Kapitel 5

Ich war froh, dass Jason ein wenig zu spät dran war. Den Speck hatte ich schon gebraten, und ich legte gerade die Hamburgerklopse in die Pfanne, als er ankam. Zwei Brötchen lagen bereits auf Jasons Teller, und ich hatte eine Tüte Kartoffelchips auf den Tisch gelegt und ein Glas Eistee an seinen Platz gestellt.

Jason kam wie immer herein, ohne anzuklopfen. Er hatte sich nicht allzu sehr verändert, seit er ein Werpanther war, zumindest auf den ersten Blick nicht. Er war noch immer blond und attraktiv, und damit meine ich, auf so eine altmodische Weise attraktiv; er sah sehr gut aus, er war sogar einer der Männer, die alle Blicke auf sich zogen, wenn sie einen Raum betraten. Sein Charakter war allerdings nicht immer ganz so gut gewesen wie sein Aussehen. Doch seit er zum Gestaltwandler geworden war, benahm er sich irgendwie viel netter. Woran das lag, hatte ich noch nicht herausgefunden. Vielleicht befriedigte die Tatsache, dass er jetzt einmal im Monat zu einem wilden Tier wurde, tief in seinem Inneren einen Wunsch, von dem er gar nichts geahnt hatte.

Da er durch Biss und nicht von Geburt Gestaltwandler war, verwandelte er sich nicht vollständig, sondern wurde zu einer Art Mischwesen. Anfangs war er darüber sehr enttäuscht gewesen, aber er hatte sich inzwischen damit abgefunden. Seit einigen Monaten war er mit einer Werpantherin namens Crystal zusammen. Crystal lebte in einem kleinen Dorf ein paar Meilen draußen auf dem Land - und eins kann ich euch versichern: von Bon Temps in Louisiana aus gesehen bedeutet das wirklich draußen auf dem Land.

Nach einem kurzen Tischgebet begannen wir zu essen. Jason griff nicht mit gewohntem Appetit zu. Ich fand den Hamburger recht gut, also lag es wohl daran, dass ihm irgendwas Wichtiges durch den Kopf ging. Seit mein Bruder sich in einen Werpanther verwandelte, konnte ich seine Gedanken nicht mehr so klar erkennen wie früher.

Zum Glück, sage ich nur.

Nach zwei Bissen legte Jason seinen Hamburger auf den Teller und richtete sich auf. Er wollte reden. »Ich muss dir was sagen«, begann er. »Crystal will nicht, dass ich es irgendjemandem erzähle, aber ich mache mir richtig Sorgen um sie. Gestern hatte Crystal eine... eine Fehlgeburt.«

Ein paar Sekunden lang schloss ich die Augen, und mir schossen ungefähr zwanzig Gedanken durch den Kopf, von denen ich nicht einen zu Ende bringen konnte. »Das tut mir wirklich leid«, sagte ich. »Wie geht es ihr?«

Jason sah mich über seinen vollen Teller hinweg an, das Essen schien er völlig vergessen zu haben. »Sie will nicht zum Arzt gehen.«

Entsetzt starrte ich ihn an. »Aber das muss sie«, sagte ich. »Sie muss eine Kürettage machen lassen.« Ich wusste, nach einer Fehlgeburt musste man ins Krankenhaus, und dort nahmen die Ärzte dann diese Operation vor. Meine Kollegin Arlene hatte nach ihrer Fehlgeburt eine Kürettage machen lassen und mir mehrmals davon erzählt. Ausführlich. »Im Krankenhaus werden sie dann ...«, begann ich, doch Jason schnitt mir das Wort ab.

»Hey, so genau will ich's gar nicht wissen.« Er wirkte verlegen. »Ich weiß nur, dass Crystal nicht ins Krankenhaus geht, weil sie eine Werpantherin ist. Sie wurde ja eingeliefert, als ihr damals das Wildschwein den Oberschenkel aufschlitzte, genau wie Calvin, nachdem auf ihn geschossen wurde. Aber sie sind beide so schnell wieder gesund geworden, dass es Gerede im Ärztezimmer gab. Das hat sie mitgekriegt, und jetzt will sie nicht wieder hin. Sie ist bei mir zu Hause, aber es geht ihr... es geht ihr nicht gut. Eigentlich geht es ihr sogar immer schlechter und nicht besser.«

»Oh, oh. Inwiefern?«, fragte ich.

