Kapitel 6
Ich wusste nicht, wie ich das machen sollte. Und ich wusste auch nicht, wer mir zugestehen würde, dass ich tatsächlich helfen konnte.
Vor der Grundschule hatte sich natürlich schon eine Menschenmenge versammelt. Ungefähr dreißig Erwachsene standen auf dem Grünstreifen, der den Bürgersteig von der Straße trennte, und Bud Dearborn, der Sheriff, sprach mit Andy Bellefleur auf dem Rasen direkt vor der Schule. Ich war auch auf die Betty-Ford-Grundschule gegangen. Damals war das Gebäude ziemlich neu gewesen, ein einfacher, einstöckiger Backsteinbau mit einem Hauptgebäude, in dem sich die Lehrerzimmer, ein Kindergarten, die Klassenräume der ersten Klasse und eine Cafeteria befanden. In den Flügeln rechts und links waren die Räume für die älteren Grundschüler untergebracht. Auf dem großen Schulhof hinter der Schule stand noch ein Freizeitgebäude, das über einen gepflasterten Fußweg zu erreichen war und bei schlechtem Wetter den Kindern als Turnhalle diente.
Vor der Schule standen natürlich Fahnenmasten, einer für die amerikanische Flagge und einer für die von Louisiana. Ich fuhr gern an der Schule vorbei, wenn bei einem Wetter wie heute die Flaggen knatternd im Wind wehten. Dann musste ich immer an all die kleinen Kinder denken, die dort drinnen so fleißig lernten. Doch heute waren die Flaggen eingeholt worden, nur die angebundenen Seile schlugen gegen die Masten. Den grünen Rasen vor der Schule sprenkelten hier und da bunte Bonbonpapiere oder zusammengeknüllte Blätter aus Schreibheften. Die Hausmeisterin Madelyn Pepper (die nur »Miss Maddy« genannt wurde) saß auf einem Plastikstuhl gleich neben dem Haupteingang und hatte ihren fahrbaren Putzwagen neben sich abgestellt. Miss Maddy war schon seit Urzeiten Hausmeisterin. Sie war eine ziemlich langsame Frau, geistig, meine ich, aber sie arbeitete sehr hart und war absolut zuverlässig. Eigentlich sah sie noch immer genauso aus wie zu meiner Schulzeit: groß, stämmig und blass, mit langen, wasserstoffblond gefärbten Haaren. Sie rauchte eine Zigarette. Die Rektorin Mrs Garfield focht wegen dieser Angewohnheit schon seit Jahren Kämpfe mit Miss Maddy aus, die Miss Maddy stets gewann. Sie rauchte draußen, aber sie rauchte. Heute war Mrs Garfield diese schlechte Angewohnheit der Hausmeisterin vollkommen egal. Mrs Garfield, die Ehefrau eines Seelsorgers der Bischöflichen Methodistenkirche, trug ein senfgelbes Kostüm, hautfarbene Strümpfe und schwarze Pumps und war genauso angespannt wie Miss Maddy, aber viel weniger darauf bedacht, es zu verbergen.
Ich schlängelte mich durch die Menschenmenge nach vorn durch, unsicher, was ich tun sollte.
Andy sah mich und berührte Bud Dearborn an der Schulter. Bud hatte ein Handy am Ohr und drehte sich nach mir um. Ich nickte ihnen zu. Sheriff Dearborn war nicht gerade ein Freund von mir. Er war mit meinem Vater befreundet gewesen, aber für mich hatte er nie viel übrig. Für den Sheriff gab es nur zwei Kategorien Menschen: solche, die das Gesetz brachen und eingesperrt gehörten, und solche, die das nicht taten und noch frei herumlaufen durften. Noch, wohlgemerkt - denn von diesen waren die meisten wiederum eigentlich solche, die beim Gesetzesbruch bisher bloß noch nicht erwischt worden waren; davon war Bud Dearborn überzeugt. Ich gehörte für ihn irgendwo dazwischen. Er war sicher, dass ich irgendwas auf dem Kerbholz hatte, konnte aber einfach nicht herausfinden, was.
Andy mochte mich auch nicht besonders, aber er nahm mir meine telepathische Fähigkeit ab. Fast unmerklich nickte er mit dem Kopf nach links hinüber. Bud Dearborns Miene konnte ich nicht genau erkennen, doch er zog verärgert die Schultern hoch und beugte sich ein wenig vor. Seine ganze Körperhaltung ließ erkennen, dass er wütend auf seinen Detective war.
Ich löste mich aus der Menge besorgter und neugieriger Bürger und ging um den linken Gebäudeflügel herum hinter die Schule. Der Schulhof, so groß wie ein halbes Footballfeld, war von einem Zaun umgeben, dessen Tor üblicherweise mit Kette und Vorhängeschloss gesichert war. Es war geöffnet worden, wahrscheinlich für die suchenden Polizisten. Auf der anderen Straßenseite sah ich Kevin Pryor, den dünnen jungen Streifenpolizisten, der immer den 4000-Meter-Lauf beim Azalea-Festival gewann, vornüber gebeugt in einen Abwasserkanal spähen. Seine Kollegin Kenya, die so rund war wie Kevin dünn, stand drüben an der rechten Seite des Schulgebäudes, und ich konnte erkennen, wie sie immer wieder den Kopf drehte und alle angrenzenden Grundstücke mit Blicken absuchte.
Die Schule lag inmitten einer Wohngegend und nahm einen ganzen Block ein. Die ganz normalen Häuser rundum standen auf ebenso normalen Grundstücken. Es war die Art Wohngegend, wo es jede Menge Basketballkörbe, Fahrräder, bellende Hunde und mit Kinderkreide bemalte Auffahrten gab.
Heute waren alle Flächen mit einer hellen gelben Schicht überstäubt, die Pollenflugzeit hatte begonnen. Wenn man hier in der Stadt seinen Wagen in der Auffahrt mit Wasser abspritzte, bildete sich rund um den Gully ein gelber Rand. Katzenbäuche waren gelblich verfärbt, und die großen Hunde bekamen gelbe Pfoten. Und jeder zweite Mensch, den man traf, hatte rote Augen und in der Hand eine Packung Taschentücher.
