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«Hallo, Dr. Cohen? … Mein Kreuz macht wieder mal Sperenzchen, aber diesmal ganz schlimm. Ich hab’s grade noch bis an den Schreibtisch zurück geschafft.»

«Das haben Sie schon öfter gehabt, nicht wahr?»

«Na ja, so einmal im Jahr muss ich damit rechnen. Normalerweise aber ist das nur so ein dumpfer Schmerz, als hätte ich hundert Pfund Blei an der Taille hängen. Diesmal dagegen ist es ein stechender Schmerz, und ich kam einfach nicht wieder hoch. Ich bin auf dem Revier. Zu Hause habe ich einen speziellen Gürtel, den ich anlege, wenn das passiert, aber so, wie ich jetzt bin, kann ich auf gar keinen Fall nach Hause fahren.»

«Dann werde ich schnell rüberkommen und Sie mir mal ansehen. Ich kann Sie wenigstens verschnüren.»

«Das wäre nett, Doktor. Ich weiß, dass ich’s eben aushalten muss, bis der Schmerz von selbst nachlässt, aber so schlimm hab ich’s noch nie gehabt.»

«Nun, vielleicht kann ich ihnen was dagegen geben. Ich bin in wenigen Minuten dort.»

Kurze Zeit später sah Dr. Cohen dem Polizeichef in das jammervoll verzerrte Gesicht und nickte verständnisvoll, als Lanigan erklärte: «Ich würde ja gar nichts sagen, wenn ich irgendwas Dummes gemacht hätte, Doktor, wenn ich etwa versucht hätte, einen Wagen aus dem Schnee zu schieben. Das hab ich einmal gemacht, und da hat sofort mein Rücken angefangen. Das war die Strafe, aber eine vergleichsweise milde. Jetzt dagegen habe ich mich einfach gebückt, um meine Akte in den Schrank zurückzulegen, und – Mann! Ich konnte mich nicht mehr rühren.»

Dr. Cohen nickte mitfühlend. «Der Schmerz verschwindet mit der Zeit, nicht wahr? Nach zwei bis drei Tagen?»

«Er wird erträglicher nach ein paar Tagen, aber gewöhnlich bleibt er etwa zwei Wochen. Bloß, so schlimm hab ich’s noch nie gehabt. Sonst ist es immer mehr so ein Ziehen, wenn Sie wissen, was ich meine. Dies war ein scharfer, stechender Schmerz, und ein paar Minuten lang konnte ich mich überhaupt nicht rühren. Dann habe ich mich am Schrank entlang und am Schreibtisch entlang zu meinem Sessel zurückgehangelt.»

«Ich glaube, ich gebe Ihnen doch lieber was», antwortete der Arzt. Er suchte in seiner schwarzen Tasche und holte eine kleine Flasche heraus. «Zum Glück hatte ich zu Hause Ärztemuster. Das hier ist ein Muskelrelaxans. Möglicherweise werden Sie davon müde, also würde ich an Ihrer Stelle lieber keine größeren Autofahrten unternehmen. Ich habe recht gute Erfolge mit diesem Medikament gehabt, obwohl ein paar Patienten behaupteten, es hätte überhaupt nicht geholfen.» Er ging zu dem kleinen Waschbecken in der Ecke des Büros und füllte ein Glas mit kaltem Wasser. «Hier, nehmen Sie jetzt zwei davon und anschließend alle vier Stunden wieder zwei. Übrigens, sind Sie gegen irgendwas allergisch?»

«Nicht dass ich wüsste», antwortete der Chief, der dem Arzt die Pillen aus der hingestreckten Hand nahm. Sekundenlang betrachtete er sie neugierig, dann steckte er sie in den Mund und spülte sie mit Wasser herunter.

«Warum fragen Sie, ob ich allergisch gegen etwas bin?», erkundigte sich Lanigan. «Meine Rückenschmerzen kommen doch nicht etwa von einer Allergie, oder?»

«Natürlich nicht. Ich dachte nur an das Medikament. Es besteht immer die Möglichkeit einer allergischen Reaktion auf ein Medikament, das man verschreibt, die zuweilen recht schwere Formen annehmen kann. Vor allen Dingen heutzutage, wo wir so hochkomplizierte Zusammensetzungen haben.»

«Ach, wirklich? He, könnte das dem alten Kestler passiert sein? Hat er vielleicht auf die Pillen, die Sie ihm verschrieben haben, allergisch reagiert?»

