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Da es Akiva Rokeachs erstes Gespräch mit dem rebbe sein sollte, meinte Baruch, der gabbe, er müsse ihm erklären, wie er sich zu verhalten habe. «Vergiss nicht, Akiva, dem rebbe widerspricht man nicht», dozierte er ernst. «Reb Mendel ist ein zaddik, das heißt ein frommer Mann, so etwas wie ein Heiliger.» Baruch war klein und gedrungen, mit schütterem, grauem Haar, das er aus der hohen Stirn zurückgekämmt trug, auf der, sobald er ärgerlich wurde, deutlich sichtbar eine blaue Ader pulsierte. Er hielt den Stummel einer filterlosen Zigarette zwischen seinem nikotinverfärbten Daumen und dem Zeigefinger, inhalierte einen letzten Zug und warf ihn dann bedauernd in einen Aschenbecher, wo er weiter vor sich hin glimmte. Er war ein sehr nervöser, reizbarer Mensch, in seiner Funktion als gabbe aber, als Sekretär und Faktotum des rebbe also, war er von Bedeutung. Denn nur über ihn führte der Weg zum rebbe. «Selbst wenn der rebbe sich scheinbar irrt», fuhr er jetzt fort, «wenn du zum Beispiel meinst, er hätte in seinen Ausführungen über das Gesetz falsch zitiert, darfst du ihn weder darauf hinweisen noch ihn korrigieren. Sondern du solltest über den Grund nachdenken, warum Reb Mendel absichtlich falsch zitiert hat.» Er hielt inne, um sich eine neue Zigarette anzuzünden. «Und vor allem, wenn er ein Urteil fällt, hast du es ohne Einwände hinzunehmen.»

«Ich verstehe», sagte Akiva Rokeach bescheiden.

Die Ader auf der Stirn des gabbe pulsierte ärgerlich über die Unterbrechung. «Er besitzt nämlich die tiefere Einsicht, weißt du, und man kann nicht erwarten, dass er so denkt wie du.»

Diesmal nickte Akiva nur zustimmend. Er gehörte zwar schon seit über einem halben Jahr zu der Gruppe, aber erst jetzt sollte er Reb Mendel in seinem Arbeitszimmer zum ersten Mal allein gegenüberstehen, und diese Chance wollte er sich nicht verderben, indem er den gabbe unnötig reizte.

Baruch musterte den jungen Mann, der vor ihm stand, mit unverkennbarer Missbilligung; sein langes Haar, den wirren blonden Bart, die geflickten, in die schweren Stiefel gestopften Jeans. «Hast du ein kvitl?», fragte er mürrisch, und als Akiva ihn nicht verstand, übersetzte er ungeduldig: «Ein Gesuch, ein schriftliches Gesuch. Du erwartest doch wohl nicht, dass der rebbe wartet, während du ihm alles erklärst, oder?»

«Ach so! Ja, gewiss. Hier ist es.»

«Und ein pidjon

Akiva zog einen Fünfdollarschein aus seiner Brieftasche und überreichte ihn dem gabbe als Zeichen der Dankbarkeit dafür, dass der rebbe ihn allein empfing. Baruch warf einen Blick auf die Banknote und notierte sich etwas in seinem Buch.

«Warte hier. Ich werde nachsehen, ob der rebbe jetzt Zeit für dich hat.» Er klopfte an die Tür des Studierzimmers, wartete einen Augenblick und trat dann ein, wobei er die Tür behutsam hinter sich ins Schloss zog. Kurz darauf kam er zurück und winkte dem jungen Mann, er könne eintreten.

Akiva hatte Reb Mendel noch nie aus so großer Nähe gesehen. Bei den farbrengen, den festlichen Versammlungen, musste er sich als jüngstes Mitglied der Gruppe völlig zurückhalten. Und wenn der zaddik nach der dritten Mahlzeit am Sabbat die Thora auslegte und die Philosophie erklärte, hatte er stets am äußersten Ende des Gemeinschaftstisches gesessen, fast durch die ganze Länge des Saales von ihm getrennt.

Jetzt saß Reb Mendel hoch aufgerichtet in seinem thronähnlichen Sessel hinter dem großen, geschnitzten Walnussschreibtisch. Er war – ja, wie alt? Dreißig? Vierzig? Fünfundvierzig? Schwer zu schätzen. Der lange Bart wurde schon grau, jedoch die Hand, die ihn zuweilen strich, war die eines noch jungen Mannes.

«Ah, unser junger Wikinger», murmelte Reb Mendel und nickte zu einem Stuhl neben dem Schreibtisch hinüber.

«Wie bitte, rebbe? Ich habe nicht ganz verstanden …»

Reb Mendel lächelte. «Nichts weiter. Ein kleiner Scherz. Du möchtest hier also eine Woche bleiben?»

«Ich habe eine Woche Urlaub», erklärte Akiva. «Und dachte, die könnte ich am besten hier mit Beten und Meditieren verbringen.»

