Kapitel 15

Ich brauchte Umzugskartons, so viel war mal sicher. Außerdem jede Menge breites Klebeband, einen dicken Filzstift und wohl auch eine Schere. Und ganz zum Schluss würde ich einen Transporter brauchen, um alles, was ich mitnehmen wollte, nach Bon Temps zu fahren. Ich konnte Jason bitten, herzukommen, einen Pick-up mieten oder Mr Cataliades fragen, ob er jemanden kannte, der mir einen Pick-up leihen würde. Wenn es sehr viele Sachen werden würden, könnte ich auch ein Auto mit Anhänger mieten. So was hatte ich zwar noch nie gemacht, doch was sollte daran so schwierig sein? Im Augenblick stand mir aber nicht mal ein Auto zur Verfügung, also war's erst mal nichts mit den Besorgungen. Es konnte ja nicht schaden, trotzdem schon mal mit dem Sortieren anzufangen. Je eher ich hier fertig war, desto früher konnte ich weit weg von den Vampiren von New Orleans wieder friedlich arbeiten gehen. Eigentlich war ich ganz froh, dass Bill mitgekommen war. So sehr ich mich manchmal über ihn ärgerte, so gut kannte ich ihn auch. Schließlich war er der erste Vampir, den ich je getroffen hatte, und dieses Treffen erschien mir noch immer fast wie ein Wunder.

Bill war eines Abends einfach ins Merlotte's spaziert. Er hatte mich enorm fasziniert, weil ich seine Gedanken nicht lesen konnte. Und in derselben Nacht noch musste ich ihn vor Ausblutern retten. Ich seufzte und dachte daran, wie gut es zwischen uns gelaufen war, bis seine Schöpferin Lorena ihn rief.

Ich schüttelte mich. Dies war nicht die richtige Zeit, um in Erinnerungen zu schwelgen. Dies war die Zeit für Taten und Entscheidungen. Ich beschloss, mit Hadleys Kleidung zu beginnen.

Nach einer Viertelstunde war klar, dass mir das Aussortieren der Kleidung nicht weiter schwerfiel. Das meiste würde ich weggeben. Nicht nur unterschied sich mein Geschmack radikal von Hadleys, sie hatte auch schmalere Hüften und weniger Busen gehabt als ich und ganz andere Farben getragen. Meine Cousine hatte dunkle, dramatische Kleidung bevorzugt, ich dagegen war eher der unauffällige Typ. Ein paar hauchdünne schwarze Blusen und Röcke gefielen mir eigentlich ganz gut, doch als ich sie anprobierte, sah ich aus wie eine der Vampirsüchtigen, die ständig an Erics Bar im Fangtasia herumhingen. Nicht gerade das Image, das ich anstrebte. Nur eine Handvoll Trägertops, eine Shorts und ein Schlafanzug landeten schließlich auf dem Haufen »Behalten«.

Weil ein Vorrat an großen Müllsäcken da war, stopfte ich die Kleidung erst mal da hinein. Die Säcke stellte ich allesamt auf die Galerie hinaus, damit in der Wohnung nicht so ein Durcheinander entstand.

Um die Mittagszeit hatte ich angefangen, und die Stunden vergingen sehr schnell, nachdem ich herausgefunden hatte, wie Hadleys CD-Player funktionierte. Eine Menge Musik war von Künstlern, die nie zu meinen Lieblingen gezählt hatten - keine große Überraschung. Allerdings war's ganz interessant, mal reinzuhören in die Unmengen von CDs, die Hadley besessen hatte: No Doubt, Nine Inch Nails, Eminem, Usher.

Mit den Kommodenschubladen im Schlafzimmer begann ich, als es gerade dunkel wurde. Einen Augenblick lang stellte ich mich auf die Galerie in die milde Abendluft und sah, wie die Stadt für den vor ihr liegenden Abend erwachte. New Orleans war die Stadt der Nacht. Es hatte schon immer ein lärmendes, zügelloses Nachtleben gehabt. Doch inzwischen war es zu einem solchen Zentrum der Untoten geworden, dass es seinen Charakter zu verändern begann. Viel Jazz in der Bourbon Street wurde von Händen gespielt, die das Sonnenlicht zuletzt vor Jahrzehnten gesehen hatten. Als ich Töne in der Luft aufschnappte, Musik von weit entfernten Vergnügungen, setzte ich mich auf einen Stuhl auf der Galerie und hörte eine Weile zu. Hoffentlich würde ich etwas von der Stadt zu sehen bekommen, wenn ich schon hier war. New Orleans ist mit keiner anderen Stadt Amerikas vergleichbar, das war es auch schon vor dem Ansturm der Vampire nicht. Ich seufzte und merkte, dass ich hungrig war. Hadley hatte natürlich nichts zu essen im Kühlschrank, und ich würde bestimmt nicht anfangen, Blut zu trinken. Amelia wollte ich nicht schon wieder um etwas bitten. Wer immer mich heute Abend zur Königin abholte, würde sicher an einem Lebensmittelladen anhalten können. Vielleicht sollte ich erst mal duschen und mich umziehen.

