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Obwohl die Telefon-Instandsetzungstrupps die ganze Nacht hindurch arbeiteten, hörte Dr. Cohen erst am nächsten Morgen von Dr. DiFrancesca, dass sein Patient gestorben war.

Cohen schüttelte betrübt den Kopf. «Tja, das ist traurig. Er war krank und alt, aber ich hätte nicht gedacht, dass er in Lebensgefahr schwebte. Vielleicht hätte ich ihn doch ins Krankenhaus holen sollen.»

«Hinterher ist man immer klüger, Dan», antwortete Dr. DiFrancesca. Er war blond, blauäugig und gewachsen wie ein Footballspieler. Obwohl er nur etwa zwei Jahre älter war als Cohen, besaß er das selbstverständliche, sichere Auftreten eines Mannes, der seinen Platz im Leben gefunden hat. «Vielleicht war es eine Reaktion auf das Medikament», ergänzte er. «Für mich sah es jedenfalls so aus.»

«Wirklich? Aber ich habe ihm vor ein paar Monaten dasselbe Medikament gegeben, und da hat er es gut vertragen. Was für Symptome hatte er?»

«Ach, die üblichen: Entzündung, Blutandrang, Schwierigkeiten bei der Atmung. Durchaus möglich, dass er eine Unverträglichkeit entwickelt hat.»

«Diese Gefahr besteht doch immer, nicht? Woher soll man das vorher wissen? Damals konnte er Penicillin nicht vertragen, deshalb setzte ich ihn auf Tetracyclin, und alles ging gut.»

«Was haben Sie gegeben, Dan?»

«Limpidine 250. Pierce and Proctor. Dasselbe wie gestern Abend. Ich habe guten Erfolg damit gehabt.»

«Nun, diesmal war es kein Erfolg.» DiFrancesca zögerte. «Äh … Der Sohn war ziemlich aufgebracht und hat ein ganz schönes Theater gemacht.»

«Das war ja wohl zu erwarten.»

«Nein, ich meine wegen der Behandlung, Dan. Er behauptete, sein Vater hätte sich durchaus wohl gefühlt, bis er das Medikament eingenommen hätte.»

«Das stimmt nicht, John, glauben Sie mir! Er hatte Fieber und starke Beschwerden.»

«Es würde mich nicht überraschen, wenn er Klage wegen falscher Behandlung gegen Sie erheben würde», sagte DiFrancesca.

«Wie kommen Sie darauf?», erkundigte sich Cohen rasch.

«Nun, zum Teil, weil ich diesen Typ kenne. Kestler gehört zu den Menschen, die sich automatisch nach jemandem umsehen, den sie verklagen können, wenn was passiert.»

Cohen nickte grimmig. «Ich verstehe. Aber das kommt nicht von ungefähr. Das hat er von seinem Vater.»

«Er behauptete immer wieder, sein Vater habe sich wohl gefühlt, bis er die Pillen geschluckt hatte, die ihm von Ihnen verschrieben worden waren.»

«Wenn er sich so wohl fühlte, warum haben sie mich dann gerufen? Wozu brauchte er dann einen Arzt?»

«Gewiss, aber …»

«Hören Sie, John, der Mann war achtzig oder darüber. Er hatte 39 Grad Fieber. Er hatte Schwierigkeiten beim Urinieren, und wenn er Harn ließ, klagte er über starkes Brennen. Das klingt doch typisch wie eine bakterielle Infektion, stimmt’s? Na schön, es hätte eine Virusinfektion sein können, dann hätte das Medikament nicht geholfen, aber es hätte auch nicht geschadet. Jetzt passen Sie auf: Vor ungefähr sechs Monaten hatte er praktisch die gleichen Symptome. Ich gab ihm dasselbe Medikament, und er wurde gesund. Also gab ich ihm natürlich – dieselbe Person, dieselben Beschwerden – dasselbe Medikament. Ein gutes, konservatives Medikament. Neunundneunzig Prozent aller Ärzte hätten ihn genauso behandelt. Vielleicht hätten sie ein anderes Tetracyclin verschrieben, im Wesentlichen aber sind die sich ja alle gleich. Wo gibt es also einen Grund für eine Klage wegen falscher Behandlung?»

«Mich brauchen Sie nicht zu überzeugen, Dan. Aber Sie wissen ja, wie es ist: Einen Winkeladvokaten, der Klage erhebt, findet er allemal. Ich habe versucht, vernünftig mit ihm zu reden, habe ihm erklärt, bei einem Mann in diesem Alter könne immer etwas passieren, aber die Sorte …» Er schüttelte den Kopf. «Deshalb habe ich vorgeschlagen, der Polizei-Sergeant, der mit dem Krankenwagen kam, solle die Pillen in Verwahrung nehmen und sie dem offiziellen Bericht beifügen.»

