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Chester Kaplans engster Freund in Barnard’s Crossing war Al Muntz, obwohl der Arzt ein ausgesprochener und streitbarer Agnostiker war. Sie besuchten sich gegenseitig regelmäßig zu zwanglosen Abenden, bei denen die Ehefrauen über Mode und Küche plauderten, während die beiden Männer über die bedeutenderen Probleme der Politik und Religion diskutierten.
Hinterher sagte Kaplan zu seiner Frau: «Ich begreife nicht, wieso ein so kluger Mann wie Al Muntz in jeder Hinsicht, von seinem Spezialfach abgesehen, so dumm sein kann. Hast du gehört, was er darüber gesagt hat, dass ich jeden Morgen in die Synagoge gehe?»
Und im Hause von Dr. Muntz sagte Mrs. Muntz: «Himmel, Al, warum musst du dich immer mit Chet streiten und immer über Religion? Ich glaube, er war gekränkt, weil du diese Bemerkung gemacht hast über seine Teilnahme am minjen.»
«Das war nur meine Reaktion auf das, was er gesagt hat. Er hat angefangen. Wenn er etwas behauptet, wovon mein gesunder Menschenverstand mir sagt, dass es eindeutig abergläubischer Unsinn ist, soll ich da vielleicht dasitzen und den Mund halten?»
Am Dienstagabend vor dem Aufbruch zum Abendessen bei den Kaplans beschwor Mrs. Muntz ihren Mann wie immer, nicht den ganzen Abend über Religion zu streiten.
«Verdammt, die Religion ist sein Bier, nicht meins. Ich fange bestimmt nicht davon an. Das tut nur er.»
«Du brauchst ihm ja nicht zu antworten.»
«Natürlich, ich werde dasitzen wie ein Idiot und immer mit dem Kopf nicken.»
Als sie aus dem Wagen stiegen und durch den Vorgarten auf die Haustür zugingen, bat sie ihn abermals: «Also, wir wollen keinen Streit anfangen. Ich möchte einmal einen angenehmen, freundlichen Abend erleben.»
«Schon gut, schon gut!»
Und tatsächlich, unter den wachsamen Blicken seiner Frau enthielt sich Al Muntz während des Abendessens jeglicher Reaktion auf die Herausforderungen seines Gastgebers, die eventuell zum Streit geführt hätten. Selbst nach dem Dinner, als die Frauen in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine packten und Kaplan begann, sich über die wundersame Ruhe, den erquickenden Frieden dieses Wochenendes in der Klausur auszulassen, stimmte der Arzt höflich zu, es sei tatsächlich sehr schön dort oben. Derart ermutigt, fuhr Kaplan dann aber munter fort, den physischen Nutzen zu beschreiben, den einige aus dem Erlebnis gezogen hatten, und nun konnte Al sich der Bemerkung nicht enthalten: «Ich will ja glauben, dass Joe Gottliebs Nebenhöhlen ihm plötzlich keine Beschwerden mehr machten – vorübergehend –, aber behaupte bitte nicht, dass das Gottes Wirken war. Bitte nicht!»
«Ich habe ja gar nicht behauptet, dass es Gott war», erwiderte Kaplan ein wenig steif. «Ich habe lediglich gesagt, er habe gleich nach der ersten Meditationsperiode wieder frei atmen können, und das sei während des ganzen Wochenendes auch so geblieben.»
«Na und? Ich möchte wetten, dass so was schon häufig vorgekommen ist. Das beruht zum großen Teil auf Psychosomatik, und wenn man irgendwie davon abgelenkt wird … Verdammt nochmal, so was passiert manchmal schon, wenn man ins Kino geht oder sich in ein Buch vertieft. Aber die Besserung hält nicht an. Oder wenn doch, entwickelt man irgendein anderes Symptom. Wenn du mir diese Klausur als Heilmittel für alle Beschwerden verkaufen willst …»
«Ich will dir überhaupt nichts verkaufen», entgegnete Kaplan. «Ich habe Joe Gottlieb nur als Beispiel für die Dinge angeführt, die geschehen können, wenn man sich von der Alltagswelt zurückzieht und sich auf Höheres konzentriert. Und das ist im Grunde doch der Sinn und die Wirkung des Sabbat.»
«Also schön, wir haben den Sabbat. Den haben wir aber schon seit zweitausend Jahren. Warum müsst ihr auf einmal in den Wald gehen, um ihn zu feiern?»