»Sie hat starke Blutungen, und sie kommt nicht auf die Beine.« Er schluckte schwer. »Sie kann kaum stehen, noch viel weniger gehen.«

»Hast du Calvin angerufen?« Calvin Norris ist Crystals Onkel und der Anführer der Werpanther in dem kleinen Dorf Hotshot draußen auf dem Land.

»Sie will nicht, dass ich Calvin anrufe. Sie hat Angst, dass Calvin mich umbringt, weil ich sie geschwängert habe. Crystal wollte ja nicht mal, dass ich es dir erzähle. Aber ich brauche einfach Hilfe.«

Ihre Mutter lebte zwar nicht mehr, doch Crystal hatte jede Menge weibliche Verwandte in Hotshot. Ich hatte noch nie ein Kind bekommen, ich war noch nicht mal schwanger gewesen, und ich war keine Gestaltwandlerin. Jede dieser Verwandten wusste mehr darüber als ich, und das sagte ich Jason auch.

»Ich will nicht, dass sie so lange aufrecht sitzen muss, bis wir in Hotshot sind, und schon gar nicht in meinem Pick-up.« Mein Bruder wirkte so stur wie ein Esel.

Eine entsetzliche Minute lang glaubte ich, Jasons größte Sorge sei, dass Crystal die Polster seines geliebten Pick-up mit ihrem Blut beschmutzen könnte. Ich wollte ihm gerade an die Kehle springen, als er hinzufügte: »Die Stoßdämpfer sind völlig hinüber, und ich habe Angst, dass das Holpern auf dieser miserablen Landstraße für Crystal alles nur noch schlimmer macht.«

Dann mussten eben ihre Verwandten zu Crystal kommen. Aber noch ehe ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, dass Jason einen Grund finden würde, der auch gegen diesen Vorschlag sprach. Er hatte irgendeinen Plan. »Okay, was soll ich tun?«

»Hast du nicht mal erzählt, dass die Vampire nach diesem Angriff auf dich eine spezielle Ärztin geholt haben, die die Verletzungen an deinem Rücken behandelt hat?«

An den Abend werde ich gar nicht gern erinnert. Auf meinem Rücken sind heute noch feine weiße Narben zu sehen, die ich dem Angriff der Mänade verdanke. Das Gift an ihren Klauen hat mich fast getötet. »Ja«, sagte ich langsam. »Dr. Ludwig.« Dr. Ludwig war nicht nur die Ärztin aller unheimlichen und seltsamen Geschöpfe, sondern selbst höchst eigenartig. Sie war extrem klein - sehr, sehr klein. Und ihre Gesichtszüge konnte man beim besten Willen nicht gerade regelmäßig nennen. Es würde mich zutiefst wundern, wenn Dr. Ludwig überhaupt ein menschliches Wesen war. Beim Wettkampf der Leitwolfkandidaten hatte ich sie ein zweites Mal gesehen, und das war wieder in Shreveport gewesen. Die Chancen, dass sie dort auch wohnte, standen also nicht schlecht.

Um nicht das Naheliegendste zu versäumen, holte ich das Telefonbuch von Shreveport aus der Schublade unter dem Wandtelefon und schlug ihren Namen nach. Eine Dr. Amy Ludwig stand drin. Amy? Ich unterdrückte ein Auflachen.

Es machte mich ziemlich nervös, dass ich einfach aus heiterem Himmel bei Dr. Ludwig anrufen sollte. Aber Jason war so besorgt, da durfte ich mich wegen eines läppischen Anrufs nicht so anstellen.

Es klingelte viermal. Dann sprang ein Band an und eine mechanisch klingende Stimme sagte: »Sie haben die Nummer von Dr. Amy Ludwig gewählt. Dr. Ludwig nimmt keine neuen Patienten an, ob mit oder ohne Krankenversicherung. Dr. Ludwig möchte weder Proben von Medikamenten zugeschickt bekommen, noch braucht sie irgendeine Versicherung. Sie hat auch kein Interesse daran, ihr Geld anzulegen oder es für wohltätige Zwecke zu spenden, die sie nicht selbst ausgesucht hat.« Es folgte ein langes Schweigen, und in dieser Zeit legten die meisten Anrufer vermutlich wieder auf. Ich legte nicht auf. Einen Augenblick später hörte ich ein Klicken in der Leitung.

