Kapitel 19

»Majestät, wir müssen aufhören«, sagte Amelia, und die Königin machte eine Handbewegung, die etwas wie Zustimmung bedeuten mochte.

Terry war so erschöpft, dass sie sich schwer atmend am Geländer der Treppe anlehnen musste. Patsy auf der Galerie sah fast ebenso erledigt aus. Nur der Strebertyp Bob schien unverändert, aber er hatte sich ja auch gleich zu Anfang wohlweislich in einen Gartenstuhl gesetzt. Auf Amelias wortloses Zeichen hin begannen sie den Zauber aufzulösen, und nach und nach verzog sich die unheimliche Atmosphäre. Damit wurde aus den ziemlich machtlosen Augenzeugen einer magischen Rekonstruktion wieder ein zusammengewürfelter Haufen mehr oder weniger seltsamer Gestalten, die in einem Hof in New Orleans herumstanden.

Amelia ging zu dem Geräteschuppen in der Ecke hinüber und holte einige Klappstühle heraus. Sigebert und Wybert verstanden den Mechanismus nicht, also stellten Amelia und Bob die Stühle auf. Nachdem die Königin und die Hexen Platz genommen hatten, stand noch ein freier Stuhl da, und nach einigem schweigenden Hin und Her zwischen mir und den vier Vampiren setzte ich mich schließlich.

»Was in der nächsten Nacht passierte, wissen wir ja«, sagte ich müde. Ich fühlte mich etwas albern in meinem schicken Kleid und den hochhackigen Sandalen und freute mich schon jetzt darauf, wieder meine normalen Klamotten anzuziehen.

»Äh, 'tschuldigung, Sie vielleicht, aber wir anderen nicht, und wir würden's auch gern erfahren«, erwiderte Bob. Ihm schien gar nicht bewusst zu sein, dass er in der Gegenwart der Königin eigentlich respektvoll erzittern müsste.

Auch wenn er aussah wie ein langweiliger Strebertyp, hatte dieser junge Hexer doch etwas Liebenswertes an sich. Er und die anderen drei Hexen hatten unglaublich hart gearbeitet, und es sprach nichts dagegen, dass sie die restliche Geschichte erfahren sollten. Die Königin erhob auch keine Einwände. Sogar Jade Flower, die ihr Schwert wieder in der Scheide versenkt hatte, zeigte einen Anflug von Interesse.

»In der nächsten Nacht hat Waldo Hadley auf den Friedhof gelockt, mit der Geschichte von Marie Laveaus Grab und der Vampirtradition, dass die Toten die Toten wiederauferstehen lassen können - in diesem Fall die Voodookönigin Marie Laveau. Hadley wollte Marie Laveau bitten, ihre Fragen zu beantworten, denn Waldo hatte ihr erzählt, das sei möglich, wenn das Ritual korrekt ausgeführt würde. Obwohl Waldo mir bei unserer Begegnung einen Grund nannte, aus dem Hadley sich angeblich darauf einließ, weiß ich jetzt, dass er gelogen hat. Und ich kann mir einige andere Gründe vorstellen, warum sie mit Waldo auf den St.-Louis-Friedhof ging«, sagte ich. Die Königin nickte schweigend. »Ich glaube, sie wollte wissen, wie Jake sich verhalten würde, wenn er erwachte. Sie wollte einen Rat, was sie mit ihm machen sollte. Sie konnte ihn nicht einfach sterben lassen, das haben wir ja alle gesehen. Aber sie wollte niemandem gegenüber zugeben, dass sie einen Vampir geschaffen hatte, schon gar nicht einen, der vorher ein Werwolf gewesen war.«

Ich hatte richtig Publikum. Sigebert und Wybert hockten auf der einen Seite der Königin und waren ganz gefangen genommen von der Geschichte. Für sie war das bestimmt so was wie Kino. Die Hexen waren auch höchst interessiert, die Zusammenhänge der Ereignisse zu erfahren, deren Zeuge sie eben geworden waren. Und selbst Jade Flower hatte ihren Blick aufmerksam auf mich gerichtet. Nur Andre schien immun zu sein, er kümmerte sich um seinen Job als Bodyguard und suchte mit den Augen ständig Innenhof und Himmel auf mögliche Angreifer ab.

»Es könnte auch sein, dass Hadley vom Geist Marie Laveaus erfahren wollte, wie sie die ungeteilte Liebe der Königin wiedererlangen könnte. Pardon, Ma'am«, fügte ich schnell hinzu, da mir zu spät einfiel, dass die Königin ja keinen Meter entfernt von mir auf einem Gartenklappstuhl saß, an dem noch das Preisschild von Wal-Mart baumelte.

Die Königin machte eine nachlässige Handbewegung. Sie war so tief in Gedanken versunken, dass ich mir nicht mal sicher war, ob sie mir zugehört hatte.

»Nicht Waldo hat versucht, Jake Purifoy umzubringen«, sagte die Königin zu meinem großen Erstaunen. »Waldo hätte nicht damit gerechnet, dass diese kluge Hexe hier, nachdem er Hadley getötet und die Schuld der Bruderschaft der Sonne zugeschoben hatte, das Apartment mit einem Tempus-Stasis-Zauber versiegeln würde. Waldo hatte bereits einen Plan. Wer immer Jake getötet hat, hatte einen anderen Plan - vielleicht sollte Hadley die Schuld an Jakes Tod und Wiedergeburt gegeben werden ... was sie in eine Vampirzelle im Gefängnis gebracht hätte. Oder der Mörder hoffte, dass Jake Hadley töten würde, wenn er nach drei Tagen auferstand ... was er vermutlich sogar getan hätte.«

Amelia versuchte bescheiden dreinzuschauen, was ihr ziemlich schwerfiel. Eigentlich hätte es ihr leichtfallen sollen, denn schließlich hatte sie den Zauber nur auf das Apartment gelegt, damit es nicht so stank, wenn es irgendwann wieder geöffnet würde. Das wussten wir beide. Doch es war ein gelungenes Hexenwerk gewesen, und ich würde sie bestimmt nicht hier vor all den anderen bloßstellen.

