Kapitel 23

Am folgenden Tag stöberte Amelia kurz nach Einbruch der Dunkelheit in ihrem begehbaren Schrank. Plötzlich hörte das Klappern der Bügel auf der Kleiderstange ganz hinten im Schrank auf.

»Ich glaube, ich habe eins«, rief sie, selbst ganz überrascht. Ich saß auf ihrer Bettkante und wartete, dass sie wieder auftauchte. Nach zehn Stunden Schlaf, einer ausgiebigen Dusche und ein paar Erste-Hilfe-Maßnahmen fühlte ich mich schon hundertmal besser. Amelia strahlte vor Stolz und Glück. Mormonen-Bob hatte sich als wunderbarer Liebhaber erwiesen, und die beiden waren gerade rechtzeitig aufgestanden, um noch zu sehen, wie Quinn und ich entführt wurden - und sie hatten die brillante Idee gehabt, sich gar nicht erst an die normale Polizei zu wenden, sondern gleich an die Residenz der Vampirkönigin. Von unserem eigenen Anruf dort hatte ich ihr nichts erzählt, weil ich nicht wusste, welcher wirkungsvoller gewesen war, und ich mich freute, dass Amelia so glücklich war.

Ich hatte eigentlich gar nicht auf den Frühlingsball der Königin gehen wollen und war erst mal mit Mr Cataliades zur Bank gefahren. Danach hatte ich im Apartment weiter Hadleys Sachen eingepackt, bis mir ein merkwürdiges Geräusch auffiel, als ich gerade den Kaffee verstaute. Danach war mir klar gewesen: wenn ich keine Katastrophe heraufbeschwören wollte, musste ich also zum Frühlingsball der Königin gehen, dem Event des Jahres unter den Supras. Ich hatte versucht, Andre in der Residenz zu erreichen, doch die Stimme am anderen Ende sagte, dass er nicht gestört werden dürfe. Wer ging denn da an diesem Tag in der Vampir-Residenz ans Telefon, etwa einer von Peter Threadgills Vampiren?

»Ja, ich hab eins!«, rief Amelia. »Es ist ganz schön gewagt. Ich war mal Brautjungfer auf einer echt extremen Hochzeit.« Mit zerzaustem Haar und triumphierendem Blick tauchte Amelia aus dem Schrank auf. Sie drehte den Bügel hin und her, damit ich sah, was sie meinte. Amelia hatte das Kleid mit Nadeln am Bügel feststecken müssen, weil so wenig da war, was man hätte aufhängen können.

»Huch!«, sagte ich beunruhigt, denn das Kleid bestand aus kaum etwas anderem als ein wenig limonengrünem Chiffon und hatte einen V-Ausschnitt bis zum Bauchnabel. Nur ein einziger schmaler Stoffstreifen hielt es im Nacken fest.

»Es war die Hochzeit eines Filmstars.« Amelia sah aus, als könne sie sich nur allzu gut an das Ereignis erinnern. Das Kleid war rückenfrei, und ich fragte mich, wie diese Hollywoodfrauen eigentlich ihre Brüste bedeckt hielten. Doppelseitiges Klebeband? Irgendein Super-Klebstoff? Da Claudine bereits vor der ektoplasmischen Rekonstruktion verschwunden war und ich sie seitdem nicht mehr gesehen hatte, war sie wohl schon zu ihrem Job und ihrem Leben in Monroe zurückgekehrt. Dabei hätte ich sie gerade jetzt brauchen können. Es gab sicher irgendeinen Elfenzauber, der Kleider am Körper festhielt.

»Wenigstens brauchst du dafür keinen speziellen BH«, sagte Amelia aufmunternd. Tja, da hatte sie recht. Darunter konnte man überhaupt keinen BH tragen. »Und ich habe auch die dazupassenden Schuhe noch, falls du Größe 40 trägst.«

»Ja, das hilft mir schon mal.« Ich versuchte, erfreut und dankbar zu klingen. »Haare frisieren kannst du wohl nicht zufällig auch noch?«

»Nee«, meinte Amelia und fuhr sich mit der Hand über ihre Kurzhaarfrisur. »Ich wasche und kämme es bloß, das ist alles. Aber ich kann Bob anrufen.« Glücklich strahlend sah sie mich an. »Er ist Friseur.«

Ich versuchte, nicht zu überrascht zu wirken. Etwa bei einem Beerdigungsinstitut?, dachte ich, war aber klug genug, das nicht laut auszusprechen. Bob sah einfach überhaupt nicht nach einem Friseur aus.

Doch schon zwei Stunden später steckte ich mehr oder weniger in dem Kleid und war zurechtgemacht. Bob hatte mich schön frisiert, obwohl ich etwas nervös wurde, als er mich während der Prozedur mehrmals ermahnte, ganz still zu sitzen.

Quinn fuhr pünktlich mit seinem Wagen vor. Als Eric und Rasul mich gegen zwei Uhr morgens beim Apartment abgesetzt hatten, war Quinn einfach in sein Auto gestiegen und dorthin verschwunden, wo immer er wohnte. Ehe ich die Treppe hinaufstieg, hatte er mir immerhin noch einen leichten Kuss auf die Stirn gedrückt. Amelia war sofort aus ihrer Wohnung gestürzt, glücklich, dass ich wohlbehalten wieder da war. Und ich hatte Mr Cataliades zurückrufen müssen, der sich schon Sorgen machte und mit mir Hadleys finanzielle Angelegenheiten auf der Bank regeln wollte. Die Gelegenheit, das mit Everett zu erledigen, hatte ich ja verpasst, und so war ich ihm dankbar dafür.

Als ich dann später in Hadleys Apartment weiter Sachen einpackte, hatte ich plötzlich dieses Geräusch gehört. Auf Hadleys Anrufbeantworter war die Nachricht für mich hinterlassen worden, dass die Königin mich heute Nacht auf dem Ball im alten Kloster zu sehen wünsche. »Verlassen Sie die Stadt bitte nicht, ohne mich noch einmal aufzusuchen«, hatte ihr menschlicher Sekretär die Worte der Königin zitiert und mir noch mitgeteilt, dass festliche Kleidung erforderlich war. Nachdem ich begriffen hatte, dass ich tatsächlich auf den Frühlingsball der Supras gehen musste, war ich in Panik zu Amelia hinuntergelaufen.

Das Kleid verursachte mir allerdings auch eine Art Panik. Ich war körperlich besser ausgestattet als Amelia, wenn auch etwas kleiner, und musste absolut gerade stehen.

»Ich sterbe noch vor Spannung«, sagte Quinn und spähte auf meinen Busen. Der Smoking stand ihm glänzend. Die Verbände an meinen Handgelenken hoben sich wie seltsame Armbänder von meiner gebräunten Haut ab, und der eine war so unbequem, dass ich ihn am liebsten abgenommen hätte. Doch die Handgelenke mussten noch eine Weile verbunden bleiben, nur die Bisswunde an meinem linken Arm kam ohne Verband aus. Vielleicht würde die Spannung um meinen Busen die Ballgäste wenigstens von der Tatsache ablenken, dass mein Gesicht auf einer Seite geschwollen und verfärbt war.

Quinn sah natürlich so aus, als wäre ihm nie was zugestoßen. Wie bei den meisten Gestaltwandlern heilten Wunden bei ihm besonders schnell, und außerdem verdeckt so ein Smoking an einem Mann auch jede Menge Blessuren.

»Mach mich nicht noch verlegener, als ich sowieso schon bin«, sagte ich. »Sonst krieche ich sofort zurück ins Bett und schlafe eine Woche lang.«

»Da mache ich mit, obwohl ich die Schlafzeit drastisch reduzieren würde«, erwiderte Quinn ganz ernsthaft. »Aber um des lieben Friedens willen sollten wir das hier erst hinter uns bringen. Übrigens, meine Spannung bezog sich auf deinen Besuch bei der Bank, nicht auf das Kleid. Aber was das Kleid betrifft, da kannst du doch nur gewinnen. Wenn du drinbleibst, gut. Wenn nicht, sogar noch besser.«

Ich sah weg, weil ich unwillkürlich lächeln musste. »Mein Besuch bei der Bank.« Das Thema erschien mir ungefährlich. »Tja, auf Hadleys Bankkonto war nicht viel Geld, aber damit hatte ich schon gerechnet. In Gelddingen war sie nicht sehr vernünftig ... ach, Hadley war insgesamt nicht vernünftig, Punktum. Und im Schließfach ...«

Im Schließfach hatten Hadleys Geburtsurkunde, eine Heiratsurkunde und drei Jahre alte Scheidungspapiere gelegen - in denen zu meiner Erleichterung derselbe Mann genannt wurde - sowie eine Kopie der Todesanzeige meiner Tante. Hadley hatte also gewusst, wann ihre Mutter gestorben war, und es war ihr wichtig genug gewesen, um den Zeitungsausschnitt aufzubewahren. Ich hatte Fotos unserer gemeinsamen Kindheit gefunden: meine Mutter und ihre Schwester; meine Mutter mit Jason, mir und Hadley; meine Großmutter und ihr Ehemann. Außerdem eine schöne Kette mit Saphiren und Diamanten (ein Geschenk der Königin, wie Mr Cataliades gesagt hatte) mit dazu passenden Ohrringen. Über die zwei, drei anderen Sachen, die noch darin lagen, wollte ich erst mal nachdenken.