Als ich wieder hineingehen wollte, fiel mein Blick auf den Wäschekorb mit den schmutzigen Handtüchern, den ich am Abend vorher hinausgestellt hatte. Jetzt rochen sie viel stärker, das wunderte mich. Ich hätte gedacht, der Geruch würde eher schwächer werden. Stattdessen verschlug es mir vor Ekel fast den Atem, als ich den Wäschekorb wieder hineintrug. Diese Handtücher mussten gewaschen werden. In einer Ecke der Küche stand so eine Wasch-Trockner-Kombination, unten die Waschmaschine, oben der Trockner. Ein Turm der Reinlichkeit.

Die Handtücher ließen sich nicht mal ausschütteln, sie waren ein einziger verklebter und verknitterter Haufen. Ungeduldig zerrte ich an einem herausstehenden Zipfel eines Handtuchs, und schließlich lösten sich die Handtücher voneinander und lagen ausgebreitet vor mir.

»Oh, Scheiße«, sagte ich laut in die Stille der Wohnung hinein. »Oh, nein

Die Handtücher waren so verklebt und verknittert, weil sie voller Blut waren.

»Oh, Hadley«, sagte ich. »Was hast du getan?«

Der Geruch war genauso schlimm wie der Schock. Ich musste mich erst mal an den kleinen Küchentisch setzen. Flocken verkrusteten Bluts waren auf den Boden und meine Arme gerieselt. Die Gedanken eines Handtuchs konnte auch ich nicht lesen, Himmel noch mal. Meine außergewöhnlichen Fähigkeiten waren mir mal wieder eine große Hilfe. Ich brauchte... eine Hexe. Eine Hexe wie die, die ich belehrt und weggeschickt hatte. Ja, genau so eine.

Aber zunächst musste ich erkunden, ob die Wohnung noch mehr solcher Überraschungen bereithielt.

O ja. Das tat sie allerdings.

Die Leiche war im begehbaren Schrank, der vom Flur aus zu erreichen war.

Es lag überhaupt kein Geruch in der Luft, obwohl sich die Leiche, ein junger Mann, vermutlich seit Hadleys Tod da befand. Ob dieser junge Mann vielleicht auch ein Dämon war? Aber er sah gar nicht aus wie Diantha, Gladiola oder auch Mr Cataliades. Dies war eine Angelegenheit, für die ich unbedingt eine Erklärung brauchte, und wahrscheinlich würde ich sie ein Stockwerk tiefer finden.

Ich klopfte an Amelias Tür. Sie öffnete sofort. Über ihre Schulter sah ich, dass ihre Wohnung, die natürlich genauso geschnitten war wie Hadleys, voll heller Farben und Energie war. Sie mochte Gelb, Creme, Korallenrot und Grün. Die Möbel waren modern, aber gemütlich gepolstert, und alles Holz war auf Hochglanz poliert. Wie ich schon vermutet hatte, war Amelias Wohnung blitzblank.

»Ja?«, fragte sie zurückhaltend.

»Okay«, sagte ich friedlich, als wenn ich einen Olivenzweig niederlegte. »Ich habe ein Problem, und ich glaube, Sie haben auch eins.«

»Wie meinen Sie das?« Amelias offenes Gesicht wirkte geradezu verschlossen, als hoffte sie, mich mit einer ausdruckslosen Miene aus ihren Gedanken ausschließen zu können.

»Sie haben doch einen Tempus-Stasis-Zauber über die Wohnung gelegt, richtig? Um alles so zu konservieren, wie es war. Bevor Sie es gegen alle Eindringlinge versiegelt haben?«

»Ja«, erwiderte sie vorsichtig. »Das habe ich Ihnen doch alles erzählt.«

»Keiner war in der Wohnung, seit Hadley gestorben ist?«

»Mein Wort kann ich Ihnen darauf nicht geben, eine sehr gute Hexe könnte den Zauberbann natürlich brechen«, sagte sie. »Aber soweit ich weiß, ist seitdem keiner drin gewesen.«

»Dann wissen Sie also nicht, dass Sie eine Leiche dort eingesiegelt haben?«

Keine Ahnung, welche Reaktion ich erwartet hatte, doch Amelia blieb ziemlich cool. »Okay«, sagte sie ruhig und schluckte einmal. »Okay. Wer ist es?« Ihre Augenlider flatterten etwas zu heftig auf und ab.

Vielleicht war sie doch nicht so cool.

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich vorsichtig. »Sie müssen sich die Leiche ansehen.« Und auf dem Weg nach oben fügte ich noch hinzu: »Er ist in der Wohnung getötet worden, und alles Blut wurde mit den Handtüchern aufgewischt. Sie lagen im Wäschekorb.« Ich schilderte ihr noch, wie die Handtücher ausgesehen hatten.

»Holly Cleary hat mir erzählt, dass Sie ihrem Sohn das Leben gerettet haben«, sagte Amelia.

»Die Polizei hätte ihn sowieso gefunden«, erwiderte ich verlegen. »Ich habe die Suche nur ein bisschen beschleunigt.«

»Der Arzt hat zu Holly gesagt, dass er die Hirnblutung des Jungen vielleicht nicht mehr rechtzeitig hätte stoppen können, wenn er erst später ins Krankenhaus eingeliefert worden wäre«, sagte Amelia.

