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Am nächsten Tag fuhr Rabbi Small die Route 128 entlang, jenen lang gestreckten Vorort, der aus Forschungslaboratorien, Elektronikfirmen und automatisierten Industrieanlagen bestand. Als er an Goraltronics, Incorporated, vorbeikam, hatte er plötzlich eine Idee. Er vergaß den Grund, warum er überhaupt auf Route 128 war – er wollte zur Monatsversammlung des Rabbinerrats von Groß-Boston –, nahm die nächste Ausfahrt und fuhr zu der Fabrik zurück.
Wenig vertraut mit den Usancen großer Fabriken, lauschte er geduldig Ben Goralskys Sekretärin, die ihm erklärte, der Chef sei beschäftigt und sei auch die ganze restliche Woche nicht zu sprechen; auch in der darauf folgenden Woche sei er nicht erreichbar, da er sich dann auf Reisen befinde; wenn Rabbi Small ihr sagen würde, welcher Art sein Anliegen sei, werde sie ihr Möglichstes tun, um ihm in der Woche danach einen Termin zu verschaffen.
«Können Sie ihm nicht einfach jetzt sagen, dass ich hier bin?», fragte er vorwurfsvoll.
Ihr Lächeln über diese Naivität war Antwort genug, und er wollte schon hinausgehen, als Ben Goralsky aus seinem Büro kam und ihn entdeckte.
«Rabbi Small! Was machen Sie denn hier? Kommen Sie herein.» Zum größten Kummer seiner Sekretärin legte er dem Rabbi einen stämmigen Arm um die Schultern und dirigierte ihn in sein Privatbüro. Ben Goralsky war ein schwerer Mann mit langer Nase und knochigen Wangenbeinen. Obwohl er schon Mitte fünfzig war, wies sein dichtes, schwarzes Haar noch nicht eine Spur von Grau auf, nicht einmal an den Schläfen. Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz und sah seinen Besucher mit strahlendem Lächeln an.
«Also, Rabbi, womit kann ich Ihnen helfen?»
«Tja, ich brauche ein paar Informationen über den Besitz, den Ihr Vater der Synagoge hinterlassen hat.»
«Aber sicher! Was wollen Sie wissen? Wie ich sehe, hat Bill Safferstein den Block ja nun doch gekriegt.»
«Der Vorstand hat beschlossen …» Als ihm die Bedeutung von Goralskys Bemerkung aufging, unterbrach sich der Rabbi. «Soll das heißen, dass er den Block schon von Ihnen kaufen wollte?»
«Ganz recht. Von meinem Vater. Aber der erklärte Billy, er stehe nicht zum Verkauf.»
Der Rabbi lächelte verständnisinnig. «Um nicht allzu eifrig zu erscheinen?»
Ben Goralsky musterte ihn scharf. «Aber nein! Mein Vater wollte wirklich nicht verkaufen.» Er legte den Kopf schief und überlegte. Dann lachte er auf. «Vielleicht ist Safferstein deswegen zu mir gekommen – weil er dachte, mein Vater wollte sich nur zieren.»
«Und was haben Sie ihm gesagt?»
«Ach, dass er sich an meinen Vater wenden müsse. Ich habe ihm eine Aufstellung über den Besitz gegeben – Sie wissen schon, Einkommen, Unkosten, veranlagter Wert, Mieteinnahmen, das Übliche. Aufgrund dessen machte er mir zwei Tage später ein Angebot. Ein sehr gutes Angebot, deshalb sprach ich mit meinem Vater darüber.» Er schüttelte den Kopf. «Er sagte, er wolle nicht verkaufen.»
«Warum nicht, wenn das Angebot so gut war?», fragte der Rabbi.
«Nun, damals dachte ich, weil mein Vater keinen Grund und Boden verkaufen wollte. Sehen Sie, wir hatten den Block damals gekauft, weil wir erwogen, dort unser Werk zu bauen. Er lag direkt an der Salem Road, leicht zugänglich für Autos und Lastwagen; aber dann wurde die Route 128 gebaut, und das war viel günstiger für uns. Und während der ganzen Zeit konnte ich meinen Vater nicht dazu bringen, den Block an der Salem Road zu verkaufen. Jetzt neige ich allerdings zu der Auffassung, dass er ihn nicht an Safferstein verkaufen wollte, weil er vorhatte, ihn der Synagoge zu vermachen.»
«Aber hätte er nicht den Block verkaufen und der Synagoge das Geld vermachen können?», fragte der Rabbi.
Ben Goralsky lachte. «Und Kapitalgewinnsteuer für den Verkauf zahlen? O nein, dazu war mein Vater ein zu guter Geschäftsmann.»
«Sie sagen, es war ein sehr gutes Angebot. Warum, glauben Sie, wollte Safferstein den Block unbedingt kaufen.»
Goralsky schüttelte den Kopf. «Keine Ahnung. Es heißt, dass auf der Salem-Seite ein großer Apartmentkomplex für Senioren gebaut werden soll. Das würde den Wert des Blocks um einiges steigern, aber um so viel nun auch wieder nicht.»
