonderes. Sehen Sie, Kestler war ein alter Mann. Seine Hände zitterten, und sie zitterten noch stärker, wenn jemand ihm zusah. Also wandte ich mich ab, als sie ihm das Glas Wasser reichte.»
«Dann haben Sie also nicht gesehen, ob sie ihm eine oder zwei Pillen gegeben hat?», erkundigte sich der Polizeichef.
Der Rabbi schüttelte bedauernd den Kopf. «Worauf wollen Sie hinaus?»
«Nun, ich habe mich noch nicht bei Dr. Cohen erkundigt», antwortete Lanigan, «aber ich dachte mir, während eine Pille harmlos sein mag, können zwei eventuell gefährlich sein. Nach allem, was der Sergeant mir sagte, scheint der Alte allergisch reagiert zu haben. Nun ist bekannt, dass Menschen, die gewisse Dinge nicht vertragen, diese jahrelang einnehmen können, ohne Schaden zu erleiden. Und dann nehmen sie mal ein winziges bisschen mehr als normal, und schon setzt die allergische Reaktion ein.»
«Ich verstehe.» Der Rabbi nickte. «Und warum sollte Mrs. Kestler dem alten Herrn zwei Pillen geben, wenn das Rezept eine vorschrieb?»
Lanigan lehnt sich breit zurück. «Jetzt kommen wir in den Bereich der spekulativen Möglichkeiten, und da sehe ich zwei. Die erste und wahrscheinlichste ist, dass sie ihm zwei gab, weil sie dachte, zwei sind besser als eine. Mein Vater hätte so was zum Beispiel getan. Er nahm immer ein bisschen mehr als vom Arzt vorgeschrieben, wahrscheinlich weil er vermutete, die rezeptierte Dosis sei das Minimum, das der Patient zu nehmen habe. Damals schmeckten außerdem alle Arzneimittel scheußlich bis widerlich, und er wollte meinem Bruder Pat und mir beweisen, dass er sich überwinden konnte. Als Lehre zur Charakterstärke, sozusagen.»
«Ohne negative Auswirkungen, vermute ich.» Der Rabbi lächelte.
Lanigan lachte. «Ich möchte annehmen, dass die Arzneien damals, so schlecht sie schmeckten, nicht ganz so stark waren. Ausgenommen Rizinusöl.»
«Und die zweite Möglichkeit?»
«Ich habe das bestimmte Gefühl, dass die Pflege des Alten hauptsächlich auf den Schultern der Schwiegertochter lastete. Angenommen, sie hatte es satt, das Aschenbrödel zu sein. Angenommen, sie hatte es satt, den Alten hinten und vorn zu bedienen. Ein alter, kranker Mann kann sehr lästig werden, sehr anstrengend. Wenn sie ihm nun zwei Pillen gab, weil sie ihn gern loswerden wollte?»
Der Rabbi zuckte die Achseln. «Und woher sollte sie wissen, dass zwei Pillen genügen?»
«Sie hat es möglicherweise vermutet. Vielleicht hat der Doktor sie gewarnt, ihm nicht mehr als die vorgeschriebene Dosis zu geben.»
«Aber das wäre Mord!», rief Miriam entsetzt.
«Wenn man es ihnen nachweisen kann. Ein guter Anwalt kann Totschlag oder Tötung aus Mitleid daraus machen», erwiderte Lanigan. «Aber Sie wären erstaunt, wenn Sie wüssten, wie viele Tötungen dieser Art begangen werden: Einem Mann wird, während er einen Herzanfall hat, die Nitroglyzerinkapsel aus der Hand geschlagen, einem Diabetiker, der einen Insulinschock bekommt, wird das Stück Schokolade vorenthalten, die Sache hier in der Stadt vor ein paar Jahren mit Isaac Hirsch … Nur wenige kommen jemals vor Gericht, aber wir von der Polizei erfahren davon.»
«Überprüfen Sie jedes Mal die Möglichkeit eines Mordes, selbst wenn es nahezu mit Sicherheit ein natürlicher Tod war?», erkundigte sich Miriam.
«Natürlich nicht. Doch wenn der Tod jemandem überaus gelegen kommt, oder wenn jemand dadurch schwer geschädigt wird wie in diesem Fall Dr. Cohen, mache ich mir so meine Gedanken. Und manchmal horche ich ein bisschen herum.»
«Und das sind nun Ihre beiden Möglichkeiten?», fragte der Rabbi. «Es muss doch noch eine Menge andere geben.»
«Zum Beispiel?»