Aber das Armband der Königin war nicht darin gewesen. Aus diesem Grund hatte Mr Cataliades mich vermutlich begleitet: Er war mehr oder weniger davon ausgegangen, das Armband dort zu finden, und wirkte ziemlich besorgt, als ich ihm die Kassette hinhielt, damit er selbst einen Blick hineinwerfen konnte.

»Ich habe heute noch die restlichen Küchensachen eingepackt, nachdem Mr Cataliades mich hierher zurückgefahren hat«, erzählte ich Quinn und beobachtete seine Reaktion. Nie mehr würde ich arglos davon ausgehen, dass die Leute um mich herum keine eigenen Interessen verfolgten. Als ich sah, wie gelassen Quinn reagierte, war ich ziemlich überzeugt, dass er mir tags zuvor nicht bloß geholfen hatte, weil er nach etwas suchte.

»Gut«, erwiderte Quinn. »Tut mir leid, dass ich es heute nicht geschafft habe, dir zu helfen. Aber ich musste Jakes Angelegenheiten bei Special Events abwickeln und auch meine Geschäftspartner informieren. Und dann habe ich noch mit Jakes Freundin telefoniert. Er ist noch nicht stabil genug, um sich mit ihr zu treffen - falls sie ihn überhaupt wiedersehen will. Sie steht nicht gerade auf Vampire, um es mal milde auszudrücken.«

Das ging mir im Moment nicht anders. Ich durchschaute nicht, aus welchem Grund die Königin mich auf dem Ball sehen wollte. Aber ich hatte ja inzwischen selbst einen Grund, warum ich sie noch mal treffen musste. Quinn lächelte mich an, und ich erwiderte sein Lächeln. Dieser Abend würde hoffentlich zu etwas Gutem führen. Ich muss allerdings auch zugeben, dass ich auf diesen Ball der Vampire ziemlich neugierig war - und außerdem war ich irgendwie ganz froh, mich nach dem elenden Marsch durch die Sümpfe mal wieder schön anziehen zu können.

Auf der Fahrt hätte ich mindestens dreimal beinahe ein Gespräch mit Quinn begonnen - aber jedes Mal, wenn es so weit war, hielt ich doch den Mund.

»Wir sind fast da«, sagte er, als wir einen der ältesten Stadtteile von New Orleans erreichten, den Garden District. Die Häuser auf den wunderschön angelegten Gartengrundstücken hier kosteten sicher ein Vielfaches von dem, was selbst die Bellefleur-Villa einbringen würde. Inmitten dieser herrlichen Häuser kamen wir an eine hohe Mauer, die sich einen ganzen Block entlangzog. Dahinter lag das renovierte Kloster, das die Königin für Partys und Bälle nutzte.

Vielleicht gab es an der Rückseite des Anwesens noch andere Zufahrten, doch heute Abend strebten alle Wagen dem Haupttor zu. Es war schwer bewacht von den effizientesten Sicherheitsleuten, die es gab: Vampiren. Litt Sophie-Anne an Verfolgungswahn, fragte ich mich, war sie bloß besonders umsichtig oder fühlte sie sich in ihrer Wahlheimat einfach nicht geliebt (und daher auch nicht sicher)? Die Königin ließ bestimmt auch die üblichen Sicherheitsmaßnahmen einsetzen - Überwachungskameras, Infrarot- Bewegungsmelder, Stacheldraht, vielleicht sogar Wachhunde. Hier, wo sich hochgestellte Vampire gelegentlich mit hochgestellten Menschen zum Feiern trafen, herrschte der reinste Sicherheitsoverkill. Heute Abend waren nur Supras geladen, zum ersten großen Ball, den die frisch Verheirateten als Ehepaar gaben.

Am Haupttor standen drei Vampire der Königin, zusammen mit drei Vampiren aus Arkansas. Peter Threadgills Vampire trugen Uniform, der König selbst hätte es vermutlich Livree genannt. Ob männlich oder weiblich, die Blutsauger aus Arkansas steckten alle in einem weißen Anzug mit blauem Hemd und roter Weste. Keine Ahnung, ob der König so ultrapatriotisch war oder ob er die Farben ausgesucht hatte, weil sie sowohl in der Flagge von Arkansas wie in der von Amerika vorkamen. Wie auch immer, die Anzüge waren extrem kitschig und hätten jede Modenschau der Peinlichkeiten gewonnen. Und Peter Threadgill war so konservativ gekleidet gewesen! War das irgendeine Tradition, von der ich noch nie gehört hatte? Meine Güte, da besaß ja selbst ich mehr Geschmack, und ich kaufte meine Kleidung meist bei Wal-Mart.

Quinn hatte eine Karte der Königin, die er den Wachen am Tor zeigte, doch sie riefen trotzdem im Haupthaus an. Das schien Quinn nicht zu behagen. Hoffentlich war er genauso beunruhigt wie ich über die extremen Sicherheitsmaßnahmen und den Nachdruck, mit dem sich Threadgills Vampire von den Anhängern der Königin absetzten. Ich musste daran denken, dass die Königin es nötig gehabt hatte, den Vampiren des Königs einen Vorwand dafür zu liefern, dass sie mit mir in Hadleys Apartment hinaufgegangen war; und daran, mit welcher Sorge die Königin nach dem Armband gefragt hatte; und daran, dass am Haupttor Vertreter beider Vampirlager anwesend waren. Keiner der beiden Monarchen schien dem anderen in Fragen der Sicherheit über den Weg zu trauen.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir schließlich passieren durften. Quinn war genauso schweigsam gewesen wie ich, während wir warteten. Jetzt fuhr er vorsichtig die gewundene Auffahrt zum Haupteingang des ehemaligen Klosters entlang. Das Anwesen war sehr schön angelegt, äußerst gepflegt und besonders gut ausgeleuchtet.

»Quinn, irgendwas stimmt doch nicht«, sagte ich. »Was ist hier los? Glaubst du, sie würden uns wieder gehen lassen?« All meine Befürchtungen schienen sich leider zu bestätigen.

Quinn wirkte nicht viel glücklicher als ich. »Sie würden uns nicht mehr rauslassen«, meinte er. »Jetzt müssen wir weiter.« Ich drückte meine kleine Abendhandtasche an mich und wünschte, ich hätte irgendwas Gefährlicheres darin als Puderdose, Lippenstift und einen Tampon.

»Was hast du heute noch getan, außer dich für den Abend schönzumachen?«, fragte Quinn.

»Ich habe jede Menge Anrufe gemacht«, sagte ich. »Und einer hat sich ausgezahlt.«

»Anrufe? Wen hast du angerufen?«

»Alle Tankstellen an der Strecke von New Orleans nach Bon Temps.«

Erstaunt drehte er sich zu mir um, und ich konnte ihn gerade noch rechtzeitig zum Bremsen auffordern.

Ein Löwe überquerte die Auffahrt.

»Meine Güte, was ist das denn? Ein Tier? Ein Gestaltwandler?« Von Minute zu Minute wurde ich nervöser.

»Ein Tier«, erwiderte Quinn.

Okay, also keine Wachhunde. Hoffentlich war die Mauer hoch genug, dass der Löwe nicht rauskam.

Wir parkten vor dem ehemaligen Kloster, einem sehr großen, zweistöckigen Gebäude. Bei seiner Errichtung war es wohl vor allem um Zweckmäßigkeit gegangen; seine Schönheit hielt sich in Grenzen. Es war ein schmuckloser Kasten mit einem relativ kleinen Haupteingang mitten in der Fassade und regelmäßig angeordneten kleinen Fenstern. So ein Gebäude dürfte ziemlich leicht zu verteidigen sein.

Vor dem kleinen Eingang standen sechs weitere Vampire, drei sehr schick und individuell gekleidet - sicher Blutsauger aus Louisiana - und drei in der grellen, geschmacklosen Uniform aus Arkansas.

»Wie grottenhässlich«, sagte ich.

»Aber leicht zu erkennen, sogar im Dunkeln«, erwiderte Quinn, der in ernste Gedanken versunken zu sein schien.