Aber Amelia ruinierte alles ganz allein.

»Oder«, begann sie munter, »jemand hat Waldo dafür bezahlt, Hadley aus dem Weg zu räumen, wie auch immer.«

Ich musste sofort meine Schutzbarrieren aufziehen, weil die anderen Hexen augenblicklich so starke Panikgedanken auszusenden begannen, dass ihre Gegenwart für mich fast unerträglich wurde. Sie wussten, dass Amelias Worte die Königin verärgern würden; und wenn die Königin von Louisiana erst mal verärgert war, ging es allen um sie herum ziemlich schlecht.

Die Königin schoss von ihrem Stuhl hoch, und so sprangen wir alle ebenfalls auf, hastig und recht unbeholfen. Amelia hatte gerade die Beine auf den Stuhl hochgezogen, so dass sie sich besonders ungeschickt anstellte, was ihr ganz recht geschah. Jade Flower trat ein paar Schritte von den Vampiren zurück. Vielleicht wollte sie nur ein bisschen mehr Platz um sich haben für den Fall, dass sie ihr Schwert schwingen musste. Andre war der Einzige außer mir, der es bemerkte, und er hielt den Blick fest auf den Bodyguard des Königs gerichtet.

Wer weiß, was als Nächstes passiert wäre, wenn nicht in diesem Moment Quinn in den Hof gefahren wäre.

Er sprang aus dem großen schwarzen Wagen, ignorierte die angespannte Atmosphäre, als existiere sie gar nicht, und ging mit langen Schritten über den Kies auf mich zu. Fast beiläufig legte er mir einen Arm um die Schulter, beugte sich herunter und gab mir einen leichten Kuss. Ich weiß nicht, wie man einen Kuss mit dem anderen vergleichen soll. Männer küssen doch alle anders, oder? Und es besagt angeblich etwas über ihren Charakter. Quinn küsste mich, als würden wir ein Gespräch führen.

»Süße«, sagte er, als ich dabei das letzte Wort gehabt hatte. »Komme ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt? Was ist mit deinem Arm passiert?«

Die Atmosphäre entspannte sich etwas. Ich stellte ihn den anderen im Hof vor. Die Vampire kannte er alle, aber den Hexen war er noch nie begegnet. Patsy und Amelia hatten offensichtlich schon von ihm gehört und versuchten, nicht zu beeindruckt zu erscheinen.

Ich musste meine Neuigkeit erst mal loswerden. »Das ist eine Bisswunde an meinem Arm, Quinn«, begann ich. Quinn wartete, den Blick direkt auf mein Gesicht gerichtet. »Und zwar war das ... tja, wir wissen vermutlich, was aus deinem vermissten Angestellten geworden ist. Er hieß Jake Purifoy, stimmt's?«, fragte ich.

»Was?« Im hellen Licht des Hofes sah ich, wie wachsam seine Miene plötzlich wirkte. Er wusste, dass irgendetwas Schlimmes folgen würde. Klar, bei der versammelten Gesellschaft hier hätte jeder das Schlimmste erwartet.

»Er wurde überfallen und hier im Hof liegen gelassen. Um sein Leben zu retten, hat Hadley ihn hinübergeholt. Er ist zu einem Vampir geworden.«

Einen Augenblick lang verstand Quinn nicht. Ich sah, wie die Erkenntnis einsetzte, als er die Ungeheuerlichkeit dessen erfasste, was Jake Purifoy zugestoßen war. Quinns Gesichtsausdruck wurde steinern. Unwillkürlich hoffte ich, dass er mich niemals so ansehen würde.

»Der Übergang wurde ohne die Einwilligung des Werwolfs vollzogen«, sagte die Königin. »Natürlich würde ein Werwolf nie einwilligen, einer von uns zu werden.« Dass sie ein wenig nörgelnd klang, erstaunte mich keineswegs. Werwölfe und Vampire betrachteten einander mit kaum verhohlener Verachtung. Allein die Tatsache, dass sie vereint gegen die normale Welt standen, verhinderte den Ausbruch eines offenen Krieges zwischen ihnen.

»Ich bin bei dir zu Hause vorbeigefahren«, sagte Quinn überraschend zu mir. »Ich wollte sehen, ob du bereits aus New Orleans zurück bist, ehe ich hier herunterfahre, um nach Jake zu suchen. Wer hat in deiner Auffahrt einen Dämon verbrannt?«

»Jemand hat Gladiola getötet, die Kurierin der Königin, als sie kam, um mir einen Brief zu überbringen«, sagte ich. Unter den Vampiren entstand Unruhe. Die Königin wusste natürlich schon von Gladiolas Tod, Mr Cataliades hatte ihr sicher Bericht erstattet. Doch sonst hatte bisher noch keiner davon gehört.

»In deinem Hof sterben eine Menge Leute, Süße«, meinte Quinn, wenn auch etwas abwesend. Ich machte ihm keinen Vorwurf, dass ihm das nicht so wichtig zu sein schien.

»Nur zwei«, verteidigte ich mich, nachdem ich es kurz im Gedächtnis rekapituliert hatte. »Das kann man kaum eine Menge nennen.« Okay, wenn man noch die Leute mitzählte, die im Haus gestorben waren ... doch den Gedanken verdrängte ich ganz schnell wieder.

»Wisst ihr was?«, rief Amelia plötzlich in künstlich munterem Tonfall. »Wir Hexen verschwinden jetzt mal eben in die Pizzeria unten an der Ecke Chloe Street und Justine Street. Wenn wir gebraucht werden, sind wir dort zu finden. Also dann!« Bob, Patsy und Terry waren schneller bei der Einfahrt, als ich es je für möglich gehalten hätte, und weil die Vampire von ihrer Königin kein Zeichen erhielten, traten sie zur Seite und ließen sie passieren. Da Amelia sich nicht lange damit aufhielt, ihre Handtasche aus der Wohnung zu holen, hoffte ich für sie, das sie sowohl Geld als auch Hausschlüssel in den Hosentaschen hatte.