Wieder zuckte der Rabbi die Achseln. «Die wahrscheinlichste wäre, dass im Drugstore nur neunzehn Pillen in die Flasche gefüllt worden sind. Oder Joe Kestler hat seiner Frau befohlen, seinem Vater zwei Pillen zu geben.»
«Warum sollte er?»
«Aus demselben Grund, aus dem Sie das Gleiche bei ihr vermuten. Und das wäre auch eine Erklärung dafür, dass Joe Kestler ein so großes Aufheben wegen der Autopsie gemacht hat. Gewiss, zwei Pillen können ihm andererseits auch überhaupt nicht geschadet haben.»
«Ich glaube, Sie haben Recht», antwortete Lanigan bedauernd. «Es ist ja auch nur, weil Dr. Cohen in der Klemme sitzt und ich ihm gerne helfen möchte.»
«Nun, wenn Sie noch mehr Möglichkeiten wollen …»
«Ja, bitte?»
«Die pharmazeutische Firma, die die Pillen herstellt, kann die Zusammensetzung ein wenig verändert haben. Oder diese spezielle Lieferung ist schlecht geworden. Oder die Pille vertrug sich nicht mit etwas, was der alte Herr genommen hatte, ohne dass Dr. Cohen davon wusste. Noch mehr?»
«Nein danke. Ich hab’s kapiert.» Lanigan grinste ein wenig hilflos. «Ich wollte den Kestlers keinen Mord anhängen. Ich dachte nur, ich könnte meine Theorie benutzen, um Joe Kestler den großen Mund zu stopfen, damit er einem netten Mann wie Dr. Cohen nicht weiter schaden kann.»
Der Rabbi überlegte. «Nun, zu diesem Zweck können Sie sie immer noch benutzen. Es besteht nun die Gefahr, dass Joe hinsichtlich seiner Frau nachdenklich wird, wenn Sie ihn darauf hinweisen, dass eine Pille fehlt und dass der alte Kestler daher zwei genommen haben kann. Das könnte ziemlich schlimm für Mrs. Kestler werden.»
«Sie sind mir doch stets eine Hilfe, David», sagte Lanigan trübselig, als er sich erhob.
Als er ging, fragte Miriam: «Glaubst du wirklich, er ist zufällig vorbeigekommen, weil er gerade hier in der Gegend war, David?»
«Bestimmt nicht, wenn er sich die Mühe gemacht hat, von der Quittung des Sergeants eine Kopie anzufertigen. Und das lässt vermuten, dass Lanigan misstrauisch ist, was den Tod von Kestler betrifft.»
«Ich verstehe nicht …»
«Mein Wagen hat in der Einfahrt gestanden, seit ich heute Morgen gegen halb acht von der Morgenandacht nach Hause gekommen bin. Also gut. Lanigan fährt zu Dr. Cohen in die Praxis nach Lynn. Nehmen wir an, er war der erste Patient, dann wäre er gegen neun Uhr bestellt gewesen. Warum ist er nicht auf dem Rückweg zu uns gekommen? Stattdessen ist er erst zum Polizeirevier gefahren und dann hergekommen.»
«Woher weißt du das? Vielleicht war er erst später zur Untersuchung bestellt. Vielleicht kam er jetzt gerade aus der Praxis und hat wirklich nur hereingeschaut, weil er deinen Wagen sah.»
«Dann hätte er keine Kopie der Quittung bei sich gehabt», erwiderte der Rabbi triumphierend. «Nein, irgendetwas beschäftigt Lanigan. Und zwar nicht nur die Vermutung, dass Kestler bösen Klatsch über Dr. Cohen in die Welt setzt. Die ganze Fragerei, warum der alte Kestler am nächsten Tag schon beerdigt worden ist, lässt darauf schließen, dass er irgendwo Unrat wittert.»
«Du meinst, er glaubt, dass der Alte ermordet wurde?»
Der Rabbi schürzte die Lippen und überlegte. «Lanigan ist sein Leben lang Polizist gewesen. Wenn man einen Beruf so lange ausübt, entwickelt man einen sechsten Sinn im Hinblick auf die Dinge, die damit zusammenhängen. Eine Alarmglocke fängt an zu schrillen. Gestern zum Beispiel erzählte mir Kaplan von der Beerdigung und Joe Kestlers Verhalten. Als Anwalt sagte ihm sein sechster Sinn, dass Kestler vorhabe, Klage wegen falscher Behandlung einzureichen. Irgendetwas, was er sagte, hat die Alarmglocke bei ihm ausgelöst. Nun, und ich habe das Gefühl, Lanigan hat auch eine Alarmglocke gehört.»