Kapitel 8

In einem Durcheinander, das ich nicht in einzelne Bewegungen auflösen konnte, nahm ich sehr deutlich wahr, dass ein Tier mich gegen Quinn stieß, der vorwärts stolperte. Ich lag schon auf dem Asphalt unter einem knurrenden Wesen, das halb Mensch, halb Wolf war, als Quinn herumfuhr. Und in dem Moment tauchte, scheinbar aus dem Nichts, noch ein Werwolf auf und sprang Quinn auf den Rücken.

Das Wesen über mir war ein ganz junger Halbwerwolf, so jung noch, dass er erst in den letzten Wochen gebissen worden sein konnte. Er war unglaublich aufgeregt und hatte angriffen, bevor er seine Teilverwandlung vollzogen hatte. Sein Gesicht verlängerte sich immer noch zu einer Schnauze, während er versuchte, mir die Luft abzudrücken. Er würde nie die schöne Gestalt eines vollblütigen Werwolfs haben, denn er war »durch Biss, nicht von Geburt« zum Werwolf geworden, wie die Gestaltwandler es ausdrückten. Er hatte noch Arme und Beine eines Menschen, aber sein Körper war mit Fell bedeckt, und er hatte den Kopf eines Wolfes. Doch er war genauso wild wie ein Vollblüter.

Ich zerrte an seinen Händen, mit denen er brutal meinen Hals umklammerte. Heute Abend trug ich meine Silberkette leider nicht. Ich hatte überlegt, dass das ziemlich geschmacklos wäre, da ich ja schließlich mit einem Gestaltwandler verabredet war. Eine Geschmacklosigkeit, die mir das Leben hätte retten können, schoss es mir durch den Kopf. Es war der letzte schlüssige Gedanke, den ich einige Minuten lang fassen konnte.

Der Werwolf kniete mit gespreizten Beinen über mir, also hob ich ruckartig die Knie und versuchte, ihm einen so schmerzhaften Stoß zu versetzen, dass er mich losließ. Ich hörte entsetzte Schreie von ein paar versprengten Passanten, und auch der Werwolf, der Quinn angegriffen hatte, schrie jetzt gellend. Ich sah ihn wie eine Kanonenkugel durch die Luft fliegen. Dann packte eine große Hand den Angreifer über mir am Nacken und hob ihn hoch. Unglücklicherweise ließ das Mischwesen meinen Hals nicht los. Ich wurde ebenfalls hochgezogen, und der Klammergriff schnürte mir immer stärker die Luft ab.

Quinn hatte meine verzweifelte Lage wohl erkannt, denn er versetzte dem Werwolf mit der freien Hand einen so harten Schlag, dass dessen Kopf zurückgerissen wurde und er meinen Hals losließ.

Dann packte ihn Quinn bei den Schultern und schleuderte ihn zur Seite. Der Junge schlug auf dem Asphalt auf und rührte sich nicht mehr.

»Sookie«, sagte Quinn, der kaum außer Atem war. Wenn hier jemand außer Atem war, dann ich. Ich rang verzweifelt nach Luft und versuchte, Kehle und Luftröhre wieder zu öffnen, damit ich nicht ersticken musste. Ich konnte Polizeisirenen hören und war zutiefst dankbar dafür. Quinn schob einen Arm unter meine Schultern und hob mich leicht an. Schließlich gelang es mir, einzuatmen; der Sauerstoff war eine einzige Wohltat, wundervoll. »Bekommst du genug Luft?«, fragte er. Ich hatte mich so weit gesammelt, dass ich nicken konnte. »Irgendwas gequetscht in deiner Kehle?« Ich versuchte die Hand zu heben, aber sie wollte mir in diesem Moment einfach nicht gehorchen.

Sein Gesicht füllte mein ganzes Blickfeld, und im dämmrigen Licht der Ecklaterne sah ich, dass er doch ziemlich ausgepumpt war. »Ich bring die Kerle um, wenn sie dich verletzt haben«, knurrte er, und das tat mir zu dem Zeitpunkt einfach nur gut.