«Könnten Sie sich vorstellen, warum Safferstein den Drugstore kaufen will?»
«Aptakers? Wollte er das? Nun, jetzt macht die Sache allmählich einen Sinn.»
«Wirklich?», erkundigte sich der Rabbi.
«Sicher», antwortete Ben Goralsky. «Das bedeutet nämlich, dass er den Block abreißen will. Er will die Grundstücke, aber warum, das weiß der Teufel. Es gibt so viele unbebaute Grundstücke dort.»
«Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.»
«Sehen Sie, Rabbi, der Drugstore hat einen Mietvertrag, und der Mietvertrag ist auch für alle nachfolgenden Besitzer bindend. Wenn Safferstein den Block abreißen will, dann muss er sämtliche Verpflichtungen loswerden. Wissen Sie, was er für den Laden geboten hat?»
«Ich weiß nur, dass Aptaker sagte, es sei ein guter Preis. Safferstein wollte ihn für seinen Schwager kaufen, sagte er mir.»
Goralsky lachte.
«Wie ich sehe, halten Sie diesen Schwager für ein Produkt seiner Phantasie», sagte der Rabbi.
Goralsky zuckte die Achseln. «Was sonst? Er musste doch einen Grund angeben dafür, dass er eine Apotheke kaufen will.»
«Und was ist mit den Mietverträgen der anderen Geschäfte? Müsste er die nicht auch kaufen?»
«Die anderen Geschäfte waren sofort kündbare Mieter», erklärte Goralsky. «Nur der Drugstore hatte einen Mietvertrag. Der alte Mietvertrag lief aus, Aptaker schrieb an meinen Vater, und der verlängerte ihn zu denselben Bedingungen auf zehn Jahre. Ich hielt es für falsch, dass wir uns auf eine so lange Zeit festlegten, aber …»
«Aber der Mieter ist doch ebenso festgelegt, nicht wahr?»
«Nicht ganz, Rabbi. Wenn es sich bei dem Mieter um eine große Firma oder eine Einzelperson mit solidem finanziellem Hintergrund handelt, dann ist er natürlich ebenso festgelegt wie wir. Wenn es sich aber um einen kleinen Mann handelt – was sollen wir tun? Angenommen, der Drugstore will morgen schließen – sollen wir ihn verklagen? Oder soll die Synagoge ihn auf zehn Jahre Miete verklagen, nur weil der Mietvertrag für alle folgenden Besitzer bindend ist?»
«Ich verstehe.»
«Aber ich stritt mich nicht gern mit meinem Vater darüber. Zum Schluss war er doch ziemlich hinfällig.»
«Ja, ich erinnere mich noch», antwortete der Rabbi. «Als ich ihn besuchte …»
«Aber das war immer nachmittags oder am Abend, Rabbi. Am Vormittag war er noch recht lebendig. Und da hat er natürlich die geschäftlichen Dinge erledigt.»
«Sie meinen, er hat sich tatsächlich ums Geschäft gekümmert, auch noch, als er schon bettlägerig war?»
«O ja!», sagte Goralsky. «Er hat vormittags bis zwölf Uhr Briefe und Anweisungen diktiert. Bis ein paar Tage vor seinem Tod.»
«Hat er eine Sekretärin im Haus gehabt?»
Goralsky lachte. «Vermutlich hat sie sich für seine Sekretärin gehalten. Im Grunde gehört sie zu unserem Steno-Pool. Ich habe sie jeden Morgen zu meinem Vater geschickt, und selbst wenn mein Vater nichts Geschäftliches zu tun hatte, konnte er sich doch mit ihr unterhalten. Alice Fedderman. Ihr Vater ist Mitglied der Synagoge. Möchten Sie vielleicht mit ihr sprechen?»
«Aber ja, falls das möglich ist.»
«Sicher.» Goralsky schaltete die Sprechanlage ein. «Rabbi Small möchte mit Alice Fedderman vom Steno-Pool über meinen Vater sprechen. Würden Sie sie ins Konferenzzimmer schicken? Sie ist doch abkömmlich – oder?»
«Ja, Sir.» Und wenige Sekunden später: «Sie kommt sofort.»
«Ich lasse Sie hinbringen, Rabbi.»
Als er kam, wartete sie schon auf ihn: ein schlankes junges Mädchen von neunzehn bis zwanzig Jahren, stark geschminkt mit Lidschatten, Eyeliner und Mascara. Die Lippen waren mit einer Art weißlichem Schimmer überzogen. Sie trug hohe Plateausohlen und einen sehr kurzen Rock, der bei übergeschlagenen Beinen eine Menge Schenkel sehen ließ. Rabbi Small glaubte sie schon bei verschiedenen Veranstaltungen für junge Leute in der Synagoge gesehen zu haben, aber vielleicht auch nicht – sie sahen einander alle so gleich.
