Kapitel 13

Es gab Momente auf der Fahrt nach Süden, da hätte ich meine Gedanken am liebsten meinen Mitreisenden mitgeteilt. Mr Cataliades fuhr zwei Stunden, dann setzte sich Diantha ans Steuer. Bill und der Rechtsanwalt konnten sich kaum zum Smalltalk aufraffen, und ich hatte zu vieles im Kopf, um gesellig zu plaudern. So waren wir ein ziemlich schweigsamer Haufen.

Noch nie hatte ich mich so wohlgefühlt in einem Auto. Ich hatte die Rückbank mit Blick aus dem rückwärtigen Fenster ganz für mich allein, während Bill und der Rechtsanwalt mir gemeinsam gegenübersaßen. Die Limousine war der Inbegriff des automobilen Luxus, meiner Meinung nach zumindest: rundum lederbezogen und dick gepolstert, mit viel Beinfreiheit, einer Bar, die Wasser und synthetisches Blut bereithielt, und einem kleinen Korb voller Snacks. Mr Cataliades liebte besonders Käse-Crackers, wie es schien.

Ich schloss die Augen und dachte eine Weile nach. Bills Gehirn war natürlich ganz leer für mich und das von Mr Cataliades fast genauso. Sein Hirn sandte ein dunkles Summen aus, das beinahe beruhigend wirkte, und von Diantha ging die gleiche Vibration aus, nur in höherer Tonlage. Bei dem Gespräch mit Sam war mir etwas eingefallen, und dem Gedanken wollte ich folgen, solange ich ihn noch zu packen bekam. Als ich ihn schließlich durchdacht hatte, beschloss ich, mit den anderen darüber zu reden.

»Mr Cataliades«, begann ich, und der Angesprochene öffnete die Augen. Bill sah mich bereits an. Irgendwas ging in Bills Kopf vor sich, irgendwas Unheimliches. »Sie wissen, dass ich am Mittwochabend, als Ihre Kurierin zu mir kommen sollte, etwas im Wald gehört habe.«

Der Rechtsanwalt nickte. Bill nickte auch.

»Wir nehmen also an, dass sie in dieser Nacht ermordet wurde.«

Wieder zweifaches Nicken.

»Aber warum wurde sie ermordet? Wer immer es getan hat, musste doch wissen, dass Sie sich früher oder später mit mir in Verbindung setzen würden, um herauszufinden, was passiert ist. Selbst wenn der Mörder nichts von dem Brief wusste, den Gladiola mir bringen wollte, war doch klar, dass sie schon sehr bald vermisst werden würde.«

»Klingt einleuchtend«, sagte Mr Cataliades.

»Am Freitagabend wurde ich auf einem Parkplatz in Shreveport überfallen.«

Ich kann sagen, mit dieser Bemerkung schreckte ich sie richtig auf. Die Reaktionen der beiden wären kaum stärker ausgefallen, wenn ich ihnen Elektroschocks verpasst hätte.

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«, fragte Bill. Seine Augen glühten vor Wut, und seine Fangzähne waren ausgefahren.

»Warum hätte ich das tun sollen? Wir sind nicht mehr zusammen. Wir sehen uns nicht mal regelmäßig.«

»Willst du mich so dafür bestrafen, dass ich eine neue Freundin habe? Indem du mir eine so ernste Angelegenheit verschweigst?«

Selbst in meinen wildesten Fantasien (in denen Szenen vorkamen wie die, dass Bill mit Selah im Merlotte's Schluss macht und anschließend mir gegenüber vor allen Gästen eingesteht, Selah hätte es sowieso nie mit meinem Charme aufnehmen können) hatte ich mir nie eine solche Reaktion ausgemalt. Auch wenn es im Wagen sehr dunkel war, meinte ich zu erkennen, dass Mr Cataliades die Augen verdrehte.

Vielleicht fand auch er, dass das ein bisschen übertrieben war.