Cohen nickte. «Gut gemacht. Und wenn er mich tatsächlich verklagt, bin ich schließlich ausreichend versichert.»

DiFrancesca zögerte. «Es könnte leider etwas kritischer werden, Dan. Erstens ist dieser Kestler ein Mensch, der ewig den Mund aufreißen muss. Damit könnte er Ihnen ziemlich schaden.»

«Ich verstehe.»

«Und außerdem ist Al Muntz verärgert. Er rief mich natürlich zu Hause an, als er von den Kaplans kam. Er wollte alle Einzelheiten wissen.»

«Was hat denn der damit zu tun?»

DiFrancesca war verlegen. «Er findet anscheinend, dass die Klinik durch diese Angelegenheit Schaden erleiden könnte. Wenn mit Schmutz geworfen wird, meint er, könnte auch an uns anderen etwas davon hängen bleiben. Tatsächlich hat Kestler mir vorgeworfen, ich versuchte Sie zu decken, weil wir … na ja, Kollegen seien.»

«Das ist doch lächerlich, John!», erwiderte Cohen hitzig. «Was ist denn mit den anderen Ärzten am Krankenhaus? Die sind doch auch meine Kollegen. Schadet es denen etwa auch?»

«Sie wissen doch, wie es ist, Dan. Wenn man sich einen Besitz erarbeitet hat, wie Al Muntz ihn an der Beachcroft Road bewohnt, und einen Cadillac fährt, den man alle zwei Jahre gegen einen neuen eintauscht, wird man überempfindlich, möglicherweise sogar ein bisschen paranoid.»

«Dazu hat er keinen Grund», erklärte Cohen kurz und knapp. Aber er war beunruhigt.

Sowohl Al Muntz als Dr. Kantrovitz waren den ganzen Vormittag im Krankenhaus, aber zum Mittagessen kamen sie zurück. Die vier Ärzte gingen gemeinsam zum Lunch, doch weder unterwegs noch während der Mahlzeit brachte einer von ihnen das Gespräch auf den Fall. Erst als sie ihren Kaffee tranken, sagte Muntz: «Übrigens, wegen dieser Kestler-Sache, Dan. John meint, es könnte zu einer allergischen Reaktion gekommen sein. Was haben Sie verschrieben?»

«Limpidine 250. Viermal täglich, fünf Tage lang.»

«Steht das auf der Flasche, John?», erkundigte sich Kantrovitz.

«Hm-hm.»

«Gegen eine Infektion der Harnwege?» Kantrovitz überlegte, dann nickte er. «Haben Sie ihn gefragt, ob er allergisch dagegen ist?»

«Also hören Sie, Ed!»

«Was ist – haben Sie ihn gefragt?»

«Nein, habe ich nicht», antwortete Cohen. «Das war nicht nötig. Ich hatte ihn wenige Monate zuvor schon einmal damit behandelt.»

«Trotzdem sollte man sich jedes Mal erkundigen – für alle Fälle und um sich abzusichern.»

«Ich war nicht daran interessiert, mich abzusichern», gab Cohen zurück. «Ich war ausschließlich daran interessiert, meinen Patienten zu behandeln.»

«Kein Grund zur Aufregung, Dan», sagte Al Muntz beruhigend.

«Wir wollen Ihnen ja nur helfen», erklärte Dr. Kantrovitz.

«Helfen – wie? Der Mann ist tot. Wollen Sie etwa behaupten, Ihnen wäre noch nie ein Patient gestorben?»

«Natürlich nicht. Das ist nicht mehr zu ändern. Unsere Sorge gilt jetzt ganz allein Ihnen. Wie uns John sagte, besteht die Gefahr, dass es zu einer Klage wegen falscher Behandlung kommt.»

«Na und? Ich bin versichert.»

Muntz nickte. «Selbstverständlich. Aber John hat das Gefühl, dass Kestler mit seinen Beschuldigungen hausieren geht. Tatsächlich hat mir Chet Kaplan gesagt, dass er schon bei der Beerdigung entsprechende Äußerungen getan hat.»

«Na und?»

«Das könnte sich für uns alle negativ auswirken.»

«Wieso denn?»

«Ach, Dan, Sie wissen doch! Viele Leute haben komische Ansichten über eine Klinik», antwortete Muntz vage.

Ed Kantrovitz war ein hagerer, ernsthafter Mann, der nicht sprach, sondern statuierte. «Betrachten Sie es doch mal so, Dan», begann er. Die Lippen geschürzt, ordnete er seine Gedanken. «Jemand erzählt Ihnen, dass jemand gestorben ist. In diesem Fall werden Sie sich doch höchstwahrscheinlich zuerst danach erkundigen, wer der Arzt des Verstorbenen war. Angenommen, er sagt nun, es sei einer von der Klinik. Dann könnte man ohne weiteres vermuten, dass es Al wäre, oder ich, oder John …»

«Oder ich», ergänzte Cohen. «Und wenn es hieße, es sei ein Arzt vom Krankenhaus gewesen, dann könnte es einer von hundert Ärzten sein.»