»Ach«, rief ich. »Etwa deshalb? Damit sie sofort... oh.« Ich dachte kurz darüber nach. »Klar. So was zieht niemand absichtlich oder aus Versehen an. Auf keinen Fall. Es sei denn, es wäre sehr wichtig, dass man sofort zu erkennen ist.«

»Es deutet vieles darauf hin«, sagte Quinn, »dass Peter Threadgill der Königin nicht wirklich ergeben ist.«

Ich stieß ein kurzes Lachen aus, gerade als zwei Louisiana-Vampire mit so gut koordinierten Gesten die Autotüren öffneten, als hätten sie es geprobt. Melanie, die Wachvampirin, die ich schon aus der Residenz der Königin kannte, reichte mir die Hand, half mir aus dem Wagen und lächelte mich an. Ohne die finstere Uniform der Sicherheitsleute sah sie viel besser aus. Sie trug ein hübsches gelbes Kleid und dazu Schuhe mit niedrigem Absatz. Weil sie jetzt keinen Helm auf hatte, sah ich, dass ihr Haar kurz, sehr lockig und hellbraun war.

Sie atmete auf theatralische Weise tief ein, als ich an ihr vorüberging, und sah mich ganz verzückt an. »Oh, Elfengeruch!«, rief sie. »Da schlägt ja gleich mein Herz höher.«

Mit einer scherzhaften Geste winkte ich ab. Zu sagen, ich sei überrascht, wäre noch stark untertrieben. Vampire waren nicht gerade für ihren Sinn für Humor bekannt.

»Tolles Kleid«, sagte Rasul. »Recht gewagt, hm?«

»Mir kann's gar nicht gewagt genug sein«, warf Chester ein. »Sieht wirklich zum Anbeißen aus.«

Es konnte doch wohl kein Zufall sein, dachte ich, dass hier an dieser Tür die drei Vampire Wache schoben, die ich bereits in der Residenz der Königin getroffen hatte. Auch wenn mir nicht klar war, was das zu bedeuten hatte. Die drei Arkansas-Vampire schwiegen und beobachteten mit kaltem Blick das Geplänkel zwischen uns. Sie wirkten längst nicht so entspannt wie ihre Kollegen und lächelten auch nicht.

Ganz eindeutig stimmte hier irgendwas nicht. Aber da die Vampire alle so ausgezeichnet hörten, konnten wir kein Wort darüber verlieren.

Quinn nahm meinen Arm, und wir betraten einen langen Flur, der über die gesamte Länge des Gebäudes zu reichen schien. Eine von Peter Threadgills Vampirinnen stand an der Tür zu einem Raum, der wohl als Anmeldung diente.

»Möchten Sie Ihre Handtasche abgeben?«, fragte sie, offensichtlich nicht sehr erfreut darüber, dass man sie zur Garderobenfrau degradiert hatte.

»Nein, lieber nicht«, erwiderte ich und dachte schon, sie würde mir die Handtasche gleich unter dem Arm hervor zerren.

»Darf ich hineinsehen?«, fragte sie. »Wir suchen nach Waffen.«

Ich sah ihr direkt ins Gesicht, immer eine gefährliche Sache bei Vampiren. »Natürlich nicht. Ich habe keine Waffen.«

»Sookie«, sagte Quinn und versuchte, seine Beunruhigung zu verbergen. »Du musst sie in deine Handtasche schauen lassen. Das ist ein Routinevorgang.«

Erbost funkelte ich ihn an. »Das hättest du mir auch gleich sagen können.«

Die junge Vampirin, deren schlanker Figur der Schnitt der weißen Uniformhose nichts anhaben konnte, ergriff meine Handtasche mit triumphierendem Blick. Sie leerte sie über einem Tablett aus, und meine Utensilien fielen klappernd auf die metallene Oberfläche: Puderdose, Lippenstift, eine kleine Tube Klebstoff, ein Taschentuch, ein Zehndollarschein und ein Tampon mit Einführhülse, der komplett von Plastikfolie umhüllt war.

Quinn war nicht so puritanisch, dass er rot geworden wäre, doch er wandte diskret den Blick ab. Die Vampirin, die schon lange gestorben war, bevor Frauen solche Sachen in ihren Handtaschen mit sich herumschleppten, fragte mich nach dem Verwendungszweck und nickte, als ich es erklärte. Dann legte sie alles wieder in meine Abendhandtasche und gab uns mit einer Geste zu verstehen, dass wir unseren Weg den Flur entlang fortsetzen sollten. Sie hatte sich schon den Leuten hinter uns zugewandt, einem Werwolfpaar Mitte sechzig, noch ehe wir gegangen waren.

»Was hast du vor?«, fragte Quinn mich so leise wie möglich, während wir immer weitergingen.

»Gibt es noch weitere Sicherheitskontrollen?«, fragte ich ebenso leise.

»Ich weiß nicht. Ich sehe vor uns keine mehr.«

»Ich muss noch etwas erledigen«, sagte ich. »Warte mal eben, ich gehe nur kurz auf die Toilette.« Mit einem Blick und einem leichten Druck auf den Arm versuchte ich ihm zu sagen, dass in ein paar Minuten alles in Ordnung sein würde, und ich hoffte sehr, dass das auch stimmte. Quinn wirkte nicht gerade glücklich, aber er wartete vor der Damentoilette (weiß Gott, was das gewesen sein mochte, als das Gebäude noch ein Kloster war), während ich mich in eine der Kabinen verzog und ein paar Vorkehrungen traf. Als ich wieder herauskam, warf ich die Tamponhülse in den kleinen Abfalleimer und eins meiner Handgelenke war neu verbunden. Und meine Abendhandtasche war etwas schwerer.

Die Türen am Ende des Flurs führten in einen sehr großen Saal, der einst das Refektorium der Mönche gewesen war. Auch wenn den Saal immer noch steinerne Wände und riesige, das Dach tragende Säulen schmückten, drei auf der Linken und drei auf der Rechten, hatte die restliche Ausstattung sich doch stark verändert. Die Mitte des Saals war als Tanzfläche freigeräumt worden, dort zeigte sich ein blanker Parkettfußboden. In der Nähe des Erfrischungsbüfetts erhob sich ein Podium für die Musiker und am entgegengesetzten Ende des Saales war noch ein Podium für das königliche Paar aufgebaut.

An den Längsseiten standen Stühle, und der ganze Saal war in Weiß und Blau dekoriert, den Staatsfarben. Eine der Wände zierte ein riesiges Wandgemälde mit Szenen aus Louisiana: eine Sumpflandschaft, die mich erschaudern ließ; eine Collage aus der Bourbon Street; ein Feld, das gepflügt, und Holz, das gehackt wurde; ein Fischer, der irgendwo an der Golfküste ein Netz aus dem Wasser zog. All diese Szenen zeigten Menschen, und ich fragte mich, welchen Sinn das haben mochte. Dann drehte ich mich nach der Wand mit der Tür um, durch die ich gerade eingetreten war, und da sah ich die Vampirseite von Louisiana: eine fidele Gruppe Vampire mit Geigen unter dem Kinn, die munter aufspielten; ein Vampirpolizist, der im French Quarter Streife ging; ein Vampirreiseleiter, der Touristen durch eine der Städte der Toten führte. Nirgends Vampire, die sich einen menschlichen Snack genehmigten oder irgendwas tranken, wie ich bemerkte. Eine gelungene PR-Maßnahme. Fragte sich nur, ob irgendwer darauf hereinfiel. Man musste sich mit Vampiren ja nur zum Abendessen an einen Tisch setzen, um festzustellen, wie andersartig sie waren.

Deshalb war ich allerdings nicht hier. Ich sah mich nach der Königin um und entdeckte sie schließlich an der Seite ihres Ehemanns. In einem langärmligen orangefarbenen Seidenkleid stand sie da und sah einfach fabelhaft aus. Die langen Ärmel wirkten an einem so warmen Abend wie diesem vielleicht etwas seltsam, doch Vampire nahmen Dinge wie Temperaturen gar nicht wahr. Peter Threadgill trug einen Smoking und sah genauso eindrucksvoll aus. Jade Flower stand hinter ihm, natürlich mit Schwert über dem Rücken, obwohl sie ein paillettenbesetztes rotes Kleid trug (in dem sie übrigens grässlich aussah). Andre war ebenfalls bewaffnet und hatte seinen Posten hinter der Königin eingenommen. Da konnten Sigebert und Wybert nicht weit sein. Ich entdeckte die Brüder zu beiden Seiten einer Tür, die vermutlich in die Privaträume der Königin führte. Die beiden Vampire schienen sich in ihren Smokings ganz und gar nicht wohlzufühlen, sie wirkten wie Bären, denen man Schuhe angezogen hatte.

Bill war auch im Saal. Ich sah ihn ganz am anderen Ende, an der gegenüberliegenden Seite der Königin, stehen und schauderte vor Abscheu.