«Hallo, Rabbi! Sie wollten mich wegen des alten Mr. Goralsky sprechen, deswegen habe ich gleich das Notizbuch mitgebracht, das ich immer benutzt habe, wenn ich bei ihm war.»
«Ich interessiere mich für einen Brief, den er an Mr. Aptaker, den Inhaber des Drugstore, schrieb …»
«Ach ja, wegen des Mietvertrags.» Sie lächelte. «Ich kann mich gut daran erinnern.»
«Wirklich? Aus einem besonderen Grund?», fragte der Rabbi.
«Na ja, es war schließlich kurz vor … also, erstens einmal ziemlich zum Schluss. Aber ich musste diesen speziellen Brief auch noch mehrmals schreiben. Es war so.» Sie beugte sich vertraulich vor. «Er sprach nicht mehr so gut, grammatikalisch, wissen Sie. Darum sagte er mir immer, was er schreiben wollte, und ich habe dann daraus einen Geschäftsbrief gemacht.»
«Ich verstehe.»
«Wir hatten diesen Brief von Mr. Aptaker bekommen, der um Verlängerung seines Mietvertrags bat. Mr. Goralsky sagte also, da er ein guter Mieter sei, wolle er ihm denselben Mietvertrag wie vorher geben, ohne Mieterhöhung. Ich schrieb daraufhin den üblichen Geschäftsbrief. Sie wissen schon: ‹In Beantwortung Ihres Schreibens vom Zwanzigsten habe ich unsere Anwälte angewiesen, einen Mietvertrag mit denselben Bedingungen wie in dem gegenwärtigen zu entwerfen. Bei Erhalt der Formulare wollen Sie bitte beide Ausführungen unterzeichnen und sie mir zur Gegenzeichnung zurückreichen.› Eben wie üblich. Aber als ich den Brief getippt hatte und ihn Mr. Goralsky zur Unterschrift vorlegte, hat er sich irgendwie über die Formulierung aufgeregt. Ich glaube, er hatte einen schlechten Tag. Er sagte –», sie imitierte sein stark gefärbtes Englisch –, «‹Ich möchte, dass Sie ihm sagen, weil er ein so guter Mieter war und meinem Eigentum nie Schaden zugefügt hat und immer die Miete rechtzeitig bezahlt hat und das Haus instand gehalten hat, gebe ich ihm denselben Mietvertrag wie vorher und erhöhe die Miete nicht.›» Sie zwinkerte dem Rabbi viel sagend zu. «Ich habe alles genau aufgeschrieben, genau, wie er es gesagt hat. Ich wollte auch den Brief genauso schreiben, weil ich mich über ihn geärgert hatte. Er war sehr nett, aber er konnte auch … na, Sie wissen ja, grob sein.»
«Grob? Mr. Goralsky?»
«Na ja, Sie wissen schon – mäkelig. Aber als ich wieder im Büro war, hatte ich mich einigermaßen beruhigt; also hab ich alles ein bisschen aufpoliert, aber immer noch reingeschrieben, dass er ein guter Mieter war und so. Das gefiel ihm, und so wurde der Brief abgeschickt.»
«Hat Mr. Aptaker geantwortet?»
Alice Fedderman schüttelte den Kopf. «Davon weiß ich nichts. Ich bin anschließend nur noch zwei Tage dort gewesen. Sehen Sie?» Mit Daumen und Zeigefinger hielt sie ein paar Seiten ihres Notizbuches empor, um ihm zu zeigen, wie wenig noch geschrieben worden war. «Mir wurde gesagt, Mr. Goralsky ginge es schlechter und er sei nicht mehr in der Lage, mir zu diktieren.»
«Wissen Sie genau, dass niemand anders zu ihm geschickt wurde?»
«Ganz genau. Er mochte mich. Und ich mochte ihn.»
«Obwohl er grob war?», fragte der Rabbi lächelnd.
«Ach, aber Sie wissen doch! Ich meine ja nicht richtig grob. Ich meine, er war nervös – vielleicht, weil er so alt war.»
Rabbi Small bedankte sich bei ihr und lehnte ihr Angebot, ihn zum Chefbüro zurückzubegleiten, ab. «Danke, ich finde mich schon zurecht», sagte er.
Er wollte Ben Goralsky lediglich für seine Hilfsbereitschaft danken, doch nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten und der Rabbi sich zum Gehen wandte, fiel ihm plötzlich noch etwas ein. «Sie sagten, die Anwälte seien wegen des Testaments zu Ihrem Vater gekommen. Geschah das, weil er bettlägerig war?»
«Ganz recht, Rabbi. Das war vor ungefähr drei Wochen, vielleicht auch vier bevor er starb.» Seine Miene wurde traurig, als er nachdenklich hinzufügte: «Ich glaube, damals wusste er schon, dass er sterben musste.» Noch einmal reichte er dem Rabbi die Hand. «Also, auf Wiedersehen, Rabbi. Hoffentlich habe ich Ihnen helfen können.»
Der Rabbi lächelte. «Sie haben, Mr. Goralsky. Glauben Sie mir, Sie haben.»