»Hallo?«, sagte jemand leise, aber recht schroff.

»Dr. Ludwig?«, fragte ich vorsichtig.

»Ja? Ich nehme keine neuen Patienten mehr an, das haben Sie doch gehört! Ich habe viel zu tun!«

»Ich bin Sookie Stackhouse. Spreche ich mit der Dr. Ludwig, die mich in Erics Büro im Fangtasia behandelt hat?«

»Sind Sie das junge Mädchen, das beinahe am Gift der Mänade gestorben wäre?«

»Ja. Wir haben uns vor ein paar Wochen wiedergesehen, erinnern Sie sich?«

»Und wo war das?« Sie erinnerte sich sehr gut, doch sie wollte noch einen weiteren Beweis dafür haben, dass ich wirklich Sookie Stackhouse war.

»In einem leerstehenden Gebäude in einem Industriepark.«

»Und wer hat die Veranstaltung dort geleitet?«

»Ein großer, kahlköpfiger Mann namens Quinn.«

»Oh, na gut.« Sie seufzte. »Was wollen Sie denn? Ich habe ziemlich viel zu tun.«

»Eine Patientin braucht Ihre Hilfe. Kommen Sie bitte und sehen Sie sie sich an.«

»Bringen Sie sie zu mir.«

»Es geht ihr so schlecht, dass sie nicht transportiert werden kann.«

Ich hörte Dr. Ludwig vor sich hin murmeln, konnte aber kein Wort verstehen.

»Puuh«, machte die Ärztin. »Oh, na gut, Miss Stackhouse. Sagen Sie mir, was ihr fehlt.«

Ich erklärte es ihr, so gut ich konnte. Jason wanderte inzwischen in der Küche auf und ab, er konnte vor lauter Sorge nicht mehr still sitzen.

»Dummköpfe. Narren«, sagte Dr. Ludwig. »Beschreiben Sie mir, wie ich zu Ihnen komme. Dann können Sie mich zu dem jungen Mädchen fahren.«

»Ich muss wohl schon zur Arbeit aufbrechen, ehe Sie hier ankommen«, erwiderte ich, nachdem ich einen Blick auf die Uhr geworfen und überschlagen hatte, wie lange die Fahrt der Ärztin von Shreveport hierher dauern würde. »Mein Bruder wird auf Sie warten.«

»Liegt die Verantwortung bei ihm?«

Ich wusste nicht, sprach sie jetzt von der Bezahlung ihrer Rechnung oder von der Schwangerschaft? Egal, ich sagte ihr einfach, dass in dieser Sache definitiv alle Verantwortung bei Jason lag.

»Sie kommt«, beruhigte ich meinen Bruder, nachdem ich Dr. Ludwig noch den Weg erklärt und aufgelegt hatte. »Ich weiß nicht, wie viel sie verlangt, aber ich habe ihr gesagt, du zahlst.«

»Sicher, sicher. Und woran erkenne ich sie?«

»Du kannst sie gar nicht verwechseln. Sie sagt, sie lässt sich fahren. Sie selbst ist nicht mal groß genug, um übers Lenkrad hinwegzusehen.«

Ich machte den Abwasch, während Jason weiter nervös herumlief. Er rief Crystal an, und was er zu hören bekam, schien einigermaßen okay zu sein. Schließlich bat ich ihn, hinauszugehen und die alten Wespennester vom Geräteschuppen abzuschlagen. Wenn er schon nicht stillsitzen konnte, sollte er sich wenigstens nützlich machen.

Während ich einen Berg Wäsche in die Waschmaschine stopfte und meine Kellnerinnenuniform anzog (schwarze Hose, weißes T-Shirt mit dem Schriftzug »Merlotte's« über der linken Brust, schwarze Adidas), dachte ich über die Situation nach. Ich war nicht gerade begeistert. Ich machte mir Sorgen um Crystal - doch ich mochte sie nicht. Es tat mir zwar leid, dass sie das Baby verloren hatte, denn das war bestimmt ein schreckliches Erlebnis. Aber irgendwie war ich auch froh darüber, denn ich wollte wahrhaftig nicht, dass Jason diese Frau heiratete; und das hätte er sicher getan, wenn sie das Kind bekommen hätte. Ich suchte nach etwas, das mich auf andere Gedanken bringen würde, und öffnete den Schrank, um mein neues Outfit anzusehen, das ich bei Tara für meine Verabredung gekauft hatte. Aber auch das machte mir keinen richtigen Spaß.