«Ergehen wir uns nicht in Hypothesen», schlug Muntz vor. «Im Augenblick geht es um Kestler.»

«He-e!» Kantrovitz schnalzte mit den knochigen Fingern. «Ist dieser Kestler nicht der Mann, von dem Sie mir vor einiger Zeit erzählt haben, Dan? Der Kerl, der Sie vor Gericht verklagt hat?»

«Ja, das ist er. Als ich meinen Zaun gezogen hatte, behauptete er, das Ding stünde auf seinem Grundstück.»

Muntz starrte ihn an; seine Quellaugen wirkten, als wollten sie ihm aus dem Kopf fallen. «Und Sie haben ihn trotzdem behandelt?»

«Nun, er fand keinen anderen Arzt, und das hatte ja nichts mit der Klage zu tun.»

Dr. Muntz schüttelte bedächtig den Kopf. «Ich hätte Sie für klüger gehalten, Dan.»

«Also, was haben Sie gegen …»

«Man behandelt keinen Mann, wenn eigene Gefühle dabei im Spiel sind», erklärte Muntz nüchtern.

«Sie würden doch auch kein Familienmitglied behandeln, nicht wahr?», fragte Ed Kantrovitz.

«Was ich dagegen habe, ist, dass es keinen guten Eindruck macht», sagte Muntz. «Da ist ein Mann, über den Sie rechtens verärgert sind, und Sie verschreiben ihm ein Medikament, das seinen Tod herbeiführen kann. Ja, mehr noch, Sie verschreiben es ihm nicht nur, Sie telefonieren das Rezept auch noch durch, damit er es möglichst schnell bekommt. Also, das macht wirklich keinen guten Eindruck, jedenfalls nicht auf den Mann auf der Straße. Und wenn es zum Prozess kommt, sitzt nämlich dieser Mann in der Jury.»

«Aber Mr. Kestler war krank, und ich dachte … ich müsste ihm helfen», wehrte sich Dr. Cohen. «Ich konnte doch nicht einfach ablehnen!»

«Aber genau das hätten Sie tun sollen», widersprach Muntz. «Sie waren nicht für ihn verantwortlich. Sie hätten ihm raten sollen, die Polizei anzurufen. Die hätten ihm einen Krankenwagen geschickt und ihn ins Krankenhaus gebracht.»

«Und wenn sich sein Zustand unterwegs verschlimmert hätte, oder wenn er sogar gestorben wäre …»

«Er wäre nicht gestorben. Und wenn, dann wäre es nicht Ihre Schuld gewesen.»

Sie diskutierten hin und her, jedoch mit gedämpfter Stimme, da sie schließlich in einem öffentlichen Lokal saßen, blickten immer wieder in die Runde, um zu sehen, ob jemand zuhörte. Und kamen zu keinem Ergebnis. Dr. Cohen beharrte darauf, dass es seine Pflicht sei, jeden zu behandeln, der ihn um seine Hilfe bat und dem er aufgrund seiner Ausbildung helfen konnte. Während Muntz und Kantrovitz mit ebenso großer Hartnäckigkeit behaupteten, er habe zunächst einmal Pflichten gegen sich selbst, er habe das Recht, die Behandlung zu verweigern, sobald sein beruflicher und gesellschaftlicher Ruf auf dem Spiel stehe. DiFrancesca verhielt sich fast immer still, äußerte sich nur, wenn es so aussah, als drohe der Disput persönlich zu werden. Dann rutschte er unruhig auf seinem Stuhl herum und sagte. «Na, hört mal, Jungens …»

Als sie sich schließlich erhoben, um in die Praxis zurückzukehren, zeigten sich die beiden älteren Kollegen Cohen gegenüber merklich kühl, ja, legten sogar gegenüber DiFrancesca eine reservierte Höflichkeit an den Tag, weil dieser sie nicht unterstützt hatte.

Am Abend fand Mrs. Cohen ihren Mann außergewöhnlich schweigsam. Sie schrieb dies natürlich dem Kummer über den Tod seines Patienten zu und machte klugerweise keinen Versuch, ihn aufzuheitern. Als seine Stimmung sich am nächsten Morgen jedoch immer noch nicht gebessert hatte, sagte sie: «Warum fährst du heute Nachmittag nicht mit hinaus zu dieser Klausur, Dan? Es würde dir gut tun, mal ein, zwei Tage rauszukommen.»

«Ich kann nicht. Sie wollen schon am frühen Nachmittag fahren. Dazu müsste ich ein paar Patienten umbestellen.»

«Pack trotzdem einen Koffer in dein Auto. Wenn du dich dann doch zum Mitfahren entschließen solltest, fährst du einfach los. Madeleine kann mich anrufen und sagen, dass du nicht nach Hause kommst.»