Der Arzt zuckte die Achseln, «Möglich wäre es. Mein Kollege Dr. DiFrancesca war zum Beispiel dieser Meinung. Wenn eine bekannte Allergie gegen ein bestimmtes Medikament besteht, werden wir dieses Medikament natürlich nicht verschreiben. Deswegen erklären wir den Patienten immer, um was für ein Medikament es sich handelt, und erkundigen uns nach eventuellen Allergien. Normalerweise hätte ich Mr. Kestler zum Beispiel Penicillin verschrieben, da ich aber wusste, dass er allergisch dagegen war, verschrieb ich ihm Tetracyclin. Er hätte dagegen natürlich auch allergisch sein können, aber das war unwahrscheinlich. Ich meine, auf Penicillin reagieren viele Menschen allergisch, auf Tetracyclin kaum einige. Außerdem hatte ich es ihm früher schon einmal gegeben. Aber man weiß ja nie. Manchmal wirkt es kumulativ.»

«Könnte der Drugstore einen Fehler gemacht haben?»

Der Arzt schüttelte den Kopf. «Glaube ich kaum. Die sind heutzutage furchtbar vorsichtig, gerade wegen dieser komplizierten Zusammensetzung, von der ich sprach. Ein Fehler von Seiten des Apothekers ist äußerst unwahrscheinlich. Und die pharmazeutische Industrie hilft mit, indem sie ihre Pillen in allen möglichen Farben und Formen herausbringt, anstatt, wie früher, ausschließlich weiß und rund. Die Pille, die ich Kestler verschrieb, war zum Beispiel oval und rosa …»

«Eher orange, würde ich sagen», entgegnete der Chief.

«Nein, rosa. Nun, vielleicht könnte man es als lachsfarben bezeichnen. Woher wissen Sie das?»

«Weil ich sie mir angesehen habe. Ich habe sie hier und bin ganz sicher, dass sie orange sind. Einen Moment.» Er zog eine Schreibtischschublade auf und entnahm ihr jenen Umschlag, der die Flasche mit den Pillen enthielt. Er schraubte die Flasche auf und schüttelte ein paar Pillen auf die Schreibtischplatte. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Gewiss, die Pillen waren oval, aber sie waren ganz eindeutig orange. «Na, würden Sie sie etwa nicht als orange bezeichnen?», fragte er.

«Lassen Sie mich die Flasche sehen.» Der Arzt las laut, was auf dem Etikett stand: «J. Kestler, Limpidine zweihundertfünfzig, viermal am Tag je eine Tablette. Dr. D. Cohen.»

«Ist dies das Medikament, das Sie verschrieben haben?»

Cohen nickte.

«Und sind das die Pillen? Wie haben Sie sie genannt – Limpidine?»

«Ich hab mir immer eingebildet, sie wären rosa. Passen Sie auf, ich habe zu Hause ein Buch, das die pharmazeutische Industrie jedes Jahr an alle Ärzte verschickt. Es enthält sämtliche Informationen über die Medikamente, die sie herstellen, sowie Farbtafeln mit Abbildungen der Pillen. Ich könnte schwören, dass Limpidine rosa ist, aber ich werde es zu Hause sofort nachschlagen.»

«Tun Sie das, Doktor, und rufen Sie mich an. Ich bleibe noch eine Zeit lang hier.»

Dr. Cohen hielt auf der Heimfahrt alle Geschwindigkeitsbeschränkungen ein, aber nur knapp. Er stellte den Wagen in die Garage und hastete in sein Arbeitszimmer hinauf, ohne zuerst den Mantel auszuziehen. Er schlug die Physicians Desk Reference auf und starrte auf die Farbtafel. Er hatte Recht! Die Limpidinepillen waren rosa. Die orangefarbenen Pillen waren dagegen Penicillin in einer Form, wie sie dieselbe Firma herausbrachte. Irgendwie hatte Aptaker einen Fehler gemacht und die Penicillinpillen abgefüllt. Und der alte Mr. Kestler hatte natürlich darauf reagiert, da er allergisch gegen Penicillin war. Der Fehler lag also beim Apotheker und nicht bei ihm!

Das Herz sang ihm in der Brust. Es war geschehen! Er war zur Klausur gegangen; er hatte gebetet, wohl zum ersten Mal in seinem Leben aufrichtig gebetet; und sofort am Tag darauf war ihm auf wunderbare Weise dieses schwere, drückende Gewicht von der Seele genommen worden. Er griff zum Telefon.