»Biss«, keuchte ich, und entsetzt suchte er mit Händen und Blicken nach einer Bisswunde an meinem Körper. »Nicht ich«, erklärte ich. »Die. Keine Werwölfe von Geburt.« Ich holte Atem und sog die Luft tief ein. »Wahrscheinlich auf Drogen«, fügte ich noch hinzu.

Das war die einzige Erklärung für solch ein irrsinniges Verhalten.

Ein korpulenter schwarzer Streifenpolizist eilte auf mich zu. »Wir brauchen einen Krankenwagen beim Strand«, sagte er zu jemandem auf seiner Schulter. Nein, es war ein kleines Funkgerät. Ich schüttelte den Kopf.

»Sie brauchen einen Krankenwagen, Ma'am«, wiederholte er. »Ein Mädchen da drüben sagt, ein Mann hat Sie zu Boden geworfen und versucht, Sie zu erwürgen?«

»Alles okay«, sagte ich mit heiserer Stimme und unbestreitbar schmerzender Kehle.

»Gehören Sie zu dieser Lady, Sir?«, fragte der Streifenpolizist Quinn. Im Licht der Ecklaterne blitzte sein Namensschild auf: Boling stand darauf.

»Ja, ich gehöre zu ihr.«

»Sie... äh, Sie haben sie von diesen Kerlen befreit?«

»Ja.«

Dann kam Bolings Kollege, eine weiße Ausgabe von Boling, zu uns herüber. Etwas reserviert sah er Quinn an. Er hatte unsere Angreifer in Augenschein genommen, die sich bereits in Menschen zurückverwandelt hatten, ehe die Polizei eingetroffen war. Sie waren natürlich nackt.

»Der eine hat ein gebrochenes Bein«, berichtete er. »Und der andere behauptet, seine Schulter ist ausgekugelt.«

Boling zuckte die Achseln. »Haben gekriegt, was sie verdienen.« Vielleicht bildete ich mir das ja nur ein, aber auch er schien Quinn etwas vorsichtiger zu mustern.

»Die haben jedenfalls mehr gekriegt als sie gedacht haben«, sagte sein Kollege sachlich. »Kennen Sie einen der beiden Jungs, Sir?« Er machte eine Kopfbewegung zu den Teenagern hinüber, die inzwischen von einem anderen Streifenpolizisten aus einem anderen Polizeiwagen gemustert wurden, einem jüngeren, sportlicheren Mann. Die Jungen lehnten aneinander und wirkten wie betäubt.

»Noch nie gesehen«, sagte Quinn. »Du, Süße?« Fragend sah er zu mir hinunter. Ich schüttelte den Kopf. Ich fühlte mich wieder gut genug, um es als eindeutigen Nachteil zu empfinden, dass ich noch immer auf dem Boden lag. Deshalb sagte ich zu Quinn, dass ich aufstehen wolle. Bevor die Polizisten mir noch mal rieten, auf den Krankenwagen zu warten, zog mich Quinn fast schmerzlos wieder auf die Füße.

Ich sah an meinem schönen neuen Outfit hinunter. Es war richtig schmutzig geworden. »Wie sieht es auf dem Rücken aus?«, fragte ich Quinn besorgt. Ich drehte ihm den Rücken zu und sah ihn ängstlich über die Schulter an. Quinn schien etwas überrascht, doch er musterte bereitwillig meine Rückseite.

»Nichts zerrissen«, versicherte er mir. »Vielleicht ein, zwei Stellen, an denen der Stoff vom Asphalt etwas rau geworden ist.«

Ich brach in Tränen aus. Wahrscheinlich hätte ich sowieso losgeheult, einfach als Reaktion auf das Adrenalin, das mein Körper ausgeschüttet hatte, als wir angegriffen wurden. Doch das Timing war perfekt. Die Polizisten wurden immer freundlicher, je mehr ich weinte, und als Dreingabe schloss Quinn mich in seine Arme, und ich legte die Wange an seine Brust. Als ich schließlich zu schluchzen aufhörte, lauschte ich auf seinen Herzschlag. Ich hatte meine nervöse Reaktion auf den Angriff überwunden und gleichzeitig die Polizei entwaffnet, auch wenn sie sich noch immer über Quinn und seine enorme Kraft wunderten.

