Kapitel 18

Und so machten wir uns auf den Weg - die Königin, Jade Flower, Andre, Sigebert, Wybert und ich. Vielleicht war ich schon mal in so bunt gemischter Gesellschaft unterwegs gewesen, erinnern konnte ich mich jedenfalls nicht daran. Nachdem wir endlos lange Büroflure durchwandert hatten, kamen wir endlich in einer bewachten Garage an und stiegen in eine Stretchlimousine. Andre wies einen der Wachmänner mit einer Geste an, den Wagen zu fahren; der Vampir mit dem Kindergesicht hatte bisher noch kein einziges Wort gesprochen. Erfreut sah ich, das der Fahrer Rasul war, der mir im Vergleich zu den anderen wie ein alter Freund erschien.

Sigebert und Wybert fühlten sich überhaupt nicht wohl in der Limousine. Die beiden waren die unflexibelsten Vampire, die ich je getroffen hatte, und ich fragte mich, ob ihre langandauernde Beziehung zur Königin nicht ihr Verderben gewesen war. Sie hatten sich nicht immer wieder anpassen und mit der Zeit gehen müssen, was für Vampire wirklich überlebensnotwendig gewesen war vor der Großen Enthüllung. In Ländern, die nicht so tolerant wie Amerika reagiert hatten und die Existenz von Vampiren noch heute bestritten, war das noch immer so. Diese beiden Vampire wären glücklich und zufrieden gewesen in Fellen und handgewebten Kleidern, und wenn sie dazu noch grobgenähte Lederstiefel gehabt hätten und Schilde am Arm - perfekt.

»Ihr Sheriff, Eric, kam gestern Nacht zu mir, um mit mir zu reden«, sagte die Königin zu mir.

»Er hat mich im Krankenhaus besucht«, erwiderte ich in der Hoffnung, ebenso beiläufig zu klingen wie sie.

»Sie wissen, dass der neue Vampir, also der, der ein Werwolf war - dass er gar nicht anders konnte, nicht wahr?«

»So was höre ich öfter von Vampiren.« Ich erinnerte mich sehr gut, wie oft Bill Dinge damit erklärt hatte, dass er nicht anders konnte. Ich hatte es ihm immer geglaubt, doch inzwischen war ich mir nicht mehr so sicher. Eigentlich hatte ich das alles gründlich satt, und ich fühlte mich so elend, dass ich kaum mehr genug Energie aufbrachte, mich noch um Hadleys Apartment, ihre Hinterlassenschaft und ihre Angelegenheiten zu kümmern. Doch wenn ich jetzt unverrichteter Dinge nach Bon Temps zurückfuhr, würde ich dort nur grübelnd herumsitzen.

Es war an der Zeit, mir selbst etwas Mut zuzusprechen. Streng sagte ich mir, dass ich mich ein, zwei Augenblicke dieses Abends doch bereits wohlgefühlt hatte und dass jeden Tag noch ein paar weitere Augenblicke dazukommen würden, bis ich schließlich meine frühere Zufriedenheit wiederfinden würde. Ich hatte das Leben stets genossen und wusste, ich würde es auch wieder tun. Nur musste ich bis dahin erst diese schlechte Zeit durchstehen.

Illusionen hatte ich mir nie gemacht. Denn wenn man Gedanken lesen konnte, blieben einem kaum Zweifel, wie schlecht selbst die besten Menschen sein konnten.

Doch das hier hatte ich weiß Gott nicht kommen sehen.

Zu meinem eigenen Entsetzen begannen mir Tränen die Wangen hinunterzulaufen. Ich zog ein Papiertaschentuch aus meiner kleinen Handtasche und tupfte mir das Gesicht ab. Die Vampire starrten mich alle unverhohlen an, sogar Jade Flowers Gesichtsausdruck war endlich einmal leicht zu deuten: reine Verachtung.

»Haben Sie Schmerzen?«, fragte die Königin und zeigte auf meinen Arm.

Ich glaube nicht, dass es sie wirklich interessierte. Sie zwang sich vermutlich schon so lange zu dieser von Menschen erwarteten höflichen Nachfrage, dass es zum Reflex geworden war.

»Im Herzen«, sagte ich und hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen.

»Oh«, erwiderte sie. »Bill?«

»Ja.« Ich schluckte und tat mein Bestes, um diesen Gefühlsausbruch in den Griff zu bekommen.