Auch auf dem Schulhof sah ich einige liegen. Dort, wo die Kinder am häufigsten spielten, hatten sich im frischen Grün des Rasens schmutzig braune, festgetrampelte Stellen gebildet. Auf das betonierte Stück Hof direkt am Schulgebäude war eine riesige Landkarte Amerikas mit allen Bundesstaaten gemalt. Die Kinder hatten jeden einzelnen Namen sorgfältig und deutlich dazugeschrieben. Louisiana war als einziger Staat rot ausgemalt, innerhalb der Umrisse war ein Pelikan gezeichnet. Das lange Wort Louisiana hatte neben dem Pelikan keinen Platz mehr gehabt, und so war es auf das Pflaster danebengeschrieben worden, dorthin, wo sich eigentlich der Golf von Mexiko befand.
Andy kam aus dem Hintereingang, mit steinerer Miene. Er sah um zehn Jahre gealtert aus.
»Wie geht's Halleigh?«, fragte ich.
»Sie ist drinnen in der Schule und weint sich die Augen aus dem Kopf«, sagte er. »Wir müssen diesen Jungen finden.«
»Was hat Bud gesagt?« Ich trat durchs Tor auf den Schulhof.
»Frag nicht«, erwiderte er. »Wenn du irgendwas für uns tun kannst - wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können.«
»Damit könntest du dich aber in Schwierigkeiten bringen.«
»Du dich auch.«
»Wo sind die Leute, die in der Schule waren, als er wieder hineinlief?«
»Die sind alle drinnen, außer der Direktorin und der Hausmeisterin.«
»Die beiden habe ich vorn gesehen.«
»Ich hole sie auch rein. Die Lehrerinnen sind alle in der Cafeteria. Dort ist an der einen Seite ein kleines Bühnenpodium. Setz dich hinter den Vorhang und schau mal, ob du irgendwas aufschnappen kannst.«
»Okay.« Eine bessere Idee hatte ich auch nicht.
Dann ging Andy, um die Direktorin und die Hausmeisterin ebenfalls hereinzuholen.
Ich betrat den Flur des linken Gebäudeflügels. Vor jedem Klassenraum hingen bunte Kinderbilder an den Wänden. Ich betrachtete die kleinen Szenen mit den Strichmännchen beim Picknicken und beim Angeln, und Tränen traten mir in die Augen. Zum ersten Mal wünschte ich mir, ich hätte eine hellseherische Gabe statt einer telepathischen. Dann könnte ich mir vergegenwärtigen, was Cody zugestoßen war, anstatt warten zu müssen, bis jemand daran dachte. Ich war noch nie einem echten Hellseher begegnet, konnte mir aber vorstellen, dass es eine ziemlich zweischneidige Begabung sein musste. Eine, die in manchen Situationen nicht eindeutig genug war und in anderen wiederum zu eindeutig. Da war meine kleine Eigenart sehr viel zuverlässiger, und ich redete mir ein, dass ich diesem Jungen helfen konnte.
Auf dem Weg zur Cafeteria löste der Schulgeruch eine Welle von Erinnerungen in mir aus. Die meisten waren schmerzlich, nur einige angenehm. Als ich so klein war wie die Kinder hier, hatte ich meine telepathischen Fähigkeiten noch nicht im Griff gehabt und nicht gewusst, was eigentlich mit mir los war. Meine Eltern hatten mich durch alle erreichbaren psychiatrischen Institutionen geschleust, was mich meinen Schulfreunden noch stärker entfremdete. Aber die meisten Lehrer waren freundlich gewesen. Sie sahen, dass ich mich bemühte zu lernen - aber irgendwie dauernd von etwas abgelenkt war, und zwar nicht aus reinem Mutwillen. Der Geruch von Schulkreide, Reiniger, Papier und Büchern brachte all das wieder zurück.
Ich erinnerte mich an die Flure und die Klassenzimmer, als hätte ich die Schule gerade erst verlassen. Die pfirsichfarbenen Wände waren früher cremeweiß gewesen, und den Fußboden hatte damals braunes Linoleum bedeckt statt des robusten graugesprenkelten Teppichs heute. Doch das Gebäude selbst war unverändert. Ohne zu zögern, schlüpfte ich durch eine Hintertür auf die kleine Bühne, die das eine Ende der Cafeteria bildete. Wenn ich mich nicht täuschte, war das früher der »Mehrzweckraum« gewesen. Der Speisebereich konnte mit Falttüren abgetrennt und die Tische, die aufgereiht dastanden, zusammengeklappt und zur Seite geräumt werden. Doch jetzt waren die Tische in ordentlichen Reihen aufgestellt, und es saßen lauter Erwachsene um sie herum, abgesehen von ein paar Lehrerkindern, die bei ihren Müttern in den Klassenzimmern gewesen waren, als der Alarm ausgelöst worden war.
Ich setzte mich auf einen kleinen Plastikstuhl hinter den Vorhang, schloss die Augen und begann mich zu konzentrieren. Nach und nach verlor ich das Gefühl für meinen Körper, als ich alle äußeren Reize ausschloss und mein Geist frei im Raum umherzuwandern begann.
Es ist meine Schuld, meine Schuld, meine Schuld! Warum hab ich nicht gemerkt, dass er nicht zurückgekommen ist? Oder hab ich ihn übersehen? Ist er vielleicht in ein Auto gestiegen, ohne dass ich es gesehen habe?
Die arme Halleigh. Sie saß ganz allein da, und der Haufen zerknüllter Taschentücher vor ihr zeigte deutlich, wie sie ihre Wartezeit zubrachte. Sie war völlig unschuldig, also setzte ich meine Erkundungen fort.
Lieber Gott, ich danke dir, dass es nicht mein Sohn ist, der vermisst wird...
... nach Hause gehen und Kekse essen ...
Ich schaff's nicht mehr, noch das Fleisch für die Hamburger einzukaufen. Vielleicht sollte ich Ralph anrufen, damit er was von Sonic holt... aber wir haben schon gestern Abend Fast Food gegessen, keine gute Idee ...
Seine Mutter ist Kellnerin in einer Bar, wie viele zwielichtige Männer die wohl kennt? Wahrscheinlich war's einer von denen.