»Du hast zu viele Geheimnisse«, beschwerte sich Quinn, der meinem Blick gefolgt war.

»Bald werde ich dir ein paar erzählen«, versprach ich, und wir stellten uns hinten in der Schlange an. »Wenn wir die königlichen Hoheiten erreichen, geh vor und lenk bitte den König ab, während ich mit der Königin spreche, ja? Danach erzähle ich dir alles.«

Wir erreichten zuerst Mr Cataliades. Ich schätze, er war so eine Art Staatsminister der Königin. Oder wäre die Bezeichnung Kronanwalt vielleicht treffender?

»Schön, Sie wiederzusehen, Mr Cataliades«, sagte ich im höflichsten Gesellschaftston, zu dem ich fähig war. »Ich habe eine Überraschung für Sie«, fügte ich noch hinzu.

»Die wird noch ein wenig warten müssen«, erwiderte er etwas steif, aber freundlich. »Die Königin und der König werden gleich den Ball mit dem ersten Tanz eröffnen. Wir freuen uns alle schon sehr, das Geschenk zu sehen, das der König seiner Gemahlin gemacht hat.«

Ich sah mich um, konnte Diantha aber nirgends entdecken. »Wie geht es Ihrer Nichte?«, fragte ich.

»Meine überlebende Nichte«, sagte er grimmig, »ist zu Hause bei ihrer Mutter.«

»Wie schade«, entgegnete ich. »Sie sollte heute Abend auch hier sein.«

Er sah mich an. Sein Interesse schien geweckt. »Ja, wirklich?«, sagte er.

»Ich habe gehört, jemand vom königlichen Hof hat Mittwoch letzter Woche auf dem Weg nach Bon Temps zum Tanken halten müssen«, erzählte ich. »Jemand mit einem langen Schwert.« Als ich dann Mr Cataliades verließ und vor die Königin trat, hatte ich eine Hand an mein verletztes Handgelenk gelegt. Der Verband war verschwunden.

Ich streckte die rechte Hand aus, und die Königin war gezwungen, sie zu ergreifen. Darauf hatte ich gesetzt: dass die Königin aus Gründen der Höflichkeit dem menschlichen Brauch des Händeschüttelns folgen würde; und ich war enorm erleichtert, als sie es wirklich tat. Quinn war an der Königin vorbei zum König getreten und sagte: »Hoheit, Sie erinnern sich bestimmt an mich. Ich war für die Organisation Ihrer Hochzeit zuständig. Haben die Blumen Ihren Wünschen entsprochen?«

Verwundert sah Peter Threadgill Quinn aus seinen großen Augen an, und Jade Flowers Blick wich nicht von ihrem König.

Bemüht, nur ja keine ruckartigen Bewegungen zu machen, drückte ich meine linke Hand und das, was darin war, ans Handgelenk der Königin. Sie zuckte nicht einmal, auch wenn es einen Augenblick lang so schien. Dann spähte sie zu ihrem Handgelenk hinunter, und als sie sah, was ich darumgelegt hatte, schloss sie vor Erleichterung die Augen.

»Ja, meine Liebe, der Besuch bei Ihnen war wundervoll«, sagte sie aus dem Stegreif. »Andre hat er genauso gut gefallen wie mir.« Sie blickte sich über die Schulter nach Andre um, der sein Stichwort aufnahm und mir in Anerkennung meiner vermeintlichen Liebestalente zunickte. Weil ich so froh war, dass die Feuerprobe bestanden war, strahlte ich ihn an, und er wirkte leicht amüsiert. Die Königin hob den Arm, um ihn heranzuwinken, wobei ihr Ärmel hochrutschte. Und plötzlich strahlte Andre ebenso wie ich.

Andres unvermutete Bewegung schreckte Jade Flower auf, deren Blick dem seinen folgte. Ihre Augen weiteten sich, doch sie strahlte überhaupt nicht. Im Gegenteil, sie wurde unglaublich wütend. Mr Cataliades betrachtete währenddessen mit völlig ausdrucksloser Miene das Schwert auf Jade Flowers Rücken.

Dann wurde Quinn vom König entlassen, und es war an mir, Peter Threadgill, dem König von Arkansas, meinen Respekt zu bezeugen.

»Wie ich höre, haben Sie gestern einen gefährlichen Ausflug in die Sümpfe unternommen«, sagte er kühl und gelassen.

»Ja, Sir. Aber es ist alles noch mal gut ausgegangen.«

»Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte er. »Jetzt, da die Wohnung Ihrer Cousine aufgelöst ist, kehren Sie sicher nach Hause zurück, nicht wahr?«

»O ja, so schnell wie möglich«, erwiderte ich. Und das war die reine Wahrheit. Ich würde nach Hause zurückkehren, immer vorausgesetzt, dass ich diesen Abend überlebte, auch wenn die Chancen in diesem Moment nicht allzu gut standen. Ich hatte gezählt, so gut mir das in diesem Gedränge hier möglich war. Es waren mindestens zwanzig Vampire im Saal, die die grelle Arkansas-Uniform trugen, und vermutlich noch mal genauso viele Vampire der Königin.

Ich entfernte mich vom König, und das Werwolfehepaar, das nach Quinn und mir den Saal betreten hatte, nahm meinen Platz ein. Ich glaube, er war der stellvertretende Gouverneur von Louisiana, und ich konnte für ihn nur hoffen, dass er gut krankenversichert war.

»Was ist denn los?«, fragte Quinn.

Ich führte ihn zur Wand und manövrierte ihn herum, bis er mit dem Rücken dagegen dastand. Niemand im Saal sollte mir ins Gesicht sehen und mir von den Lippen lesen können.

»Wusstest du, dass das Armband der Königin weg war?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Eins der Diamantarmbänder, die der König ihr zur Hochzeit geschenkt hat?« Auch Quinn senkte den Kopf, damit ihn niemand beobachten konnte.

»Ja, es war weg«, bestätigte ich. »Seit Hadley starb.«

»Wenn der König gewusst hat, dass das Armband weg war, und die Königin hätte zugeben müssen, dass sie es einer Geliebten geschenkt hat, so wäre das ein Scheidungsgrund gewesen.«

»Aber was hätte er denn davon?«

»Was hätte er nicht davon! Es war eine hierarchische Vampirhochzeit, und noch mehr Rechte kannst du gar nicht erwerben. Ich glaube, der Hochzeitsvertrag war dreißig Seiten lang.«

Jetzt verstand ich es schon etwas besser.

Eine Vampirin in einer wunderschönen graugrünen Robe, die mit silbern glänzenden Blüten bestickt war, hob einen Arm, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu lenken. Nach und nach senkte sich Stille über den Saal.

»Sophie-Anne und Peter heißen Sie herzlich willkommen zu ihrem ersten gemeinsamen Ball«, sagte die Vampirin in einer so melodiösen und weichen Stimme, dass man ihr am liebsten stundenlang zugehört hätte. Sie wäre genau die richtige Moderatorin für die Oscar-Verleihung oder für die Wahl der Miss America. »Sophie-Anne und Peter wünschen Ihnen allen einen wunderschönen Abend, tanzen Sie, essen Sie, trinken Sie! Und nun werden Ihre Gastgeber den Frühlingsball mit einem ersten Walzer eröffnen.«

Trotz seines geschniegelten Äußeren war Peter eher der Typ für einen Square Dance, aber mit einer Frau wie Sophie-Anne musste es wohl ein Walzer sein oder gar nichts. Mit ausgestreckten Armen trat er auf sie zu und sagte mit seiner tragenden Vampirstimme: »Liebling, zeig unseren Gästen doch deine Armbänder.«

Sophie-Anne wandte sich mit einem Lächeln den Umstehenden zu, hob die Arme, damit ihre Ärmel zurückglitten, und an jedem ihrer Handgelenke konnten die Gäste das gleiche Armband sehen. Die zwei großen Diamanten blitzten und funkelten im Schein der Kronleuchter.

Einen Augenblick lang stand Peter Threadgill absolut reglos da, als hätte ihn jemand zu Eis erstarren lassen. Dann erst trat er einen Schritt auf seine Frau zu und ergriff eine ihrer Hände. Er betrachtete das eine Armband, ließ die Hand los und nahm die andere. Auch dieses Armband bestand die wortlose Prüfung.

»Wunderbar«, sagte er; und dass er es mit ausgefahrenen Fangzähnen gesagt hatte, führten alle Anwesenden sicher nur darauf zurück, dass er seine wunderschöne Frau so sehr begehrte. »Du trägst sie alle beide.«

»Natürlich«, erwiderte Sophie-Anne. »Mein Liebling.« Ihr Lächeln war genauso aufrichtig wie das seine.