»Ich habe um Hadley getrauert«, sagte sie unerwartet.

»Es war gut, dass sie jemanden hatte, der das tat.« Und einen Moment später fügte ich hinzu: »Ich wäre froh gewesen, wenn ich früher von ihrem Tod erfahren hätte.« Noch vorsichtiger konnte ich es leider nicht ausdrücken. Erst Wochen nach dem Tod meiner Cousine hatte ich davon erfahren.

»Es hatte seine Gründe, dass ich Cataliades erst so spät zu Ihnen geschickt habe«, erklärte Sophie-Anne. Ihr glattes Gesicht und ihre klaren Augen waren so undurchdringlich wie eine Wand aus Eis, und ich hatte stark das Gefühl, dass sie über dieses Thema lieber nicht reden wollte. Ich sah die Königin an und versuchte, irgendeinen Hinweis aufzufangen, und sie gab mir einen fast unmerklichen Wink mit den Augen zu Jade Flower hin, die rechts neben ihr saß. Wie Jade Flower mit diesem Schwert auf dem Rücken so entspannt dasitzen konnte, war mir ein Rätsel. Ich hatte allerdings das untrügliche Gefühl, dass sie trotz ausdrucksloser Miene und gelangweiltem Blick alles aufmerksam aufsog, was gesprochen wurde.

Sicherheitshalber beschloss ich, gar nichts mehr zu sagen, und so verging der Rest der Fahrt in Schweigen.

Rasul wollte die Limousine nicht in den Innenhof fahren, und ich erinnerte mich, dass auch Diantha auf der Straße geparkt hatte. Er ging nach hinten, öffnete der Königin die Tür, und Andre stieg als Erster aus, sah sich lange in alle Richtungen um und nickte, als er die Lage für sicher genug hielt. Rasul stand mit dem Gewehr in der Hand da und ließ seine Blicke durch die Gegend schweifen, Andre war genauso wachsam.

Als Nächste glitt Jade Flower aus dem Wagen und begann ebenfalls, sich umzusehen. Die drei schützten die Königin mit ihren Körpern, als sie sie in den Innenhof führten. Dann stieg Sigebert aus, die Streitaxt in der Hand, und wartete auf mich. Als ich neben ihm auf dem Gehweg stand, kam Wybert hinterher, und die beiden führten mich im Gegensatz zur Königin ohne große Umstände durch die offene Einfahrt.

Ich hatte die Königin bei mir zu Hause gesehen, ohne Bewachung und nur begleitet von Cataliades, und in ihrem Büro, bewacht von nur einer Person. Bisher hatte ich mir nicht klargemacht, wie wichtig Sicherheit für Sophie-Anne sein musste, wie gefährdet ihre Machtposition zu sein schien. Ich fragte mich, gegen wen all diese Bewacher sie schützten. Wer wollte die Königin von Louisiana töten? Vielleicht waren alle Vampirherrscher großer Gefahr ausgesetzt - vielleicht aber auch nur Sophie-Anne. Und plötzlich erschien mir die Vampirkonferenz im Herbst viel furchterregender als vorher.

Der Innenhof war gut beleuchtet, und in der runden Auffahrt stand Amelia mit ihren drei Freunden. Nur fürs Protokoll: ein altes Weib auf einem Besenstiel war nicht darunter. Einer war ein Teenager, der aussah wie ein Missionar der Mormonen: schwarze Hose, weißes Hemd, schwarzer Schlips, polierte schwarze Schuhe. An dem Baum mitten in der runden Auffahrt lehnte ein Fahrrad. Vielleicht war er ja tatsächlich ein Mormonen-Missionar. Er wirkte so jung, dass er vielleicht noch im Wachstum war. Die große Frau neben ihm war Mitte sechzig, hatte allerdings einen enorm durchtrainierten Körper. Sie trug ein enganliegendes T-Shirt, eine Strickhose, Sandalen und große runde Ohrringe. Die dritte Hexe war ungefähr in meinem Alter, so Mitte bis Ende zwanzig, und Lateinamerikanerin, mit vollen Wangen, knallroten Lippen und wellig herabfallendem schwarzem Haar. Sie war ziemlich klein, verfügte dafür aber über mehr Kurven als ein S. Sigebert war ganz hin und weg von ihr (das sah ich an seinem lüsternen Blick), doch sie ignorierte die Vampire allesamt, als könnte sie sie gar nicht sehen.