»Bill, ich wollte dich nie für etwas bestrafen.« Na ja, wenigstens glaubte ich, dass ich es nie gewollt hatte. »Wir erzählen einander einfach nicht mehr so viel. Ich war ja sogar mit einem anderen Mann verabredet, als der Überfall stattfand. Glaub mir, ich habe mich längst daran gewöhnt, dass zwischen uns nichts mehr läuft.«

»Mit wem bist du verabredet gewesen?«

»Es geht dich zwar nichts an, aber für den Rest der Geschichte ist es wichtig. Mit Quinn.«

»Mit Quinn, dem Tiger«, sagte Bill ausdruckslos.

»Hut ab, junge Lady!«, rief Mr Cataliades. »Sehr mutig und anspruchsvoll.«

»Ich bin nicht auf Zustimmung aus«, erwiderte ich so neutral wie möglich. »Auf Ablehnung natürlich auch nicht.« Ich wedelte mit der Hand, um anzudeuten, dass damit das Thema für mich erledigt war. »Ich wollte auf etwas anderes hinaus: Die Angreifer waren Werwölfe.«

»Werwölfe«, wiederholte Mr Cataliades. Wir sausten durch die Dunkelheit, und ich konnte weder seine Miene entziffern noch seinen Tonfall deuten. »Welche Art Werwölfe?«

Gute Frage. Der Rechtsanwalt war auf der richtigen Spur. »Werwölfe durch Biss«, sagte ich. »Und ich glaube, sie standen auch unter Drogen.« Darüber mussten sie erst mal nachdenken.

Bill brach das lange Schweigen schließlich. »Was passierte während des Überfalls und danach?«, fragte er.

Ich beschrieb den Vorfall und sein Nachspiel.

»Quinn ist also mit dir ins Hair of the Dog gefahren«, sagte Bill. »Hat er das für eine angemessene Reaktion gehalten?«

Ich wusste, dass Bill wütend war, aber wie üblich hatte ich keine Ahnung, warum.

»Es scheint doch funktioniert zu haben«, meinte Mr Cataliades. »Überlegen Sie. Es ist ihr nichts weiter zugestoßen, anscheinend hat Quinns Drohung also ihre Wirkung getan.«

Ich bemühte mich, ein »Was?« zu unterdrücken, aber Bill konnte es mit seinem Vampirblick wohl in meinem Gesicht sehen.

»Er hat die Werwölfe herausgefordert«, sagte Bill, und sein Ton klang noch kühler als sonst. »Er hat ihnen zu verstehen gegeben, dass du unter seinem Schutz stehst und es ihnen schlecht ergeht, wenn sie dir etwas tun. Er hat ihnen vorgeworfen, hinter dem Überfall zu stecken. Und für den Fall, dass sie nichts davon wussten, hat er sie gleich noch an ihre Verantwortung erinnert, denjenigen, der das geplant hat, zu bestrafen.«

»Das habe ich alles schon im Hair of the Dog verstanden«, sagte ich geduldig. »Aber ich glaube, Quinn hat sie gewarnt, nicht herausgefordert. Ein großer Unterschied. Was ich nicht verstehe, ist ... im Rudel sollte doch nichts ohne Patrick Furnans Wissen passieren, richtig? Schließlich ist er jetzt das hohe Tier. Warum ist Quinn also nicht direkt zu Patrick gegangen? Warum in eine einschlägige Werwolf-Bar?«

»Eine sehr interessante Frage«, sagte Mr Cataliades. »Welche Antwort haben Sie darauf, Compton?«

»Die naheliegendste ... Quinn weiß vielleicht, dass sich bereits Widerstand gegen Furnan regt. Und er gießt noch Öl ins Feuer der Rebellen, indem er sie wissen lässt, dass Furnan eine Freundin des Rudels umzubringen versucht.«

Wir sprechen hier nicht über die Dimensionen einer Armee oder so. Das Rudel hat ungefähr fünfunddreißig Mitglieder, vielleicht ein paar mehr, wenn man die Soldaten vom Luftwaffenstützpunkt Barksdale mitzählt. Schon fünf Leute wären genug für eine Rebellion.

»Warum verjagen sie ihn nicht einfach von seinem Posten?«, fragte ich. Besonders taktisch denke ich nicht, aber das habt ihr wahrscheinlich schon gemerkt.