»Dann war's ja gut so.« Ich wurde immer verlegener. »Wie geht's Cody denn?«

»Besser«, erwiderte die Hexe. »Er wird wieder gesund.«

»Im Moment haben wir aber ein ganz anderes Problem«, erinnerte ich sie.

»Okay, sehen wir uns die Leiche mal an.« Amelia bemühte sich sehr, ruhig zu sprechen.

Irgendwie mochte ich diese Hexe.

Ich führte sie zu dem begehbaren Schrank, dessen Tür ich offen gelassen hatte. Sie ging hinein, ich hörte keinen Laut. Als sie wieder herauskam, lag ein grünlicher Hauch über ihrem gebräunten Teint, und sie lehnte sich gegen die Wand.

»Ein Werwolf«, sagte sie einen Augenblick später. Der Tempus-Stasis-Zauber hatte alles in der Wohnung frisch gehalten. Das Blut hatte schon etwas zu riechen begonnen, ehe der Zauber über das Apartment gelegt worden war, und als ich es betreten hatte, war der Zauberbann gebrochen worden. Inzwischen stanken die Handtücher. Der Leiche entströmte noch kein Geruch, was mich wunderte, aber das würde wahrscheinlich jeden Moment beginnen. Sie würde sicher schnell verwesen, jetzt, da Amelias Magie sie nicht mehr umgab. Amelia verkniff es sich mühsam, noch mal darauf hinzuweisen, wie gut ihr Zauber gewirkt hatte.

»Kennen Sie ihn?«

»Ja, ich kenne ihn«, sagte sie. »Auch in New Orleans ist die Gemeinde der Supras übersichtlich. Es ist Jake Purifoy. Er gehörte zu den Sicherheitsleuten auf der Hochzeit der Königin.«

Ich musste mich setzen. Ich trat aus der Tür des Schranks und glitt an der Flurwand hinunter, bis ich angelehnt dasaß, gegenüber von Amelia, die an der anderen Flurseite lehnte. Ich wusste kaum, mit welchen Fragen ich beginnen sollte.

»Als die Königin den König von Arkansas heiratete?« Ich erinnerte mich an das, was Felicia erzählt hatte, und an die Hochzeitsfotos in Al Cumberlands Mappe Augenblicke. War das die Königin gewesen, die Frau in diesem aufwendigen Kostüm? Quinn hatte von der Organisation einer Vampirhochzeit in New Orleans gesprochen. War das etwa diese Hochzeit gewesen?

»Hadley sagte, die Königin ist bi«, erklärte mir Amelia. »Daher hat sie einen Mann geheiratet. Jetzt haben sie ein Bündnis geschlossen.«

»Aber sie können doch gar keine Kinder bekommen.« Okay, das sollte eigentlich jedem klar sein. Doch ich konnte mit dieser Bündnis-Geschichte nichts anfangen.

»Nein. Aber solange keiner sie pfählt, leben sie ewig. Da ist die Erbfolge nicht so wichtig«, erwiderte Amelia. »Es wird monate-, ja sogar jahrelang verhandelt, bis die Regeln für eine solche Hochzeit feststehen. Und die Verhandlungen über den Ehevertrag können noch mal so lange dauern. Den müssen beide unterzeichnen, in einer höchst feierlichen Zeremonie, die vor der Hochzeit stattfindet. Wissen Sie, die Königin und der König müssen gar nicht miteinander leben. Sie sind nur verpflichtet, einander zweimal im Jahr Visiten abzustatten. Visiten ehelicher Pflichten.«

Das war zwar faszinierend, aber darum ging es im Moment eigentlich nicht. »Dieser Typ da im Schrank war also einer vom Sicherheitsdienst?« Hatte er für Quinn gearbeitet? Hatte Quinn nicht gesagt, dass einer seiner Leute in New Orleans verschwunden war?

»Ja. Ich war natürlich nicht zur Hochzeit eingeladen, aber ich habe Hadley in ihr Kleid geholfen. Er kam sie abholen.«

»Jake Purifoy holte Hadley zu der Hochzeit ab?«

»Ja. Er war sehr elegant angezogen an dem Abend.«

»Und das war am Abend der Hochzeit?«

»Ja, und am Abend vor Hadleys Tod.«

»Haben Sie sie das Haus verlassen sehen?«

»Nein, ich habe nur... Nein. Ich habe den Wagen kommen hören. Durchs Wohnzimmerfenster sah ich Jake ins Haus gehen. Ich kannte ihn zufällig. Er war mal eine Zeit lang mit einer Freundin von mir zusammen. Dann habe ich weiter ferngesehen. Und nach einer Weile habe ich den Wagen abfahren hören.«

»Es könnte also sein, dass er die Wohnung gar nicht mehr verlassen hat.«

Mit aufgerissenen Augen starrte sie mich an. »Könnte sein«, sagte sie schließlich, und es klang, als wäre ihr Mund sehr trocken.