Am liebsten wäre ich hinter ihnen hergelaufen. Moment, warum tat ich es nicht einfach? Sehnsüchtig sah ich zur Einfahrt hin, doch Jade Flower stellte sich demonstrativ davor auf und starrte mich an. Das war eine Frau, die mich kein bisschen leiden konnte. Andre, Sigebert und Wybert war ich mehr oder weniger egal, und Rasul würde mich für ein, zwei Stunden in der Stadt für eine ganz nette Begleiterin halten - aber Jade Flower würde mir nur zu gern mit ihrem Schwert den Kopf abschlagen. Die Gedanken von Vampiren konnte ich zwar nicht lesen (außer einem winzigen Funken mal hier und dort, was aber ein großes Geheimnis war), aber ihre Körpersprache konnte ich deuten und genauso den Ausdruck ihrer Augen.

Ich kannte den Grund für diese Feindseligkeit nicht, und zu diesem Zeitpunkt hielt ich das auch nicht für sonderlich wichtig.

Die Königin hatte nachgedacht. »Rasul, wir sollten bald nach Hause aufbrechen.« Er verbeugte sich und ging zum Wagen.

»Miss Stackhouse«, sagte sie und sah mich direkt an. Ihre Augen leuchteten wie dunkle Lampen. Sie nahm meine Hand, und wir gingen in Hadleys Apartment hinauf, Andre hinter uns, als wäre er Sophie-Anne mit irgendeinem unsichtbaren Band ans Bein gebunden. Ich spürte den dringenden und äußerst unklugen Wunsch, meine Hand der ihren zu entziehen, die kalt, trocken und stark war, auch wenn sie sich bemühte, nicht allzu fest zuzudrücken. Die große Nähe zu dieser uralten Vampirin ließ mich vibrieren wie eine Geigensaite, und ich fragte mich, wie Hadley das nur ausgehalten hatte.

Sie führte mich in Hadleys Wohnung und schloss die Tür. So konnten nicht einmal die hervorragenden Ohren der Vampire unten im Hof unserem Gespräch folgen. Und genau das hatte sie beabsichtigt, denn ihr erster Satz lautete: »Sie werden niemandem erzählen, was ich Ihnen jetzt sage.«

Ich schüttelte den Kopf, stumm vor lauter Befürchtungen.

»Mein Leben begann in einem Landstrich, der heute zu Nordfrankreich gehört, vor etwa ... eintausendeinhundert Jahren.«

Ich schluckte.

»Ich wusste natürlich nicht, wo ich lebte, aber ich glaube, es war Lothringen. Im letzten Jahrhundert habe ich versucht, den Ort zu finden, an dem ich meine ersten zwölf Lebensjahre verbrachte. Aber ich konnte ihn einfach nicht finden, und wenn mein Leben davon abgehangen hätte.« Sie lachte einmal laut auf bei diesem Satz. »Meine Mutter war die Ehefrau des reichsten Mannes im Dorf, was bedeutete, dass er zwei Schweine mehr besaß als jeder andere. Damals hieß ich Judith.«

Ich bemühte mich, nicht erschrocken zu wirken, sondern nur interessiert, doch das war ziemlich schwer.

»Als ich etwa elf oder zwölf war, kam ein Hausierer die Straße entlang. Wir hatten seit einem halben Jahr kein fremdes Gesicht mehr gesehen und freuten uns.« Doch sie lächelte nicht, und auch ihr Blick ließ nicht erkennen, dass sie sich an dieses Gefühl der Freude noch erinnern konnte; nur an die schiere Tatsache. Ihre Schultern hoben und senkten sich einmal. »Er hatte eine Krankheit, die bei uns unbekannt war. Heute glaube ich, dass es eine Form der Grippe war. In den zwei Wochen, die er sich in unserem Dorf aufhielt, starb jeder Bewohner außer mir und einem etwas älteren Jungen.«

Ein Schweigen entstand, während wir beide darüber nachdachten. Wenigstens ich dachte darüber nach, und die Königin erinnerte sich. Andre dachte vielleicht an den Bananenpreis in Guatemala.

»Clovis mochte mich nicht«, sagte die Königin. »Ich habe vergessen, warum. Unsere Väter ... ich weiß es nicht mehr. Alles wäre anders verlaufen, wenn er sich etwas aus mir gemacht hätte. Aber so hat er mich vergewaltigt und dann ins nächste Dorf gebracht, wo er mich anbot. Gegen Geld, natürlich, und gegen Essen. Obwohl die Grippe im ganzen Landstrich wütete, wurden wir nie krank.«

Ich versuchte überall hinzusehen, nur nicht in ihr Gesicht.

»Warum wollen Sie mir nicht in die Augen schauen?« Ihr Akzent hatte sich verändert, während sie erzählte; als hätte sie gerade erst Englisch gelernt.

»Es tut mir so leid für Sie«, erwiderte ich.

Sie legte die oberen Zähne auf die Unterlippe und sog etwas Luft an, die sie wieder ausstieß, wobei ein Geräusch wie ein »Fffft!« entstand. »Grämen Sie sich nicht«, sagte die Königin. »Denn als Nächstes übernachteten wir in einem Wald, und ein Vampir holte sich ihn.« Dabei wirkte sie ziemlich erfreut. »Der Vampir war sehr hungrig und begann mit Clovis, weil er größer war. Danach konnte er sich einen Moment Zeit lassen, sah mich an und beschloss, dass es ganz nett wäre, eine Begleiterin zu haben. Er hieß Alain, und drei Jahre lang reiste ich mit ihm umher. Vampire lebten damals natürlich noch im Verborgenen. Sie existierten nur in den Geschichten, die alte Frauen abends am Feuer erzählten. Und Alain war sehr gut darin, es genau dabei zu belassen. Alain war Priester gewesen, und es machte ihm großen Spaß, andere Priester im Bett zu überraschen.« Sie lächelte wehmütig.

Ich spürte, wie meine Sympathie schon wieder schwächer wurde.

»Alain versprach mir immer wieder, mich herüberzuholen, denn ich wollte natürlich genauso werden wie er. Ich wollte diese unglaubliche Kraft besitzen.« Sie warf mir einen Blick zu.

