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Der Brief von der Synagoge kam mit der Morgenpost. Bis auf ein vorübergehendes Zusammenpressen der Lippen ließ Marcus Aptaker sich seine Enttäuschung nicht anmerken; aber er war den ganzen Vormittag zerstreut und musste sich, wenn er einem Kunden gegenüberstand, zu einem freundlichen Lächeln zwingen. Er bediente wie immer, er überprüfte eine Warenlieferung, er beantwortete das Telefon, er tippte Preise in die Registrierkasse und gab die richtige Summe Wechselgeld heraus oder trug den Betrag auf das Kreditkonto des Kunden ein; aber das alles tat er automatisch, während seine Gedanken anderswo waren und sich mit diesem neuen Problem herumschlugen.
Safferstein um die Verlängerung des Mietvertrages zu bitten, wie es in dem Brief vorgeschlagen wurde, war sinnlos, da Safferstein bereits seit langem versuchte, das Geschäft für seinen Schwager zu erwerben. Jetzt aber brauchte er es gar nicht mehr zu kaufen; jetzt brauchte er nur noch ein paar Monate zu warten, bis der Mietvertrag ablief, dann konnte er es ganz einfach übernehmen. Ursprünglich hatte Safferstein durchblicken lassen, dass er bereit sei, einen guten Preis zu bezahlen; die Tatsache, dass er den Häuserblock gekauft hatte, machte das aber ganz eindeutig überflüssig. Aptaker war sich über eines klar: Falls Safferstein sein Angebot, das Geschäft zu kaufen, aufrechterhalten würde – und das war unter den gegebenen Umständen zweifelhaft –, dann nur auf der Basis, dass er die Warenvorräte zu Schleuderpreisen übernahm und für die Einrichtung höchstens Preise zahlte, wie sie beim Trödler zu erzielen waren. Freundliches Entgegenkommen gab es nicht mehr.
Er spielte mit der Möglichkeit, einen anderen Laden zu mieten. Das würde eine beträchtliche Investition für eine neue Einrichtung bedeuten, doch wenn sein Sohn ihm zur Seite stünde, wäre das ein durchaus logischer Schritt. Diese Hoffnung allerdings, das war ihm jetzt klar, war nichts weiter als ein schöner Traum gewesen und jetzt, nach dem kurzen Besuch des Sohnes zu Hause, noch weniger wahrscheinlich geworden. Er musste einsehen, dass er allein, zweiundsechzig und zu alt war, um ein neues Geschäft zu eröffnen.
Flüchtig dachte er daran, noch einmal mit Kaplan zu sprechen und ihn zu bitten, er möge es sich doch überlegen oder ihm die Möglichkeit geben, seine Bitte direkt an den Vorstand der Synagoge zu richten. Aber warum sollten sie besondere Rücksicht auf ihn nehmen, wo er noch nicht einmal Gemeindemitglied war?
Zunächst stand er vor dem schweren Problem, was er seiner Frau sagen sollte. In Gedanken übte er den Tonfall und die Haltung, die er bei seiner Erklärung annehmen wollte. Er durfte sie keinesfalls merken lassen, wie tief getroffen er eigentlich war. «Ach, weißt du, es ist wohl ganz gut so. Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet, jetzt ist es Zeit, dass ich mich ein bisschen ausruhe. Vielleicht machen wir eine Reise, und mit meiner Sozialversicherung und deiner und mit unseren Ersparnissen müssten wir ganz gut auskommen. Vielleicht nehme ich eine Teilzeitarbeit an, damit ich etwas zu tun habe. Ich gebe zu, freiwillig hätte ich nicht verkauft, aber da es nun mal so gekommen ist, bin ich im Grunde froh darüber.» Doch würde sie ihm überhaupt glauben?
McLane erschien kurz nach zwölf Uhr, und Aptaker gab ihm ein paar Anweisungen, um schließlich in die Rezeptur zu gehen und den Lunch zu essen, den Rose ihm jeden Tag mit ins Geschäft gab.