Mr Cataliades lächelte. Es war zwar dunkel im Wagen, aber ich spürte es. »So direkt, typisch amerikanisch«, sagte er. »Nun, Miss Stackhouse, so einfach ist es nicht. Werwölfe können zwar wild sein, o ja! Aber sie haben ihre Regeln. Auf Mord am Leitwolf steht die Todesstrafe, es sei denn, er wurde offen zum Kampf herausgefordert.«

»Aber wer würde die Todesstrafe anordnen, wenn das Rudel den Mord geheim hält?«

»Solange das Rudel nicht die ganze Furnan-Familie tötet, dürften die Furnans die hochrangigen Rudelmitglieder nur zu bereitwillig vom Mord an Patrick in Kenntnis setzen. Nun, Sie kennen das Shreveport-Rudel wohl besser als die meisten. Gibt es rücksichtslose Mörder unter ihnen, die nicht davor zurückschrecken würden, Furnans Frau und seine Kinder abzuschlachten?«

Ich dachte an Amanda, Alcide, Maria-Star. »Ja, das ist noch mal was ganz anderes. Ich verstehe, was Sie meinen.«

»Unter den Vampiren würden Sie sehr viel mehr finden, die zu dieser Art Verrat bereit wären«, sagte der Rechtsanwalt. »Meinen Sie nicht, Mr Compton?«

Ein merkwürdiges Schweigen trat ein. »Vampire zahlen einen hohen Preis, wenn sie einen anderen Vampir töten«, sagte Bill steif.

»Wenn sie einem Clan angehören«, erwiderte Mr Cataliades sanft.

»Ich wusste gar nicht, dass Vampire Clans haben«, warf ich ein. Man lernt doch nie aus.

»Ein ziemlich neues Konzept. Es ist der Versuch, die Welt der Vampire zu regulieren, damit sie annehmbarer auf die Menschen wirkt. Sollte sich das amerikanische Modell durchsetzen, wird die Welt der Vampire bald mehr wie ein riesiges multinationales Unternehmen aussehen als wie eine lose verbundene Ansammlung bösartiger Blutsauger.«

»Gib etwas Eigenart und Tradition auf und erhöhe den Gewinn«, murmelte ich. »Wie Wal-Mart gegen Tante Emma.«

Mr Cataliades lachte. »Da haben Sie recht, Miss Stackhouse. Genau. Es gibt beide Lager, und die Konferenz, die in einigen Wochen stattfindet, wird dieses Thema ganz oben auf der Tagesordnung haben.«

»Aber um noch mal auf das zurückzukommen, was nicht erst in einigen Wochen, sondern schon sehr bald stattfinden könnte: Warum sollte Patrick Furnan versuchen, mich zu töten? Er mag mich nicht, okay, und er weiß, dass ich zu Alcide halten würde, wenn ich mich zwischen ihnen entscheiden müsste - aber was soll's? Ich bin nicht wichtig. Warum sollte er all das planen - nach zwei Jungs suchen, sie beißen und sie mir und Quinn auf den Hals hetzen? Was hätte er davon?«

»Sie haben ein Talent, genau die richtigen Fragen zu stellen, Miss Stackhouse. Ich wünschte, meine Antworten wären genauso gut.«

Na, da konnte ich meine Gedanken ja auch gleich für mich behalten, wenn ich sowieso keine Informationen bekam.

Die Mitteilung, ich möge mich für die Reise nach New Orleans bereithalten, sollte mich zu spät erreichen: Das war der einzige Grund für den Mord an Gladiola, den ich ach so »direkte Amerikanerin« erkennen konnte. Und Gladiola wäre eine Art Prellbock zwischen mir und meinen Verfolgern gewesen, zumindest wäre sie viel stärker vor einem Überfall auf der Hut gewesen.