Schließlich tat ich das, was ich hatte tun wollen, ehe ich Jasons Neuigkeit erfuhr: Ich griff nach einem Buch und setzte mich in einen der Korbstühle auf der vorderen Veranda, las ab und zu ein paar Zeilen und bewunderte zwischendrin den Birnbaum vor dem Haus, der voller weißer Blüten war und in dem die Bienen summten.

Die Sonne schien strahlend, die Narzissen standen in schönster Blüte, und ich hatte am Freitag eine Verabredung. Und mit dem Anruf bei Dr. Ludwig hatte ich für diesen Tag bereits meine gute Tat vollbracht. Langsam ließ das drückende Gefühl der Sorge etwas nach.

Von Zeit zu Zeit drangen unbestimmbare Geräusche aus dem Hof hinter dem Haus zu mir herüber. Jason hatte also etwas gefunden, womit er sich beschäftigen konnte, nachdem die alten Wespennester entfernt waren. Vielleicht jätete er ja in den Blumenbeeten Unkraut. Meine Stimmung hob sich. Das wäre wirklich nett, denn die Begeisterung meiner Großmutter für die Gartenarbeit hatte ich nie geteilt. Ich konnte mich zwar an der blühenden Pracht erfreuen, all die Arbeit, die das kostete, machte mir jedoch keinen großen Spaß.

Nachdem ich schon mehrmals auf die Uhr gesehen hatte, war ich erleichtert, als ich endlich einen großen perlmuttfarbenen Cadillac die Auffahrt heraufkommen und vor dem Haus parken sah. Eine winzige Gestalt saß auf dem Beifahrersitz. Die Fahrertür wurde geöffnet, und eine Werwölfin namens Amanda stieg aus. Wir beide hatten schon die eine oder andere Streitigkeit gehabt, waren aber im Guten auseinandergegangen. Ich war froh, jemanden zu sehen, den ich kannte. Amanda, die aussah wie die typische Mittelschichtsmutti, war Mitte dreißig, und ihr rotes Haar wirkte im Gegensatz zu dem meiner Freundin Arlene völlig natürlich.

»Sookie, hallo«, rief sie. »Ich war ja froh, als Dr. Ludwig mir sagte, wohin wir fahren, weil ich den Weg schon kannte.«

»Bist du etwa ihre neue Fahrerin? Hey, der Haarschnitt gefällt mir übrigens.«

»Oh, danke.« Amanda hatte ihr Haar kurzschneiden lassen und trug jetzt eine fast jungenhafte Frisur, die ihr merkwürdigerweise gut stand. Merkwürdigerweise deshalb, weil Amanda eine Frau mit ganz eindeutig weiblichen Formen war.

»Hab mich noch nicht ganz dran gewöhnt«, gab sie zu und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Eigentlich ist mein ältester Sohn Dr. Ludwigs Fahrer, aber der ist heute natürlich in der Schule. Ist es deine Schwägerin, die krank ist?«

»Die Verlobte meines Bruder«, sagte ich und versuchte, dem Ganzen einen ehrbaren Anstrich zu geben. »Crystal. Sie ist eine Werpantherin.«

Amanda ließ fast so etwas wie Respekt erkennen. Werwölfe haben für andere Gestaltwandler oft nichts als Verachtung übrig, aber etwas so Eindrucksvolles wie ein Panther ist natürlich etwas anderes. »Ich habe schon mal gehört, dass es irgendwo hier draußen eine Siedlung von Werpanthern geben soll. Bin aber bisher noch nie einem begegnet.«

»Ich muss jetzt zur Arbeit, aber mein Bruder zeigt euch den Weg. Sie ist bei ihm zu Hause.«

»Du stehst der Verlobten deines Bruders wohl nicht so besonders nahe?«

Ich war bestürzt über ihre Schlussfolgerung, dass ich nicht sehr besorgt um Crystals Wohlergehen sei. Vielleicht hätte ich an ihr Bett eilen und Jason allein hier auf die Ärztin warten lassen sollen? Plötzlich kam mir meine Freude über den Frieden des Augenblicks vorhin auf der Veranda wie eine gefühllose Vernachlässigung von Crystal vor. Doch jetzt war keine Zeit, um in Schuldgefühlen zu schwelgen.