Er aß hastig, wie immer, wenn er im Laden war, nahm große Bissen von seinem Sandwich und spülte sie mit großen Schlucken Kaffee herunter. Als er fertig war, spürte er, wie schon ein paar Mal, einen Knoten in seiner Brust. Langsam trank er ein Glas Wasser; das brachte ihm eine gewisse Erleichterung. Er wollte aufstoßen, konnte es aber nicht. Schließlich gab er dem dumpfen, anhaltenden Schmerz nach und löste in einem Glas ein wenig Natriumcarbonat auf. Nun konnte er wenigstens aufstoßen, doch die Erleichterung war nur vorübergehend. Beinahe sofort kehrte der Druck in seiner Brust zurück.
McLane beobachtete ihn mit Besorgnis. «Haben Sie Sodbrennen? Hier, nehmen Sie eine davon.» Er holte eine Blechdose von der Theke, wo die nicht rezeptpflichtigen Heilmittel verkauft wurden. «Die sind gut. Ich habe sie selbst ausprobiert.»
Marcus zerkaute eine Tablette und dann eine zweite, und abermals spürte er vorübergehend Erleichterung; doch abermals kehrte der Druck zurück. Ihm kam der Gedanke, Schmerz und Druck könnten vielleicht vom Herz kommen statt nur vom Sodbrennen. Darum öffnete er, als McLane nicht herübersah, schnell eine kleine Flasche mit Nitroglyzerintabletten und legte sich eine der winzigen Pillen auf die Zunge. Sofort war ihm, als krampfe sich sein ganzer Kopf zusammen. Das dauerte jedoch nicht lange, und als es vorbei war, war auch der Schmerz in seiner Brust vergangen.
Etwa eine Stunde lang fühlte er sich völlig normal, dann war der Druck plötzlich wieder da. Vor Schmerz verzog er das Gesicht und schob sich verstohlen eine weitere Tablette unter die Zunge. Wieder kam die große Erleichterung, aber er merkte, dass er schwitzte, und war überzeugt, dass er leichenblass war.
Normalerweise hätte Marcus gegen zwei Uhr das Geschäft verlassen, doch seine Frau hätte sofort gesehen, dass es ihm nicht gut ging, und sich Sorgen gemacht. Aus reiner Fürsorge hätte sie ihn mit endlosen Fragen bombardiert: Ist im Laden was passiert? Hattest du Streit mit McLane? Gab es Schwierigkeiten mit einem Kunden? Wenn er ihr dann von dem Brief erzählte – und früher oder später würde er das müssen –, hätte sie mit ihrer weiblichen Logik eine Verbindung mit diesem gegenwärtigen Unwohlsein vermutet. Und er hätte sie niemals überzeugen können, dass die Aufgabe des Geschäfts ihm nichts weiter ausmachte. Deswegen beschloss er, bis nach dem Abendessen im Laden zu bleiben, sich aber möglichst nicht anzustrengen. Er würde heute früh zu Bett gehen, und wenn er sich ausgiebig ausgeschlafen hatte, würde er morgen früh wieder vollkommen in Ordnung sein. Gewiss, solange Kunden vorn im Laden waren, konnte er nicht hier in der Rezeptur sitzen bleiben, also bediente er trotz seines Vorsatzes beinahe genauso viel, wie er es unter normalen Umständen getan hätte.
Einmal erkundigte sich McLane: «Alles in Ordnung? Sie sind so blass.»
«Nein, nein, alles in Ordnung», versicherte er. «Vielleicht kommt das von der neuen Leuchtstoffröhre. Sie wirken auch ziemlich käsig.»
Kurz nach fünf kam Dr. Cohen, den Marcus selbst bediente. Der Arzt musterte ihn durchdringend, und als sich Aptakers Gesicht vor Schmerz zu einer Grimasse verzog, fragte Dan Cohen: «He, was ist los?»
«Ach, nur ein bisschen Magendrücken, nehme ich an. Ich muss aufstoßen, aber es geht einfach nicht.»
«Sie transpirieren», stellte Dr. Cohen fest.
«Ja, vielleicht ein bisschen. Es ist warm hier, und ich bin viel rumgelaufen.»
«Seit wann haben Sie dieses Magendrücken?»
«Ach, noch nicht sehr lange.»