Ich nickte. Das konnte ich gut verstehen.

»Doch immer wenn er Geld und Kleider für mich brauchte, tat er dasselbe wie Clovis, er verkaufte mich. Er wusste, dass die Männer meine Kälte bemerken würden und dass ich sie beißen würde, wenn ich selbst eine Vampirin wäre. Langsam hatte ich genug von seinen ewigen leeren Versprechungen.«

Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich aufmerksam zuhörte. Und das tat ich auch. Doch irgendwo im hintersten Winkel meines Hirns fragte ich mich, wohin zum Teufel dieser Monolog führen sollte und warum ausgerechnet ich mir diese faszinierende und deprimierende Geschichte anhören musste.

»Eines Nachts kamen wir in ein Dorf, wo der Bürgermeister wusste, was Alain war. Der dumme Alain hatte vergessen, dass er dort schon mal gewesen war und die Frau des Bürgermeisters ausgesaugt hatte! Und so ergriffen ihn die Dorfbewohner und bannten ihn mit einer Silberkette. Dass es so etwas in einem so kleinen Dorf überhaupt gab, war schon erstaunlich genug, kann ich Ihnen sagen... Sie warfen ihn in eine Hütte, wo er bleiben sollte, bis der Dorfpriester von einer Reise wiederkam. Dann wollten sie ihn mit irgendeiner kirchlichen Zeremonie der Sonne aussetzen. Es war ein armes Dorf, doch sie stapelten alle vorhandenen Silberstücke und allen Knoblauch über ihm auf, um ihn unter Kontrolle zu halten.« Die Königin lachte in sich hinein.

»Sie wussten, dass ich ein Mensch war und er mich missbraucht hatte«, sagte sie. »Also haben sie mich nicht gefesselt. Die Familie des Bürgermeisters überlegte sich, mich als Dienerin zu behalten, da sie ja eine Frau an den Vampir verloren hatte. Was das bedeuten würde, wusste ich.«

Der Ausdruck in ihrem Gesicht war beides zugleich, herzzerreißend und eiskalt. Ich blieb ganz reglos.

»In der Nacht zog ich einige lose Holzbretter an der Rückwand der Hütte heraus und kroch hinein. Ich sagte zu Alain, ich würde ihn befreien, wenn er mich herüberholte. Wir verhandelten eine ganze Weile, dann war er endlich einverstanden. Ich grub ein Loch in die Erde, groß genug für mich. Es war geplant, dass Alain mich aussaugen, begraben, den Erdboden wieder glatt streichen und sein Strohlager darüberbreiten sollte. Dazu konnte er sich gut genug bewegen. In der dritten Nacht würde ich wieder auferstehen, seine Kette zerreißen und den Knoblauch wegwerfen, auch wenn ich mir dabei die Hände verbrennen würde. Und wir würden fliehen.« Sie lachte laut auf. »Doch der Priester kam von seiner Reise wieder, ehe drei Tage vorüber waren. Als ich mir meinen Weg durch den Schmutz freischaufelte, war Alain nur noch schwarze Asche im Wind. Es war die Hütte des Priesters, in der sie Alain gefangen gesetzt hatten, und der alte Priester hat mir selbst erzählt, was passiert ist.«

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich die Pointe dieser Geschichte schon kannte. »Okay«, warf ich rasch ein, »dann war der Priester also Ihre erste Mahlzeit.« Ich lächelte sehr breit.

»Oh, nein«, sagte Sophie-Anne, einst Judith. »Ich erzählte ihm, ich sei der Engel des Todes und ich würde ihn schonen, weil er so rechtschaffen gewesen sei.«

Wenn ich an den Zustand dachte, in dem Jake Purifoy nach seinem ersten Erwachen gewesen war, konnte ich in etwa ermessen, welche ungeheure Selbstbeherrschung das der neuen Vampirin abgenötigt hatte.

»Und was haben Sie als Nächstes getan?«, fragte ich.

»Nach ein paar Jahren fand ich eine Waise wie mich, die auch durch die Wälder streifte«, erwiderte sie und drehte sich nach ihrem Bodyguard um. »Seitdem sind wir immer zusammengeblieben.«

Und jetzt sah ich doch einmal einen Ausdruck in Andres blankem Kindergesicht: äußerste Ergebenheit.

»Er war missbraucht worden wie ich«, sagte sie sanft. »Und ich habe mich um ihn gekümmert.«

Ich spürte, wie mir ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Ich hätte nicht gewusst, was ich sagen sollte, selbst wenn man mich dafür bezahlt hätte.

»Es hat natürlich einen Grund, warum ich Sie mit meiner uralten Geschichte langweile«, sagte die Königin und schüttelte sich kurz. »Ich möchte Ihnen erklären, warum ich Hadley unter meine Fittiche genommen habe. Auch sie war missbraucht worden, von ihrem Großonkel. Hat er auch Sie missbraucht?«

Ich nickte. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er sich auch an Hadley vergriffen hatte. Bei mir war es nie bis zur Penetration gekommen, aber nur deshalb, weil meine Eltern starben und ich danach bei meiner Großmutter lebte. Meine Eltern hatten mir nie geglaubt, aber meine Großmutter hatte ich überzeugt, dass ich die Wahrheit sagte, als ich in seinen Augen reif genug war, also etwa neun. Hadley war natürlich älter gewesen. Wir hatten also viel mehr gemeinsam gehabt, als ich je vermutet hätte. »Es tut mir sehr leid, ich wusste nichts davon. Vielen Dank, dass Sie es mir erzählt haben.«

»Hadley hat oft von Ihnen gesprochen«, sagte die Königin.

Ja, danke, Hadley. Danke, dass du mir das Schlimmste, was ... nein, Moment mal, das war nicht fair. Dass ich von Bills gemeinem Betrug erfahren hatte, war nicht das Schlimmste, was mir je widerfahren war. Aber auf meiner persönlichen Liste rangierte es nicht sehr weit unten.

»Ja, davon habe ich schon gehört«, sagte ich in äußerst kühlem Ton.