Ein weiterer Polizist, der bei dem Angreifer stand, den Quinn weggeschleudert hatte, rief etwas. Unsere beiden Streifenpolizisten gingen zu ihm hinüber, so dass wir kurz allein waren.

»Sehr geschickt«, murmelte Quinn mir ins Ohr.

»Mmmm«, erwiderte ich und schmiegte mich an ihn.

Er schloss mich fester in die Arme. »Wenn du noch näher kommst, müssen wir uns hier abseilen und uns ein Zimmer mieten«, flüsterte er.

»Tut mir leid.« Ich löste mich etwas von ihm und sah ihn an. »Was glaubst du, wer hat sie angeheuert?«

Vielleicht war er überrascht, dass ich diese Schlussfolgerung gezogen hatte, doch in seinen Gedanken konnte ich nichts davon lesen. Die gleiche biochemische Reaktion, die auch meine Tränen ausgelöst hatte, machte sein wirres Gedankenmuster für mich noch komplizierter. »Das werde ich auf jeden Fall herausfinden«, sagte er. »Wie geht's deinem Hals?«

»Tut weh«, gab ich mit heiserer Stimme zu. »Aber es ist nichts Ernsthaftes, das weiß ich. Außerdem bin ich nicht krankenversichert. Deshalb will ich nicht ins Krankenhaus. Wäre reine Zeit- und Geldverschwendung.«

»Dann fahren wir nicht ins Krankenhaus.« Er beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich drehte mein Gesicht, sah ihn direkt an, und der nächste Kuss landete an genau der richtigen Stelle. Und nach einem zärtlichen Moment flammte er zu etwas sehr viel Hitzigerem auf. Wir durchlebten beide die Nachwirkungen des Adrenalinschubs.

Ein lautes Räuspern brachte mich so wirksam in die Realität zurück, als hätte Officer Boling einen Eimer kaltes Wasser über uns ausgeschüttet. Ich löste mich aus dem Kuss und verbarg mein Gesicht wieder an Quinns Brust. Ich wusste, dass ich mich noch nicht von ihm entfernen durfte, denn seine Erregung war spürbar - und bestimmt auch sichtbar. Auch wenn dies nicht gerade der geeignetste Moment für solche Überlegungen war, zweifelte ich doch keine Sekunde daran, dass bei Quinn alles schön im Verhältnis zu seiner sonstigen Größe stand. Ich musste mich geradezu zwingen, meinen Körper nicht an dem seinen zu reiben. Das würde für ihn alles nur noch schlimmer machen - doch ich fühlte mich schon wieder viel besser als zuvor und war auch überdreht, schätze ich. Und übermütig. Sehr übermütig. Dass wir gemeinsam durch diese harte Probe gegangen waren, hatte unsere Beziehung um mindestens vier Verabredungen nach vorn katapultiert.

»Haben Sie noch weitere Fragen an uns?«, fragte Quinn mit nicht ganz ruhiger Stimme.

»Ja, Sir. Ich muss Sie und die Lady bitten, mit auf die Polizeiwache zu kommen, dort werden dann Ihre Aussagen aufgenommen. Das macht Detective Coughlin; wir fahren die Festgenommenen ins Krankenhaus.«

»In Ordnung. Muss das noch heute Abend sein? Meine Freundin braucht Ruhe. Sie ist erschöpft. Das ist eine ziemliche Tortur für sie gewesen.«

»Es wird nicht lange dauern«, sagte der Polizist nicht ganz wahrheitsgetreu. »Sind Sie sicher, dass Sie diese beiden Kerle noch nie vorher gesehen haben? Denn das Ganze sieht doch stark nach einem persönlichen Angriff aus, wenn ich das mal so sagen darf.«

»Keiner von uns beiden kennt sie.«

»Und die Lady weigert sich noch immer, sich medizinisch behandeln zu lassen?«

Ich nickte.

»Na, dann will ich mal hoffen, dass Sie keine weiteren Schwierigkeiten bekommen.«

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte ich und wandte ein wenig den Kopf, um Officer Boling anzusehen. Sein Blick war besorgt, und in seinen Gedanken las ich, dass er sich fragte, wie es in Begleitung eines so gewalttätigen Mannes wie Quinn wohl um meine Sicherheit bestellt sein mochte, eines Mannes, der zwei Teenager mehrere Meter weit durch die Luft schleudern konnte.