»Ehrlich gesagt«, begann ich, »nein, ich stehe ihr nicht besonders nahe. Jason schien nicht anzunehmen, dass ich irgendwas für sie tun könnte, und da sie mich nicht viel besser leiden kann als ich sie, hätte meine Anwesenheit ihr sicher nicht geholfen.«

Amanda zuckte die Achseln. »Okay, wo ist dein Bruder?«

Zu meiner Erleichterung kam Jason in diesem Augenblick um die Hausecke. »Oh, sehr gut«, sagte er. »Sind Sie Dr. Ludwig?«

»Nein«, erwiderte Amanda. »Dr. Ludwig sitzt im Auto, ich fahre sie.«

»Ich zeige Ihnen den Weg. Ich habe mit Crystal telefoniert, es geht ihr noch immer nicht besser.«

Mein schlechtes Gewissen regte sich erneut. »Ruf mich im Merlotte's an, Jason, und erzähl mir, wie's ihr geht, okay? Ich kann nach der Arbeit vorbeikommen und über Nacht bleiben, wenn du mich brauchst.«

»Danke, Schwesterherz.« Er umarmte mich kurz und wirkte dann sehr verlegen. »Ah, ich bin ziemlich froh, dass ich nicht auf Crystal gehört und es geheim gehalten habe. Sie hat nicht geglaubt, dass du ihr helfen würdest.«

»Also, ich würde von mir doch wenigstens behaupten, dass ich helfe, wenn Hilfe gebraucht wird, ganz egal, wie gut ich mich mit der betreffenden Person verstehe.« Hatte Crystal etwa geglaubt, dass ihre schlimme Lage mir gleichgültig wäre oder mich sogar freuen würde?

Betroffen sah ich den beiden sehr verschiedenen Wagen hinterher, als sie die Auffahrt zur Hummingbird Road entlangfuhren. Dann schloss ich das Haus ab und setzte mich, nicht gerade frohgestimmt, ans Steuer meines eigenen Autos.

Um die Kette der Ereignisse an diesem bisher schon ereignisreichen Tag gar nicht erst abreißen zu lassen, rief Sam mich in sein Büro, sobald ich das Merlotte's durch die Hintertür betrat.

Ich ging natürlich hin, um zu sehen, was er wollte, und wusste schon im Voraus, dass noch ein paar andere Leute bei ihm waren. Aber ich war entsetzt, als ich erkannte, dass Pater Riordan mich in einen Hinterhalt gelockt hatte.

Außer meinem Boss waren vier weitere Personen in Sams Büro. Sam wirkte nicht gerade glücklich über die Situation, versuchte jedoch gute Miene zu machen. Es überraschte mich, dass auch Pater Riordan nicht glücklich wirkte, und zwar wegen der Leute in seiner Begleitung. Ich hatte schon einen Verdacht, wer sie waren. Mist. Pater Riordan hatte nicht nur das Ehepaar Pelt im Schlepptau, sondern auch noch ein etwa siebzehnjähriges Mädchen, das Debbies Schwester Sandra sein musste.

Die Familie Pelt sah mich aufmerksam an. Die Eltern waren groß und schlank. Der Vater trug eine Brille und wurde langsam kahl, seine Ohren standen vom Kopf ab wie Henkel von einem Krug. Die Mutter war attraktiv, wenn auch etwas zu sehr zurechtgemacht. Sie trug einen Hosenanzug von Donna Karan und hatte eine Handtasche mit einem berühmten Logo dabei. Sandra war etwas lässiger gekleidet, sehr enganliegende Jeans und ein T-Shirt - allerdings auch teure Marken.

Ich hörte kaum, wie Pater Riordan uns einander förmlich vorstellte, so überwältigt war ich von meinem Ärger, dass die Pelts es wagten, sich derart in mein Leben zu drängen. Ich hatte Pater Riordan gesagt, dass ich sie nicht sehen wollte, und trotzdem waren sie jetzt hier. Das Ehepaar Pelt musterte mich mit geradezu gierigen Blicken. Wild hatte Maria-Star sie genannt. Verzweifelt war das Wort, das mir einfiel.