»Sie sind zornig, weil ich Bill den Auftrag erteilt habe, herauszufinden, ob Sie von Nutzen für uns sein können«, sagte die Königin.

Ich holte tief Atem und zwang mich zu sprechen. »Nein, ich bin nicht über Sie zornig. Sie sind eben so, wie Sie sind. Und Sie kannten mich ja nicht einmal.« Noch ein tiefer Atemzug. »Zornig bin ich über Bill, der mich wirklich kannte und Ihren Auftrag trotzdem gründlich und berechnend ausgeführt hat.« Ich musste den aufkommenden Schmerz verdrängen. »Aber warum sollte Sie das überhaupt interessieren?« Mein Ton streifte die Grenze zur Unverschämtheit - sicher nicht sehr klug, wenn man es mit einer mächtigen Vampirin zu tun hatte. Aber sie hatte mich an einer äußerst empfindlichen Stelle getroffen.

»Weil Hadley Sie sehr gern hatte«, sagte Sophie-Anne unerwartet.

»Wenn Sie wüssten, wie sie mich als Teenager behandelt hat, würden Sie so was nicht behaupten«, erwiderte ich. Anscheinend wollte ich wohl auf dem Weg der rücksichtslosen Wahrheit wandeln.

»Es hat ihr leidgetan«, sagte die Königin, »vor allem seit sie Vampirin war und wusste, was es bedeutet, zu einer Minderheit zu gehören. Sogar hier in New Orleans gibt es Vorurteile. Wir haben oft über Hadleys Leben gesprochen, wenn wir allein waren.«

Keine Ahnung, welche der beiden Vorstellungen mir unangenehmer war: dass die Königin und meine Cousine Hadley Sex miteinander hatten oder dass sie sich danach im vertraulichen Bettgespräch über mich unterhielten.

Es war mir völlig egal, welche Erwachsenen welche Spielart Sex miteinander trieben, solange nur beide Seiten vorher freiwillig zugestimmt hatten. Aber ich musste nicht notwendigerweise alle Details erfahren. Jedes diesbezügliche Interesse, das ich vielleicht mal hatte, war über die Jahre verschüttet worden von all den Bildern, die ich in den Gedanken der Leute in der Bar so zu sehen bekam.

Dieses Gespräch zog sich immer mehr in die Länge. Ich wollte, dass die Königin endlich mal zum Punkt kam.

»Um zum Punkt zu kommen«, sagte die Königin prompt. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir - durch die Hexen - konkretere Informationen zu Hadleys Tod vermittelt haben. Und außerdem haben Sie mir zu der Erkenntnis verholfen, dass es viel weiter gefasste Intrigen gegen mich gibt als nur Waldos Eifersucht.«

Hatte ich das?

»Ich stehe also in Ihrer Schuld. Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«

»Oh. Vielleicht können Sie mir Umzugskartons schicken, damit ich Hadleys Sachen packen und nach Bon Temps zurückkehren kann? Und könnte wohl jemand die Sachen, die ich nicht haben will, zu einer Wohltätigkeitsorganisation fahren?«

Die Königin sah zu Boden, und ich hätte schwören können, das sie sich ein Lächeln verkniff. »Ja, das kann ich tun. Gleich morgen schicke ich Ihnen ein paar Menschen, die sich um all das kümmern.«

»Und wenn jemand die Sachen, die ich mitnehmen will, in einen Transporter packen und nach Bon Temps fahren würde, wäre das auch prima. Vielleicht könnte ich sogar gleich mit zurück nach Bon Temps fahren?«

»Auch das ist kein Problem.«

Und jetzt zu dem großen Gefallen. »Muss ich wirklich mit Ihnen auf diese Konferenz gehen?«, fragte ich und wusste, das ich es damit ziemlich direkt anging.

»Ja«, erwiderte sie.

Okay, da hatte ich auf Granit gebissen.

»Aber«, fügte sie hinzu, »ich werde Sie fürstlich dafür entlohnen.«

Das hörte ich gern. Ich hatte zwar noch etwas von dem Geld auf meinem Bankkonto, das Eric mir für meine Dienste gezahlt hatte, und ich hatte auch eine enorme Summe gespart, als Tara mir ihr Auto für einen Dollar »verkauft« hatte, doch ein kleines finanzielles Polster war mir stets willkommen, zumal ich sonst meist gerade so über die Runden kam. Ich fürchtete immer, dass ich mir ein Bein brechen, das Auto zu Schrott fahren oder mein Haus abbrennen könnte... Moment, das Letzte war ja bereits passiert... na ja, dass eben irgendeine Katastrophe eintreten könnte, und sei es, dass ein Wirbelsturm das dämliche Blechdach meines Hauses, auf das meine Großmutter bestanden hatte, abtragen würde.

»Möchten Sie eigentlich irgendwas von Hadleys Sachen haben?«, fragte ich sie, nachdem ich meine Gedanken wieder vom Geld losgerissen hatte. »Irgendein Erinnerungsstück?«

In ihren Augen flackerte etwas auf, etwas, das mich überraschte.

»Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund«, meinte die Königin mit einem reizenden französischen Akzent.

Oho. Das konnte nichts Gutes bedeuten, dass sie die Charmemaschine anwarf.

»Ich habe Hadley gebeten, etwas für mich zu verstecken«, sagte sie. Mein Katastrophometer schlug wie wild aus. »Und falls Sie es beim Packen der Sachen finden, hätte ich es gern zurück.«

»Was ist es denn?«

»Ein Schmuckstück«, sagte sie. »Mein Ehemann hat es mir zur Verlobung geschenkt, und ich habe es zufällig vor der Hochzeit hier liegen lassen.«

»Sie können jederzeit einen Blick in Hadleys Schmuckkasten werfen«, erwiderte ich sofort. »Wenn es Ihnen gehört, müssen Sie es natürlich wiederbekommen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Jetzt hatte das Gesicht der Königin wieder jene glatte, undurchdringliche Miene angenommen. »Es ist ein Diamant, ein großer Diamant, und er sitzt auf einem Platinarmband.«

Ich erinnerte mich nicht, so etwas unter Hadleys Sachen gesehen zu haben, aber darum hatte ich mich auch noch nicht gekümmert. Hadleys Schmuckkasten hatte ich ungeöffnet mitnehmen und zu Hause in Bon Temps durchsehen wollen, wenn ich einmal viel Zeit dafür hätte.