Amelia war vielleicht etwas überrascht von dem Zustrom an Vampiren, aber sie stellte sehr gelassen und souverän alle einander vor. Die Königin hatte sich offensichtlich schon zu erkennen gegeben, ehe ich hinzukam. »Majestät«, sagte Amelia gerade, »dies sind meine Kollegen.« Schwungvoll holte sie mit dem Arm aus, als würde sie einem Publikum einen neuen Showkandidaten präsentieren. »Bob Jessup, Patsy Seilers, Terencia Rodriguez - Terry genannt.«

Die Hexen warfen einander einen kurzen Blick zu, ehe sie der Königin knapp zunickten. Schwer zu sagen, wie diese den Mangel an Ehrerbietung aufnahm, ihr Gesicht war ausdruckslos - doch sie nickte ihnen ebenfalls zu, und die Atmosphäre blieb erträglich.

»Wir bereiten gerade die Rekonstruktion vor«, sagte Amelia. Sie klang vollkommen zuversichtlich, aber ich sah ihre Hände zittern. Und ihre Gedanken waren auch nicht annähernd so zuversichtlich wie ihre Stimme. Amelia ging im Kopf noch einmal alle Vorbereitungen durch, listete die magischen Dinge auf, die sie zusammengesucht hatte, und unterzog jeden ihren Mitstreiter erneut einer Einschätzung, um sich selbst zu vergewissern, dass alle dem Ritual auch wirklich gewachsen waren. Amelia war, wie ich etwas verspätet bemerkte, durch und durch Perfektionistin.

Ich fragte mich, wo Claudine war. Vielleicht hatte sie die Vampire kommen sehen und sich klugerweise gleich in eine dunkle Ecke verzogen. Während ich mich nach ihr umsah, überfiel mich einen Augenblick lang plötzlich hinterrücks der Kummer, den ich zu verdrängen versuchte. Es war wie in der Zeit nach dem Tod meiner Großmutter, wenn ich etwas ganz Alltägliches tat, wie etwa Zähne putzen, und mich von einem Moment auf den anderen auf einmal Dunkelheit umgeben hatte. Ich brauchte dann zwei, drei Sekunden, um mich wieder zu fangen und an die Oberfläche zurückzuschwimmen.

Das würde noch eine ganze Weile andauern. Ich musste einfach die Zähne zusammenbeißen und es ertragen.

Ganz bewusst wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder den anderen um mich herum zu. Die Hexen nahmen ihre Positionen ein. Bob setzte sich im Innenhof auf einen Gartenstuhl. Mäßig interessiert sah ich zu, wie er aus einem wiederverschließbaren Plastikbeutel etwas Pulver herausschüttelte und ein Feuerzeug aus der Brusttasche seines Hemds nahm. Amelia lief die Treppe zum Apartment hinauf, Terry stellte sich auf halber Treppenhöhe auf, und die große ältere Hexe Patsy stand bereits auf der Galerie und sah zu uns hinunter.

»Wenn Sie zusehen möchten, sollten Sie es am besten von hier oben tun«, rief Amelia, und die Königin und ich gingen die Treppe hinauf und zu Amelia ins Wohnzimmer. Die Bodyguards sammelten sich bei der Einfahrt, um so weit wie möglich von der Magie entfernt zu sein. Sogar Jade Flower schien Respekt vor der Macht zu haben, die jetzt angerufen werden sollte, auch wenn sie die Hexen als solche nicht respektierte.

Selbstverständlich folgte Andre seiner Königin die Treppe hinauf, nicht sehr begeistert allerdings, wie seine hängenden Schultern vermuten ließen.

Es tat gut, mich auf etwas anderes konzentrieren zu können und nicht nur über mein Elend zu grübeln. Aufmerksam hörte ich Amelia zu, die aussah, als würde sie zum Strandvolleyball gehen wollen, uns stattdessen aber den magischen Zauber erklärte, der gleich in Gang gesetzt werden sollte.