»Hadley war allein, als er sie abholen kam, oder?«

»Als ich ihre Wohnung verließ, war sie allein dort.«

»Eigentlich wollte ich doch bloß die Wohnung meiner Cousine auflösen«, sagte ich zu meinen nackten Füßen. »Ich mochte Hadley nicht mal besonders. Und jetzt sitze ich hier mit einer Leiche. Als ich das letzte Mal eine Leiche loswerden musste«, erzählte ich Amelia, »hatte ich einen großen, starken Helfer, und wir haben sie in einen Duschvorhang gewickelt.«

»Wirklich?« Amelia wirkte nicht sehr froh über diese Information.

»Ja.« Ich nickte. »Wir hatten ihn nicht getötet. Wir mussten nur die Leiche loswerden. Wir dachten, man würde uns den Mord in die Schuhe schieben, und das wäre sicher auch geschehen.« Ich starrte meine lackierten Zehennägel an. Es hatte gut ausgesehen, als der schöne hellrosa Lack noch frisch war, jetzt musste ich ihn entweder erneuern oder entfernen. Dann hörte ich auf, mich mit solchen Gedanken abzulenken, und wandte mich wieder den düsteren Betrachtungen über die Leiche zu. Jake Purifoy lag lang ausgestreckt auf dem Boden des begehbaren Schranks, unter dem untersten Bord, und war mit einem Laken zugedeckt gewesen. Vermutlich hatte er sehr gut ausgesehen mit dem dunkelbraunen Haar und dem muskulösen Körper, auch wenn er ziemlich stark behaart war. Obwohl er für eine formelle Hochzeit angezogen gewesen war, und zwar sehr elegant (laut Amelia), lag er jetzt nackt da. Diese Frage nur nebenbei: Wo war sein Anzug abgeblieben?

»Wir könnten uns an die Königin wenden«, schlug Amelia vor. »Die Leiche ist ja nun mal hier. Entweder hat Hadley Jake getötet, oder sie hat seine Leiche versteckt. Er ist jedenfalls nicht in der Nacht gestorben, in der sie sich mit Waldo auf dem Friedhof traf.«

»Warum nicht?« Plötzlich schoss mir ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf. »Haben Sie ein Handy?«, rief ich und war schon aufgesprungen. Amelia nickte. »Rufen Sie in der Residenz der Königin an. Sagen Sie, sie sollen uns jemanden schicken, sofort

»Was?« Verwirrt sah sie mich an, während sie schon die Telefonnummer eintippte.

Als ich in den Schrank sah, bewegte die Leiche ihre Finger.

»Er ist dabei, aufzuerstehen«, sagte ich leise.

Es dauerte nur eine Sekunde, dann hatte sie begriffen. »Amelia Broadway, Chloe Street! Schicken Sie einen älteren Vampir her, sofort«, schrie sie ins Handy. »Auferstehung eines neuen Vampirs!« Auch sie war aufgesprungen, und wir rannten Richtung Tür.

Aber wir schafften es nicht.

Jake Purifoy war hinter uns her, und er war hungrig.

Da Amelia hinter mir war (ich hatte einen Schnellstart hingelegt), griff er sich einen ihrer Knöchel. Sie schrie laut auf und fiel hin, und ich fuhr herum, um ihr zu helfen. Mein Denken hatte wohl komplett ausgesetzt, denn sonst wäre ich weiter und zur Tür hinausgerannt. Die Finger des neuen Vampirs hatten sich wie eine Fußfessel um Amelias nackten Knöchel geschlossen, und er zog sie über den glatten Parkettboden zu sich heran. Sie versuchte sich mit den Händen am Fußboden festzukrallen, irgendwas zu finden, das sie aufhalten würde auf dem Weg zu seinem weit geöffneten Mund mit den vollständig ausgefahrenen Fangzähnen. O Gott! Ich ergriff ihre Handgelenke und begann zu ziehen. Da ich Jake Purifoy im Leben nicht gekannt hatte, wusste ich nicht, wie er gewesen war. Und in seinem Gesicht konnte ich nichts Menschliches mehr entdecken, nichts, woran ich appellieren konnte. »Jake!«, schrie ich. »Jake Purifoy! Wachen Sie auf!« Aber das nützte natürlich überhaupt nichts. Jake hatte sich verwandelt, und das war nicht bloß ein Albtraum, sondern eine dauerhafte andere Existenzform, aus der er nicht wieder erwachen würde: Er war Vampir. Er gab eine Art Grr-Grr von sich, das hungrigste Geräusch, das ich je gehört hatte. Dann biss er in Amelias Wade, und sie schrie.