Aber so wie's gelaufen ist, lag sie tot in meinem Wald, als ich mit Quinn ausging. Gruselig. Woher wussten die jungen Werwölfe, wo sie mich finden konnten? Shreveport ist nicht allzu groß, aber man kann nicht alle Straßen im Auge behalten in der Hoffnung, ich würde da irgendwann mal aufkreuzen. Wenn allerdings irgendein Werwolf Quinn und mich ins Theater gehen sah, hatten sie gewusst, dass ich mindestens zwei Stunden dort sein würde. Zeit genug, um etwas vorzubereiten.

Wenn dieser kluge Planer das früher erfahren hätte, wäre es natürlich noch besser gewesen... wenn, sagen wir mal, jemand vorher gewusst hätte, dass Quinn mich ins Theater eingeladen hatte. Wer wusste von meiner Verabredung mit Quinn? Nun, Tara: Ich hatte ihr beim Kauf meines Outfits davon erzählt. Und ich hatte es wohl auch Jason gegenüber erwähnt, als ich ihn anrief, um mich nach Crystal zu erkundigen. Zu Pam hatte ich gesagt, dass ich verabredet war. Aber hatte ich ihr auch erzählt, wohin ich gehen würde? Das wusste ich nicht mehr.

Blieb noch Quinn selbst.

Dieser Gedanke bekümmerte mich so, dass ich die Tränen unterdrücken musste. Es war ja nicht so, dass ich Quinn wirklich gut kannte oder seinen Charakter aufgrund der mit ihm verbrachten Zeit einschätzen konnte... in den letzten Monaten hatte ich ja gerade gelernt, dass man einen anderen nicht so schnell kennen lernte und es Jahre dauern konnte, bis man seinen wahren Charakter erkannte. Das hatte mich tief erschüttert, da ich daran gewöhnt war, die Menschen sehr gut und sehr schnell zu durchschauen. Ich kannte sie besser, als sie es je vermuten würden. Doch bei der Einschätzung des Charakters einiger übernatürlicher Wesen waren mir Fehler unterlaufen, und das hatte mich ziemlich unvorbereitet getroffen. Gewöhnt an die schnelle Beurteilung, die mir meine telepathische Begabung ermöglichte, war ich naiv und sorglos gewesen.

Und jetzt war ich nur von solchen Geschöpfen umgeben.

Ich kuschelte mich in eine Ecke des breiten Sitzes und schloss die Augen. Eine Weile musste ich mich mal in meine eigene Welt zurückziehen, zu der niemand Zutritt hatte. Und schließlich schlief ich in dem dunklen Wagen ein, in dem mir ein Halbdämon und ein Vampir gegenüber saßen und der von einer Halbdämonin gefahren wurde.

Als ich aufwachte, lag mein Kopf in Bills Schoß. Mit der Hand strich er mir sanft übers Haar, und die vertraute Berührung löste in mir ein friedliches und zugleich sinnliches Gefühl aus, das Bill schon immer in mir zu erregen vermochte.

Es dauerte eine Sekunde, bis ich mich erinnerte, wo wir waren. Blinzelnd und zerzaust setzte ich mich auf. Mr Cataliades gegenüber war sehr still, und ich glaube, er schlief, aber sicher war ich mir nicht. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte ich es gewusst.

»Wo sind wir?«, fragte ich.

»Fast da«, sagte Bill. »Sookie...«

»Hmm?« Ich streckte mich und gähnte und sehnte mich nach einer Zahnbürste.

»Ich helfe dir mit Hadleys Wohnung, wenn du willst.«

Ich hatte den Eindruck, dass er sich im letzten Augenblick anders überlegt hatte, was er sagen wollte.

»Wenn ich Hilfe brauche, weiß ich, an wen ich mich wenden kann«, erwiderte ich. Das war hoffentlich vieldeutig genug. So langsam bekam ich ein richtig ungutes Gefühl, wenn ich an Hadleys Wohnung dachte. Vielleicht war Hadleys Erbe für mich eher Fluch als Segen. Doch sie hatte ausdrücklich Jason aus ihrem Testament ausgeschlossen, weil der ihr mal in einer dringenden Angelegenheit nicht geholfen hatte. Hadley hatte die Hinterlassenschaft daher vermutlich schon als Wohltat gemeint. Allerdings war Hadley eine Vampirin gewesen, kein Mensch mehr. Das hatte sie sicher verändert. Hm.