Wir wurden im Polizeiwagen auf die Wache gefahren. Ich wusste nicht genau, welchen Hintergedanken sie damit verfolgten, aber Bolings Kollege sagte, wir würden später zu Quinns Wagen zurückgebracht werden, also fügten wir uns dem Routineablauf. Vielleicht wollten sie nicht, dass wir Gelegenheit bekamen, allein miteinander zu sprechen. Ich weiß auch nicht warum; das Einzige, was ihnen verdächtig vorkommen konnte, war Quinns Größe und seine Erfahrung im Abwehren von Angreifern.

In dem kurzen Augenblick, den wir allein im Wagen saßen, ehe sich ein Polizist auf den Fahrersitz setzte, sagte ich zu Quinn: »Wenn du in Gedanken direkt zu mir sprichst, kann ich dich verstehen - falls du mir ganz dringend etwas mitteilen willst.«

»Wie praktisch«, erwiderte er. Der Gewaltausbruch vorhin schien irgendwas in ihm beruhigt zu haben. Er rieb seinen Daumen über meine Handfläche und dachte daran, wie gern er dreißig Minuten mit mir allein hätte, im Bett, jetzt sofort, oder auch nur fünfzehn; verdammt, auch nur zehn, sogar auf dem Rücksitz eines Autos, das wäre fantastisch. Ich versuchte nicht zu lachen, konnte mich aber nicht dagegen wehren. Als er bemerkte, dass ich all seine Gedanken klar und deutlich verstanden hatte, schüttelte er lächelnd den Kopf.

Nachher muss ich dich noch wohin mitnehmen, dachte er absichtlich. Hoffentlich will er kein Zimmer mieten oder mich mit zu sich nach Hause nehmen, um mit mir Sex zu haben, dachte ich. Denn egal wie attraktiv ich ihn auch fand, dazu war ich heute Abend noch nicht bereit. Doch seine Gedanken hatten sich ziemlich von aller Lust entfernt, und ich nahm wahr, dass er irgendeine andere Absicht verfolgte. Also nickte ich.

Werde nicht zu müde, sagte er. Wieder nickte ich. Wie ich die Müdigkeit allerdings willentlich verhindern sollte, war mir ein Rätsel. Doch ich versuchte, ein wenig Kraft zu schöpfen.

Die Polizeiwache war genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Auch wenn man viel Gutes über Shreveport sagen kann, gibt es in der Stadt doch eine recht ansehnliche Verbrechensrate. Wir erregten kaum Aufmerksamkeit, bis die Streifenpolizisten, die vor Ort gewesen waren, mit Kollegen von der Wache die Köpfe zusammensteckten. Sie warfen verstohlene Blicke auf Quinn. Er sah eindrucksvoll genug aus, um mit reiner Körperkraft in der Lage zu sein, zwei solche Angreifer abzuwehren. Aber dieser ganze Vorfall war ihnen eine Spur zu seltsam, da gab es ein paar sonderbare Aussagen von Augenzeugen... und dann entdeckte ich plötzlich ein mir bekanntes, wettergegerbtes Gesicht. Oho.

»Detective Coughlin«, sagte ich und wusste sofort, warum der Name vorhin so vertraut geklungen hatte.

»Miss Stackhouse«, erwiderte er, in etwa genauso begeistert wie ich. »Was machen Sie denn hier?«

»Wir wurden überfallen«, erklärte ich.

»Als ich Sie das letzte Mal sah, waren Sie mit Alcide Herveaux verlobt, und Sie beide hatten gerade die am übelsten zugerichtete Leiche gefunden, die ich je gesehen habe«, sagte er leichthin. Sein Bauch schien in den paar Monaten, seit ich ihn in Shreveport am Tatort eines Mordes gesehen hatte, noch an Umfang zugenommen zu haben. Wie die meisten Männer mit überdimensionalem Bauch trug er seine khakifarbenen Hosen unterhalb des Überhangs (um es mal so auszudrücken) zugeknöpft. Sein Hemd hatte breite hellblaue und weiße Streifen und erinnerte daher stark an einen prall gefüllten Müllsack.