»Wir haben die Zeit auf zwei Stunden vor Jakes Ankunft eingestellt«, sagte sie. »Es könnte also sein, dass wir eine Menge langweiliges und belangloses Zeug zu sehen bekommen. Wenn das zu lange dauert, werde ich versuchen, die Ereignisse zu beschleunigen.«

Plötzlich hatte ich eine Eingebung. Ich würde Amelia bitten, mit mir nach Bon Temps zu kommen und diese Prozedur in meinem Hof zu wiederholen. Dann würden wir erfahren, was der armen Gladiola widerfahren war. Ich fühlte mich viel besser, als mir diese Idee gekommen war, und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Hier und Jetzt zu.

»Beginnt!«, rief Amelia und fing selbst sofort an, Verse zu rezitieren, vermutlich in Latein. Es klang wie ein leises Echo, als die anderen Hexen in ihre Worte einstimmten.

Wir wussten nicht, was uns erwartete, und es wurde allmählich langweilig, als dieser Singsang sich mehrere Minuten lang hinzog und immer noch weiterging. Was sollte ich tun, wenn die Königin sich richtig zu langweilen begann?

Und dann kam meine Cousine Hadley ins Wohnzimmer.

Ich war so schockiert, dass ich sie beinahe angesprochen hätte. Nach einem zweiten Blick erkannte ich, dass es natürlich nicht die echte Hadley war. Die Gestalt hatte ihre Figur und bewegte sich wie sie, doch dieses Scheinbild bestand aus nichts als flüchtigen Farben. Ihr Haar war nicht richtig schwarz, sondern nur eine glitzernde Anmutung von Schwarz. Sie wirkte, als wäre sie aus einem flüssigen Stoff gemacht. Man sah die Oberfläche geradezu schimmern. Neugierig betrachtete ich sie: Wir hatten uns so lange nicht gesehen. Hadley war natürlich älter geworden, und ihr Gesicht wirkte härter mit dem bitteren Zug um den Mund und dem skeptischen Blick.

Die rekonstruierte Gestalt nahm selbstverständlich niemand anderen im Zimmer wahr, ging zu dem kleinen Sofa hinüber, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Ich spähte kurz auf den Bildschirm, um einen Blick aufs Programm zu werfen, doch es war natürlich nichts zu sehen.

Als ich eine Bewegung neben mir spürte, sah ich die Vampirkönigin an. Wenn ich eben schockiert gewesen war, so war sie elektrisiert. Ich hatte nie geglaubt, dass die Königin Hadley tatsächlich geliebt hatte, doch jetzt sah ich es. Soweit ihr das überhaupt möglich war, musste Sophie-Anne meine Cousine geliebt haben.

Wir sahen, wie Hadley hin und wieder zum Fernseher blickte, während sie sich die Zehennägel lackierte, ein Phantomglas Blut trank und einen Anruf machte. Hören konnten wir sie nicht. Wir konnten sie nur sehen, und auch das nur in engen Grenzen. Die Dinge um sie herum wurden für uns erst sichtbar, wenn sie sie berührte, und so konnten wir erst dann sicher sein, was vor sich ging, wenn sie es auch tatsächlich tat. Als sie sich vorbeugte, um das Glas auf den Tisch zu stellen, sahen wir, solange sie es festhielt, das Glas, den Tisch mit den anderen Dingen darauf und Hadley, alles zusammen und alles mit dieser glitzernden Patina. Der Geistertisch hatte sich über den realen Tisch gelegt, der nicht exakt an derselben Stelle stand wie in jener Nacht, was das Ganze nur noch verrückter erscheinen ließ. Als Hadley das Glas losließ, verschwanden sowohl Glas als auch Tisch wieder.

Andre stand mit weit aufgerissenen Augen da und starrte die Szene an, als ich mich nach ihm umdrehte. So viel Ausdruck hatte ich in seinem Kindergesicht vorher noch nie gesehen. Die Königin trauerte, ich war fasziniert und bekümmert, Andre aber war einfach nur total verängstigt.

Wir sahen noch ein paar Minuten länger zu, bis Hadley offensichtlich ein Klopfen an der Tür hörte. Ihr Kopf drehte sich zur Tür, und sie wirkte überrascht. Sie stand auf (das Phantomsofa, das vielleicht fünf Zentimeter weiter rechts stand als das reale, wurde unsichtbar) und ging durchs Zimmer. Durch meine Sneakers, die neben dem Sofa standen, ging sie einfach hindurch.

Okay, es war komplett irre. Dieser ganze Zauber war komplett irre, aber faszinierend.