Der rebbe warf einen kurzen Blick auf die Karte, die Baruch vor ihm auf die Schreibtischplatte gelegt hatte. «Du bist erst sieben Monate bei uns», sagte, er. «Du hast weder die Ausbildung noch die Vorbildung, die notwendig ist, um einen solchen Aufenthalt zu lohnen. Du hast keinerlei religiöse Erziehung genossen, nicht einmal das Minimum, das die meisten jüdischen Jungen bekommen, um sich auf die Bar Mizwa vorzubereiten.»

Akiva senkte den Kopf. «Meine Eltern sind nicht religiös. Mein Vater ist Agnostiker, und ich wurde ebenfalls agnostisch erzogen. Ich bin nie wie die anderen Jungen in unserem Viertel zur jüdischen Schule gegangen, und wir gehörten auch nicht zur Synagoge.»

«Deine Eltern leben hier in Philadelphia?»

«Nein, ich komme aus Massachusetts, aus einer Kleinstadt nördlich von Boston. Barnard’s Crossing.»

«Und wann hast du sie zuletzt gesehen?»

Akiva errötete. «Na ja, seit einiger Zeit schon nicht mehr, aber ich telefoniere manchmal mit ihnen, vor allem mit meiner Mutter.»

«Mit deinem Vater hattest du Streit.» Das war eine nüchterne Feststellung. Als wisse er genau Bescheid. «Erzähl mir davon.»

«Mein Vater hat einen Drugstore, und als ich mein Apothekerexamen abgelegt hatte, half ich ihm im Geschäft. Aber wir haben uns nie richtig verstanden.»

«Das war aber nicht der Grund, warum du fortgegangen bist – und nicht wieder heimkehren willst.»

Akiva nickte bereitwillig, ja eifrig, um zu zeigen, dass er nichts verschweigen wollte. «Da gab es ein Lokal, das ich häufig besuchte, eine Art Nightclub. Die hatten ein Hinterzimmer, wo gespielt wurde …»

«Und Mädchen?»

«Ja, Mädchen hatten sie da auch. Na ja, eines Abends hatte ich nicht genug Geld bei mir, und ich gab ihnen einen Schuldschein über fünfzig Dollar. Dann kam jemand – nicht der Besitzer, sondern ein Mann, der behauptete, ihn von dem Besitzer gekauft zu haben – zu mir ins Geschäft. Nur dass der Schuldschein von fünfzig auf einhundertfünfzig rauffrisiert worden war.»

«Hast du deinen Vater um das Geld gebeten?»

«N-nein. Er hätte ja doch kein Verständnis dafür gehabt. Er ist … na ja, ziemlich spießig. Er wäre bestimmt zur Polizei gelaufen.»

«Darum hast du das Geld aus der Kasse genommen, nicht wahr?» fragte der rebbe.

Akiva nickte ohne jede Verlegenheit. Das war das Großartige an der Gruppe. Man konnte vollkommen aufrichtig sein. «Das war kinderleicht. Ich schloss morgens auf und abends ab, wissen Sie, darum machte ich auch die Kasse. Meistens rechnete ich abends ab, aber wenn ich’s mal eilig hatte, verschob ich’s auf den nächsten Morgen. Eines Morgens, als ich mal verschlafen hatte, schloss mein Vater das Geschäft auf. Ich wollte das Geld natürlich in ein paar Wochen wieder zurückgeben.»

«Aber dein Vater erwischte dich, ehe du dazu Gelegenheit hattest.»

«Ganz recht. Es gab einen fürchterlichen Krach, und ich bin weg.»

«Wohin?»

«Ach, ich bin einfach im Land rumgezogen. Eine Zeit lang war ich in Kalifornien. Und dann hab ich mich hier nach Philly zurückgejobbt.»

«Warum hierher?»

«Weil ich hier Pharmazie studiert habe. Daher kannte ich die Stadt.»

«Und was hast du gemacht, während du im Land herumgezogen bist? Und seit wann bist du von zu Hause fort?»

«Seit ungefähr drei Jahren. Meistens habe ich gearbeitet. Ich suchte mir einen Job in einem Drugstore – Apotheker waren gefragt – und arbeitete eine Weile, und dann zog ich weiter zum nächsten Ort.»

«Weil du mit dir selbst im Unfrieden warst», stellte Reb Mendel nüchtern fest.

«Nein, ich …» Ihm fiel ein, dass er dem rebbe nicht widersprechen durfte. «Ja. Aber ich wollte auch verschiedene Weltanschauungen ausprobieren. Eine Zeit lang habe ich mich mit Yoga beschäftigt, und mit Zen.» Er fasste Mut. «Wie ich hörte, haben Sie auch …»

Reb Mendel lächelte, ein breites, sonniges Lächeln, das ebenmäßige weiße Zähne sehen ließ, und einen Augenblick wirkte er sehr jung, nicht älter als Akiva selbst. «Während ich meine Doktorarbeit in Anthropologie schrieb, lebte ich eine Zeit lang bei den Indianern und studierte ihre Religion. Später verbrachte ich einige Zeit in Indien, wo ich östliches Gedankengut und transzendentale Meditationen studierte. Letztlich aber muss man das Äquivalent dazu im eigenen Kulturkreis finden. Man muss heimkehren. Ich bin heimgekehrt. Und du musst es auch tun, Akiva.»