Durchs Fenster konnte ich Straßenlaternen erkennen und Autos durch die Dunkelheit fahren sehen. Es regnete, und es war vier Uhr früh. Ich fragte mich, ob es irgendwo in der Nähe wohl ein IHOP-Restaurant gab. Ein Mal war ich in einem gewesen (das war richtig toll), und zwar auf der einzigen Reise nach New Orleans, die ich bislang gemacht hatte, einer Klassenfahrt. Wir hatten das Aquarium, das Sklavenmuseum und die Kirche am Jackson Square, die St.-Louis-Kathedrale, besucht. Es war wunderbar gewesen, das alles zu besichtigen und an all die Leute zu denken, die hier gelebt hatten, und daran, wie sie wohl aussahen in den Kleidern ihrer Zeit. Allerdings war es für mich als Telepathin, die noch keine Ahnung von Schutzbarrieren gegen fremde Gedanken hatte, nicht gerade lustig gewesen inmitten eines Haufens von Teenagern.

Meine jetzigen Reisegefährten waren da viel erträglicher, aber dafür ein ganzes Stück gefährlicher.

Wir fuhren eine ruhige Wohnstraße entlang, als die Limousine an den Bordstein fuhr und anhielt.

»Die Wohnung Ihrer Cousine«, sagte Mr Cataliades, als Diantha die Tür öffnete. Ich war schon ausgestiegen und stand auf dem Gehweg, während Mr Cataliades seine Leibesfülle noch immer in der Limousine herummanövrierte, um hinauszukommen. Bill musste hinter ihm warten.

Ich stand vor einer etwa zwei Meter hohen Mauer mit Einfahrt. Bei der trüben Straßenbeleuchtung war schwer zu sagen, was dahinter lag, aber es schien ein Innenhof mit einer schmalen kreisförmigen Auffahrt zu sein. In der Mitte dieser Auffahrt war eine Art Explosion in Grün zu sehen, die einzelnen Pflanzen konnte ich unmöglich ausmachen. Rechts in der Ecke war ein Geräteschuppen. Daneben standen zwei einzelne zweistöckige Häuser in L-Form. Um die Tiefe des Grundstücks zu nutzen, waren sie so ausgerichtet, dass sie wie ein auf dem Kopf stehendes U angeordnet waren. Hadley hatte in dem weißen Haus mit den dunkelgrünen Fensterläden gewohnt.

»Wie viele Wohnungen gibt es hier, und welche ist Hadleys?«, fragte ich, als Mr Cataliades ausgestiegen war und hinter mir herging.

»In der Wohnung im Erdgeschoss wohnt die Hausbesitzerin, und das Stockwerk darüber steht jetzt Ihnen zur Verfügung, solange Sie es wünschen. Die Königin hat die Miete gezahlt, seit der Besitz Ihrer Cousine in die Erbmasse eingegangen ist. Sie fand es nicht angemessen, dass das Erbe für diese Zahlungen herangezogen wird.« Das war sogar für Mr Cataliades' Verhältnisse eine höchst förmliche Rede gewesen.

Ich fühlte mich ganz schlapp vor Erschöpfung und konnte nur sagen: »Warum hat sie Hadleys Sachen nicht einfach einlagern lassen? Da hätte ich sie genauso gut durchsehen können.«

»Sie werden sich daran gewöhnen, wie die Königin die Dinge handhabt«, erwiderte er.

Nicht, wenn ich dabei irgendwas zu sagen hätte. »Würden Sie mir jetzt erst mal Hadleys Wohnung zeigen, damit ich auspacken und noch etwas schlafen kann?«

»Natürlich. Und außerdem wird es bald hell, Mr Compton muss in die Residenz der Königin, wo er sich an einen Tagesruheort zurückziehen kann.« Im Dunkeln konnte ich gerade noch erkennen, dass Diantha schon die Treppe hinaufgestiegen war, die sich an der hinten liegenden kurzen Querfront des Hauses hinaufschwang. »Ihre Schlüssel, Miss Stackhouse. Wenn Diantha wieder herunterkommt, werden wir abfahren. Die Besitzerin können Sie morgen kennen lernen.«

»Sicher.« Ich stieg die Stufen hinauf und hielt mich an dem schmiedeeisernen Geländer fest. So etwas hatte ich überhaupt nicht erwartet. Ich dachte, Hadleys Wohnung wäre so eine wie die im Kingfisher Arms, dem einzigen Apartmenthaus in Bon Temps. Das hier glich viel eher einem kleinen Herrenhaus.