Und so ging es immer weiter, eine ganze Litanei harmloser Gedanken. Die Kinder dachten an Snacks und Fernsehen, waren aber auch verängstigt. Und die meisten Erwachsenen hatten Angst um ihre eigenen Kinder und machten sich Sorgen darum, welche Auswirkungen Codys Verschwinden auf ihre Familien und ihre Schulklassen haben würde.
Da sagte plötzlich Andy Bellefleur: »Sheriff Dearborn ist in einer Minute hier, und dann teilen wir Sie zur Befragung in zwei Gruppen auf.«
Die Lehrerinnen entspannten sich. Das waren vertraute Anweisungen, wie sie sie selbst oft genug gaben.
»Wir werden Sie einzeln befragen, danach können Sie nach Hause gehen. Ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen. Streifenpolizisten suchen bereits die Gegend ab, aber vielleicht kann uns ja einer von Ihnen einen Hinweis geben, der uns hilft, Cody schnell wiederzufinden.«
Mrs Garfield kam herein. Ihre Sorge schwebte wie eine große dunkle Wolke voller Donnergrollen vor ihr her. Und gleich danach trat Miss Maddy ein. Ich konnte die Räder ihres fahrbaren Wagens hören, der mit Mülleimer und Putzmitteln beladen war. Alle Gerüche, die sie umgaben, waren mir vertraut. Sie fing immer gleich nach dem Unterricht zu putzen an. Vermutlich war sie in einem der Klassenzimmer gewesen und hatte gar nichts gesehen. Mrs Garfield hatte vielleicht in ihrem Büro gesessen. Zu meiner Zeit hatte der Rektor, Mr Heffernan, immer mit der Aufsicht führenden Lehrerin draußen gestanden, bis alle Kinder gegangen waren, so dass die Eltern ihm zu den schulischen Fortschritten ihres Kindes Fragen stellen konnten ... oder auch zum Ausbleiben dieser Fortschritte.
Ich riskierte keinen Blick hinter dem staubigen Vorhang hervor, konnte aber den Weg der beiden auch so ganz gut verfolgen. Mrs Garfield war derart angespannt, dass es praktisch die Luft um sie herum verdichtete, und Miss Maddy war genauso intensiv von den Gerüchen der Putzmittel und dem Geräusch ihres Wagens eingehüllt. Sie fühlte sich ganz elend und wollte bloß zu ihrem gewohnten Tagesablauf zurückkehren. Maddy Pepper mochte vielleicht eine Frau von begrenzten geistigen Fähigkeiten sein, doch sie liebte ihren Job, denn darin fand sie ihre Selbstbestätigung.
Ich erfuhr eine ganze Menge, während ich so dasaß: Eine der Lehrerinnen war lesbisch, obwohl sie einen Ehemann und drei Kinder hatte; eine andere Lehrerin war schwanger, hatte es aber noch keinem gesagt; die meisten der Frauen (es gab keine männlichen Lehrer an der Grundschule) waren wegen ihrer vielen Verpflichtungen der Familie, dem Beruf und ihren Kirchengemeinden gegenüber extrem gestresst. Codys Lehrerin war sehr unglücklich, weil sie den kleinen Jungen gernhatte, auch wenn sie seine Mutter etwas seltsam fand. Aber sie war überzeugt, dass Holly sich wirklich bemühte, eine gute Mutter zu sein, und das milderte ihre Abneigung gegen Hollys Gothic-Aufmachung etwas.
Doch nichts von alldem half mir, etwas über Codys Verbleib zu erfahren, bis ich mich in Maddy Peppers Kopf hineinwagte.
Als Kenya hinter mir auftauchte, saß ich vornübergebeugt auf dem kleinen Plastikstuhl und hielt mir die Hand vor den Mund, damit ich nicht laut herausweinte. Ich war nicht fähig, aufzustehen und nach Andy oder jemand anderem zu suchen. Ich wusste, wo der Junge war.
»Andy schickt mich, um zu hören, ob du was herausgefunden hast«, flüsterte Kenya, die todunglücklich über diesen Auftrag war. Zwar mochte sie mich eigentlich ganz gern, aber sie glaubte nicht, dass ich der Polizei irgendwie behilflich sein konnte. Sie hielt Andy für einen Idioten, weil er seine Karriere aufs Spiel setzte, indem er mich hier heimlich hinter einen Vorhang setzte.
Und dann fing ich noch etwas auf, etwas ganz Schwaches und Mattes.
Ich sprang auf und packte Kenya bei den Schultern. »Seht in dem Mülleimer nach, in dem auf dem Putzwagen, sofort!«, sagte ich leise, aber (so hoffte ich) eindringlich genug, um Kenya zu alarmieren. »Er ist in dem Mülleimer, er lebt noch!«
Kenya war viel zu überlegt, um hinter dem Vorhang hervorzuschießen, von der Bühne herunterzuspringen und umgehend zum Mülleimer der Hausmeisterin zu rennen. Sie warf mir einen sehr, sehr langen Blick zu. Ich trat hinter dem Vorhang hervor und sah Kenya nach, als sie endlich die kleinen Stufen des Bühnenpodiums hinunterstieg und dorthin ging, wo Maddy Pepper saß und mit den Fingern nervös auf den Oberschenkeln trommelte. Miss Maddy brauchte eine Zigarette. Dann erkannte sie, dass Kenya direkt auf sie zukam, und ein dumpfer Schreck breitete sich in ihren Gedanken aus. Als die Hausmeisterin sah, dass Kenya den Deckel des großen Mülleimers ergriff, sprang sie auf und schrie: »Ich wollt's nicht! Ich wollt's doch nicht!«
Jeder im Raum drehte sich nach dem plötzlichen Aufruhr um, und in jedem Gesicht stand der gleiche Ausdruck des Entsetzens. Andy rannte hinüber, die Miene grimmig. Kenya beugte sich über den Mülleimer, wühlte darin herum und warf Unmengen schmutziger Taschentücher über die Schulter. Eine Sekunde lang erstarrte sie, als sie fand, wonach sie suchte. Sie beugte sich noch weiter vor und lief beinahe Gefahr, selbst hineinzufallen.