Die anderen draußen im Hof hatten den Besucher sicher die Treppe hinaufgehen sehen, denn ich hörte einen der Berts - ich glaube, es war Wybert - laut fluchen. Als Hadley die Phantomtür öffnete, stieß die auf der Galerie positionierte Patsy die reale Tür auf, damit wir etwas sehen konnten. Amelias verdrossener Miene entnahm ich, dass sie sich ärgerte, daran nicht schon vorher gedacht zu haben.

Vor der Tür stand (als Phantom) Waldo, der Vampir, der jahrelang zum Gefolge der Königin gehört hatte. In den Jahren vor seinem Tod war er sehr oft bestraft worden, weshalb er eine total vernarbte Haut hatte. Und da Waldo vor diesen Bestrafungen ein ultradünner Albino gewesen war, hatte er schrecklich ausgesehen in der einzigen Nacht, in der ich ihm begegnet war. Als schimmernde Phantomgestalt sah er wirklich viel besser aus.

Hadley wirkte überrascht über diesen Besuch. Der Ausdruck stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er leicht zu erkennen war. Dann zeigte ihr Gesicht Abscheu, doch sie trat einen Schritt zurück und ließ ihn herein.

Während sie zum Tisch zurückging und wieder nach dem Glas griff, sah Waldo sich in alle Richtungen um, um zu prüfen, ob noch jemand da war. Ich konnte der Versuchung, Hadley zu warnen, kaum widerstehen.

Nach einem Gespräch, das wir natürlich nicht verstehen konnten, zuckte Hadley die Achseln. Wahrscheinlich ging es um den Plan, von dem Waldo mir in der Nacht erzählt hatte, als er gestand, meine Cousine getötet zu haben. Er hatte behauptet, es sei Hadleys Idee gewesen, zum St.- Louis-Friedhof zu gehen und dort den Geist der Voodoo-Königin Marie Laveau anzurufen. Diese Szene hier ließ jedoch vermuten, dass Waldo selbst den Ausflug vorgeschlagen hatte.

»Was hat er da in der Hand?«, fragte Amelia so leise wie möglich, und Patsy kam von der Galerie herein, um nachzusehen.

»Eine Broschüre«, erwiderte sie in ebenso gedämpftem Ton wie Amelia. »Über Marie Laveau.«

Hadley sah auf ihre Armbanduhr und sagte etwas zu Waldo. Etwas Unfreundliches, ihrer Miene und der Kopfbewegung zur Tür hin nach zu urteilen. Es war ein »Nein«, so deutlich ausgesprochen, wie Körpersprache es nur ermöglichte.

Und dennoch war sie am nächsten Abend mit ihm gegangen. Weshalb hatte sie ihre Meinung geändert? Was war in der Zwischenzeit passiert?

Hadley ging durch den Flur ins Schlafzimmer, und wir folgten ihr. Als wir uns noch einmal nach Waldo umdrehten, sahen wir ihn das Apartment verlassen. Die Broschüre legte er auf das Tischchen neben der Tür.

Es hatte etwas seltsam Voyeuristisches, mit Amelia, der Königin und Andre in Hadleys Schlafzimmer zu stehen und zuzusehen, wie sie den Bademantel aus- und ein sehr schickes Kleid anzog.

»Das hat sie zur Party in der Nacht vor der Hochzeit getragen«, sagte die Königin leise. Hadley trug ein hautenges, tief ausgeschnittenes rotes Kleid, das mit dunkelroten Pailletten besetzt war, und dazu traumhaft schöne Krokopumps. Hadley wollte dafür sorgen, dass die Königin ihren Verlust wirklich bedauerte.

Wir sahen Hadley vorm Spiegel stehen, sich verschönern, zweimal die Frisur ändern und sehr lange über die richtige Lippenstiftfarbe grübeln. So langsam legte sich bei mir die erste Faszination, und von mir aus hätten wir diese Rekonstruktion etwas »vorspulen« können. Doch die Königin konnte gar nicht genug davon bekommen, ihrer Geliebten zuzusehen. Ich würde mich nicht beschweren, zumal die Königin ja die Rechnung bezahlte.

Hadley drehte sich vor ihrem Standspiegel hin und her, schien zufrieden mit dem, was sie sah, und brach plötzlich in Tränen aus.