Diantha hatte meine Reisetasche vor einer von zwei Türen im oberen Stockwerk abgestellt. Eine überdachte Außengalerie lief an den Fenstern und Türen des oberen Stockwerks entlang, die den Leuten, die im Erdgeschoss saßen, Schatten spendete. Und um all diese Türen und hohen Fenster waberte Magie. Jetzt erkannte ich den Geruch und das Gefühl. Das Apartment war versiegelt, nicht nur einfach abgeschlossen.

Ich zögerte, den Schlüssel in der Hand.

»Es wird Sie erkennen«, rief der Rechtsanwalt von unten. Also schloss ich die Tür mit ungeschickten Händen auf und öffnete sie. Warme Luft strömte mir entgegen. Das Apartment war seit Wochen abgeschlossen gewesen. Ich fragte mich, ob hier mal jemand zwischendurch gelüftet hatte. Die Luft roch nicht wirklich schlecht, nur abgestanden; vermutlich war die Klimaanlage nicht abgeschaltet worden. Ich tastete nach dem erstbesten Licht in meiner Nähe, einer Lampe auf einem Tischchen rechts von der Tür. Ein golden leuchtendes Licht fiel auf den glänzenden Parkettfußboden und einige nachgebildete Antiquitäten (vielleicht waren es auch echte). Ich ging weiter in die Wohnung hinein und versuchte mir Hadley darin vorzustellen. Hadley, die auf dem Abschlussfoto der Highschool schwarzen Lippenstift getragen und ihre Schuhe immer beim Discounter gekauft hatte.

»Sookie«, sagte Bill hinter mir, damit ich merkte, dass er vor der Türschwelle stand. Ich erlaubte ihm nicht, hereinzukommen.

»Ich muss jetzt ins Bett, Bill. Wir sehen uns morgen. Habe ich die Telefonnummer der Königin?«

»Cataliades hat eine Karte in deine Handtasche gesteckt, als du geschlafen hast.«

»Gut. Na dann, gute Nacht.«

Und damit schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu. Das war unhöflich, okay, aber er hatte da so herumgestanden, und ich wollte einfach nicht mit ihm reden. Es hatte mich ziemlich erschüttert, dass ich mit dem Kopf auf seinem Schoß aufgewacht war; als wären wir noch immer ein Paar.

Eine Minute später hörte ich, wie sich seine Schritte die Treppe hinunter entfernten. Selten in meinem Leben war ich so erleichtert gewesen, allein zu sein. Wegen der langen Fahrt und des kurzen Schlafs fühlte ich mich verwirrt, zerknittert und spürte das dringende Verlangen, mir die Zähne zu putzen. Zeit, die Wohnung zu erkunden, mit besonderem Augenmerk auf das Badezimmer.

Ich sah mich aufmerksam um. Im kürzeren Querteil der Wohnung befand sich das Wohnzimmer, in dem ich jetzt stand. An der rechten Wand des großen offenen Raums befand sich eine integrierte Küche. Zu meiner Linken, der längeren Längsseite des Hauses, öffnete sich ein Flur, gesäumt von französischen Fenstern, die alle auf die Balkongalerie hinausführten. An der anderen Seite des Flurs befanden sich Türen.

Ich nahm meine Tasche und machte mich auf den Weg den Flur entlang. Dabei spähte ich in jedes offene Zimmer. Den Lichtschalter, der den Flur erleuchten würde, fand ich nicht, auch wenn er irgendwo sein musste, denn in die Decke waren in regelmäßigen Abständen Strahler eingelassen.