»Er lebt«, rief sie Andy zu. »Rufen Sie den Notarzt!«
»Sie hat gerade den Boden gewischt, als Cody wieder in die Schule gelaufen kam, um sein Bild zu holen«, sagte Andy. Wir saßen ganz allein in der Cafeteria. »Ich weiß nicht, ob du das alles mitbekommen hast, es war so laut im Raum.«
Ich nickte. Ich hatte ihre Gedanken so gut lesen können, als hätte Maddy sie ausgesprochen. In all den Jahren, die sie schon in der Schule arbeitete, hatte sie mit den Schülern nie ein Problem gehabt, das nicht mit ein paar strengen Worten erledigt gewesen wäre. Und dann war heute Cody noch mal in sein Klassenzimmer gerannt und hatte mit Schuhen und Hosenaufschlägen voller Pollenstaub eine gelbe Spur auf Maddys frisch gewischtem Fußboden gezogen. Sie hatte ihn angeschrien, und er war so erschrocken, dass er auf dem nassen Boden ausrutschte. Der kleine Junge war rücklings hingefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen. In den Fluren lagen Teppiche, um den Lärm zu dämpfen, in den Klassenzimmern jedoch nicht, und so war sein Kopf auf das harte Linoleum geknallt.
Maddy dachte, sie hätte ihn umgebracht, und verbarg seine vermeintliche Leiche hastig im nächstbesten Behältnis. Sie hatte klar erkannt, dass sie ihren Job verlieren würde, wenn der Junge tot war, und aus einem Impuls heraus hatte sie versucht, ihn zu verstecken. Sie hatte keinen Plan und auch keine Ahnung gehabt, was als Nächstes passieren sollte. Sie hatte nicht mal darüber nachgedacht, wie sie seine Leiche loswerden wollte, und sie hatte auch nicht bedacht, wie elend sie sich wegen dieser ganzen Sache fühlen würde, wie schuldig.
Mein Anteil an der Lösung des Falls sollte geheim bleiben, was die Polizei und auch ich selbst für absolut das Beste hielten. Und so schlug Andy Kenya vor, ihr könne doch plötzlich eingefallen sein, dass sie alles in der Schule schon durchsucht hatte, nur Maddy Peppers Mülleimer nicht. »Genau das habe ich gedacht«, sagte Kenya. »Ich sollte den Mülleimer mal durchsuchen und nachsehen, ob irgendein Entführer etwas hineingeworfen hat.« Der Ausdruck in Kenyas rundem Gesicht war unentzifferbar. Kevin sah sie mit gerunzelter Stirn an, denn er spürte, dass da unter der Oberfläche des Gesprächs noch etwas anderes war. Kevin war kein Dummkopf, und schon gar nicht, wenn es um Kenya ging.
Andys Gedanken lagen wie ein offenes Buch vor mir. »Bitte mich nicht noch einmal, so was zu tun«, sagte ich zu ihm.
Er nickte mit zustimmender Miene, aber er log. Vor seinem geistigen Auge sah er bereits eine lange Reihe geklärter Fälle, eingesperrter Übeltäter, und er malte sich aus, wie sauber Bon Temps sein würde, wenn ich ihm erst erzählt hatte, wer all die Kriminellen waren und wofür er sie zur Verantwortung ziehen konnte.
»Ich tu's nicht«, erklärte ich. »Ich werde dir nicht dauernd helfen. Du bist Detective und musst deine Fälle auf legale Weise klären, um sie vor Gericht bringen zu können. Wenn du dich einfach auf mich verlässt, wirst du schlampig, deine Fälle fallen vor Gericht durch, und darunter wird letztendlich dein guter Ruf leiden.« Das sagte ich ziemlich verzweifelt, ja hilflos. Denn ich glaubte selbst nicht, dass meine Worte irgendeine Wirkung haben würden.
»Sie ist schließlich kein Magic-8-Ball«, sagte Kevin.
Kenya wirkte überrascht. Andy war weit mehr als nur überrascht, für ihn streifte das die Ketzerei. Kevin war Streifenpolizist, Andy dagegen Detective. Und Kevin war ein ruhiger Mann, der seinen Kollegen aufmerksam zuhörte, aber nur selten eine eigene Meinung äußerte. Er war bekannt dafür, dass er sehr an seiner alten Mutter hing. Vielleicht hatte er ja am Rockzipfel seiner Mutter gelernt, mit der eigenen Meinung hinter dem Berg zu halten.
»Sie können Sookie nicht einfach schütteln, und schon spuckt sie die richtigen Antworten aus«, fuhr Kevin fort. »Die Antworten müssen Sie selbst herausfinden. Es ist nicht richtig, so in Sookies Leben einzugreifen, nur damit Sie Ihren Job besser erledigen können.«
»Nun ja«, erwiderte Andy, wenig überzeugt. »Aber ich würde doch meinen, jede Bürgerin wäre froh, wenn ihre Stadt frei von Dieben, Vergewaltigern und Mördern wäre.«
»Was ist mit Ehebrechern oder Leuten, die mehr Zeitungen aus dem Ständer nehmen, als sie bezahlt haben? Soll ich die auch melden? Was ist mit Schülern, die bei Prüfungen schummeln?«
»Sookie, du weißt genau, was ich meine.« Andys Gesicht war bleich vor Wut.
»Klar weiß ich, was du meinst. Vergiss es. Ich habe dir geholfen, diesem Kind das Leben zu retten. Lass es bloß nicht so weit kommen, dass ich das bedaure.« Ich ging auf demselben Weg, den ich gekommen war, durch das hintere Tor und seitlich am Schulgebäude entlang bis in die Straße, wo ich mein Auto geparkt hatte. Auf dem Weg zurück zur Arbeit fuhr ich sehr vorsichtig, denn ich zitterte noch immer am ganzen Leib von all den intensiven Gefühlen, die an diesem Nachmittag in der Schule wie Wellen durch mich hindurchgegangen waren.
Holly und Danielle waren weg, als ich im Merlotte's ankam - Holly war zu ihrem Sohn ins Krankenhaus geeilt, und Danielle hatte sie hingefahren, weil Holly so furchtbar aufgeregt gewesen war.