»Sehen Sie doch jetzt gleich nach«, schlug ich vor. »Ich kann mir denken, dass es ein bisschen unangenehm wäre, das Geschenk Ihres Ehemanns zu verlieren.«

»Oh«, sagte die Königin sanft, »Sie machen sich keine Vorstellung.« Sophie-Anne schloss einen Augenblick lang die Augen, als hätte sie Angst, auch nur ein weiteres Wort auszusprechen. »Andre«, sagte sie, und da lief er auch schon Richtung Schlafzimmer - ohne nach dem Weg fragen zu müssen, wie mir auffiel. Während seiner Abwesenheit wirkte die Königin seltsam unvollständig. Ich fragte mich, warum er sie nicht nach Bon Temps begleitet hatte, und ganz spontan fragte ich sie danach.

Mit großen blanken Augen sah sie mich an. »Ich hätte gar nicht zu Ihnen kommen dürfen«, erklärte sie. »Doch ich wusste, wenn Andre sich in New Orleans zeigt, würden alle annehmen, ich wäre auch in der Stadt.« Ob das wohl andersherum ebenso galt, fragte ich mich. Wenn die Königin hier war, würde dann jeder annehmen, dass auch Andre da war? Und das löste einen Gedanken in mir aus, der bereits wieder verschwunden war, noch ehe ich ihn richtig zu fassen bekam.

In diesem Moment kam Andre zurück und gab der Königin mit einem kaum merklichen Kopfschütteln zu verstehen, dass er nicht gefunden hatte, was sie wiederhaben wollte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Sophie-Anne sehr unglücklich aus. »Das hat Hadley in einem Anfall von Wut getan«, sagte die Königin, vermutlich vor allem zu sich selbst. »Aber nun könnte sie mich tatsächlich noch nach ihrem Tod zu Fall bringen.« Dann entspannte sich ihr Gesicht wieder und zeigte die übliche ausdrucklose Miene.

»Ich werde nach dem Armband Ausschau halten«, sagte ich. Der Wert des Schmuckstücks lag wahrscheinlich nicht so sehr in der Summe, die es kostete. »Ist das Armband in der letzten Nacht vor der Hochzeit hier liegen geblieben?«, fragte ich vorsichtig.

Vermutlich hatte meine Cousine Hadley der Königin das Armband aus lauter Wut über die Hochzeit gestohlen. So etwas sah Hadley ganz ähnlich. Wenn ich vom Verschwinden des Armbands vorher gewusst hätte, hätte ich die Hexen gebeten, die Uhr der ektoplasmischen Rekonstruktion noch einmal zurückzudrehen. So hätten wir zusehen können, wo Hadley das Schmuckstück versteckt hatte.

Die Königin nickte knapp. »Ich muss es wiederhaben. Es ist nicht der Wert des Diamanten, um den es geht, verstehen Sie? Eine Hochzeit zwischen Vampirherrschern ist keine Liebesverbindung, bei der vieles verziehen werden kann. Das Geschenk des Ehemanns zu verlieren ist eine schwerwiegende Beleidigung. Und unser Frühlingsball wird heute in zwei Nächten stattfinden. Der König erwartet, dass ich dann sein Geschenk trage. Wenn ich es nicht tue ...« Ihre Stimme verlor sich, und sogar Andre sah besorgt drein.

»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.« Bereits in der Residenz der Königin hatte ich die Anspannung auf allen Fluren gespürt. Wenn sie das Armband nicht trug, wäre der Teufel los, und es war Sophie-Anne, auf die der Teufel dann losgehen würde. »Wenn es hier ist, bekommen Sie es wieder, okay?«

»Gut«, sagte sie. »Andre, ich kann nicht länger bleiben. Jade Flower wird die Tatsache, dass ich mich mit Sookie hierher zurückgezogen habe, sowieso berichten. Sookie, wir müssen behaupten, dass wir Sex miteinander hatten.«

»Tut mir leid, aber jeder, der mich kennt, wird beschwören, dass ich nichts mit Frauen anfangen kann. Ich weiß ja nicht, an wen Jade Flower berichten wird ...« (Natürlich wusste ich es, sie würde an den König berichten; doch das so direkt auszusprechen, erschien mir nicht besonders taktvoll.) »Aber wenn diese Leute ihre Hausaufgaben auch nur ansatzweise gemacht haben, wissen sie das über mich.«

»Dann hatten Sie vielleicht Sex mit Andre«, schlug sie gelassen vor. »Und mich haben Sie zusehen lassen.«

Mir fielen gleich mehrere Fragen auf einmal ein. Die erste wäre gewesen: »Ist das bei Ihnen so üblich?«, gefolgt von: »Soll das heißen, man darf unter keinen Umständen ein Armband verlegen, aber jederzeit mit anderen herumbumsen?« Doch ich hielt meinen Mund. Wenn mir jemand eine Pistole an den Kopf hielte, würde ich mich wohl eher für Sex mit der Königin als mit Andre entscheiden, egal welche sexuellen Vorlieben ich sonst pflegte. Andre fand ich einfach zum Gruseln. Aber wenn wir nur so tun mussten als ob...

Ganz geschäftsmäßig nahm Andre den Schlips ab und steckte ihn zusammengefaltet in die Hosentasche, außerdem öffnete er ein paar Hemdknöpfe. Mit dem Zeigefinger winkte er mich zu sich. Vorsichtig ging ich auf ihn zu. Er nahm mich in die Arme, drückte mich an sich und legte seinen Kopf an meinen Hals. Eine Sekunde lang fürchtete ich, er würde zubeißen, und ich erlitt fast einen Panikanfall, doch er inhalierte nur tief. So etwas taten Vampire nur in bestimmter Absicht.