Und dann tanzten sie; auch wenn mich etwas in seinen Bewegungen vermuten ließ, dass der König sich von seiner Enttäuschung hinreißen ließ. Er hatte einen großen Plan gehabt, und jetzt hatte ich diesen vereitelt ... zum Glück wusste er nichts von meinem Anteil daran. Er wusste nur, dass es Sophie-Anne irgendwie gelungen war, das Armband wiederzubeschaffen und ihr Gesicht zu wahren, und dass er nichts in Händen hielt, was die Umsetzung seines Plans (wie auch immer der ausgesehen hatte) gerechtfertigt hätte. Er musste sich geschlagen geben. Wahrscheinlich würde er sich schon bald etwas Neues gegen seine Königin einfallen lassen. Doch dann wäre wenigstens ich aus der Schusslinie.

Ich zog mich mit Quinn an den Tisch mit den Erfrischungen zurück, der am südlichen Ende des großen Saales stand, neben einer der dicken Säulen. Diener schnitten mit scharfen Tranchiermessern Schinken und Roastbeef auf. Daneben standen Körbe mit knusprigen Brötchen. Es roch köstlich, doch ich war viel zu nervös, um ans Essen zu denken. Quinn holte mir ein Glas Ginger Ale von der Bar. Dann sah ich dem tanzenden Königspaar zu und wartete darauf, dass die Decke einstürzte.

»Sind sie nicht ein schönes Paar?«, sagte eine gutgekleidete grauhaarige Frau zu mir. Es war die Ehefrau des Werwolfpaars, das direkt nach uns den Saal betreten hatte.

»Ja, das sind sie«, bestätigte ich.

»Ich bin Genevieve Thrash«, stellte sie sich vor. »Und das ist mein Ehemann David.«

»Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Sookie Stackhouse, und das hier ist mein Freund John Quinn.« Quinn sah höchst erstaunt aus. Sollte das etwa zufällig sein richtiger Vorname sein?

Die beiden Männer, Tiger und Werwolf, gaben sich die Hände, und Genevieve und ich sahen weiter dem tanzenden Paar zu.

»Sie tragen da ein sehr schönes Kleid, Miss Stackhouse«, sagte Genevieve und meinte anscheinend jedes Wort ernst. »Man muss wirklich jung sein, um ein solches Kleid tragen zu können.«

»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Ich zeige leider etwas mehr Haut, als mir lieb ist.«

»Ihren Begleiter stört das aber gar nicht«, sagte sie. »Und den jungen Mann dort drüben auch nicht.« Sie nickte diskret mit dem Kopf, und ich blickte in die Richtung, in die sie gedeutet hatte. Bill. Er sah sehr gut aus in seinem Smoking. Doch schon allein die Tatsache, dass wir gemeinsam in einem Raum waren, versetzte mir einen schmerzhaften Stich.

»Ist Ihr Mann nicht der stellvertretende Gouverneur von Louisiana?«, fragte ich.

»Ja, das stimmt.«

»Und wie gefällt Ihnen das Leben an der Seite eines Politikers?«, fragte ich weiter.

Sie erzählte ein paar amüsante Geschichten über Leute, die sie kennen gelernt hatte, seit ihr Mann im Amt war, und sprach über die politische Karriere ihres Ehemannes. »Und was tut Ihr junger Freund?«, fragte sie mit dem eifrigen Interesse, das ihrem Mann auf dem Weg nach oben sicher geholfen hatte.

»Er ist Eventmanager«, sagte ich nach kurzem Zögern.

»Wie interessant«, erwiderte Genevieve. »Und Sie selbst, arbeiten Sie auch?«

»O ja, Ma'am. Ich bin Kellnerin.«

Das verblüffte die Frau des Politikers, doch sie lächelte mich an. »Da sind Sie die erste, die ich je kennen lerne«, erklärte sie gutgelaunt.

»Und Sie sind die erste Ehefrau eines stellvertretenden Gouverneurs, die ich je kennen lerne.« Verdammt. Jetzt, da ich sie kennen gelernt hatte und sie nett fand, fühlte ich mich plötzlich verantwortlich für sie. Quinn und David plauderten angeregt miteinander, übers Angeln, glaube ich.

»Mrs Thrash«, begann ich. »Ich weiß, dass Sie eine Werwölfin sind und mit allem Möglichen fertig werden können. Aber ich möchte Ihnen einen guten Rat geben.«

Fragend sah sie mich an.

»Dieser Rat ist Gold wert«, sagte ich.

Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. »Okay«, erwiderte sie langsam. »Ich höre.«

»Schon sehr bald wird hier im Saal etwas ziemlich Schlimmes passieren. Es könnte sogar so schlimm werden, dass eine Menge Leute getötet werden. Sie können bleiben, sich amüsieren, bis es passiert, und sich später fragen, warum Sie nicht auf mich gehört haben. Oder Sie können gehen, jetzt sofort, weil Ihnen leider plötzlich nicht gut ist, und ersparen sich selbst damit eine Menge Unglück.«

Aufmerksam sah sie mich an. In Gedanken stellte sie sich die Frage, ob sie mir glauben sollte oder nicht. Ich wirkte nicht wie eine Verrückte auf sie, sondern wie eine normale, attraktive junge Frau in Begleitung eines gutaussehenden Mannes.

»Wollen Sie mir Angst machen?«, fragte sie.

»Nein, Ma'am. Ich versuche, Ihnen das Leben zu retten.«

»Nun, dann sollten wir erst mal tanzen gehen«, sagte Genevieve, die eine Entscheidung gefällt hatte. »David, Schatz, lass uns eine Runde Walzer drehen, und dann müssen wir uns leider entschuldigen, weil ich ganz schreckliche Kopfschmerzen habe.« Gehorsam beendete David sein Gespräch mit Quinn, führte seine Frau auf die Tanzfläche und begann einen Walzer zu tanzen neben dem königlichen Vampirpaar, das erleichtert wirkte, weil sich endlich jemand zu ihnen gesellte.

Meine angespannte Haltung ließ auch etwas nach, doch Quinns Blick erinnerte mich daran, ganz aufrecht zu stehen. »Dieses Kleid ist toll«, sagte er. »Wollen wir tanzen?«

»Du kannst Walzer tanzen?« Hoffentlich klang das nicht zu erstaunt.

»Ja«, erwiderte er, fragte aber nicht, ob ich es auch konnte. Ich hatte die Schrittfolge der Königin aufmerksam beobachtet und würde keine Schwierigkeiten haben - ich konnte zwar nicht singen, aber ich tanzte leidenschaftlich gern. Und auch wenn ich noch nie Walzer getanzt hatte, würde ich das schon hinkriegen.

Es war wunderbar, in Quinns Armen zu liegen und so elegant über den Tanzboden zu schweben. Einen Augenblick lang vergaß ich alles um mich herum und freute mich nur daran, ihn anzusehen mit diesem Gefühl, das eine Frau empfindet, wenn sie mit einem Mann tanzt, mit dem sie früher oder später ins Bett gehen wird. Quinns Hand lag auf meinem nackten Rücken, und ich verspürte ein Kribbeln.

»Früher oder später sind wir in einem Zimmer mit Bett, ohne Telefon und mit einer Tür, die man abschließen kann.«

Ich lächelte ihn an und sah im Augenwinkel das Ehepaar Thrash zur Tür gehen. Hoffentlich war ihr Wagen bereits vorgefahren, dachte ich, und das war der letzte normale Gedanke, den ich eine ganze Weile lang fassen konnte.

Ein Kopf flog auf Schulterhöhe an Quinn vorbei. Es ging alles zu schnell, um zu erkennen, wessen Kopf es war. Doch er war mir irgendwie bekannt vorgekommen. Und der Kopf zog einen feinen Sprühregen von Blut hinter sich her.

Ich gab einen Laut von mir. Es war kein richtiger Schrei, mehr ein Ächzen.

Quinn blieb stehen, auch wenn die Musik noch einen langen Augenblick weiterspielte. Er sah sich in alle Richtungen um und versuchte, herauszufinden, was los war und wie wir es überleben könnten. Ich hatte gedacht, für einen Tanz wäre noch Zeit, doch wir hätten mit dem Werwolfpaar gehen sollen. Quinn zog mich an die Seite des Ballsaals. »Dicht an die Wand«, sagte er. So konnten wir sehen, aus welcher Richtung die Gefahr kam, immerhin. Und dann krachte jemand in uns hinein und riss Quinns Hand von mir weg.

Wir waren umgeben von Schreien und wilden Bewegungen. Die Schreie stammten von Werwölfen und anderen Supras, die zum Ball eingeladen waren, die wilden Bewegungen hauptsächlich von Vampiren, die in dem Chaos nach Verbündeten suchten. Jetzt erfüllten die hässlichen Uniformen der Arkansas-Vampire ihren Zweck. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, wer zum König gehörte - was seine Anhänger natürlich auch zu einer leicht erkennbaren Zielscheibe für all jene machte, die zufällig etwas gegen Peter Threadgill hatten.