»Die Polizei hätte Holly auch hingebracht«, sagte Sam. »Aber ich weiß ja, dass Holly niemanden außer Danielle hat, und da dachte ich, dann könnte ich Danielle auch gleich mitgehen lassen.«
»Was natürlich heißt, dass ich allein bedienen muss«, erwiderte ich zickig. Irgendwie kam es mir vor, als sollte ich dafür, dass ich Holly geholfen hatte, gleich doppelt bestraft werden.
Er lächelte mich an, und eine Sekunde lang konnte ich nicht anders, ich musste zurücklächeln. »Ich habe Tanya Grissom angerufen. Sie sagt, sie springt gern ein und hilft uns aus.«
Tanya Grissom war erst vor kurzem nach Bon Temps gezogen und geradewegs ins Merlotte's spaziert, um sich zu bewerben. Mit dem Kellnern hatte sie sich die Collegezeit finanziert und pro Abend bis zu zweihundert Dollar Trinkgeld gemacht. So etwas würde es in Bon Temps nie geben, das hatte ich ihr gleich offen gesagt.
»Hast du nicht zuerst Arlene und Charlsie angerufen?«
Okay, jetzt war ich zu weit gegangen. Ich war hier nur Kellnerin/Barmädchen, das Merlotte's gehörte mir nicht. Es stand mir nicht zu, Sam zu fragen, ob er zuerst die Frauen angerufen hatte, die schon länger dabei waren, ehe er sich an die Neue wandte. Tanya Grissom war eindeutig eine Gestaltwandlerin, und ich fürchtete, Sam könnte sie deshalb vielleicht vorziehen.
Sam wirkte kein bisschen verärgert, sondern sprach ganz sachlich. »Doch, die habe ich natürlich zuerst angerufen. Arlene hat eine Verabredung, und Charlsie passt auf ihr Enkelkind auf. Sie lässt immer deutlicher durchblicken, dass sie nicht mehr lange arbeiten will. Ich glaube, sie wird sich wohl ganz um das Baby kümmern, wenn ihre Schwiegertochter wieder zu arbeiten beginnt.«
»Oh«, sagte ich bedrückt. An eine Neue würde ich mich erst gewöhnen müssen. Klar, Kellnerinnen kommen und gehen, und ich hatte schon so einige durch den Angestellteneingang des Merlotte's gehen sehen in den - meine Güte - inzwischen fünf Jahren, die ich für Sam arbeitete. Das Merlotte's hatte unter der Woche bis Mitternacht offen und am Freitag und Samstag bis eins. Eine Zeitlang hatte Sam auch am Sonntag geöffnet, aber das lohnte sich nicht. Jetzt war der Sonntag der Ruhetag im Merlotte's, falls die Bar nicht für ein privates Fest gemietet wurde.
Sam achtete darauf, dass unsere Arbeitszeiten wechselten, so dass jede mal die einträglichere Spätschicht machen konnte. Daher arbeitete ich an manchen Tagen von elf bis fünf Uhr nachmittags (oder bis halb sieben, wenn besonders viel los ist) und an anderen Tagen von fünf bis das Merlotte's schloss. Mit den Arbeitszeiten und -tagen hatte er so lange herumprobiert, bis wir uns alle auf eine Regelung geeinigt hatten, die am besten funktionierte. Sam erwartete etwas Flexibilität von uns, dafür war er aber auch großzügig, wenn es um freie Zeit für Beerdigungen, Hochzeiten oder andere denkwürdige Anlässe ging.
Ich hatte schon einige Jobs gehabt, ehe ich bei Sam anfing. Er war bei weitem der unkomplizierteste Boss, für den ich je gearbeitet hatte. Und inzwischen war er viel mehr geworden als nur ein Arbeitgeber: er war ein guter Freund. Dass er Gestaltwandler war, hatte mich nie gestört. Ich machte mir Sorgen um Sam, als ich in Kreisen von Gestaltwandlern das Gerücht aufschnappte, dass die Wergeschöpfe ebenso wie die Vampire an die Öffentlichkeit treten wollten. Würden die Leute von Bon Temps ihn akzeptieren? Würden sie sich betrogen vorkommen, oder würden sie ganz locker damit umgehen? Seit die Vampire ihre Existenz in einer sorgfältig inszenierten Großen Enthüllung bekannt gegeben haben, hatte sich überall auf der Welt das Leben, wie wir es kannten, verändert. Einige Länder waren nach dem anfänglichen Schock dazu übergegangen, die Vampire ins Alltagsleben einzubinden. Andere Länder deklarierten die Vampire zu nichtmenschlichen Wesen und forderten ihre Einwohner auf, jeden Vampir, den sie sahen, zu töten (einfacher gesagt als getan).
»Das mit Tanya klappt bestimmt prima«, sagte ich, doch selbst in meinen eigenen Ohren klang das ziemlich unsicher. Aus einem Impuls heraus - und ich kann nur vermuten, dass das wohl mit den Gefühlswogen zusammenhing, denen ich an diesem Tag ausgesetzt gewesen war - warf ich die Arme um Sam. Ich roch saubere Haut, frisch gewaschenes Haar und den Anflug eines angenehm leichten Aftershaves mit einer Note Wein und einem Hauch Bier... eben Sams Geruch. Wie Sauerstoff sog ich ihn tief in meine Lungen ein.
Überrascht legte auch Sam seine Arme um mich, und eine Sekunde lang lag ich beinahe benommen vor Wohlgefühl in seiner warmen Umarmung. Dann wichen wir beide voneinander zurück, denn schließlich war das hier unser Arbeitsplatz, und um uns herum saßen einige Gäste. Und da kam auch schon Tanya herein, ganz gut also, dass wir uns schon aus unserer Umarmung gelöst hatten. Sonst dachte sie noch, das gehörte hier dazu.
Tanya, eine liebenswürdig aussehende Frau Ende zwanzig, war etwas kleiner als ich. Ihr glattes Haar war kurz und glänzte in einem schönen Mittelbraun, das gut mit ihrer Augenfarbe harmonierte. Der kleine Mund passte zu ihrer Stupsnase, und sie hatte eine gute Figur. Es gab überhaupt keinen Grund für mich, sie nicht zu mögen, aber ich freute mich nicht, sie zu sehen. Ich schämte mich vor mir selbst. Ich sollte Tanya zumindest eine faire Chance geben, uns zu zeigen, was für ein Mensch sie war.