Ich nickte bloß. Es gab auch nichts zu sagen.

»Wie geht's denn Mr Herveaux nach dem Tod seines Vaters?« Jackson Herveaux' Leiche war auf einem alten Bauernhof der Familie gefunden worden, wo sie halb über den Rand eines mit Wasser gefüllten Futtersilos gehangen hatte. Obwohl die Zeitungen seine Verletzungen nur vage beschrieben, war doch klar gewesen, dass wohl wilde Tiere ihn angefressen haben mussten. Es wurde allgemein angenommen, dass Herveaux senior in das Silo gefallen war und sich das Bein gebrochen hatte, als er auf dem Boden aufschlug. Offenbar war es ihm gelungen, wieder halb hinauszuklettern; aber dann musste er ohnmächtig geworden sein. Und weil niemand gewusst hatte, dass er auf dem Bauernhof war, hatte ihn auch niemand retten können. Und so war er dort ganz allein gestorben - das wurde jedenfalls allgemein angenommen.

In Wirklichkeit hatte Jackson Herveaux' Tod vor großem Publikum stattgefunden, darunter der Mann, der neben mir stand.

»Ich habe Alcide nicht mehr gesprochen, seit sein Vater gefunden wurde«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Herrje, tut mir wirklich leid, dass das nicht geklappt hat mit Ihnen«, sagte Detective Coughlin und tat so, als stünde ich nicht gerade neben einem Mann, mit dem ich an diesem Abend ausgegangen war. »Sie beide hätten ein gutaussehendes Paar abgegeben.«

»Sookie sieht immer gut aus, egal, mit wem sie zusammen ist«, mischte Quinn sich ein.

Ich lächelte ihn an, und er lächelte zurück. Er machte wirklich alles richtig.

»Kommen Sie doch bitte kurz mit, Miss Stackhouse. Wir nehmen Ihre Geschichte zu Protokoll, und dann können Sie nach Hause gehen.«

Quinns Hand schloss sich fest um meine. Er wollte mich warnen. Moment mal, wer konnte denn hier Gedanken lesen? Ich drückte seine Hand ebenfalls. Mir war absolut klar, dass Detective Coughlin glaubte, ich sei an irgendetwas schuld, und er alles daran setzen wollte, herauszubekommen, was es war. Aber ich war ja unschuldig.

Die Angreifer hatten es tatsächlich auf uns abgesehen gehabt, das hatte ich den Gedanken der beiden Teenager entnehmen können. Aber warum?

Detective Coughlin führte mich zu einem Schreibtisch in einem Großraumbüro und zog ein Formular aus einer Schublade. Das geschäftige Treiben im Raum ging weiter; ein paar Leute gingen ein und aus, und zwei Schreibtische weiter hackte ein junger Polizist mit sehr kurzem weißblondem Haar fleißig auf die Tastatur seines Computers ein. Ich war sehr vorsichtig, hatte meine Schutzbarrieren geöffnet und wusste daher, dass er mich musterte, wenn ich in eine andere Richtung sah, und dass er von Detective Coughlin dort postiert worden war. Zumindest sollte er mich sehr genau im Blick behalten, solange ich in dem Großraumbüro war.

Ich sah ihm direkt in die Augen, und der Schreck darüber, dass wir uns wiedererkannten, war beidseitig. Ich hatte ihn beim Wettkampf der Leitwolfkandidaten gesehen. Er war ein Werwolf und bei dem Duell Patrick Furnans Sekundant gewesen. Ich hatte ihn beim Betrug erwischt. Maria-Star hatte mir erzählt, dass ihm zur Strafe der Schädel kahl rasiert worden war. Obwohl der von ihm unterstützte Kandidat gewonnen hatte, war die Strafe vollzogen worden, und sein Haar wuchs gerade erst wieder nach. Er hasste mich mit der ganzen Wut des Schuldigen und erhob sich halb von seinem Stuhl. Sein erster Impuls war wohl, auf mich zuzustürzen und mich windelweich zu prügeln. Als er sah, dass das schon jemand anders erledigt hatte, grinste er schadenfroh.