«Er hat es seit dem Mittagessen, Doktor», mischte McLane sich ins Gespräch.
«Schmerzen im Arm?», erkundigte sich Cohen.
«Nein.»
«Wo ist der Druck, Mark?»
«Hier.» Er deutete auf seine Brust.
«Schwierigkeiten bei der Atmung? Ist es ein schmerzhafter Druck?»
«Nein, nein, ganz und gar nicht.»
«Geben Sie mir Ihr Handgelenk.»
«Also hören Sie, Doktor, ich weiß, was Sie denken. Es ist nichts, ganz bestimmt nicht.» Trotzdem reichte er ihm die Hand.
Der Doktor fühlte ihm den Puls. Dann sagte er: «Ziehen Sie Jackett und Hemd aus. Ich hole nur schnell mein Stethoskop aus dem Wagen.»
«Ich kann doch hier im Laden nicht mein Hemd ausziehen!»
«Warum denn nicht? Es ist niemand hier. Wenn Sie wollen, können wir auch in die Rezeptur oder in die Toilette gehen. Aber nein, lassen Sie nur, Sie brauchen unbedingt ein EKG. Wer ist Ihr Arzt?»
«Ich habe keinen», antwortete Aptaker. «Ich war nie krank.»
«Nun gut, dann fahren Sie mit mir jetzt in meine Praxis, und wir machen es da. Oder noch besser, ich fahre Sie ins Krankenhaus.»
«Ich gehe nicht ins Krankenhaus. Rose erwartet mich in einer Stunde zu Hause.»
«Seien Sie nicht töricht», warnte Cohen. «Sonst müssen Sie unter Umständen auf einer Trage nach Hause gebracht werden. Fahren Sie mit mir ins Krankenhaus.»
«Tun Sie’s, Marcus», drängte McLane. «Ich telefoniere mit Rose.»
Aptaker zögerte, sah von einem zum anderen, las die Sorge in Dr. Cohens Gesicht. «Na schön», lenkte er ein, «aber mit Rose spreche ich selber. Wenn Sie nur für mich wählen würden.»
Als seine Frau sich meldete, sagte er: «Rose? Ich habe ein bisschen Magenbeschwerden, und Dr. Cohen kam zufällig vorbei. Er möchte mich untersuchen.»
Später, während der abendlichen Besuchszeit, saß Rose Aptaker am Bett ihres Mannes. Er hatte ein Krankenhausnachthemd an, und sein Bett war hochgestellt, sodass er sie ohne Mühe ansehen konnte.
Er erläuterte ihr, wie alles gehandhabt werden sollte. «Du kannst am Morgen aufschließen, Rose; McLane hat gesagt, er werde alles tun, was notwendig sei. Er kommt dann um zehn, und …»
«Nein.» Sie schüttelte energisch den Kopf. «Ich werde Arnold mitteilen, dass er nach Hause kommen muss. Er wird dich vertreten, bis du wieder auf den Beinen bist.»
«Aber er hat seinen Job.»
«Dann wird er ihn aufgeben oder unbezahlten Urlaub nehmen.»
«Und wenn er nicht will?», fragte Marcus unsicher.
«Er wird kommen.»
Aptaker lächelte schwach. «Weißt du, Rose, diese Sache hier –», er deutete auf seine Brust –, «das ist nichts Ernstes, musst du wissen. Es ist ein kleiner Herzanfall, und ich fühle mich ganz gut, aber es ist immerhin ein Herzanfall, und das bedeutet, dass es einige Zeit dauern wird. Laut Dr. Cohen kann es drei Monate dauern, bis ich wieder arbeiten kann.»
«Egal, wie lange es dauert, Marcus, Arnold wird bleiben, das versichere ich dir. Ich kenne ihn. Aber vielleicht wäre es gut, wenn wir einen Spezialisten hinzuzögen, einen Herzfachmann, oder …»
«Nein, nein, Rose! Wenn Dr. Cohen meint, dass wir einen brauchen, dann wird er es von sich aus vorschlagen. Ich habe Vertrauen zu Dr. Cohen. Es gefällt mir, wie er seine Patienten behandelt. Ich spüre, dass er um mich besorgt ist.»