Es war, als hätte ein Hai sie zwischen den Zähnen. Wenn ich noch weiter an ihr zerrte, bestand die Gefahr, dass er das Stück Fleisch, das er zwischen den Zähnen hatte, herausbeißen würde. Jetzt saugte er heftig. Ich trat ihm mit der Ferse gegen den Kopf und verfluchte mich dafür, dass ich keine Schuhe trug. Ich legte meine ganze Kraft in den Tritt, doch der neue Vampir ließ sich in keiner Weise stören. Er gab einen protestierenden Laut von sich, saugte aber seelenruhig weiter, und die Hexe schrie laut vor Schmerz und Schock. Auf dem Tisch hinter dem kleinen Sofa stand ein Kerzenständer, ein hoher gläserner Kerzenständer von einigem Gewicht. Ich zog die Kerze heraus, ergriff ihn mit beiden Händen und schlug damit, so fest ich konnte, auf Jake Purifoys Schädel ein. Sein Kopf begann zu bluten, nur tröpfelnd, aber auf diese Weise bluten Vampire eben. Der Kerzenständer zersprang beim Aufprall, und so stand ich mit leeren Händen vor einem wütenden Vampir. Er hob das blutverschmierte Gesicht und starrte mich finster an - hoffentlich ziehe ich nie wieder im Leben einen solchen Blick auf mich. Seine Miene entsprach ziemlich genau der hirnlosen Raserei eines tollwütigen Hundes.

Doch er hatte von Amelias Bein abgelassen, und sie kroch von ihm weg. Sie war schwer verletzt und kam nur langsam voran, bemühte sich aber nach Kräften. Tränen rannen ihr übers Gesicht, und ihr laut keuchender Atem füllte die Stille des Abends. Ich hörte eine herannahende Sirene und hoffte, sie wäre auf dem Weg zu uns. Auch wenn es bereits zu spät war. Der Vampir tat einen Satz, um sich auf mich zu stürzen, und mir blieb keine Zeit, auch nur einen weiteren Gedanken zu fassen.

Er biss mir in den Arm, und ich hatte das Gefühl, seine Fangzähne drangen bis in den Knochen. Hätte ich nicht den Arm gehoben, hätte er sie mir in den Hals geschlagen, und das wäre vermutlich tödlich ausgegangen. Dann wohl doch lieber den Arm, auch wenn in diesem Augenblick der Schmerz so stark war, dass ich beinahe in Ohnmacht fiel - was ich besser nicht tun sollte. Jake Purifoy lag mit seinem ganzen Körper schwer auf mir, seine Hände drückten meinen freien Arm zu Boden und seine Beine lagen auf meinen. Und da erwachte noch ein anderer Hunger in dem Vampir. Ich spürte, wie das Anzeichen bereits gegen meinen Oberschenkel drückte. Er macht eine Hand los und begann an meiner Hose zu zerren.

O nein ... das war unerträglich. In den nächsten Minuten würde ich in New Orleans, im Apartment meiner Cousine sterben, weit weg von meinen Freunden und meiner Familie.

Gesicht und Hände des neuen Vampirs waren blutverschmiert.

Unbeholfen kroch Amelia über den Boden auf uns zu, eine Blutspur hinter sich lassend. Warum lief sie nicht weg? Sie konnte mich sowieso nicht mehr retten. Kerzenständer waren ausverkauft. Doch Amelia hatte eine andere Waffe. Sie streckte eine heftig zitternde Hand aus, berührte den Vampir und schrie: »Utinam hic sanguis in ignem commutet!«

Der Vampir wich zurück und schlug sich brüllend die Hände vors Gesicht, das plötzlich von kleinen lodernden blauen Flämmchen bedeckt war.

Und da kam die Polizei durch die Tür.

Es waren ebenfalls Vampire.

Einen interessanten Moment lang glaubten die Polizisten, wir hätten Jake Purifoy angegriffen. Blutend und schreiend wurden Amelia und ich an die Wand gedrückt. Doch gleich darauf verlor Amelias Zauberspruch seine Wirkung auf den neuen Untoten, und er sprang den nächsten Uniformierten in seiner Nähe an. Es war eine schwarze Frau mit stolzer, aufrechter Haltung und einer langen Nase. Die Polizistin schwang, ohne jede Rücksicht auf die Zähne des Vampirs, ihren Gummiknüppel. Ihr Kollege, ein kleiner Mann mit goldbrauner Haut, fummelte an seinem Gürtel herum, wo noch eine Waffe anderer Art steckte, eine Flasche »TrueBlood«. Er biss die Spitze ab und steckte den Gumminuckel in Jake Purifoys gierig suchenden Mund. Plötzlich herrschte Stille, der neue Vampir saugte die Flasche leer, und wir anderen standen schwer atmend und blutend da.

»Der gibt erst mal Ruhe«, sagte die Polizistin, deren Tonfall darauf schließen ließ, dass sie mehr Afrikanerin als Amerikanerin war.

Amelia und ich sanken zu Boden, nachdem der Polizist uns mit einem Kopfnicken zu verstehen gegeben hatte, dass wir nicht länger verdächtigt wurden. »Entschuldigung, aber wir haben hier nicht gleich durchgeblickt, wer der Böse ist«, sagte er in warmem Tonfall. »Alles okay bei Ihnen, Ladys?« Nur gut, dass seine Stimme so beruhigend klang, denn er hatte die Fangzähne ausgefahren. Ich schätze, all die Aufregung über das viele Blut und die Gewalt hatte diese Reaktion ausgelöst. Doch es wirkte irgendwie verwirrend bei einem Gesetzeshüter.