»Drücken Sie Ihren Mund an meinen Hals«, forderte er mich auf, nachdem er noch einmal meinen Geruch tief eingesogen hatte. »Ihr Lippenstift wird haften bleiben.«

Ich tat, was er mir gesagt hatte. Er war kalt wie Eis. Das Ganze war ... tja, es war total irrwitzig. Ich dachte an das Fotoshooting mit Claude. Irgendwie schien ich in letzter Zeit dauernd so zu tun, als hätte ich Sex mit jemandem.

»Ich liebe den Geruch von Elfen. Meinst du, sie weiß, dass sie Elfenblut in sich hat?«, fragte er Sophie-Anne, während ich noch meinen Lippenstift dort platzierte, wo er hin sollte.

Bei diesen Worten zog ich ruckartig den Kopf zurück und starrte ihm direkt in die Augen. Andre starrte zurück. Er hielt mich immer noch fest in den Armen, aber mir war klar, dass er nur sichergehen wollte, dass unser Geruch an dem jeweils anderen auch wirklich haften blieb. Er war ganz eindeutig nicht an der Sache selbst interessiert - was für eine Erleichterung.

»Was?« Ich war mir sicher, dass ich ihn falsch verstanden haben musste. »Ich habe was?«

»Dafür hat er eine Nase, mein Andre«, sagte die Königin und konnte einen Anflug von Stolz nicht verhehlen.

»Ich habe heute einige Stunden mit meiner Freundin Claudine verbracht«, erklärte ich. »Sie ist eine Elfe. Deshalb rieche ich so.« Ich sollte wahrscheinlich dringend mal duschen.

»Erlauben Sie?« Ohne eine Antwort abzuwarten, kratzte Andre mit dem Fingernagel meinen verwundeten Arm genau über dem Verband.

»Autsch!«, rief ich protestierend.

Er ließ ein wenig Blut auf seinen Finger tropfen, nahm es in den Mund und rollte es auf der Zunge hin und her wie ein Weinkenner den Wein bei der Probe. Schließlich sagte er: »Nein, dieser Geruch ist nicht von einer befreundeten Elfe. Er ist in Ihrem Blut.« Andre sah mich in einer Weise an, die mir zu verstehen gab, dass seine Worte das zu einer bewiesenen Tatsache machten. »Sie haben einen Hauch von Elfe in sich. Vielleicht waren Ihre Großmutter oder Ihr Großvater halbe Elfenwesen?«

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte ich und wusste, wie dumm das klang. Doch etwas anderes fiel mir nicht ein. »Wenn irgendwer von meinen Großeltern etwas anderes als ein hundertprozentiger Mensch war, so haben sie diese Information nicht weitergegeben.«

»Das tun sie meistens nicht«, meinte die Königin völlig selbstverständlich. »Die meisten Menschen mit Elfenherkunft verbergen diese Tatsache, da sie oft selbst nicht daran glauben können. Ihnen ist es lieber, ihre Eltern für verrückt zu halten.« Sie zuckte die Achseln. Unglaublich. »Aber dieses Elfenblut würde erklären, warum Sie Verehrer aus der übernatürlichen Welt haben und keine menschlichen.«

»Ich habe keine menschlichen Verehrer, weil ich keine haben will«, erklärte ich gekränkt. »Ich kann ihre Gedanken lesen, und das wirft sie eben aus der Bahn. Wenn sie sich nicht schon vorher von meinem Ruf, ziemlich verrückt zu sein, abschrecken lassen.« Tja, da war ich mal wieder auf dem Pfad Zu-ehrlich-für-diese-Welt gelandet.

»Wirklich traurig, dass es unter den Menschen keinen gibt, der für eine Person mit telepathischen Fähigkeiten erträglich wäre«, sagte die Königin.

Das fasste den Wert telepathischer Fähigkeiten ziemlich bündig zusammen, und ich beschloss, es besser dabei zu belassen und das Gespräch nicht fortzusetzen. Ich hatte sowieso eine ganze Menge, worüber ich nachdenken musste.

Dann gingen wir die Treppe hinunter, Andre voraus, die Königin als Nächste und ich hinter ihnen her. Andre hatte darauf bestanden, dass ich meine Schuhe auszog und meine Ohrringe abnahm. So wäre es glaubwürdiger, dass ich mich ausgezogen hatte und nur schnell wieder in meine Kleider geschlüpft sei, meinte er.

Die anderen Vampire warteten gehorsam im Hof und nahmen sofort Haltung an, als wir herunterkamen. Jade Flower verzog keine Miene, als sie die Anzeichen musterte, die auf das hindeuteten, was wir in der letzten halben Stunde getrieben haben sollten. Aber immerhin blickte sie nicht skeptisch drein. Die beiden Berts sahen uns wissend, aber desinteressiert an, so als wäre es eine von Sophie-Annes üblichen Beschäftigungen, ihrem Bodyguard beim Sex mit einer Fremden zuzusehen.

Rasul, der in der Einfahrt stand und auf Anweisungen für die Limousine wartete, sah uns mit leichtem Bedauern an, als wäre er am liebsten bei unseren Aktivitäten dabei gewesen. Quinn dagegen presste seine Lippen so fest aufeinander, dass keine noch so feine Nadel mehr dazwischen gepasst hätte. Da würde ich noch so einiges zu erklären haben.

Als wir Hadleys Apartment verließen, hatte mir die Königin allerdings eingeschärft, dass ich niemandem von ihrer Geschichte erzählen dürfe, mit Betonung auf niemandem. Jetzt musste ich mir also nur noch einen Weg ausdenken, Quinn davon wissen zu lassen, ohne es ihm zu erzählen.