Ein dünner schwarzer Vampir mit Dreadlocks hatte ein Schwert mit gebogener Klinge gezogen, scheinbar aus dem Nichts. Die Klinge war voller Blut, und ich hielt Mr Dreadlocks für den Kopfabschläger. Er trug einen dieser scheußlichen weißen Uniformanzüge und gehörte also zu denen, denen ich lieber aus dem Weg ging. Wenn ich hier etwas wie Verbündete hatte, dann bestimmt nicht die Leute von Peter Threadgill. Ich hatte mich hinter eine der Säulen am westlichen Ende des Saales verzogen und suchte nach einem halbwegs sicheren Weg aus diesem Chaos heraus, als mein Fuß an etwas stieß, das vorwärts kullerte. Es war der Kopf. Wyberts Kopf. Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte ich, er würde sich jeden Augenblick bewegen oder sprechen. Doch das Köpfen ist eine ziemlich endgültige Methode, jemanden ins Jenseits zu befördern, ganz egal, welche Art Wesen man war.

»Oh«, stöhnte ich und beschloss, mich zusammenzureißen, damit ich nicht bald genauso aussah wie Wybert - zumindest in einer sehr entscheidenden Hinsicht.

Inzwischen wurde im ganzen Saal gekämpft. Ich hatte den Vorfall, der das alles auslöste, zwar nicht gesehen, doch offenbar hatte der Vampir mit den Dreadlocks Wybert angegriffen und ihm den Kopf abgeschlagen. Und da Wybert einer der persönlichen Bodyguards der Königin war und Dreadlocks zu Peter Threadgills Anhängern gehörte, war das ein ziemlich einschneidender Akt gewesen.

Die Königin und Andre standen Rücken an Rücken mitten auf der Tanzfläche. Andre hielt in der einen Hand eine Pistole und in der anderen ein Messer, die Königin hatte sich ein Tranchiermesser vom Büfett geschnappt. Ein Kreis von Vampiren in weißen Anzügen umzingelte sie, und wenn einer zu Boden ging, nahm ein anderer seinen Platz ein. Es wirkte wie General Custers letztes Gefecht am Little Big Horn mit der Königin an Custers Stelle. Auf dem Podium der Band wurde Sigebert ebenso stark bedrängt, und das Orchester, teils Werwölfe oder Gestaltwandler, teils Vampire, hatte sich bereits in seine Bestandteile aufgelöst. Einige der Musiker stürzten sich in den Kampf, andere versuchten zu fliehen und drängten Hals über Kopf zur Tür, die auf den langen Flur führte. Doch die war schon so blockiert, dass nichts mehr vorwärtsging.

Der König wurde von meinen drei Freunden Rasul, Chester und Melanie angegriffen. Ich hätte schwören können, dass Jade Flower ihm den Rücken freihalten würde, doch sie hatte eigene Probleme, wie ich zufrieden bemerkte. Mr Cataliades tat sein Bestes, um ihr - tja, es sah aus, als wollte er sie nur irgendwie am Bein berühren. Sie parierte seine Vorstöße mit ihrem großen Schwert - mit dem Schwert, das Gladiola in zwei Hälften geteilt hatte -, und keiner von beiden machte den Eindruck, als würde er in absehbarer Zeit aufgeben.

Und da wurde ich derart zu Boden gefegt, dass ich einen Moment lang um Atem ringen musste. Ich streckte den Arm aus, meine Hand wurde sogleich ergriffen, und ich lag geplättet unter einem großen Körper. »Ich hab dich«, sagte Eric.

»Was zum Teufel machst du da?«

»Ich beschütze dich.« Er lächelte vor Kampfeslust, und seine blauen Augen funkelten wie Saphire. Eric liebte solche Prügeleien.

»Mich hat doch gar keiner angegriffen«, sagte ich. »Sieht so aus, als würde die Königin deine Hilfe viel dringender brauchen. Aber trotzdem danke.«

Getragen von einer Woge der Erregung gab Eric mir einen langen, harten Kuss und ergriff dann Wyberts Kopf. »Bowling für Vampire«, sagte er fröhlich und warf das entsetzliche Geschoss mit einer solchen Präzision und Kraft nach dem schwarzen Vampir, dass es diesem das Schwert aus der Hand schlug. Mit einem großen Satz war Eric dort, hatte es sich geschnappt und schwang das Schwert mit tödlicher Wirkung gegen seinen Besitzer. Und mit einem Kriegsschrei, der wohl seit tausend Jahren nicht erklungen war, griff Eric den Kreis um die Königin und Andre mit einer Wildheit und Hemmungslosigkeit an, die auf ihre Art fast schon wieder schön waren.

Ein Gestaltwandler, der einen Weg aus dem Saal heraus zu finden versuchte, rannte mit solcher Wucht in mich hinein, dass er mich von meinem relativ sicheren Posten hinter der Säule wegkatapultierte. Plötzlich waren viel zu viele Leute zwischen mir und der Säule, der Weg dorthin war blockiert. Verdammt! Ich konnte die Tür sehen, die Wybert und sein Bruder bewacht hatten. Sie war zwar am anderen Ende des Saales, doch es war der einzige freie Ausgang. Jeder Weg raus aus diesem Saal war ein guter Weg. Ich begann mich an der Wand entlangzudrücken, damit ich nicht in das gefährliche Getümmel auf der offenen Tanzfläche geriet.

Da sprang ein Vampir im weißen Anzug vor mich.

»Dich sollen wir finden!«, brüllte er. Er war noch nicht sehr lange Vampir, selbst in einem solchen Augenblick waren die Anzeichen nicht zu übersehen. Er hatte die Annehmlichkeiten des modernen Leben kennen gelernt - seine supergeraden Zähne ließen auf eine Zahnspange schließen, seine kräftige Gestalt und seine Körpergröße auf gesunde Ernährung.

»Guck mal!«, rief ich und zog mein Oberteil zur Seite. Gott sei Dank sah er hin, und ich trat ihm derart hart in die Eier, dass ich schon dachte, sie kämen ihm oben wieder heraus. Das lässt jeden Mann zu Boden gehen, ganz egal, welche Art Wesen er ist. Dieser Vampir machte da keine Ausnahme. Blitzschnell rannte ich um ihn herum und hinüber zur östlichen Wand des Saales, zu der mit der Tür.

Als ich vielleicht noch einen halben Meter vor mir hatte, packte mich jemand am Fuß. In einer riesigen Blutlache rutschte ich aus und fiel hin. Es war Vampirblut, das erkannte ich sofort an der Farbe.

»Miststück«, fauchte Jade Flower. »Hure.« Ich hatte sie vorher, glaube ich, noch nie sprechen hören. Langsam zog sie mich an sich heran, ihre ausgefahrenen Fangzähne kamen immer näher. Sie stand nicht auf, um mich zu töten, weil ihr ein Bein fehlte. Ich hätte mich beinahe übergeben, war dann aber doch zu beschäftigt mit meiner Flucht. Mit den Händen krallte ich mich an den glatten Parkettboden, und ich versuchte, mit den Knien Halt zu finden, um der Vampirin zu entfliehen. Ob Jade Flower an dieser schrecklichen Verletzung sterben würde? Keine Ahnung. Vampire konnten so vieles überleben, das einen Menschen sofort umbrachte - was natürlich einen Großteil ihres Reizes ausmachte ... Reiß dich zusammen, Sookie!, sagte ich mir selbst heftig.

So langsam kam der Schock wohl bei mir an.

Ich streckte die Hand aus, und es gelang mir tatsächlich, den Türrahmen zu erwischen. Ich zog und zog, konnte mich aber nicht aus Jade Flowers Griff befreien, deren Finger sich immer tiefer in meinen Knöchel gruben. Bald würde sie den Knochen brechen, und dann würde ich nicht mehr laufen können.

Mit meinem freien Fuß trat ich ihr ins Gesicht, wieder und wieder. Ihre Nase begann zu bluten, ihre Lippen sprangen auf, aber sie ließ mich nicht los. Ich glaube, sie hat es nicht mal gespürt.

Da sprang Bill ihr auf den Rücken, mit solcher Wucht, dass es ihr schier das Rückgrat zu brechen schien, und ihr Griff um meinen Knöchel lockerte sich. Ich krabbelte weg, während Bill ein Tranchiermesser zog, wie es auch die Königin in der Hand gehabt hatte. Er senkte die Schneide in Jade Flowers Hals, wieder und wieder, bis schließlich ihr Kopf abfiel.

Bill sagte kein Wort, sah mich nur mit seinem langen, dunklen Blick an. Dann stand er auf und war auch schon wieder weg. Ich musste verdammt noch mal endlich hier raus.

