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Als Rabbi Small den im Souterrain gelegenen Betraum der Synagoge betrat, in dem wochentags die Andachten abgehalten wurden, zählte er automatisch die Anwesenden und fragte dann, in der Hoffnung, dass einer oder mehrere Männer auf eine Zigarettenlänge hinausgegangen waren: «Sind wir zehn? Sind wir ein minjen?»

«Nein, Rabbi. Sie sind der neunte, aber Chet Kaplan muss jeden Augenblick hier sein.»

Der Rabbi fand, die Neuerweckung der Religion, von der Kaplan gesprochen hatte, habe es bisher noch nicht leichter gemacht, einen minjen zusammenzukriegen. Abends war das kein Problem, der religiöse Eifer war jedoch offenbar nicht stark genug, die Gemeindemitglieder zu veranlassen, morgens eine halbe Stunde früher aufzustehen, um noch zur Morgenandacht zurechtzukommen.

Gleich nachdem er eingetreten war, hatte der Rabbi das schwarze Käppchen aufgesetzt, das er stets in der Tasche trug. Nun zog er die Jacke aus, knöpfte den linken Hemdsärmel auf und rollte ihn bis zur Schulter hoch. Von dem Stapel auf der Bank im Hintergrund des Betraums nahm er einen der schmalen, seidenen Gebetsschals, führte die Enden an seine Lippen und legte ihn sich, automatisch Segenssprüche murmelnd, um die Schultern. Aus dem kleinen blauen Samtbeutel, den er mitgebracht hatte, holte er die Phylakterien, die Gebetsriemen, Lederriemen mit kleinen schwarzen Kapseln, die Pergamentstreifen mit Zitaten aus der Bibel enthielten. Sie galten als «Mahnungen an Hand und Stirn … , dass euch der Herr mit mächtiger Hand aus Ägypten befreit hat». Er begann sie anzulegen: zuerst den Armriemen am linken Oberarm und somit dem Herzen am nächsten; dann den Stirnriemen, direkt unter dem Haaransatz. Seine Lippen bewegten sich, als er lautlos die entsprechenden Segenssprüche artikulierte.

Die anderen hatten sich ebenso vorbereitet, saßen nun mitten im Raum und unterhielten sich, hauptsächlich über Hurricane Betsy, dessen Spuren die Wetterberichte während der letzten Tage aufmerksam verfolgt hatten und der immer noch das Gebiet um Boston berühren konnte. Irving Hovik, eine Art Amateur-Meteorologe, erläuterte mit ausholenden Gesten, er könne «…. immer noch abschwenken. Über dem Meer gewinnt er an Kraft, über Land verliert er sie. Wenn er also abschwenkt und direkt auf uns zukommt, kann es schlimm werden, aber wenn er südlich von uns abschwenkt und dann die Küste heraufkommt, verliert er eine Menge Kraft, versteht ihr? Es kommt eben drauf an, wie viel Schwung er hat.»

Ganz an der Seite, am Ende des Mittelganges und abseits der anderen, entdeckte der Rabbi einen hoch gewachsenen jungen Mann, den er noch nie beim Gottesdienst gesehen hatte. Er trug sein blondes Haar lang und hatte einen dichten Bart. Bekleidet war er mit einer blauen Drillichjacke und blauen, in die Stiefel gestopften Jeans. Anstelle des schmalen, seidenen Gebetsschals, wie ihn alle anderen trugen, hatte er einen langen, wollenen, der ihm bis an die Knie reichte.

Als ihn der Rabbi eben willkommen heißen wollte, ergriff der junge Mann mit jeder Hand ein Ende des wollenen Gebetsschals, hob die Arme, kreuzte die Hände vor dem Gesicht und schloss sich somit ganz in den Schal ein. Die Geste erinnerte den Rabbi an seinen Großvater, einen orthodoxen Rabbi; der hatte genauso vorübergehend die Welt ausgeschlossen, um sich ganz auf das Gebet und das Gespräch mit Gott zu konzentrieren. Während er hinübersah, begann sich dieser weiße Kokon wie in Ekstase langsam von einer Seite zur anderen zu wiegen. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf – mit einer Andeutung von Bedauern, von Verärgerung? –, dass er selbst die das Anlegen des Phylakterions und des Gebetsschals begleitenden Segenssprüche mit der Zeit mehr oder weniger automatisch hergesagt hatte.

Jetzt kam Chester Kaplan hereingehastet, ein kleiner Mann von fünfzig Jahren mit Rundschädel und ewig lächelndem Gesicht. Er warf sein Jackett auf eine der hinteren Bänke und rollte den linken Hemdsärmel auf. «Sind wir zehn?» fragte er.

«Jetzt ja. Du bist der Zehnte. Fangen wir an.»

«Himmel, Chet, ein paar von uns armen Normalbürgern müssen arbeiten!»

«Ich weiß, ich weiß! Mein Wagen wollte nicht anspringen.» Er legte sein Phylakterion an.