Aber gut, das würde ich früh genug erfahren. Keiner kann verbergen, wie er wirklich ist, nicht vor mir - jedenfalls nicht, wenn es sich um einen normalen Menschen handelt. Ich versuche zwar, nicht auf die Gedanken anderer Leute zu achten, aber ich kann mich nicht gegen alles abschotten. Als ich mit Bill zusammen war, habe ich von ihm überhaupt erst richtig gelernt, mich gegen die von außen auf mich einprasselnden Gedanken zu schützen. Seitdem war mein Leben einfacher - viel angenehmer und entspannter.
Tanya war eine Frau, die immer lächelte, das musste ich ihr schon mal zugestehen. Sie lächelte Sam an, sie lächelte mich an, sie lächelte die Gäste an. Und es war kein nervöses Lächeln, wie meins, das besagte: »In meinem Kopf herrscht lautstarkes Getöse, ich versuche aber nach außen hin so normal wie möglich zu wirken.« Tanyas Lächeln hieß eher so was wie: »Ich bin pfiffig und kess, und ihr werdet mich alle mögen.« Ehe sie anfing zu arbeiten, stellte Tanya ein paar sehr vernünftige Fragen, die davon zeugten, dass sie Erfahrung mit dem Kellnern hatte.
»Was ist denn los?«, fragte Sam.
»Nichts«, erwiderte ich. »Ich hab nur...«
»Sie scheint doch ganz nett zu sein«, sagte er. »Glaubst du, mit ihr stimmt irgendwas nicht?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete ich, wobei ich lebhaft und fröhlich zu klingen versuchte. Ich wusste, dass ich wieder auf diese nervös angespannte Weise lächelte. »Sieh mal, Jane Bodehouse will noch was bestellen. Wir werden wieder ihren Sohn anrufen müssen.«
Gerade in dem Augenblick drehte Tanya sich um und sah mich an, als hätte sie meinen Blick in ihrem Rücken gespürt. Sie lächelte nicht, sondern sah mich mit einem so ernsthaften Blick an, dass ich sie sofort ganz anders einschätzte. Einen Augenblick lang standen wir nur da und blickten uns gegenseitig an, und dann lächelte sie wieder strahlend und machte am nächsten Tisch weiter, wo sie einen Mann fragte, ob er noch ein weiteres Bier wolle.
Plötzlich dachte ich: Ob Tanya wohl an Sam interessiert ist? Das Gefühl, das sich bei dieser Frage in mir breitmachte, gefiel mir gar nicht. Ich fand, der Tag war auch ohne neu entstehende Probleme schon anstrengend genug gewesen. Und noch immer kein Anruf von Jason.
Auf dem Nachhauseweg hatte ich eine ganze Menge, worüber ich nachdenken musste: Pater Riordan, die Pelts, Cody, Crystals Fehlgeburt.
Ich fuhr meine kiesbestreute Auffahrt durch den Wald entlang, und als ich die Lichtung erreichte und hinter dem Haus parkte, wurde mir wieder mal bewusst, wie einsam mein Haus lag. Seit ich ein paar Wochen in der Stadt gewohnt hatte, kam es mir hier draußen noch einsamer vor, und obwohl ich sehr gern wieder in meinem eigenen Zuhause lebte, war es nicht mehr ganz dasselbe wie früher.
Bisher hatte ich mir wegen meines einsam gelegenen Hauses eigentlich keine Sorgen gemacht, doch in den letzten Wochen war meine Anfälligkeit dafür gestiegen. Ich hatte ein paar unangenehme Erlebnisse gehabt, und zweimal hatten mir Eindringlinge in meinem Haus aufgelauert. Jetzt waren an meinen Türen richtig gute Verriegelungen angebracht, sowohl Hinter- als auch Vordertür waren mit Guckloch versehen, und Jason hatte mir großzügigerweise seine Benelli, ein wirklich gutes Gewehr, geschenkt.
Die Außenbeleuchtung meines Hauses war hell genug, aber ich wollte sie nicht die ganze Nacht brennen lassen. Ich hatte schon darüber nachgedacht, mir einen Bewegungsmelder zuzulegen. Dass ich auf einer großen Lichtung inmitten eines Waldgebiets wohnte, wo immer mal wieder Getier über den Hof lief, war allerdings ein Nachteil. Da würden bei jeder kleinen Beutelratte gleich die Lichter anspringen.
Der zweite Grund, der gegen einen Bewegungsmelder sprach, war ... Was nutzte er letztendlich? Die Dinge, vor denen ich mich fürchtete, konnte ich sowieso nicht mit heller Beleuchtung einschüchtern. Ich würde sie nur besser sehen können, bevor sie mich auffraßen. Außerdem hatte ich auch keine Nachbarn, die von dem aufleuchtenden Licht aufgeschreckt werden würden. Seltsam, dass ich mich nur ganz selten gefürchtet hatte, als meine Großmutter noch lebte. Sie war eine starke kleine Dame gewesen für eine Frau von Ende siebzig, aber sie hätte mich nicht mal gegen einen Floh verteidigen können. Irgendwie hatte ich mich schon deshalb sicherer gefühlt, weil ich nicht allein gewesen war.
Nach all dieser Grübelei über die hier draußen lauernden Gefahren stieg ich ziemlich angespannt aus dem Auto, denn ich war an einem Pick-up vorbeigekommen, der vor meinem Haus parkte. Also schloss ich die Hintertür auf, ging durchs Haus zur Vordertür und öffnete sie in dem unguten Gefühl, dass mir gleich eine Szene bevorstand. Der friedliche Augenblick auf meiner Vorderveranda, als ich die Bienen im Birnbaum beobachtet hatte, schien Wochen zurückzuliegen, und nicht erst Stunden.
Calvin Norris, der Anführer der Werpanther in Hotshot, stieg aus seinem Wagen und kam die Stufen herauf. Er war ein Mann Anfang vierzig mit Bart, ein sehr ernsthafter Mann, dem die Verantwortung fast sichtbar auf den Schultern lastete. Offensichtlich war Calvin gerade erst aus der Arbeit gekommen, denn er hatte noch das blaue Hemd und die Jeans an, die alle Vorarbeiter bei Norcross trugen.