In den Privaträumen der Königin war es dunkel. Gar nicht gut. Wer wusste schon, was jenseits des hellen Lichtkegels, der aus dem Ballsaal hereinfiel, lauern mochte?

Irgendwo da hinten musste allerdings eine Tür nach draußen führen. Die Königin ließ sich ja gewiss nicht hier einschließen, sie musste einen eigenen Ausgang haben. Und wenn ich mich in diesem Gebäude richtig orientiert hatte, dann brauchte ich nur geradeaus zu gehen, um die richtige Wand zu erreichen.

Ich beschloss, einfach geradewegs draufloszumarschieren. Kein weiteres Entlangdrücken an Wänden mehr. Zum Teufel damit.

Und zu meiner Überraschung klappte es ganz gut, bis zu einem gewissen Punkt. Ich durchquerte einen Raum - ein Wohnzimmer, glaube ich - und landete im nächsten, wohl dem Schlafzimmer der Königin. Das leise Rascheln einer Bewegung ließ meine Angst sofort wieder aufflammen, und ich tastete mich auf der Suche nach einem Lichtschalter die Wand entlang. Als ich ihn gedrückt hatte, fand ich mich in einem Zimmer mit Peter Threadgill wieder. Er stand Andre gegenüber. Zwischen ihnen befand sich ein Bett, auf dem die schwer verletzte Königin lag. Andre hatte sein Schwert nicht bei sich, doch auch Threadgill hatte keines. Andre hielt eine Pistole in der Hand, und als ich das Licht anschaltete, schoss er dem König direkt ins Gesicht. Zweimal.

Hinter Peter Threadgills Körper war eine Tür. Es musste die sein, die nach draußen führte. Mit dem Rücken an der Wand schob ich mich langsam in diese Richtung. Niemand beachtete mich.

»Andre, wenn du ihn tötest«, sagte die Königin ruhig, »muss ich eine hohe Strafe zahlen.« Eine Hand hielt sie an die Seite gepresst, ihr schönes orangefarbenes Seidenkleid war schon ganz dunkel und feucht von ihrem Blut.

»Aber wäre es das nicht wert, Ma'am?«

Nachdenklich schwieg die Königin eine Weile, während ich ungefähr sechs Türriegel aufschob.

»Im Ganzen gesehen, ja«, sagte Sophie-Anne. »Geld ist schließlich nicht alles.«

»Oh, gut«, rief Andre glücklich und hob die Pistole. In der anderen Hand hatte er einen Pfahl, wie ich jetzt erst sah. Aber ich blieb nicht, um mir anzusehen, wie Andre die Tat vollbrachte.

In meinen grünen Abendschuhen lief ich geradewegs auf den Rasen hinaus. Erstaunlicherweise waren die Schuhe heil geblieben, was sich von meinem Knöchel nicht behaupten ließ. Den hatte Jade Flower mit ihrem eisenharten Griff böse verletzt. Schon nach zehn Schritten konnte ich nur noch humpeln. »Vorsicht vor dem Löwen«, rief die Königin, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass Andre sie aus dem Gebäude trug. Ich fragte mich, auf wessen Seite der Löwe wohl stehen mochte.

Und da tauchte die große Raubkatze auch schon direkt vor mir auf. In der einen Minute lag mein Fluchtweg noch offen vor mir, und in der nächsten war er von einem Löwen verstellt. Die Außenbeleuchtung war erloschen, und im Mondlicht sah das wilde Tier so schön und so tödlich gefährlich aus, dass die Angst mir fast den Atem nahm.

Der Löwe gab ein tiefes kehliges Knurren von sich.

»Hau ab!«, rief ich, denn es gab nichts, womit ich gegen einen Löwen bestehen konnte, und ich war total am Ende mit meinem Latein. »Hau ab! Geh weg!«

Und er verzog sich ins Gebüsch.

Ich glaube ja kaum, dass das typisches Löwenverhalten ist. Vermutlich hatte er den Tigergeruch gewittert, denn nur eine Sekunde später kam der verwandelte Quinn lautlos und elegant über den Rasen heran. Er rieb seinen großen Kopf an meinem Bein, und gemeinsam gingen wir zur Mauer hinüber. Andre legte seine Königin davor ab und sprang mit einem leichten, anmutigen Satz hinauf. Für seine Königin teilte er den Stacheldraht mit nur notdürftig von seinem zerrissenen Jackett bedeckten Händen. Dann kam er wieder herunter, hob Sophie-Anne vorsichtig hinauf und verschwand mit einem großen Satz auf der anderen Seite.

»Das kann ich aber nicht«, sagte ich und hörte selbst, wie mürrisch das klang. »Darf ich mich auf deinen Rücken stellen? Ich ziehe auch die Schuhe aus.« Quinn stellte sich dicht an die Mauer, und ich schob mir die Sandalenriemchen über den Arm. Ich wollte dem Tiger natürlich nicht zu viel Gewicht zumuten, aber mehr als alles andere wollte ich endlich von hier weg. Und so versuchte ich, wenigstens keine allzu schweren Gedanken zu wälzen und auf dem Rücken des Tigers das Gleichgewicht zu halten, bis es mir schließlich gelang, mich die Mauer hinaufzuziehen. Als ich auf der anderen Seite hinuntersah, schien mir der Gehweg unglaublich weit unten zu liegen.

Nach allem, was ich an diesem Abend durchgemacht hatte, war es idiotisch, sich wegen eines halben Meters mehr oder weniger so anzustellen. Doch ich saß einige Minuten auf der Mauer und musste mir immer wieder sagen, wie dumm das doch war. Dann erst brachte ich es fertig, mich so weit wie möglich hinunterzulassen. Ich zählte laut: »Eins, zwei, drei!« Und dann ließ ich los und fiel von der Mauer.

Einen Moment lang lag ich einfach nur da, erstaunt darüber, wie dieser Abend sich entwickelt hatte.

Hier lag ich, auf einem Gehweg im ältesten Teil von New Orleans, die Brüste hingen mir aus dem Ausschnitt, mein Haar war völlig zerzaust und ein Tiger leckte mir das Gesicht. Quinn war ziemlich leichtfüßig über das Hindernis hinweggesprungen.

»Was meinst du, wäre es besser, als Tiger oder als großer nackter Mann zurückzugehen?«, fragte ich den Tiger. »Tja, Aufsehen würdest du wohl so oder so erregen. Allerdings würdest du als Tiger sicher eher Gefahr laufen, erschossen zu werden.«

»Dazu wird es nicht kommen«, sagte jemand, und Andre beugte sich über mich. »Ich habe die Königin in ihren Wagen gesetzt und kann Sie hinfahren, wohin Sie wollen.«

»Wirklich äußerst nett«, erwiderte ich, als Quinn begann sich zurückzuverwandeln.

»Ihre Majestät sagt, sie stehe in Ihrer Schuld«, meinte Andre.

»Das sehe ich nicht so«, entgegnete ich. Was sagte ich denn da? Konnte ich nicht einfach mal den Mund halten? »Na ja, hätte ich das Armband nicht gefunden und zurückgegeben, dann hätte der König...«

»Er hätte den Krieg heute Abend sowieso begonnen«, sagte Andre, half mir auf die Beine und verstaute mit einem völlig desinteressierten Handgriff meine Brüste wieder unter dem limonengrünen Chiffon. »Er hätte der Königin Vertragsbruch vorgeworfen, denn laut Vertrag müssen alle Geschenke im Zeichen der Ehe in Ehren gehalten werden. Er hätte Klage gegen die Königin erhoben, und sie hätte fast alles verloren und wäre entehrt gewesen. Da die Königin aber das zweite Armband trug, musste er zur Gewalt greifen. Und Ra Shawn hat sie losgetreten, indem er Wybert den Kopf abschlug, weil der ihn angeblich angerempelt hat.« Ra Shawn war wohl der schwarze Vampir mit den Dreadlocks gewesen, vermutete ich.

Keine Ahnung, ob ich das alles richtig verstanden hatte, aber Quinn würde es mir sicher noch mal zu einem Zeitpunkt erklären können, an dem meine Hirnzellen aufnahmefähiger waren.

»Er war so enttäuscht, als er das Armband am Handgelenk der Königin sah! Und es war auch noch das echte!«, sagte Andre gutgelaunt. Er wurde noch zu einer richtigen Quasselstrippe, unser Andre. Dann half er mir in den Wagen. »Wo war es?«, fragte die Königin, die ausgestreckt auf einem der Sitze lag. Ihre Wunde blutete nicht mehr, und nur noch ein gewisser Zug um den Mund verriet, dass sie Schmerzen hatte.

»Es war in der Kaffeedose, deren silbriger Verschluss noch unversehrt wirkte«, erwiderte ich. »Hadley war handwerklich äußerst geschickt. Sie hat die Dose wohl vorsichtig geöffnet, das Armband darin versteckt und die Dose dann mit einem Spezialkleber wieder versiegelt.« Es hätte noch so viel mehr zu erklären gegeben - wenn ich nur an Mr Cataliades, Gladiola und Jade Flower dachte. Aber dazu war ich einfach zu müde.