«Aber wenn ich hier bleibe, nur bis zum Ende dieser Woche …»

Reb Mendel schüttelte den Kopf. «Du weißt noch nicht genug, um von diesem Aufenthalt zu profitieren. Man sagte mir, dass du in der Zeit, seit du bei uns bist, gelernt hast, deine Gebete auf Hebräisch zu lesen – stockend. Aber du verstehst natürlich nicht, was du liest. Wenn wir uns hier unterhalten, sprechen wir englisch, gewiss, aber ebenso jiddisch und gelegentlich hebräisch, was du beides nicht verstehst. Du würdest nur deine Zeit verschwenden. Du hast noch ein paar Tage von deinem Urlaub, darum rate ich dir, nutze sie und fahr nach Hause.»

Der junge Mann gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Reb Mendels Züge wurden weicher. «Siehst du denn nicht ein», sagte er freundlich, «dass der Streit mit deinem Vater deine spirituelle Entwicklung behindert? Solange es in deiner Vergangenheit etwas gibt, das dich beunruhigt und deine Konzentration stört, wirst du niemals die Ruhe und Gelassenheit erreichen, die für die Ekstase, die wir anstreben, Voraussetzung ist.»

«Es ist ja nicht nur das», flehte Akiva. «Wir sind nie miteinander ausgekommen. Er hatte so altmodische Ideen – sogar über die Geschäftsmethoden. Vieles wollte er nicht führen, weil er meinte, es vertrage sich nicht mit der Würde einer Apotheke. Sogar die Rezepte mussten auf eine ganz bestimmte Art und Weise ausgeführt werden. Während zum Beispiel jede Apotheke in der Stadt Plastikröhrchen für Pillen benutzte, nahm er immer noch Glasflaschen, weil er behauptete, die Röhrchen seien nicht luftdicht, obwohl es nur ein paar Pillen gab – Nitroglyzerin etwa –, die an der Luft verderben.»

«Und das findest du unerträglich?»

«Nein, aber altmodisch. Die Flaschen sind teurer, und statt das Etikett, wie bei den Röhrchen, einfach reinzuschieben, musste man es aufkleben. Das sage ich jetzt nur als Beispiel. Na, und dass wir länger offen hatten als die anderen Geschäfte, weil er fand, so viel Verantwortlichkeit müsse eine Apotheke der Bevölkerung gegenüber schon aufbringen. Manchmal riefen Ärzte mitten in der Nacht an, und ich musste rüber ins Geschäft, um das Medikament fertig zu machen und es vielleicht sogar noch abzuliefern.»

«Und darüber habt ihr euch gestritten? Das war doch eine gute Tat, eine mizwe. Du hast kranken Menschen geholfen.»

«Nein, darüber haben wir nicht gestritten. Ich wollte Ihnen nur eine Vorstellung davon geben, wie ich über das Geschäft dachte.» Er lächelte matt. «Deswegen habe ich an jenem Morgen verschlafen. Wenn das eine mizwe war, dann habe ich, weiß Gott, keinen Lohn dafür erhalten.»

«Für eine mizwe erwartet man keinen Lohn. Wenn man das tut, ist es keine mizwe mehr, sondern der Versuch, mit dem Allmächtigen einen Handel abzuschließen. Außerdem erkennt man den Lohn nicht immer, wenn man ihn erhält.» Nachdenklich strich er sich den Bart.

«Ja, das mag sein», stimmte Akiva bedrückt zu und starrte nachdenklich auf seine Hände. Dann hob er den Kopf und versuchte es noch einmal. «Er hat mir auch nicht so viel bezahlt, wie er einem anderen Apotheker hätte zahlen müssen, und ich habe viel länger gearbeitet. Weil ich sein Sohn war. Er sagte immer: ‹Das Geschäft gehört dir. In ein paar Jahren werde ich mich zurückziehen, und du wirst es übernehmen, wie ich damals von meinem Vater.› Als wäre das eine Familientradition», ergänzte er bitter, «wie bei einer Bank, einer Eisenbahnlinie oder einem großen Konzern. Dabei war’s doch bloß ein kleiner Drugstore. Und wenn das Geschäft mir gehörte, wieso schlug er dann solchen Krach, als ich mir etwas von dem nahm, was mir ohnehin gehörte?»

«Diese Familientradition – hast du überhaupt kein Gefühl dafür?»

Der junge Mann schüttelte den Kopf. «Für mich ist das nichts weiter als ein Job. Wenn ich nach Hause zurückkehre, fängt er wieder davon an, dass ich die Tradition fortsetzen soll, und dann gibt es wieder Streit.»

Reb Mendel nickte nachdenklich. Schließlich sagte er in einem Ton, der jede Widerrede ausschloss: «Diese Meinungsverschiedenheit mit deinem Vater beunruhigt mich. Es ist etwas, das du nicht vergessen kannst. Und darum ist es eine psychologische und geistige Infektion, die geheilt werden muss, weil sie sich sonst ausbreitet und deinen geistigen Niedergang auslöst. Kehre heim, Akiva. Kehre heim.»