Durch die Fenster fiel helles Mondlicht, so dass ich genug sehen konnte. Der erste Raum war gleich das Badezimmer, Gott sei Dank. Doch schon eine Sekunde später stellte ich fest, dass es nicht Hadleys Bad gewesen war. Es war sehr klein und sehr sauber, mit schmaler Duschkabine, Toilette und Waschbecken, aber es fehlten Toilettenartikel und alle persönlichen Sachen. Ich ging weiter und sah durch die nächste Tür in einen Raum, der wohl als Gästezimmer gedacht war. Hadley hatte einen Schreibtisch darin gehabt, mit Computer und allerlei Zubehör, das interessierte mich nicht sonderlich. Außer einem Schlafsofa stand noch ein mit Büchern und Kartons vollgestopftes Regal darin, das würde ich mir morgen genauer ansehen.

Die nächste Tür war geschlossen, aber ich öffnete sie, um kurz einen Blick hineinzuwerfen. Es war ein tiefer schmaler begehbarer Schrank, mit lauter vollgestellten Borden. Was für Sachen es im Einzelnen waren, erkannte ich auf die Schnelle nicht.

Erleichtert sah ich, dass der nächste Raum nun wirklich das große Badezimmer war, mit Dusche, Badewanne, großem Waschbecken und eingebautem Frisiertisch. Überall standen Kosmetikartikel herum, der elektrische Frisierstab steckte noch in der Steckdose. Fünf oder sechs Parfümflakons standen aufgereiht auf einem Bord, und im Wäschekorb lagen gebrauchte Handtücher mit dunklen Flecken. Ich hielt die Nase dicht daran; und jetzt verströmten sie einen erschreckenden Geruch. Ich verstand nicht, wieso dieser Geruch nicht das ganze Apartment durchzogen hatte. Ich nahm den ganzen Wäschekorb, öffnete eines der großen Fenster im Flur und stellte ihn nach draußen. Im Badezimmer ließ ich das Licht an, denn da wollte ich gleich wieder hinein.

Die letzte Tür, die im rechten Winkel zu den anderen lag und das Ende des Flurs bildete, führte in Hadleys Schlafzimmer. Es war recht groß, wenn auch nicht so groß wie mein eigenes zu Hause. Darin befand sich noch ein großer eingebauter Schrank, der mit Kleidung vollgestopft war. Das Bett war gemacht, nicht gerade ein Markenzeichen von Hadley. Ich fragte mich, wer in dem Apartment gewesen sein mochte, seit sie ermordet worden war. Jemand war hier gewesen, bevor die Wohnung mit Magie versiegelt wurde. Das Schlafzimmer war natürlich völlig abgedunkelt. Die Fenster waren mit wunderschönen Holzläden verschlossen, und zwei Türen führten in den Raum hinein. Zwischen ihnen war gerade so viel Platz, dass dort eine Person stehen konnte.

Ich stellte meine Reisetasche neben Hadleys Kommode und wühlte darin herum, bis ich meinen Kulturbeutel und die Tampons gefunden hatte. Auf dem Weg zurück ins Badezimmer zog ich schon Zahnbürste und Zahnpasta aus dem kleinen Beutel und freute mich, dass ich mir endlich die Zähne putzen und das Gesicht waschen konnte. Danach fühlte ich mich wieder etwas mehr wie ein Mensch. Ich schaltete das Licht im Badezimmer aus und schlug die Decken des Betts zurück, das breit und niedrig war. Über die Laken erschrak ich so sehr, dass ich einen Augenblick dastand und den Mund verzog: scheußlicher, schwarzer Satin, Herrgott noch mal! Und noch nicht mal echter Satin, sondern Synthetik. Ich bin absolut für Baumwolle. Egal, ich würde nicht so spät in der Nacht anfangen, die Bettwäsche zu wechseln. Und womöglich hatte sie gar keine andere.

Ich stieg in das überbreite Bett - nein, ich schlidderte in das überbreite Bett, und nach einigem unbehaglichen Hin und Her gelang es mir doch relativ schnell, in dieser Bettwäsche einzuschlafen.