»Oh, mein Schatz«, flüsterte die Königin. »Es tut mir so leid.«

Ich wusste haargenau, wie Hadley sich fühlte, und zum ersten Mal spürte ich zu meiner Cousine so etwas wie eine verwandtschaftliche Bindung, die in den langen Jahren der Trennung verloren gegangen war. Diese Rekonstruktion zeigte die Nacht vor der Hochzeit der Königin, und Hadley würde auf eine Party gehen, auf der die Königin und ihr Verlobter als Paar auftreten würden. Und in der Nacht darauf würde sie an ihrer Hochzeit teilnehmen müssen; jedenfalls nahm sie das an. Sie wusste ja nicht, dass sie dann bereits tot sein würde, ein für allemal und endgültig tot.

»Es kommt jemand«, rief Bob leise, seine Stimme wehte durch die offenen Fenster zu uns herein. In der Phantomwelt der Geistergestalten musste die Türklingel geläutet haben, denn Hadley richtete sich plötzlich auf, warf einen letzten Blick in den Spiegel und riss sich deutlich sichtbar zusammen. Mit inzwischen schon vertrautem Hüftschwung ging Hadley den Flur entlang, im Gesicht ein kühles Lächeln.

Sie öffnete die Tür, und da Patsy die reale Tür offen gelassen hatte, konnten wir es diesmal auch wahrnehmen. Jake Purifoy trug einen Smoking und sah sehr elegant aus, ganz wie Amelia gesagt hatte. Ich spähte zu Amelia hinüber, als er ins Apartment trat; sie betrachtete die Phantomgestalt betrübt.

Es gefiel ihm nicht besonders, dass er die Geliebte der Königin abholen musste, das sah man, aber er war viel zu diplomatisch und höflich, um Hadley gegenüber irgendeine Andeutung zu machen. Geduldig stand er da, während sie nach einem winzigen Handtäschchen griff, ihr Haar ein letztes Mal ordnete, und dann gingen die beiden hinaus.

»Sie kommen die Treppe runter«, rief Bob, und wir traten auf die Galerie hinaus und schauten ihnen ans Geländer gelehnt hinterher. Die beiden Phantomgestalten stiegen in einen glänzenden Wagen und fuhren aus dem Innenhof hinaus. Und dort endete auch der Bereich, der mit dem Zauber belegt war. Der Geisterwagen löste sich genau dort in nichts auf, wo die anderen Vampire die Zufahrt zur Straße bewachten. Sigebert und Wybert standen mit großen Augen feierlich ernst da, Jade Flower wirkte verdrossen, und Rasul lächelte leicht amüsiert, als würde er schon jetzt an die gute Geschichte denken, die er den anderen Wachleuten in der Kantine erzählen konnte.

»Zeit, die Ereignisse zu beschleunigen«, rief Amelia, die mittlerweile müde aussah. Wie groß mochte die Anstrengung, ein solches Hexenwerk in Gang zu setzen, wohl sein?

Patsy, Terry, Bob und Amelia begannen, gemeinsam einen neuen Zauberspruch zu rezitieren. Wenn es ein schwaches Glied in der Kette gab, so war es Terry. Die kleine Hexe mit dem runden Gesicht schwitzte und zitterte, so viel Mühe schien ihr die Aufrechterhaltung des Zaubers zu bereiten. Mit wachsender Sorge sah ich, wie angespannt ihr Gesicht wirkte.

»Nur keine Hektik!«, ermahnte Amelia ihr Team. Sie hatte die Anzeichen wohl auch so gedeutet wie ich. Dann begannen sie zu singen, und Terry schien ihre Kräfte wieder etwas besser einteilen zu können, jetzt sah sie nicht mehr so verzweifelt aus.

»Hört... jetzt... auf«, sagte Amelia, und der Gesang verebbte.

Der glänzende Wagen erschien wieder in der Einfahrt und fuhr diesmal genau durch Sigebert hindurch, der einen Schritt vorgetreten war; wahrscheinlich, um Terry besser beobachten zu können. Und dann blieb der Wagen plötzlich mitten in der Einfahrt stehen.

Hadley stieß die Tür auf und stieg aus. Sie weinte, und ihrem Gesicht nach zu urteilen weinte sie schon länger. Jake Purifoy erschien an der Fahrerseite, legte die Hand oben auf die Tür und redete über das Autodach hinweg mit Hadley.