»Ich fürchte, nein«, erwiderte ich. »Amelia blutet ziemlich stark und ich auch.« Der Biss schmerzte noch nicht so sehr, wie er es schon bald tun würde. Der Speichel von Vampiren enthält zwar winzige Spuren schmerzbetäubender Substanzen und auch ein Heilmittel. Doch das Heilmittel war eigentlich für nadelfeine Einstiche von Fangzähnen gedacht, und nicht für riesige Risse in menschlichem Fleisch. »Wir brauchen einen Arzt.« In Mississippi hatte ich mal einen Vampir kennen gelernt, der große Wunden heilen konnte. Aber so was kam selten vor.

»Sind Sie beide Menschen?«, fragt er uns. Die Polizistin redete in einer fremden Sprache begütigend auf den neuen Vampir ein. Keine Ahnung, ob der Werwolf Jake Purifoy diese Sprache verstand, aber er merkte, dass er in Sicherheit war. Die Brandwunden in seinem Gesicht heilten bereits wieder.

»Ja«, sagte ich.

Während wir auf den Krankenwagen warteten, lehnten Amelia und ich uns gegeneinander. Keine sagte ein Wort. War das die zweite Leiche, die ich in einem Schrank gefunden hatte, oder schon die dritte? Ich fragte mich allmählich, wieso ich überhaupt noch Schränke öffnete.

»Wir hätten es merken müssen«, sagte Amelia schließlich matt, »weil er gar nicht gerochen hat. Wir hätten es merken müssen.«

»Ich hab's ja noch gemerkt. Aber das war etwa dreißig Sekunden, bevor er aufgewacht ist, deshalb hat's uns nicht viel genützt.« Meine Stimme klang genauso erschöpft wie ihre.

Danach wurde alles sehr verwirrend. Mir ging ständig der Gedanke durch den Kopf, dass dies genau der richtige Moment für eine Ohnmacht wäre, weil ich von all dem am liebsten gar nichts mitbekommen wollte. Aber es gelang mir einfach nicht, in Ohnmacht zu fallen. Die Sanitäter waren sehr nett. Anscheinend glaubten sie, wir hätten mit einem Vampir gefeiert und die Party sei aus dem Ruder gelaufen. Ich schätze, von den beiden hätte keiner demnächst mit uns ausgehen wollen.

»Geben Sie sich lieber nicht mit Vampiren ab, chérie«, sagte der Sanitäter, der mich behandelte. Auf seinem Namensschild stand DELAGARDIE. »Die wirken attraktiv auf Frauen. Aber Sie glauben gar nicht, wie viele arme junge Dinger wir schon zusammenflicken mussten. Und das waren noch die, die Glück hatten«, meinte Delagardie ernst. »Wie heißen Sie, junge Lady?«

»Sookie«, sagte ich. »Sookie Stackhouse.«

»Miss Sookie, Sie und Ihre Freundin sind doch nette Mädchen. Gehen Sie lieber mit netten Männern aus, mit solchen, die leben. Diese Stadt ist schon ganz überrannt von Toten. Mir hat's hier besser gefallen, als noch alle geatmet haben, sag' ich Ihnen. Na, fahren wir mal ins Krankenhaus und lassen das nähen.« Dann lächelte er plötzlich, mit makellos weißen Zähnen und sehr charmant. »Und dieser gute Rat von mir war ganz umsonst, schöne Lady.«

Auch ich lächelte, doch zum letzten Mal für längere Zeit. Der Schmerz wurde immer heftiger. Und bald schon war ich ganz damit beschäftigt, damit fertig zu werden.

Amelia war eine echte Kämpferin. Mit zusammengebissenen Zähnen zwang sie sich, es durchzustehen, bis wir im Krankenhaus waren. Die Notaufnahme war überfüllt. Weil wir stark bluteten, in Begleitung von Polizisten waren und der freundliche Delagardie und sein Kollege ein gutes Wort für uns einlegten, wurden Amelia und ich sofort zu den mit Vorhängen abgetrennten Kabinen gebracht. Wir waren nicht nebeneinander, aber dort, wo bald ein Arzt vorbeikommen würde. Ich war einfach nur dankbar. Für die Notaufnahme in einer Großstadt ging das alles rasend schnell.

Während ich dem hektischen Getriebe um mich herum lauschte, versuchte ich, die Schmerzen in meinem Arm nicht allzu laut zu verfluchen. Zwischendurch, wenn die Wunde mal nicht so pochend schmerzte, fragte ich mich, was wohl aus Jake Purifoy geworden war. Hatten die Vampirpolizisten ihn in eine Vampirzelle des Gefängnisses gesteckt, oder war ihm alles verziehen worden, weil er ein brandneuer Vampir ohne jede Hilfe war? Dazu war ein Gesetz verabschiedet worden, aber an die Einzelheiten konnte ich mich nicht erinnern. Es fiel mir schwer, Mitleid mit ihm zu haben, obwohl dieser junge Mann nur ein Opfer seiner neuen Existenzform war. Der Vampir, der sein Schöpfer war, hätte ihn anleiten und ihm durch die Phase nach dem ersten Erwachen und Hunger hindurchhelfen müssen. Wenn einem Vampir Vorwürfe zu machen waren, dann wohl am ehesten meiner Cousine Hadley. Aber die hatte sicher nicht damit gerechnet, ermordet zu werden. Nur Amelias Tempus-Stasis-Zauber hatte verhindert, dass Jake schon vor Wochen auferstanden war. Eine merkwürdige Situation, die wahrscheinlich selbst in den Vampir-Annalen ohne Beispiel war. Und dann noch ein Werwolf, der zu einem Vampir geworden war! Von so was hatte ich noch nie gehört. Ob er sich noch immer verwandeln konnte?

Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken, denn Amelia war für eine Unterhaltung zu weit weg. Wenn sie dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre. Nach zwanzig Minuten, in denen nur eine Krankenschwester gekommen war, um einige Daten zu meiner Person zu notieren, spähte zu meiner Überraschung plötzlich Eric um den Vorhang.

»Darf ich reinkommen?«, fragte er förmlich. Seine Augen waren ganz groß, und er sprach sehr langsam. Tja, für einen Vampir war der Blutgeruch in einer Notaufnahme wohl durchdringend und höchst verlockend. Ich sah seine Fangzähne aufblitzen.

»Ja«, sagte ich, verwirrt, dass Eric in New Orleans war. Ich war zwar überhaupt nicht in Eric-Stimmung, aber es hatte wenig Sinn, dem ehemaligen Wikinger den Zutritt zu der verhängten Kabine zu verweigern. Es war ein öffentliches Gebäude, und er war nicht verpflichtet, meine Wünsche zu respektieren. Außerdem hätte er sich einfach draußen vor der Kabine aufstellen und durch den Vorhang mit mir reden können, um zu erfahren, was er wissen wollte. Denn dass es ihm an Hartnäckigkeit mangele, konnte man Eric nun wirklich nicht vorwerfen. »Was um Himmels willen machst du denn hier in dieser Stadt?«

»Ich muss mit der Königin um deine Dienste während der Konferenz verhandeln. Außerdem müssen Ihre Majestät und ich besprechen, wie viele von meinen Leuten ich mitbringen darf.« Er lächelte mich an. Ein ziemlich beunruhigender Anblick, mit den ausgefahrenen Fangzähnen. »Wir sind uns schon fast einig. Ich darf drei Leute mitbringen, möchte aber gern vier heraushandeln.«

»Herrgott, Eric«, sagte ich entnervt. »Das ist die faulste Ausrede, die ich kenne. Schon mal was von der modernen Erfindung des Telefons gehört?« Unruhig schob ich mich auf der schmalen Liege hin und her, ich fand einfach keine bequeme Position. Jeder Nerv meines Körpers litt noch unter den Nachwirkungen der Angst, die ich bei der Begegnung mit Jake Purifoy, dem jüngsten Kind der Nacht, durchlitten hatte. Hoffentlich gab mir der Arzt, wenn er denn endlich mal auftauchen würde, ein hochwirksames Schmerzmittel. »Lass mich in Ruhe, okay? Du hast keinen Anspruch auf mich. Oder Verantwortung für mich.«

»Doch.« Er besaß die Frechheit, überrascht dreinzusehen. »Es existiert ein Band zwischen uns. Ich hatte dein Blut, als du Kraft brauchtest, um Bill in Jackson zu befreien. Und wir hatten sehr oft Sex miteinander, das hast du selbst gesagt.«

»Du hast mich gezwungen, es zu erzählen«, protestierte ich. Und wenn das etwas jammerig rüberkam, tja, dann war's eben so. Ich durfte wohl auch mal ein bisschen jammern. Eric hatte eine Freundin von mir aus einer Gefahr befreit, aber nur unter der Bedingung, dass ich die Wahrheit ausspuckte. Ist das Erpressung? Ich finde schon.

Doch es gab keine Möglichkeit, es wieder rückgängig zu machen. Ich seufzte. »Wieso bist du hier?«

»Die Königin überwacht natürlich sehr genau, was bei den Vampiren in ihrer Stadt so los ist. Ich dachte, ich leiste dir etwas moralischen Beistand. Und falls du mich brauchst, um dich vom Blut zu säubern ...« Seine Augen flackerten, als er meinen Arm musterte. »Da bin ich dir natürlich gern behilflich.«

Beinahe musste ich lächeln. Er gab nie auf.

»Eric.« Das war Bills kühle Stimme, und da war er auch schon durch den Vorhang neben Eric an mein Bett getreten.

»Warum wundere ich mich nicht, dich hier anzutreffen?«, sagte Eric in einem Ton, der keinen Zweifel an seinem Missfallen ließ.

Erics Verärgerung konnte Bill nicht einfach ignorieren, denn Eric war von höherem Rang und stand weit über dem jüngeren Vampir. Bill war etwa hundertfünfunddreißig Jahre alt, Eric wahrscheinlich über tausend. (Ich hatte ihn mal gefragt, aber er schien es selbst nicht so genau zu wissen.) Eric war eine geborene Führungspersönlichkeit, Bill eher ein Einzelkämpfer. Nur eins hatten sie gemeinsam: Sie waren beide mit mir im Bett gewesen. Doch in diesem Augenblick nervte mich der eine genauso wie der andere.