»Sookie«, sagte er und nickte mir zu.
»Bitte, kommen Sie doch herein«, erwiderte ich, wenn auch zögernd. Calvin war immer höflich zu mir gewesen, und vor ein paar Wochen hatte er mir geholfen, meinen verschleppten Bruder zu befreien. Das Mindeste, was ich ihm schuldete, war Höflichkeit.
»Meine Nichte hat mich angerufen, als sie außer Gefahr war«, sagte er bedächtig und setzte sich aufs Sofa, nachdem ich mit der Hand angedeutet hatte, dass er Platz nehmen solle. »Ich glaube, Sie haben ihr das Leben gerettet.«
»Ich bin wirklich froh, dass es Crystal besser geht. Aber außer einem Telefonanruf habe ich gar nichts getan.« Ich setzte mich in meinen alten Lieblingssessel und spürte, wie ich müde zurücksank. Nichts da, bleib aufrecht sitzen, befahl ich mir selbst. »Konnte Dr. Ludwig ihre Blutungen stoppen?«
Calvin nickte. Sein Blick ruhte auf mir, seine seltsamen Augen wirkten ernst. »Sie wird wieder gesund. Unsere Frauen haben oft Fehlgeburten. Deshalb hatten wir ja gehofft... Nun ja.«
Ich zuckte zusammen. Calvins Hoffnung auf eine Beziehung mit mir bedrückte mich. Ich weiß nicht genau, warum ich mich schuldig fühlte; wahrscheinlich, weil er so enttäuscht war. Eigentlich konnte ich ja nichts dafür, dass seine Absichten mich nur begrenzt begeisterten.
»Jason und Crystal werden vermutlich heiraten«, sagte Calvin sachlich. »Ich muss zugeben, dass ich von Ihrem Bruder nicht gerade angetan bin, aber ich muss ihn ja auch nicht heiraten.«
Ich war verblüfft und wusste nicht, ob diese Heirat Jasons, Calvins oder Crystals Idee gewesen war. Jason hatte heute Morgen noch nicht ans Heiraten gedacht, jedenfalls hatte er in seinen aufgewühlten, um Crystal besorgten Gedanken nichts dergleichen erkennen lassen. »Um ehrlich zu sein«, sagte ich. »Ich bin von Crystal auch nicht angetan. Aber auch ich muss sie ja nicht heiraten.« Ich holte tief Luft. »Doch ich werde mein Bestes tun, um den beiden zu helfen, wenn sie sich entscheiden, zu... äh, das zu tun. Sie wissen ja, Jason ist alles, was ich habe.«
»Sookie.« Plötzlich klang seine Stimme gar nicht mehr so sicher. »Ich will mit Ihnen auch noch über etwas anderes reden.«
Natürlich. Keine Chance, dem auszuweichen.
»Ich weiß, dass Sie irgendetwas gehört haben, als Sie zu mir nach Hotshot kamen, das Sie von mir entfernt hat. Ich würde gern wissen, was es war. Denn solange ich nicht weiß, worum es sich dabei handelt, kann ich nichts dagegen tun.«
Wieder holte ich tief Luft, und diesmal legte ich mir meine nächsten Worte sehr genau zurecht. »Calvin, ich weiß, dass Terry Ihre Tochter ist.« Calvin war vor einiger Zeit angeschossen worden, und als ich ihn nach seinem Aufenthalt im Krankenhaus zu Hause besuchte, lernte ich Terry und ihre Mutter Maryelizabeth kennen. Auch wenn die beiden nicht in seinem Haus wohnten, hatten sie sich dort doch wie in einem zweiten Zuhause gefühlt. Und dann hatte Terry mich gefragt, ob ich ihren Vater heiraten würde.
»Ja«, sagte Calvin. »Das hätte ich Ihnen auch erzählt, wenn Sie mich danach gefragt hätten.«
»Haben Sie noch andere Kinder?«
»Ja, ich habe noch drei andere Kinder.«
»Von verschiedenen Müttern?«
»Von drei verschiedenen Müttern.«
Ich hatte recht gehabt. »Wie kommt das?«, fragte ich, um mich zu vergewissern.
»Weil ich vollblütig bin«, erklärte er, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Da nur das erstgeborene Kind eines vollblütigen Paares zu einem vollblütigen Panther wird, müssen wir verschiedene Verbindungen eingehen.«
Ich war unglaublich froh, dass für mich eine Heirat mit Calvin nie ernsthaft in Frage gekommen war, sonst wäre mir jetzt schlecht geworden. Seit ich das Ritual zur Regelung der Leitwolf-Nachfolge gesehen hatte, hegte ich eine Vermutung. Und sie entsprach der Wahrheit. »Das heißt also, nicht das erste Kind einer Gestaltwandlerin wird zu einem vollblütigen Gestaltwandler und damit ist Schluss ... sondern nur ihr erstes Kind mit einem bestimmten Mann.«
»Richtig.« Calvin wirkte überrascht, dass ich das nicht gewusst hatte. »Immer das erste Kind jedes vollblütigen Paares. Wenn unsere Population zu klein wird, müssen die vollblütigen Männer mit so vielen vollblütigen Frauen wie möglich ein Kind zeugen, um die Population wieder zu erhöhen.«
»Okay.« Ich wartete eine Minute, bis ich mich wieder gefangen hatte. »Haben Sie geglaubt, es würde mir nichts ausmachen, wenn Sie mich zwar heiraten, aber weiterhin andere Frauen schwängern?«
»Nein, das würde ich von einer Außenstehenden niemals erwarten«, erwiderte er in seinem sachlichen Ton. »Für mich ist es an der Zeit, mit nur einer Frau zusammenzuleben. Ich habe meine Pflicht als Anführer erfüllt.«
Ich versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. Bei jedem anderen hätte ich zu kichern begonnen, doch Calvin war ein ehrenhafter Mann, der eine solche Reaktion nicht verdient hatte.