»Ist das Ihr Partner?«, fragte ich Detective Coughlin.

»Was?« Er hatte mit einer Lesebrille auf den Bildschirm seines Computers gestarrt und sah zuerst zu dem jungen Mann hinüber und dann wieder zu mir. »Ja, das ist mein neuer Kollege. Mein früherer Partner ist letzten Monat in Rente gegangen.«

»Wie heißt er? Ihr neuer Kollege.«

»Wieso? Wollen Sie sich an ihn als Nächstes ranmachen? Scheint, als könnten Sie sich nicht auf einen Mann festlegen, was, Miss Stackhouse?«

Wenn ich eine Vampirin gewesen wäre, hätte ich ihn zum Reden bringen können; und wenn ich eine richtig geschickte Vampirin gewesen wäre, hätte er davon noch nicht einmal etwas mitbekommen.

»Es ist eher so, dass sie sich nicht auf mich festlegen können, Detective Coughlin«, sagte ich, und er warf mir einen neugierigen Blick zu. Er wedelte mit der Hand in Richtung des blonden Detective.

»Das ist Cal. Cal Myers.« Anscheinend hatte er jetzt das richtige Formular gefunden, denn er begann, den ganzen Vorfall noch einmal mit mir durchzugehen. Ich beantwortete seine Fragen mit aufrichtigem Desinteresse. Endlich einmal hatte auch ich relativ wenig zu verbergen.

»Ich habe mich gefragt«, sagte ich, nachdem er fertig war, »ob sie unter Drogen standen.«

»Kennen Sie sich gut aus mit Drogen, Miss Stackhouse?« Seine kleinen Augen musterten mich erneut von oben bis unten.

»Nicht aus eigener Erfahrung. Aber natürlich kommt von Zeit zu Zeit jemand ins Merlotte's, der etwas genommen hat, was er besser nicht hätte nehmen sollen. Diese beiden jungen Männer schienen eindeutig ... beeinflusst von etwas.«

»Nun, im Krankenhaus wird ihnen Blut abgenommen. Dann werden wir es ja erfahren.«

»Muss ich noch mal wiederkommen?«

»Um gegen sie auszusagen? Sicher.«

Kein Ausweg. »Okay«, sagte ich so entschlossen und sachlich wie möglich. »Sind wir jetzt fertig?«

»Schätze schon.« Seine kleinen braunen Augen waren voller Misstrauen. Ich konnte es ihm nicht übel nehmen. Er hatte ja recht, es war etwas Verdächtiges an mir, etwas, das er nicht wusste. Coughlin tat sein Bestes, ein guter Polizist zu sein. Und plötzlich tat er mir leid, weil er sich in einer Welt abstrampelte, die er überhaupt nur zur Hälfte kannte.

»Vertrauen Sie Ihrem neuen Kollegen nicht«, flüsterte ich und erwartete schon, dass er explodieren und Cal Myers herüberrufen würde, um mich lächerlich zu machen. Doch irgendwas in meinem Blick oder in meiner Stimme ließ ihn innehalten. Meine Worte wiederholten wohl nur einen Verdacht, den er unbewusst bereits selbst gehegt hatte, vielleicht schon, seit er den Werwolf kennen gelernt hatte.

Er sagte nichts, nicht ein Wort. Seine Gedanken waren voller Angst, Angst und Abscheu... aber er war überzeugt, dass ich die Wahrheit sagte. Gleich darauf stand ich auf und ging hinaus. Zu meiner großen Erleichterung wartete in der Eingangshalle bereits Quinn auf mich.

Ein Streifenpolizist - aber nicht Boling - fuhr uns zurück zu Quinns Wagen, und auf der Fahrt schwiegen wir. Quinns Wagen stand in einsamer Pracht auf dem Parkplatz gegenüber vom »Strand«, das inzwischen geschlossen und ganz dunkel war. Er zog die Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Türen mit der Fernbedienung, und müde und erschöpft stiegen wir ein.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich.

»Ins Hair of the Dog«, sagte er.