Die Vampire machten keine großen Umstände und stiegen relativ zügig in die Limousine ein. Mein Hirn war so angefüllt mit Ideen, Mutmaßungen und allem, was es dazwischen noch gab, dass ich mich richtig benommen fühlte. Ich hätte gern meinen Bruder Jason angerufen und ihm gesagt, dass er gar nicht so unwiderstehlich war, sondern seine Erfolge bei den Frauen seinem Elfenblut verdankte - nur um zu sehen, was er sagen würde. Nein, Moment mal, Andre hatte angedeutet, dass Menschen von Elfen nicht auf dieselbe Weise angezogen wurden wie Vampire. Das hieß aber nur, dass Menschen Elfen nicht direkt verschlingen wollten, sie begehrten sie allerdings sexuell. (Mir fiel sofort ein, wie viele Männer sich im Merlotte's stets um Claudine scharten.) Und Andre hatte gesagt, dass auch andere Supras von Elfenblut angezogen wurden, nur eben nicht in dieser Saug-sie-aus-Manier der Vampire. Eric wäre bestimmt sehr erleichtert. Jetzt konnte er sich sagen, dass er gar nicht in mich verliebt gewesen war. Es lag alles nur an meinem Elfenblut!

Ich sah die königliche Limousine abfahren. Und während ich mit mindestens sechs verschiedenen Gefühlen gleichzeitig zu kämpfen hatte, musste Quinn sich nur mit einem auseinandersetzen.

Er stand genau vor mir und sah mich verärgert an. »Wie hat sie dich dazu überredet, Sookie?«, fragte er. »Wenn du gerufen hättest, wäre ich sofort gekommen. Oder wolltest du es selbst? Ich hätte schwören können, der Typ bist du nicht.«

»Ich bin heute Abend mit niemandem im Bett gewesen«, sagte ich und sah ihm direkt in die Augen. Schließlich verriet ich damit nichts von der Geschichte der Königin, das war einfach nur... die Richtigstellung eines Irrtums. »Es ist in Ordnung, wenn die anderen es glauben«, sagte ich vorsichtig. »Nur du solltest es nicht tun.«

Einen langen Augenblick sah er mich schweigend an. Seine Augen forschten in den meinen, als würde er darin irgendetwas lesen können.

»Würdest du heute Abend denn gern mit jemandem ins Bett gehen?«, fragte er und küsste mich. Er küsste mich eine endlos lange Zeit lang, wir standen wie aneinandergeklebt da. Die Hexen kehrten nicht zurück, die Vampire blieben weg. Nur die gelegentlich auf der Straße vorbeifahrenden Autos oder in der Ferne aufheulende Sirenen erinnerten daran, dass ich mitten in einer großen Stadt war. Diese Umarmung unterschied sich so sehr von Andres wie nur irgend möglich. Quinn war warm, und ich spürte die Muskeln unter seiner Haut. Ich konnte ihn atmen hören und seinen Herzschlag fühlen. Ich konnte wahrnehmen, wie aufgewühlt seine Gedanken waren, die jetzt um das Bett kreisten, von dem er wusste, das es irgendwo da oben in Hadleys Apartment sein musste. Er liebte meinen Geruch, meine Berührung, meine Lippen ... und ein besonderes, großes Teil von Quinn gab dem nur allzu deutlich Ausdruck, das Teil, das er in diesem Moment an mich presste.

Ich war bisher mit zwei Männern im Bett gewesen, und die Beziehungen waren beide Male nicht gut ausgegangen. Ich hatte nicht genug über diese Männer gewusst. Ich hatte zu impulsiv gehandelt. Man sollte aus seinen Fehlern lernen. Doch einen Augenblick lang fühlte ich mich nicht sonderlich gelehrig.

Zum Glück für meine verbesserungswürdige Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen, klingelte in diesem Augenblick Quinns Handy. Gott sei Dank. Ich hatte schon wieder kurz davorgestanden, all meine guten Vorsätze über Bord zu werfen, nur weil ich den ganzen Abend in Angst und Schrecken und einem Gefühl der Einsamkeit verbracht hatte und Quinn sich dagegen so vertraut anfühlte und mich so sehr wollte.

Quinn, der diese Gedanken wohl nicht teilte - ganz und gar nicht-, fluchte, als das Handy immer weiter klingelte.

»Entschuldige«, sagte er wütend und ging dran.

»Okay«, sagte er, nachdem er eine Zeit lang der Stimme am anderen Ende der Leitung zugehört hatte. »Okay, ich komme.«

Er klappte das Handy zu. »Jake will mich sehen.«

Ich war so in einer seltsam gemischten Woge aus Lust und Erleichterung versunken, dass ich einen Moment brauchte, bis ich die richtigen Verknüpfungen herstellte. Jake Purifoy, Quinns Angestellter, erlebte gerade seine zweite Nacht als Vampir. Nachdem er sich an einer Freiwilligen hatte laben dürfen, war er jetzt anscheinend wieder so weit er selbst, dass er mit Quinn reden wollte. Er hatte wochenlang in einem leblosen Zustand vor sich hin vegetiert, und es gab sicher jede Menge, womit er sich vertraut machen musste.

»Dann musst du gehen«, sagte ich, stolz, dass meine Stimme so fest und entschlossen klang. »Vielleicht erinnert er sich, wer ihn angegriffen hat. Morgen werde ich dir erzählen, was ich heute Abend hier gesehen habe.«

»Hättest du ja gesagt?«, fragte er. »Wenn wir noch eine weitere Minute ungestört gewesen wären?«

Ich dachte einen Moment nach. »Wenn ich es getan hätte, hätte ich es sicher bereut. Nicht, weil ich dich nicht will. Ich will dich. Aber mir sind in den letzten Tagen die Augen geöffnet worden. Ich habe erfahren, dass ich ziemlich leicht zu täuschen bin.« Ich versuchte möglichst sachlich zu klingen und nicht wehleidig. Niemand mag eine jammernde Frau, und ich am allerwenigsten. »Ich habe keine Lust, mit jemandem etwas anzufangen, der einfach bloß heiß ist im Moment. Ich wollte nie zu diesem Typ Frau für One-Night-Stands werden. Ehe ich Sex mit dir habe, möchte ich sicher sein, dass du auch danach noch eine Weile da bist und dass du mich dafür magst, wer ich bin, und nicht nur dafür, was ich bin.«

Wahrscheinlich hatten schon Millionen Frauen diese Rede gehalten. Und ich meinte es genauso ernst wie jede andere dieser Millionen Frauen.

Quinn gab die perfekte Antwort. »Wer würde schon nur eine einzige Nacht mit dir wollen?« Und dann ging er.