Der junge Mann ließ den Gebetsschal sinken und legte ihn sich wieder um die Schultern. Der Rabbi ging auf ihn zu. «Ich bin Rabbi Small», sagte er.

Der junge Mann nickte lächelnd. «Ich weiß.» Er ergriff die dargebotene Hand. «Ich bin Akiva Rokeach.»

«Sind Sie neu in unserer Stadt, Mr. Rokeach?»

«Ich bin ein paar Tage auf Besuch.»

«Wir freuen uns, dass Sie gekommen sind.» Er sah lächelnd in die Runde. «Ohne Sie hätten wir heute Morgen keinen minjen gehabt.» Dann stellte er den Fremden die traditionelle Höflichkeitsfrage. «Möchten Sie vorbeten?»

Rokeach errötete. «Nein, lieber nicht.»

Die Höflichkeit verbot es ebenso, jemanden, der abgelehnt hatte, zu drängen. Also rief der Rabbi laut: «Wollen Sie vorbeten, Chester?»

«Okay.» Chester Kaplan nahm seinen Platz am Lesepult vor der Bundeslade ein. Während des anschließenden Gottesdienstes konnte der Rabbi, obwohl der größte Teil der Gebete nur gemurmelt wurde, deutlich hören, wie sein Nachbar mitintonierte, und begriff sehr schnell den Grund, warum der junge Mann die Bitte vorzubeten abgelehnt hatte: Sein Hebräisch war zu schlecht.

Da es ein Mittwoch und somit nicht einer der Tage war, da die Schrift gelesen wurde, dauerte die Andacht nicht sehr lange. Als die Männer ihre Gebetsriemen abgenommen und wieder aufgerollt hatten, nahmen sie die Gespräche dort wieder auf, wo sie unterbrochen worden waren.

Wichtigtuerisch kam Chester Kaplan auf den Rabbi zu. Vertraulich schob er ihm die Hand unter den Ellbogen und flüsterte ihm ins Ohr: «Ich muss Sie was fragen.»

Der Rabbi ließ sich von ihm zur Tür hinaus und dann auf den Parkplatz führen, obwohl er weder eine wichtige Bitte noch bedeutsame Enthüllungen erwartete. Chester Kaplan schien für Intrigen und ihre äußerlichen Manifestationen geboren zu sein: das vertrauliche Geflüster, das verständnisinnige Nicken und Blinzeln, die kleine Grimasse, die Stillschweigen beim Nahen eines Dritten heischte. Jetzt, beim Wagen des Rabbi angelangt und außer Hörweite etwaiger Lauscher, fragte er: «Haben Sie schon über diese Angelegenheit nachgedacht, die wir bei der letzten Aufsichtsratssitzung besprochen haben, Rabbi?»

«Meinen Sie die Klausur? Nun, in dieser Beziehung habe ich meine Ansicht nicht geändert.»

Leicht verärgert schürzte Kaplan die Lippen. Dann lächelte er jedoch wieder, ein strahlendes, freundliches Lächeln, bei dem sich Fältchen an seinen Augen zeigten. «Sie haben erklärt, die Synagoge könne sich so was nicht leisten», entgegnete er. «Nun gut. Sie haben mich überzeugt.» Mit unschuldigen, großen Augen sah er den Rabbi an. «Eigentlich hatte ich mir gedacht, wenn wir fleißig die Werbetrommel rühren, könnten wir genug Geld zusammenkriegen. Aber nachdem ich ein bisschen herumgehorcht hatte, wurde mir klar, dass Sie Recht haben und dass der Vorschlag schwer durchzubringen sein würde.» Lächelnd nickte er zu seinen Worten, als wolle er andeuten, er sei Manns genug, es zuzugeben, wenn er sich einmal geirrt habe.

«Nun …»

Kaplan packte den Rabbi beim Arm. «Aber wenn die Finanzierung kein Problem mehr wäre? Wenn ich Ihnen nun erklären würde, dass wir das Grundstück möglicherweise bekommen können, ohne dass es die Synagoge oder die Gemeindemitglieder einen einzigen Cent kostet?»

Der Rabbi lächelte. «Das Finanzierungsproblem war nur ein einziger meiner Einwände. Ich wäre immer noch dagegen.»

«Aber warum, Rabbi? Warum?» Sein Ton verriet gekränkte Fassungslosigkeit.

«Weil es nach Christentum riecht und nicht nach Judentum», antwortete der Rabbi prompt. «Es erinnert an Klöster, an eine Elfenbeinturm-Einstellung zum Leben. Klausur – allein das Wort vermittelt schon die Idee der Zurückgezogenheit aus dem Leben und aus der Welt. Das ist unjüdisch. Wir nehmen teil.»

«Aber Gebet und Meditation, Rabbi, sind doch ein wesentlicher Bestandteil unserer religiösen Tradition.»

«Gewiss, und dafür ist die Synagoge da. Wenn Sie beten und meditieren wollen, warum können Sie das nicht in der Synagoge tun oder sogar in Ihrem eigenen Haus? Warum müssen Sie dazu aufs Land gehen?»