»Jetzt suche ich eine Frau fürs Leben, und für die Gemeinschaft wäre es gut, wenn frisches Blut hineinkäme. Wir haben uns viel zu lange nur untereinander fortgepflanzt. Meine Augen können kaum noch als menschlich gelten, und Crystal braucht ewig, bis sie sich zurückverwandelt hat.
Wir müssen unseren Genpool, wie die Wissenschaftler das nennen, erweitern. Wenn ich mit Ihnen ein Kind hätte - worauf ich gehofft habe -, dann wäre es nie ein vollblütiger Gestaltwandler. Doch es könnte sich wiederum innerhalb der Gemeinschaft fortpflanzen und so neue Anlagen und Begabungen einbringen.«
»Warum haben Sie dafür gerade mich ausgesucht?«
»Ich mag Sie«, sagte er fast schüchtern. »Und Sie sind sehr schön.« Dabei lächelte er, ein bei ihm seltener, aber herzlicher Gesichtsausdruck. »Ich beobachte Sie seit Jahren im Merlotte's. Sie sind zu allen freundlich und arbeiten sehr hart, und Sie haben niemanden, der sich so um Sie kümmert, wie Sie es verdient hätten. Und Sie wissen von uns, unsere Existenz wäre kein großer Schock für Sie.«
»Machen andere Gestaltwandler das auch?« Ich hatte die Frage so leise gestellt, dass ich sie selbst kaum hören konnte, und starrte auf meine im Schoß verschränkten Hände. Ich konnte kaum atmen, während ich auf seine Antwort wartete. In Gedanken sah ich Alcides grüne Augen vor mir.
»Wenn die Population zu klein wird, ist es ihre Pflicht«, sagte er langsam. »Woran denken Sie, Sookie?«
»Nach dem Wettkampf der Leitwolfkandidaten in Shreveport hatte der Sieger - Patrick Furnan - Sex mit einer jungen Werwölfin, obwohl er verheiratet war. Das fand ich ziemlich merkwürdig.«
»Hatte ich je eine Chance bei Ihnen?«, fragte Calvin, der die Schlussfolgerung für sich schon gezogen zu haben schien.
Calvin konnte kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er seine Lebensweise erhalten wollte. Wenn ich sie abstoßend fand, so war das mein Problem.
»Ich hatte Interesse an Ihnen«, erwiderte ich. »Aber ich bin zu sehr Mensch, um damit klarzukommen, dass ich von lauter unehelichen Kindern meines Ehemanns umgeben bin. Ich wäre einfach zu ... ich müsste die ganze Zeit daran denken, dass mein Mann mit fast allen Frauen, denen ich jeden Tag begegne, Sex gehabt hat.« So gesehen, würde Jason ja wirklich prima in die Gemeinschaft von Hotshot passen. Ich hielt eine Sekunde lang inne, doch Calvin schwieg. »Ich hoffe, dass mein Bruder in Ihrer Gemeinschaft gut aufgenommen wird, unabhängig von meiner Antwort.«
»Ich weiß nicht, ob er verstanden hat, wie es bei uns zugeht«, sagte Calvin. »Crystal hatte schon einmal eine Fehlgeburt, als sie von einem vollblütigen Panther schwanger war. Und jetzt hat sie auch das Kind Ihres Bruders verloren. Das heißt wohl, dass sie es nicht noch einmal mit einem Panther versuchen sollte. Vielleicht kann sie auch von Ihrem Bruder kein Kind bekommen. Fühlen Sie sich verpflichtet, ihm das zu sagen?«
»Es ist nicht meine Sache, mit Jason darüber zu reden ... sondern Crystals.« Ich sah Calvin in die Augen, und die Bemerkung, dass Jason nicht heiraten müsste, wenn er Kinder wollte, lag mir schon auf der Zunge. Doch das war ein zu heikles Thema, und deshalb machte ich den Mund lieber wieder zu.
Calvin schüttelte mir auf seltsam förmliche Weise die Hand, als er sich verabschiedete. Damit beendete er wohl ganz offiziell sein Werben um mich. Ich hatte mich von Calvin Norris nie richtig angezogen gefühlt und auch nie ernsthaft in Erwägung gezogen, seinen Antrag anzunehmen. Aber es wäre nicht aufrichtig, zu verschweigen, dass ich mir in meinen Tagträumen schon einen verlässlichen Ehemann mit einem guten Job samt Sozialversicherung gewünscht hatte, der nach seiner Schicht direkt nach Hause kam und an seinen freien Tagen Reparaturen erledigte. Es gab solche Männer, Männer, die vierundzwanzig Stunden am Tag Menschen blieben. Das wusste ich, dazu hatte ich im Merlotte's schon Gedanken genug gelesen.
Was mich an Calvins Geständnis - oder seiner Erklärung - wirklich erschütterte, war etwas ganz anderes. Was verriet mir all das über Alcide?
Alcide hatte meine Gefühle entfacht, und meine Lust. Und jetzt fragte ich mich, was eine Ehe mit ihm für mich wohl bedeutet hätte; und das war von ganz anderer Bedeutung als meine ziemlich unpersönliche Spekulation auf Calvins Sozialversicherung. Ich hatte den heimlichen Wunsch, den Alcide in mir ausgelöst hatte, eigentlich aufgegeben, als ich gezwungen gewesen war, seine Exverlobte zu erschießen. Doch irgendetwas in mir hatte sich daran festgeklammert, etwas, das ich sogar mir selbst verheimlicht hatte; auch dann noch, als ich erfuhr, dass er jetzt mit Maria-Star zusammen war. Erst heute hatte ich den Pelts gegenüber abgestritten, dass Alcide sich für mich interessierte. Doch irgendwo tief in mir hatte ich eine Hoffnung genährt.
Langsam stand ich aus dem Sessel auf - ich fühlte mich doppelt so alt wie ich war - und ging in die Küche, um mir aus dem Kühlschrank etwas zu essen zu holen. Ich hatte zwar keinen Hunger, aber wenn ich mir jetzt nichts kochte, würde ich mich nur spätabends unklugerweise wieder vollstopfen, sagte ich mir streng.
Doch an diesem Abend kochte ich kein Essen mehr.
Stattdessen lehnte ich mich gegen die Kühlschranktür und weinte.