Und jetzt sprach zum ersten Mal der persönliche Bodyguard der Königin. Andre sagte: »Hadley, hören Sie auf damit. Die Leute werden es mitkriegen, und der neue König wird etwas dagegen unternehmen. Er ist der eifersüchtige Typ, wissen Sie. Es ist ihm egal -« Hier verlor Andre den Faden und schüttelte den Kopf. »Es geht ihm darum, das Gesicht zu wahren.«

Wir alle starrten Andre an. Was redete er da?

Der Bodyguard der Königin richtete seinen Blick auf die ektoplasmische Hadley und sagte: »Aber ich ertrage das nicht, Jake. Ich weiß, dass sie es aus politischen Gründen tun muss. Aber sie schickt mich weg! Ich ertrage das nicht.«

Andre konnte Lippen lesen. Sogar ektoplasmische Lippen. Und wieder begann er zu sprechen.

»Hadley, gehen Sie nach oben und überschlafen Sie es. Sie können nicht zur Hochzeit kommen, wenn Sie dort eine Szene machen wollen. Sie wissen, dass Sie damit die Königin in eine peinliche Lage bringen und die Zeremonie ruinieren. Mein Boss bringt mich um, wenn das passiert. Diese Hochzeit ist das größte Event, das wir je organisiert haben.«

Er sprach von Quinn, erkannte ich. Jake Purifoy war also tatsächlich der Angestellte, den Quinn vermisste.

»Ich ertrage das nicht«, wiederholte Hadley. Sie schrie jetzt, wie ihre Mundbewegungen verrieten, doch zum Glück sah Andre keinen Anlass, das nachzuahmen. Es war schaurig genug, dass die Worte aus seinem Mund kamen. »Ich habe etwas Schreckliches getan!« Die melodramatischen Worte klangen sehr seltsam in Andres monotonem Tonfall.

Hadley rannte die Treppe hinauf, und Terry trat automatisch beiseite, um sie vorbeizulassen. Dann schloss sie die (bereits offene) Tür auf und stürmte in ihr Apartment. Wir drehten uns nach Jake um. Jake seufzte, richtete sich auf und trat einen Schritt vom Wagen weg, der daraufhin verschwand. Dann holte er ein Handy hervor und wählte eine Nummer. Er sprach kaum eine Minute lang ins Telefon hinein, ohne eine Pause für eine Antwort zu machen. Daher war wohl davon auszugehen, dass er an eine Mailbox geraten war.

Andre sagte: »Boss, ich muss Ihnen leider sagen, dass es hier Ärger gibt. Die Geliebte wird sich bei der Hochzeit nicht beherrschen können.«

O mein Gott, Quinn hat doch hoffentlich nicht Hadley umbringen lassen!, dachte ich und mir wurde richtiggehend schlecht bei dem Gedanken. Noch während mir diese Idee kam, ging Jake ans hintere Ende des Wagens, der wieder erschien, als er ihn berührte. Liebevoll strich er mit der Hand über den Kofferraum, kam der Einfahrt und dem Bereich außerhalb des Hofes näher und näher, und plötzlich tauchte von dort eine Hand auf und packte ihn. Der Zauber der Hexen erstreckte sich nicht auf den Bereich jenseits der Mauer, so dass der restliche Körper nicht zu sehen war. Wie sich da eine sich aus dem Nichts materialisierende Hand den völlig arglosen Werwolf schnappte, war so schauerlich, dass es aus einem Horrorfilm hätte stammen können.

Es war wie in einem dieser Träume, in denen man die Gefahr herannahen sieht, aber nicht sprechen kann. Natürlich hätte keine unserer Warnungen noch verhindern können, was längst schon geschehen war. Aber wir waren alle schockiert. Die Zwillingsbrüder Bert schrieen auf, Jade Flower zog ihr Schwert, ohne dass ich auch nur eine Handbewegung wahrgenommen hatte, und die Königin stand mit offenem Mund da.

Nur noch Jakes Füße waren zu sehen, die wild zappelten. Und auf einmal lagen sie reglos da.

Wir alle sahen einander schockiert an, sogar die Hexen, deren Konzentration schwankte und nachließ, bis sich im Innenhof alles in Nebel aufzulösen begann.