«Wir müssen nicht, aber …»

«Vielleicht, weil andere Tempel und Synagogen damit angefangen haben? Oder etwa weil ihr etwas Positives, etwas Materielles haben wollt, das ihr als Errungenschaft eurer Verwaltungsära präsentieren könnt?»

«Ich würde selbstverständlich gern einen größeren Beitrag zur Entwicklung der Synagoge leisten», erwiderte Kaplan steif.

«Nun, das haben Sie bereits.»

«Ach, wirklich?»

«Gewiss. Sie sind der erste Vorstandsvorsitzende seit Jacob Wasserman, der ein praktizierender Jude ist. Das an sich ist schon ein sehr wichtiger Beitrag.»

Kaplan nickte nachdenklich. «Glauben Sie nur nicht, dass das eine vorübergehende Erscheinung ist, Rabbi. Ein neuer Geist hat bei uns Einzug gehalten. Ich wurde gewählt, gerade weil ich ein praktizierender religiöser Jude bin. Ich möchte darauf hinweisen, dass eine ganze Anzahl meiner Freunde, Menschen, die genauso denken wie ich, ebenfalls in den Vorstand gewählt worden sind. Warum? Weil eine allgemeine Sehnsucht nach Religion besteht. Und zwar nicht nur an der Oberfläche. Es gibt eine religiöse Renaissance, das spüre ich. Und darum wurde ich gewählt.»

«Nun ja …» Der Rabbi lächelte geringschätzig. Er hielt es für unklug, jetzt von Tizziks Erklärung für die Wahl zu sprechen oder von seiner eigenen.

«Der junge Bursche, der vorhin neben Ihnen saß, der mit dem Bart – haben Sie gesehen, wie der gedavent hat? Mit wie viel Eifer und Intensität? Das ist ein Zeichen der Zeit. Wer war das übrigens?»

«Keine Ahnung. Ein Fremder, der in der Nähe zu Besuch ist. Er heißt Rokeach, Akiva Rokeach.»

«Da drüben ist er.» Kaplan nickte zum anderen Parkplatzende hinüber, wo Rokeach in einen niedrigen Sportwagen kletterte. Sie sahen zu, wie er seinen Motor hochjagte, anfuhr und in weitem Bogen auf sie zukam. Ganz kurz bremste er vor dem Rabbi und winkte ihm zu. «Sie erinnern sich wohl nicht mehr an mich, Rabbi», rief er laut.

«Sollte ich das? Kenne ich Sie denn?», fragte der Rabbi. Der junge Mann hatte ihn bei dem Motorenlärm jedoch offenbar nicht gehört, denn er lachte und fuhr davon.

«Er scheint Sie zu kennen», sagte Kaplan.

«Ich erinnere mich nicht an ihn. Vielleicht hat er an einem der Colleges studiert, wo ich vor Hillel-Gruppen gesprochen habe. Vielleicht hat er mir dabei mal eine Frage gestellt.» Er musterte den Vorsitzenden mit merkwürdigem Blick. «Sie glauben also, dass er gedavent, dass er sich vor und zurück gewiegt hat ist ein Zeichen für religiösen Eifer?»

«Wie würden Sie es denn sonst nennen?»

Der Rabbi zuckte die Achseln. «Eine Angewohnheit, einen Manierismus, übernommen von denjenigen, die ihn das davenen gelehrt haben, und das kann noch nicht lange her sein, nach seinem holprigen Hebräisch zu urteilen.»

«Sehen Sie, Rabbi, das ist es gerade. Das ist genau das, was ich meine. Er ist neu. Er muss erst vor kurzem Interesse an der Religion bekommen haben. Und sie scheint ihm sehr viel zu bedeuten, wenn er, wie Sie sagten, nur zu Besuch hier ist und trotzdem zum minjen kommt. Er ist bestimmt keine Ausnahme, glauben Sie mir. Bei diesen Mittwochabendempfängen bei mir zu Hause hört man so viele ähnliche Geschichten, dass …»

«Ach so, das machen Sie also Mittwochabends, wie? Sie setzen sich alle zusammen hin und legen Zeugnis ab!»

«Wir diskutieren über alle möglichen Themen», widersprach Kaplan steif. «Jeder Beitrag ist willkommen. Besuchen Sie uns doch auch mal an einem Mittwochabend, dann können Sie sich davon überzeugen.»

«Das werde ich vielleicht wirklich tun. Heute Abend …»

«Heute Abend wird es für Sie kaum etwas Interessantes geben», unterbrach ihn Kaplan hastig und setzte dann schnell hinzu: «Sie sind selbstverständlich herzlich willkommen, nur …»

«Ich wollte sagen, dass ich heute Abend leider keine Zeit habe. Ich muss einen Krankenbesuch machen. Der alte Jacob Kestler. Ich habe versprochen, ihm eine Weile Gesellschaft zu leisten.»

«Wir wär’s denn dann mit nächsten Mittwoch? Notieren Sie sich’s auf Ihrem Kalender. Oder sonst an jedem Mittwoch, an dem Sie Zeit haben.»

«Gut. Ich komme.»