Sandra war ein ganz anderes Kaliber: Da sie das zweite Kind war, konnte sie keine Gestaltwandlerin sein so wie ihre Eltern. Aber sie war auch kein gewöhnlicher Mensch. Ich schnappte irgendwelche eigenartigen Hirnströmungen auf. Sandra Pelt war eine Gestaltwandlerin. Irgendwo hatte ich mal gehört, dass die Pelts ihre zweite Tochter stets vorgezogen hatten und Debbie nicht so nahestanden. Als ich jetzt ein paar weitere Informationen empfing, verstand ich auch, warum. Sandra Pelt mochte vielleicht minderjährig sein, aber sie war furchterregend. Sie war eine vollblütige Werwölfin.

Aber das konnte nicht sein, es sei denn ...

Aha. Debbie Pelt, eine Werfüchsin, war adoptiert gewesen. Ich wusste, dass Werwölfe zur Unfruchtbarkeit neigten. Vermutlich hatten die Pelts die Hoffnung schließlich aufgegeben, ihren eigenen kleinen Werwolf zu bekommen, und ein Baby adoptiert, das wenigstens irgendeine Art von Gestaltwandler war. Selbst eine vollblütige Werfüchsin musste ihnen noch lieber gewesen sein als ein ganz gewöhnlicher Mensch. Und dann hatten die Pelts noch eine Tochter adoptiert, eine Werwölfin.

»Sookie«, sagte Pater Riordan in seinem charmanten, aber heute gar nicht fröhlich klingenden irischen Singsang, »Barbara und Gordon standen heute bei mir vor der Tür. Als ich ihnen erzählte, dass Sie bereits alles zu Debbies Verschwinden gesagt haben, was Sie sagen können, wollten sie sich damit nicht zufriedengeben. Sie bestanden darauf, dass ich sie hierherbringe.«

Meine Wut auf den Priester flaute etwas ab, und ein anderes Gefühl machte sich breit. Ich war besorgt wegen dieser unvermuteten Begegnung und spürte, wie mir mein typisches nervöses Lächeln auf die Lippen trat. Ich strahlte die Pelts an.

»Es tut mir sehr leid für Sie«, sagte ich. »Es ist sicher furchtbar, dass Sie keine Antwort auf die Frage finden, was Debbie zugestoßen ist. Aber ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst noch erzählen kann.«

Eine Träne rann Barbara Pelt über die Wange. Ich holte ein Taschentuch aus meiner Handtasche, reichte es ihr, und sie tupfte sich das Gesicht ab. »Debbie glaubte, Sie wollten ihr Alcide wegnehmen«, sagte Barbara.

Über Tote soll man ja nichts Schlechtes sagen, aber in Debbie Pelts Fall war das einfach unmöglich. »Mrs Pelt, ich will ganz offen sein«, begann ich. Nur nicht zu offen. »Debbie war zum Zeitpunkt ihres Verschwindens mit einem anderen verlobt, einem Mann namens Clausen, wenn ich mich richtig erinnere.« Barbara Pelt nickte widerstrebend. »Aufgrund dieser Verlobung hatte Alcide jedes Recht, sich zu treffen, mit wem er wollte, und wir sind nur kurze Zeit miteinander ausgegangen.« Das war nicht gelogen. »Wir haben uns seit Wochen nicht mehr gesehen, und inzwischen ist er mit einer anderen zusammen. Da hat Debbie sich wirklich gründlich geirrt.«

Sandra Pelt, die Tochter, biss sich auf die Unterlippe. Sie war sehr dünn, hatte dunkelbraune Haare, nur wenig Make-up auf der reinen Haut und strahlend weiße, ebenmäßige Zähne. Ihre kreisrunden Ohrreifen hätten leicht als Sitzplatz für einen Papagei herhalten können, so groß waren sie.

Wut stand in ihrem Gesicht. Ihr gefiel nicht, was ich da sagte, kein bisschen. Sie war ein Teenager, und die unterschiedlichsten Gefühle wallten in ihr auf. Ich konnte mich noch erinnern, wie ich mich in Sandras Alter gefühlt hatte, und sie tat mir leid.