»Hexen!«, rief Amelia streng. »Zurück an die Arbeit!« Schon einen Augenblick später hatten sich die Nebel wieder geklärt. Doch Jakes Füße lagen immer noch reglos da, und jetzt schien ihr Abbild immer schwächer zu werden. Es schwand dahin, wie alle anderen leblosen Dinge auch. Ein paar Sekunden später erschien meine Cousine oben auf der Galerie. Vorsichtig sah sie hinunter, sie wirkte besorgt, wahrscheinlich hatte sie etwas gehört. Wir sahen es ihr an, als sie den Körper entdeckte; in rasendem Vampirtempo eilte sie die Treppe herunter. Sie fegte durch die Einfahrt und wurde unsichtbar, doch schon im nächsten Augenblick war sie wieder da und zog den Körper an den Füßen in den Hof. Solange sie ihn berührte, war er ebenso sichtbar wie vorhin das Glas oder der Tisch. Dann beugte sie sich über ihn und sah, dass Jake eine große blutende Wunde am Hals hatte. Bei dem Anblick wurde mir fast übel, was ich von den Vampiren allerdings nicht behaupten kann, sie wirkten geradezu begeistert.

Die ektoplasmische Hadley sah sich um und hoffte auf Hilfe, aber es kam natürlich keine. Sie wirkte verzweifelt unentschlossen. Ihre Hände lagen an Jakes Hals und fühlten beständig seinen Puls.

Schließlich beugte sie sich über ihn und sagte etwas zu ihm.

»Es ist die einzige Möglichkeit«, sprach Andre ihre Worte nach. »Auch wenn Sie mich vielleicht hassen werden, es ist die einzige Möglichkeit.« Wir sahen, wie Hadley sich mit den eigenen Fangzähnen ins Handgelenk biss und die blutende Wunde an Jakes Mund hielt; wie ihr Blut nach und nach hineintropfte; wie er genug Kraft schöpfte, um nach ihr zu greifen und sie an sich zu ziehen. Als Hadley sich endlich wieder von Jake löste, wirkte sie erschöpft, und er selbst schien unter krampfartigen Konvulsionen zu leiden.

»Der Werwolf wird kein guter Vampir«, flüsterte Sigebert. »Sah ich nie, dass ein Werwolf herübergeholt wird.«

Das war sicher ziemlich hart für den armen Jake Purifoy. Als ich seine Leiden sah, begann ich, ihm die Schrecken des vergangenen Abends zu verzeihen. Meine Cousine Hadley hob ihn auf und trug ihn die Treppe hinauf, wobei sie immer wieder kurz stehen blieb, um sich umzusehen. Ich folgte ihr ein weiteres Mal zum Apartment hinauf, die Königin hinter mir. Wir sahen, wie Hadley Jake den zerrissenen Anzug auszog und ihm Handtücher um den Hals wickelte, um so die Blutung zu stoppen. Danach legte sie ihn in den begehbaren Schrank, deckte ihn sorgfältig zu und schloss die Tür, damit die Morgensonne den neuen Vampir nicht verbrannte, der erst einmal drei Tage im Dunkeln ruhen musste. Die blutigen Handtücher stopfte Hadley in den Wäschekorb. Schließlich legte sie noch ein Handtuch vor den Schlitz zwischen Schranktür und Boden, damit Jake auch wirklich in Sicherheit war.

Dann saß sie im Flur und dachte nach. Eine Weile später griff sie nach ihrem Handy und tippte eine Nummer ein.

»Sie fragt nach Waldo«, sagte Andre, und als Hadleys Lippen sich wieder bewegten: »Sie verabredet sich für die nächste Nacht mit ihm. Sie sagt, sie müsse mit dem Geist von Marie Laveau reden, falls der Geist wirklich komme. Sie brauche einen Rat, sagt sie.« Nach ein paar weiteren Worten klappte Hadley das Handy zu und stand auf. Den zerrissenen und blutigen Anzug des ehemaligen Werwolfs steckte sie in einen Müllsack.

»Die Handtücher solltest du da auch reintun«, flüsterte ich ihr leise zu, doch sie ließ sie im Wäschekorb, wo ich sie bei meiner Ankunft finden würde. Hadley fischte noch die Autoschlüssel aus der Tasche der Anzughose, ging die Treppe hinunter, stieg in den Wagen und brauste mit dem Müllsack davon.