«Das ist es ja gerade!», erklärte Kaplan dem Freund eifrig. «Wenn eine Einrichtung so alt ist wie der Sabbat, wird sie nur allzu leicht zur reinen Formsache. Die Substanz verpufft. Genauso ist es mit den Gebeten. Die Menschen, die sie schrieben, und vielleicht noch einige Generationen nach ihnen, beteten wirklich, genau wie sie den Sabbat wirklich heiligten. Und als die Juden noch in der eng verbundenen Gemeinschaft des Ghettos lebten und ein sehr schweres Leben hatten, vielleicht vermochten sie da noch die ursprüngliche Begeisterung für das Gebet und den Sabbat aufzubringen, ihren wahren Sinn zu spüren. Wenn mein Vater zum Beispiel vom Sabbat in der alten Heimat sprach, begannen seine Augen zu leuchten, als erinnere er sich an ein ganz wunderbares Erlebnis. Heutzutage jedoch wahren wir nur den äußeren Anschein. Die Gebete haben keine Bedeutung mehr, der Sabbat hat keine Bedeutung mehr – vor allem hier in Amerika. Sie sind nichts weiter als Rituale. Und weil sie keine Bedeutung mehr haben, wirken sie sich auch nicht auf unser Leben aus. Deswegen ist es so notwendig, dass wir in den Wald gehen, an einen neuen Ort, dass wir versuchen, ihre eigentliche Bedeutung wieder zu erfassen.»
«Aber warum ausgerechnet jetzt, Chet? Dasselbe traf doch vor zehn oder zwanzig Jahren zu.»
«Weil es gerade jetzt in der Luft liegt. Die jungen Menschen spüren es und zeigen es durch ihre Unzufriedenheit mit dem Herkömmlichen. Sie sind auf der Suche nach etwas Neuem. Die Zeit ist reif. Du spürst es vermutlich auch, du willst es dir nur nicht eingestehen. Sag mal, warum hast du für den Kauf der Klausur gestimmt, wenn du tief innen …»
«Verdammt, ich habe dafür gestimmt, weil du es uns als eine Art Paket angedient hast: Wir verkaufen den Goralsky-Block und kaufen dieses Grundstück draußen. Ich bin durchaus für den Verkauf des Goralsky-Blocks, denn ich weiß, dass der Besitz runterkommen würde, wenn die Synagoge ihn behielte, und daher nächstes Jahr weniger wert wäre als dieses Jahr und das Jahr darauf noch weniger. Eine Institution kann keinen kommerziellen Besitz verwalten, das kann nicht einmal eine Bank. Außerdem bot uns Bill Safferstein einen geradezu irrsinnigen Preis dafür, ungefähr um die Hälfte mehr als den heutigen Marktwert. Ich wäre also dumm gewesen, wenn ich nicht für den Verkauf gestimmt hätte. Was nun das Grundstück oben in New Hampshire angeht, da dachte ich mir, dass das ein ebenso günstiges Angebot wäre. Wir könnten dort eine Art Camp einrichten, wo Gemeindemitglieder sich im Sommer ein oder zwei Wochen erholen könnten, oder auch als Sommerlager für die Kinder. Aber alles übrige Drum und Dran – nein, da mache ich nicht mehr mit. Ich habe eine wissenschaftliche Ausbildung hinter mir. Ich brauche Beweise, knallharte, wissenschaftliche Beweise, wenn ich etwas glauben soll.»
«Was ist denn aber mit deinem eigenen Kollegen Dan Cohen? Der ist gekommen. Und du musst zugeben, dass er dieselbe Ausbildung hat wie du. Dass seine Einstellung ebenso streng wissenschaftlich ist wie deine, nicht wahr?»
«Nun ja, da bin ich mir nicht so sicher. Er ist praktischer Arzt. Die lassen sich manchmal auf alle möglichen Sachen ein. Ich kenne einige, die beraten ihre Patienten in Familienangelegenheiten, ja sogar in Rechtsfällen. Aber nun gut, sagen wir, dass er streng wissenschaftlich denkt. Was ist mit Dan?»
«Hast du schon mit ihm gesprochen?», erkundigte sich Kaplan. «Seit er an der Klausur teilgenommen hat, meine ich.»
«Nein, habe ich nicht. Ich hatte in den letzten Tagen sehr viel zu tun, und wir sind uns zufällig nie über den Weg gelaufen. Warum? Was hat er gesagt?»
«Als ich ihn am Sonntagnachmittag traf, war er eindeutig euphorisch. Als ich ihn fragte, wie es ihm bei der Klausur gefallen habe, grinste er von einem Ohr zum anderen und sagte, es sei ein überwältigendes Erlebnis gewesen. Es habe vermutlich sein ganzes Leben verändert. Was sagst du dazu?»
«Nun …»
«Los», forderte ihn Kaplan heraus, «geh hin zu ihm und sprich mit ihm. Du wirst schon sehen, was er sagt.»
«Na ja, nur weil ein Mann eine wissenschaftliche Ausbildung hat, muss er nicht ununterbrochen wissenschaftlich denken», meinte Dr. Muntz ein wenig lahm.