»Da Sie beide gekannt haben«, sagte Barbara Pelt vorsichtig und ohne auf meine Worte einzugehen, »müssen Sie doch gewusst haben, dass Debbie mit Alcide eine starke Hassliebe verband - verbindet, egal, was Debbie gesagt oder getan hat.«

»Oh, das stimmt allerdings«, erwiderte ich, vielleicht nicht sonderlich respektvoll. Wenn es jemanden gab, dem ich einen Gefallen getan hatte, indem ich Debbie Pelt umbrachte, so war es Alcide Herveaux. Sonst hätten er und La Pelt sich wahrscheinlich noch über Jahre, wenn nicht ihr Leben lang gegenseitig terrorisiert.

Sam wandte sich ab, weil das Telefon klingelte, aber ich hatte das Lächeln in seinem Gesicht gesehen.

»Wir glauben einfach, dass Sie noch irgendetwas wissen müssen, irgendein winziges Detail, das uns helfen könnte, herauszufinden, was aus unserer Tochter geworden ist. Wenn - wenn sie tot sein sollte, wollen wir, dass ihr Mörder seine gerechte Strafe erhält.«

Ich sah die Pelts eine ganze Weile lang an und hörte, wie Sam im Hintergrund erstaunt auf etwas reagierte, das ihm am Telefon gesagt wurde.

»Mr und Mrs Pelt, Sandra«, sagte ich. »Ich habe mit der Polizei geredet, als Debbie verschwand, und ich war zu jeder Art Zusammenarbeit bereit. Ich habe mit Ihren Privatdetektiven geredet, als sie hierherkamen, an meinen Arbeitsplatz, so wie jetzt Sie. Ich habe sie in mein Haus gelassen. Ich habe ihre Fragen beantwortet.« Nur nicht ganz aufrichtig. »Ihr Verlust tut mir wirklich leid, und ich habe Verständnis für Ihren Wunsch, herauszufinden, was aus Debbie geworden ist«, fuhr ich langsam fort, so dass ich mir jedes Wort zurechtlegen konnte. Ich holte tief Luft. »Aber das muss endlich aufhören. Genug ist genug. Ich kann Ihnen nichts anderes sagen als das, was ich bereits gesagt habe.«

Sam legte auf und zwängte sich zu meiner Überraschung an mir vorbei und eilte in die Bar. Er hatte zu keinem im Büro ein Wort gesagt. Auch Pater Riordan sah ihm überrascht nach. Jetzt wollte ich die Pelts nur noch so schnell wie möglich loswerden. Irgendwas war da im Gange.

»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Gordon Pelt steif, der sich zum ersten Mal in das Gespräch einschaltete. Es klang nicht, als ob er sich hier besonders wohlfühlte. »Und ich weiß auch, dass unser Verhalten vielleicht nicht sehr höflich gewesen ist. Aber Sie werden es sicher entschuldigen, wenn Sie bedenken, was wir durchgemacht haben.«

»Oh, natürlich«, erwiderte ich, was weder die komplette Wahrheit noch eine komplette Lüge war. Ich schloss meine Handtasche, legte sie in die Schublade, wo alle Kellnerinnen ihre Sachen aufbewahrten, und eilte in die Bar.

Der Aufruhr war förmlich zu spüren. Irgendwas war nicht in Ordnung; fast jedes Hirn im Merlotte's sandte Gedanken der Aufregung gemischt mit Sorge und einer Tendenz zur Panik aus.

»Was ist los?«, fragte ich Sam und trat hinter die Bar.

»Ich habe Holly gerade gesagt, dass die Schule angerufen hat. Hollys kleiner Sohn wird vermisst.«

Es lief mir eiskalt den Rücken herunter. »Was ist passiert?«

»Danielles Mutter nimmt Cody gewöhnlich von der Schule mit, wenn sie Danielles Tochter Ashley abholt.« Danielle Gray und Holly Cleary waren die ganze Schulzeit über dicke Freundinnen gewesen, und ihre Freundschaft hatte sich auch über die Scheidungen der beiden hinaus fortgesetzt. Sie arbeiteten am liebsten in derselben Schicht im Merlotte's. Danielles Mutter, Mary Jane Jasper, war nach Danielles Trennung von ihrem Mann ihr Rettungsanker gewesen, und von Zeit zu Zeit erstreckte sich Mrs Jaspers Großzügigkeit auch auf Holly. Ashley musste ungefähr acht Jahre alt sein, und Danielles Sohn Marc Robert war vier. Hollys einziger Sohn Cody war sechs und ging in die Grundschule.