 

Die Probleme der Eltern mit ihren Kindern, die alle offenbar nichts Geringeres als eine Entscheidung des Rabbiners oder mindestens seine Meinung erforderten, waren zahlreich und vielfältig. Rabbi Small empfing die Mütter nacheinander, während die übrigen draußen auf einem Sofa warteten.

«Ich weiß ja, dass es nicht so furchtbar wichtig ist, aber Kinder sind nun mal sensibel, und als Malcolm Studnick die Rolle bei der Aufführung bekam, wo doch alle sagten, dass mein Ronald bei den Proben so gut war, da war er natürlich tief gekränkt …»

«… Sie wissen doch, wie Mädchen sind, Rabbi. Sie finden es furchtbar wichtig, allseits beliebt zu sein. So was kann ihre ganze Persönlichkeit beeinflussen. Deswegen sind Tanzstunden und Tennisunterricht unerlässlich für ihre weibliche Entwicklung …»

«… Nicht dass mein Sumner uninteressiert wäre, Rabbi. Aber er hat einfach keine Zeit …»

«… Gerade jetzt, Rabbi, nachdem er gekränkelt hat, seit er ein Baby war, meint mein Mann, und ich natürlich auch, dass er möglichst oft im Freien sein soll. Ich danke Gott für die ‹Little League›. Ohne die ‹Little League› würde er den ganzen Tag zu Hause herumhocken. Deshalb war ich ja auch so an dem Camp interessiert, als mein Mann am Mittwochabend heimkam und mir davon erzählte. Also, wenn er sich dort während der Sommerferien auch noch im Judentum üben könnte …»

«Was für ein Camp ist denn das, Mrs. Robinson?»

«Ach, Rabbi, Sie wissen doch – da oben in Petersville. Nach allem, was ich hörte, soll es ja nicht nur als Klausur für Erwachsene benutzt werden; auch die Kinder sollen Gelegenheit haben, im Sommer mehrere Wochen dort zu verbringen.»

«Aber das ist nicht für die unmittelbare Zukunft geplant, Mrs. Robinson. Die Angelegenheit steht erst zur Diskussion.»

«Aber nein, Rabbi! Wie mir mein Mann sagte, haben sie das gestern in der Klausur diskutiert und wollen heute darüber abstimmen.»

«Aha, verstehe.» Rabbi Small zähmte seine Ungeduld und ließ sich nicht anmerken, dass er sie möglichst schnell loswerden wollte. Doch als die Unterredung beendet war und er Mrs. Robinson zur Tür begleitete, sagte er zu der Frau, die als nächste eintreten wollte: «Tut mir Leid, Mrs. Kalbfuss, ich muss zu einer Vorstandssitzung.»

«Aber die ist doch längst vorbei, Rabbi. Die sind vor einer ganzen Weile schon alle gegangen.»

Ein Blick den Korridor hinunter zeigte ihm, dass die Tür zum Vorstandszimmer tatsächlich weit offen stand und der Raum völlig leer war.

 

Als Chester Kaplan nach Hause fuhr, sah er Dr. Cohen auf dem Rasen vor seinem Haus Laub zusammenharken und hielt am Bordstein. «Hallo, Doktor!», rief er ihm zu. «Tut mir Leid, dass ich heute Morgen abfahren musste, ohne mich zu verabschieden.»

«Ach, das macht nichts», antwortete Cohen, der mit der Harke in der Hand näher kam.

«Wie war’s denn, Doktor? Hat’s Ihnen gefallen?», erkundigte sich Kaplan eifrig.

«Es war schön», antwortete der Arzt mit breitem Grinsen. «Wirklich schön, eigentlich sogar fabelhaft! Übrigens, da fällt mir ein: Ich habe noch nicht bezahlt. Wenn Sie einen Augenblick warten, schreibe ich Ihnen schnell einen Scheck. Oder kommen Sie doch herein, wenn Sie mögen.»

«Nein danke. Schicken Sie ihn mir ganz einfach zu. Ich muss weiter. Freut mich, dass es Ihnen gefallen hat.»

«Aber ja! Es war ein echtes Erlebnis.»

Als er heimkam, ging Kaplan geradewegs in sein Arbeitszimmer, wo er auf dem Briefpapier der Synagoge ein Schreiben an Marcus Aptaker, Town-Line Drugstore, tippte. Er informierte ihn mit diesem Brief, dass der Synagogenvorstand sich einstimmig dafür entschieden habe, den Goralsky-Block mit den angrenzenden Grundstücken an William Safferstein, 258 Minerva Road, Barnard’s Crossing, zu verkaufen. Er möge seine Bitte um Verlängerung des Mietvertrages doch an den genannten Käufer richten.