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Um zwölf steckte Dr. Kantrovitz den Kopf durch die Bürotür seines Kollegen und fragte: «Lunch?»
«Sofort», antwortete Muntz. «Kommen Sie, wir holen Dan. Was ist mit John?»
«Der ist noch nicht aus dem Krankenhaus zurück.»
Dr. Kantrovitz ging über den Flur zu Dr. Cohens Praxis und rief: «Wie wär’s mit Lunch, Dan?»
Und Cohen, der während der letzten zehn Minuten dagesessen und sich gefragt hatte, ob sie ihn wohl zum Mitkommen auffordern würden, antwortete munter: «Ja, ich verhungere.»
Erst als die drei Herren beim Kaffee saßen, erkundigte sich Muntz nach der Klausur.
Dan Cohen lächelte breit. «Oh, das war schon ganz in Ordnung. Wissen Sie, mal völlig weg von allem hier. Und dieses Beten und Meditieren, das die da machen – na ja, das war auch gar nicht so schlecht. Nach einer Weile kommt man rein, und dann kann es richtig entspannend sein.»
«Entspannend?», fragte Al Muntz erstaunt. «Ist das alles? Chet Kaplan meinte – er sagte, er hätte Sie getroffen, als Sie wieder zu Hause waren –, Sie wären regelrecht euphorisch gewesen.»
«Ach so, das!» Dr. Cohen lachte. «Ja, ich glaube, das war ich wohl. Wissen Sie, diese Kestler-Sache hat mich ziemlich bedrückt, obwohl ich ganz sicher war, dass ich dem Alten das richtige Medikament gegeben hatte. Trotzdem machte ich mir Gedanken … na ja, weil Kestler eben Kestler ist. Und auch, weil Sie alle auf die Tatsache, dass er mich verklagen wollte, so merkwürdig reagiert hatten. Eigentlich war das der Grund, warum ich mich überhaupt entschloss, an der Klausur teilzunehmen. Ich bin nicht religiös, aber ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit, mal aus allem ganz rauszukommen. Na ja, und als ich kaum wieder zu Hause war, da kam der Anruf von Chief Lanigan.»
Er berichtete den anderen von seinem Gespräch mit Lanigan und endete: «Kaplan kam also unmittelbar danach vorbei und fragte mich, wie mir das Wochenende gefallen hätte. Und da sagte ich natürlich, dass ich mich großartig fühlte.»
«Dann hat Kestler also nicht das Medikament bekommen, das Sie ihm verschrieben haben?», fragte Muntz.
«Nein. Er hat stattdessen Penicillin bekommen.»
«Und er war allergisch gegen Penicillin?»
«Hm-hm. Deswegen hatte ich ja Limpidine verschrieben.»
«Dann hat er wahrscheinlich darauf reagiert, und das kann ohne weiteres die Todesursache gewesen sein», meinte Kantrovitz.
«Ja, aber nicht auf Dans Verschreibung hin», betonte Muntz.
«Was haben Sie denn nun unternommen?», wollte Kantrovitz von ihm wissen.
«Ich wollte natürlich Aptaker aufsuchen und mich mit ihm auseinander setzen, aber Lanigan sagte, da die Polizei in die Sache verwickelt sei, wolle er zunächst alles nachprüfen, deswegen habe ich vorläufig nichts unternommen. Ich hatte erwartet, er würde sofort damit anfangen. Aber als ich nichts von ihm hörte, dachte ich mir gestern auf dem Heimweg, gehst lieber mal beim Drugstore vorbei …»
«Und?»
«Und gar nichts», gab Cohen zurück. «Als ich hinkam, hatte Aptaker einen Herzanfall, also brachte ich ihn ins Krankenhaus.»
«Aptakter liegt mit einem Herzanfall im Krankenhaus?»
«Ganz recht, er ist mein Patient. Ich kann ihm unmöglich jetzt was davon sagen. Er würde es nicht überleben. Auf jeden Fall würde er einen Rückfall haben.»
«Aber hören Sie, irgendwas müssen Sie doch unternehmen», sagte Muntz. «Sie können doch nicht länger dulden, dass Kestler sich den Mund über Sie zerreißt, wo Sie restlos rehabilitiert sind. Das könnte Ihrer Praxis schaden, und uns anderen täte es auch nicht gerade gut.»
«Wissen Sie, was Sie tun sollten?», fragte Kantrovitz feierlich. «Sie sollten sich aus diesem Fall zurückziehen. Sagen Sie Aptaker, er soll lieber einen Herzspezialisten nehmen, Sie hätten das Gefühl, nicht …»
«Kompetent zu sein?», unterbrach Cohen. «Glauben Sie mir, wenn ich das Gefühl hätte, würde ich ihn sofort an einen Kardiologen überweisen. Aber bisher haben sich keine Komplikationen ergeben. Ich habe ihm eine Diät mit wenig Fett und viel Proteinen verschrieben. Ich beobachte seine täglichen EKGs und Enzymtests und …»
«Ich meine ja nicht, dass Sie dem Fall nicht gewachsen sind», entgegnete Kantrovitz. «Ich meine nur, Sie sollten ihm das sagen, damit Sie ihn problemlos abgeben können. Dann wäre er nicht mehr Ihr Patient, und Sie können frei handeln.»
Cohen schüttelte störrisch den Kopf. «Selbst wenn er nicht mehr mein Patient wäre, könnte ich so was nicht tun. Wenn Sie ihn von mir übernähmen, Ed», fragte er, «würden Sie dulden, dass ich ihm sage, er habe sich bei einem Rezept geirrt und dadurch den Tod eines Menschen auf dem Gewissen?»
«Nein, aber …»
«Also was wollen Sie tun?», fragte Al Muntz.
«Ich weiß es nicht. Abwarten, nehme ich an.»
Dr. Muntz lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob die Hände in die Hosentaschen. Langsam, verwundert schüttelte er den Kopf. «Wissen Sie was, Dan? Sie haben es wieder mal geschafft.»
«Was denn geschafft?»
«Sich mit einem Patienten zu belasten, dem gegenüber Sie gefühlsmäßig engagiert sind.»
Doch später, als er mit Kantrovitz allein war, sagte Muntz: «Wissen Sie, Ed, Dan ist ein verdammter Idiot, aber ich kann nicht anders, ich bewundere ihn. Er riskiert es, dass seine Praxis in die Binsen geht, bloß weil er einem seiner Patienten nicht wehtun will. Vielleicht ist das schon immer der Nachteil für ihn gewesen: Er glaubt tatsächlich an all den Unsinn, den die Dekane der medizinischen Fakultät ihren Studenten am Anfang verzapfen.»
«Aber Al, wenn Sie in Dans Lage wären, würden Sie es Aptaker sagen?»
«Natürlich nicht», antwortete Muntz. «Aber ich wäre gar nicht erst in diese Lage gekommen.»