»Hat die Schule etwa erlaubt, dass Cody von jemand anderem mitgenommen wird?« Soweit ich wusste, achteten die Lehrer stets sehr streng darauf, dass kein Erwachsener ohne schriftliche Erlaubnis die Kinder abholte.

»Niemand weiß, was mit dem kleinen Kerl passiert ist. Die Aufsicht führende Lehrerin, Halleigh Robinson, hat draußen gestanden und zugesehen, wie die Kinder in die Autos ihrer Eltern stiegen. Sie sagt, Cody sei plötzlich eingefallen, dass er ein Bild für seine Mama im Klassenzimmer vergessen hat, und er ist noch mal zurück in die Schule gerannt. Sie hat ihn nicht wieder rauskommen sehen, konnte ihn aber auch in der Schule nicht finden, als sie nach ihm suchte.«

»Mrs Jasper hat also vor der Schule auf Cody gewartet?«

»Ja, sie war zum Schluss die Letzte, die noch da war, zusammen mit ihren Enkeln.«

»Das ist ja furchtbar. David weiß vermutlich von nichts, oder?« Hollys Exmann David lebte in Springhill und hatte wieder geheiratet. Ich bemerkte, dass die Pelts gingen: ein Problem weniger.

»Anscheinend nicht. Holly hat bei ihm in der Arbeit angerufen, er war da, den ganzen Nachmittag. Er hat dann seine neue Frau angerufen, die gerade erst ihre eigenen Kinder von der Schule in Springhill abgeholt hatte. Die Polizei ist bei ihnen vorbeigefahren und hat nach Cody gesucht, nur um sicherzugehen. Jetzt ist David auf dem Weg hierher.«

Holly saß an einem der Tische, und auch wenn ihr Gesicht keine Spuren von Tränen zeigte, war der Ausdruck in ihren Augen entsetzlich. Danielle war neben ihr in die Hocke gegangen, hielt ihre Hand und sprach eindringlich und leise auf sie ein. Alcee Beck, einer der Detectives der örtlichen Polizei, saß am selben Tisch. Vor ihm lagen Block und Stift, und er sprach gerade in sein Handy.

»Hat die Polizei die Schule durchsucht?«

»Ja, Andy ist gerade dort. Und Kevin und Kenya auch.« Kevin und Kenya waren zwei uniformierte Streifenpolizisten. »Bud Dearborn telefoniert schon und lässt übers Radio und die Zeitungen Alarm im ganzen Landkreis geben.«

Einen Augenblick lang dachte ich daran, wie Halleigh sich wohl fühlen musste; sie war erst dreiundzwanzig, und dies war ihre erste Stelle als Lehrerin. Sie hatte nichts falsch gemacht, jedenfalls soweit ich es beurteilen konnte - doch wenn ein Kind vermisst wird, entgeht keiner den Schuldzuweisungen.

Ich überlegte, wie ich helfen könnte. Das war doch die Gelegenheit, meine kleine telepathische Behinderung mal für was Gutes einzusetzen. Seit Jahren schwieg ich über alle möglichen Dinge. Die Leute wollten nicht wissen, was ich wusste. Die Leute wollten mit einer, die eine so seltsame Gabe hatte, nichts zu tun haben. Und damit ich nicht ganz vereinsamte, hatte ich eben gelernt zu schweigen. Denn es fiel den Leuten ziemlich leicht, meine seltsame Begabung zu vergessen oder als Unsinn abzutun, wenn ich ihnen keine direkten Beweise vorlegte.

Würdet ihr mit einer Frau befreundet sein wollen, die weiß, dass ihr euren Freund betrügt und mit wem? Würdet ihr als Mann mit einer Frau zusammen sein wollen, die weiß, dass ihr davon träumt, Spitzenunterwäsche zu tragen? Würdet ihr mit einer Frau zu tun haben wollen, die eure geheimsten Ansichten über andere Leute kennt und all eure so sorgsam verborgenen Fehler?

Nein, ich schätze, das wollt ihr nicht.

Doch wenn es um ein kleines Kind ging, wie konnte ich mich da zurückhalten?

Ich sah Sam an, und traurig erwiderte er meinen Blick. »Ziemlich harte Entscheidung, was, chérie?«, sagte er. »Was wirst du tun?«

»Was nötig ist, aber ich muss es sofort tun«, erwiderte ich.

Er nickte. »Geh zur Schule«, sagte Sam. Und so ging ich.