»Wie sind Sie damit durch die Sicherheitskontrollen gekommen?«, fragte die Königin. »Die Wachleute haben doch sicherlich danach gesucht.«

»Ich hatte das Armband unter einem meiner Verbände«, erzählte ich. »Der Diamant stand allerdings zu sehr auf, so dass ich ihn herausnehmen und in der Einführhülse eines Tampons verstecken musste. Die Vampirin, die mich kontrollierte, kam nicht auf die Idee, den Tampon herauszuziehen. Sie schien nicht mal zu wissen, wofür so ein Ding benutzt wird. Na, sie hatte ja vermutlich vor Jahrhunderten ihre letzte Periode.«

»Aber das Armband war doch intakt«, sagte die Königin.

»Oh, ich bin auf die Damentoilette gegangen, nachdem ich durchsucht worden war. Ich hatte ja auch noch eine kleine Tube Klebstoff in meiner Handtasche.«

Der Königin schienen die Worte zu fehlen. »Vielen Dank«, sagte sie schließlich nach längerem Schweigen. Quinn war zu uns auf den Rücksitz geklettert, ziemlich nackt, und ich lehnte mich an ihn. Andre setzte sich hinters Steuer, und der Wagen fuhr los.

Er setzte uns in der Chloe Street vor der Einfahrt ab. Amelia saß im Innenhof auf einem Gartenstuhl und hielt ein Glas Wein in der Hand.

Als wir auftauchten, stellte sie das Weinglas vorsichtig auf dem Boden ab und musterte uns von Kopf bis Fuß.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte sie schließlich. Andre war wieder abgefahren, um die Königin an einem sicheren Ort zu verstecken. Ich hatte ihn nicht gefragt, wo, weil ich es gar nicht wissen wollte.

»Ich erzähl's dir morgen«, sagte ich zu Amelia. »Der Umzugswagen kommt am Nachmittag, und die Königin hat versprochen, mir Leute zu schicken, die die Kartons einladen und den Wagen fahren. Ich muss nach Bon Temps zurück.«

Die Aussicht, bald wieder zu Hause zu sein, war so verlockend, dass ich es fast körperlich spüren konnte.

»Hast du denn so viel zu tun zu Hause?«, fragte Amelia, während Quinn und ich die Treppe hinaufgingen. Ich fand, Quinn könne ruhig bei mir im Bett schlafen. Wir waren beide viel zu müde, um noch irgendetwas miteinander anzufangen. Heute Nacht würde ich keine Beziehung mehr beginnen. Falls ich das nicht sowieso längst getan hatte.

»Na ja, ich muss auf eine Doppelhochzeit«, erwiderte ich. »Und ich muss auch wieder arbeiten.«

»Du hättest wohl nicht zufällig ein Gästezimmer frei?«

Auf halber Höhe der Treppe blieb ich stehen. »Könnte schon sein. Brauchst du etwa eins?«

Es war schwer zu sagen bei der schwachen Beleuchtung, aber Amelia wirkte irgendwie ziemlich verlegen. »Ich habe etwas Neues mit Bob ausprobiert«, sagte sie. »Und es hat nicht so ganz geklappt.«

»Wo ist er?«, fragte ich. »Im Krankenhaus?«

»Nein, gleich hier«, entgegnete Amelia und zeigte auf einen Gartenzwerg.

»Sag mir, dass das ein Scherz ist.«

»Ist nur ein Scherz«, gab sie zu. »Das hier ist Bob.« Sie hob eine große schwarze Katze mit weißer Brust auf, die zusammengerollt in einem leeren Blumenkübel gelegen hatte. Ich hatte ihn nicht mal bemerkt. »Ist er nicht hübsch?«

»Sicher, bring ihn mit«, erwiderte ich. »Ich mochte Katzen schon immer.«

»Süße«, sagte Quinn, »da bin ich aber froh. Ich war zu müde, um mich noch ganz zurückzuverwandeln.«

Zum ersten Mal betrachtete ich Quinn genauer.

Er hatte immer noch einen Tigerschwanz.

»Du schläfst auf jeden Fall auf dem Fußboden«, sagte ich.

»Ach, Süße.«

»Dabei bleibt's. Morgen bist du wieder ganz Mensch, oder?«

»Natürlich. Ich habe mich in der letzten Zeit einfach zu oft verwandelt. Ich muss mich bloß etwas ausruhen.«

Amelia starrte den Schwanz mit weit aufgerissenen Augen an. »Wir sehen uns morgen, Sookie«, sagte sie. »Wir werden zusammen fahren. Und dann bleibe ich eine Weile bei dir!«

»Das wird bestimmt lustig«, erwiderte ich müde, trottete die letzten Stufen hinauf und war bloß froh, dass ich den Schlüssel in meiner Unterwäsche verstaut hatte. Quinn war so erschöpft, dass er nicht mal hinsah, als ich ihn herausfischte. Ich ließ das spärliche Kleid wieder herabfallen und schloss die Tür auf. »Sehr lustig.«

Später, als ich schon geduscht hatte und Quinn gerade im Badezimmer war, hörte ich ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Mit Schlafanzughose und Trägertop war ich anständig genug angezogen, und so öffnete ich.

Bill sah ziemlich gut aus für jemanden, der eben aus einem Krieg kam. Den Smoking würde er zwar nie wieder anziehen können, doch er blutete nirgends, und die Schnittwunden, die er abbekommen hatte, waren bereits wieder verheilt.

»Ich muss mit dir reden«, sagte er, und seine Stimme klang so leise und gebrochen, dass ich einen Schritt aus dem Apartment trat. Ich setzte mich auf den Boden der Galerie, und er setzte sich zu mir.

»Du musst mich eines sagen lassen«, begann er. »Ich habe dich geliebt. Ich liebe dich.«

Ich hob eine Hand, um zu protestieren, doch Bill sprach weiter: »Nein, lass mich ausreden. Sie hat mich zu dir geschickt, das stimmt. Aber als ich dich traf - nachdem ich dich kennen gelernt hatte - da habe ich dich wirklich... geliebt.«

Und wie lange nach unserer ersten gemeinsamen Nacht war diese angebliche Liebe entstanden? Wie sollte ich ihm noch irgendetwas glauben, wenn er mich schon vom ersten Augenblick an so überzeugend angelogen hatte - indem er mir den Harmlosen vorspielte und es ausnutzte, dass ich von dem ersten Vampir, den ich je getroffen hatte, so fasziniert war.

»Ich habe mein Leben riskiert für dich.« Meine Worte kamen nur stockend. »Ich habe Eric auf ewig Macht über mich verliehen, weil ich deinetwegen sein Blut gehabt habe. Ich habe jemanden für dich getötet. Das ist nichts Selbstverständliches für mich, auch wenn du das so siehst... auch wenn das in deinem Leben etwas ganz Alltägliches ist. Für mich ist es das nicht. Ich weiß nicht, ob ich es je schaffen werde, dich nicht zu hassen.«

Ich stand auf, langsam und unter Schmerzen, und zum Glück machte er nicht den Fehler, mir helfen zu wollen. »Heute Nacht hast du mir wahrscheinlich das Leben gerettet«, sagte ich und sah zu ihm hinunter. »Und dafür danke ich dir. Aber komm nicht mehr ins Merlotte's, treib dich nicht mehr in meinen Wäldern herum und tu nichts mehr für mich. Ich will dich nicht wiedersehen.«

»Ich liebe dich«, wiederholte er stur, als wäre es eine so erstaunliche und unleugbare Wahrheit, dass ich sie ihm einfach glauben müsste. Tja, das hatte ich mal getan, und seht euch an, wohin es geführt hatte.

»Diese Worte sind kein Zauberspruch«, sagte ich. »Sie werden dir nicht mein Herz öffnen.«

Bill war über hundertdreißig Jahre alt, aber in diesem Augenblick fühlte ich mich ihm gewachsen. Und dann schleppte ich mich zurück ins Apartment, schloss die Tür hinter mir, verriegelte sie und zwang mich, den Flur entlang aufs Schlafzimmer zuzugehen.

Quinn hatte sich gerade abgetrocknet und zeigte mir sein muskulöses Hinterteil. »Kein Fell nirgends«, sagte er. »Darf ich zu dir ins Bett?«

»Ja«, erwiderte ich und kroch hinein. Er stieg auf der anderen Seite ins Bett und war innerhalb von dreißig Sekunden eingeschlafen. Nach ein, zwei Minuten schob ich mich auf seine Seite hinüber und legte meinen Kopf auf seine Brust.

Ich lauschte auf seinen Herzschlag.