»In der Residenz der Königin habe ich im Polizeifunk gehört, dass die Vampirpolizei zur Bändigung eines neuen Vampirs gerufen wurde. Und ich habe die Adresse erkannt«, erklärte Bill. »Natürlich fand ich heraus, wohin Sookie gebracht wurde, und bin so schnell wie möglich hierher geeilt.«

Ich schloss die Augen.

»Eric, du ermüdest sie«, sagte Bill fast noch kühler als üblich. »Du solltest Sookie in Ruhe lassen.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Aufgeladen mit irgendeinem starken Gefühl. Ich schlug die Augen auf und sah vom einen zum anderen. In diesem Moment hätte ich die Gedanken von Vampiren zu gern mal lesen können.

Bills Gesichtsausdruck entnahm ich, dass er seine Worte zutiefst bereute, aber warum? Eric sah Bill mit einem vieldeutigen Ausdruck an, in dem Entschlossenheit lag und noch etwas weniger Definierbares. Bedauern vielleicht.

»Ich weiß sehr gut, warum du Sookie hier in New Orleans isoliert halten willst«, sagte Eric. Wie immer, wenn er wütend war, rollte er das R sehr viel stärker.

Bill wich seinem Blick aus.

Obwohl mein Arm pulsierend schmerzte und ich der beiden wirklich überdrüssig war, wurde etwas in mir hellhörig und aufmerksam. In Erics Stimme hatte ein unmissverständlicher Unterton gelegen. Und dass Bill nicht antwortete, war seltsam... unheilverkündend.

»Was ist los?« Mein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. Ich versuchte, mich auf den Ellbogen meines Arms zu stützen. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch den Arm mit der Bisswunde. Ich drückte den Knopf, mit dem man das Kopfteil der Liege hochfahren konnte. »Was sollen all diese Andeutungen, Eric? Bill?«

»Eric sollte dich nicht aufregen, wenn du schon mit so vielem zu kämpfen hast«, sagte Bill schließlich. Auch wenn Bills Gesicht nie für seine Ausdruckskraft berühmt war, hatte er jetzt doch eine Miene aufgesetzt, die meine Großmutter »verschlossen wie meine Speisekammer vor Weihnachten« genannt hatte.

Eric verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete angelegentlich den Boden.

»Bill?«, fragte ich.

»Frag ihn, warum er nach Bon Temps zurückkam, Sookie«, sagte Eric sehr leise.

»Na ja, der alte Mr Compton starb, und er wollte sein Erbe ...« Jetzt konnte ich Bills Miene nicht mal mehr beschreiben. Mein Herz schlug schneller. Furcht begann mir den Magen abzuschnüren. »Bill?«

Eric wandte das Gesicht ab, doch ich sah noch, wie ihm ein Anflug von Mitleid über das Gesicht huschte. Nichts hätte mir mehr Angst einjagen können. Ich konnte vielleicht die Gedanken von Vampiren nicht lesen, doch in diesem Fall sagte seine Körpersprache alles. Eric wandte sich ab, weil er nicht mit ansehen wollte, wie das Messer mich durchbohrte.

»Sookie, du hättest es sowieso erfahren, wenn du der Königin begegnest... Aber du hättest es vielleicht nicht verstanden ... doch dafür hat Eric ja jetzt gesorgt.« Er warf Erics Rücken einen Blick zu, der sich bis zum Herzen hätte durchbohren können. »Als deine Cousine Hadley zur Freundin der Königin wurde...«

Und plötzlich wusste ich es, wusste alles, was er mir erzählen würde. Ich richtete mich auf der Untersuchungsliege auf und schlug mir, nach Luft ringend, die Hand vor die Brust, weil ich spürte, wie mein Herz zu zerspringen drohte. Und Bill redete immer weiter, obwohl ich wild den Kopf schüttelte.

»Hadley sprach oft von dir und deinem Talent, um die Königin zu beeindrucken und ihr Interesse wachzuhalten. Und die Königin wusste, dass ich aus Bon Temps stamme. Ich habe manche Nacht darüber nachgedacht, ob sie den alten Compton wohl umbringen ließ, um die Sache ein wenig zu beschleunigen. Aber vielleicht ist er wirklich an Altersschwäche gestorben.« Bill sah zu Boden und bemerkte meine linke Hand nicht, die ihm ein deutliches »Stopp« signalisierte.

»Sie befahl mir, an den Ort meines menschlichen Daseins zurückzukehren, mich mit dir anzufreunden und dich, wenn nötig, zu verführen...«

Ich konnte nicht mehr atmen. Ganz egal, wie fest ich die Hand an die Brust drückte, ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz zersprang, das Messer immer tiefer in mein Fleisch drang.

»Sie wollte sich dein Talent zunutze machen«, sagte er und wollte noch mehr sagen. Meine Augen standen so voller Tränen, dass ich ihn nicht mehr deutlich sah, den Ausdruck in seinem Gesicht nicht mehr erkennen konnte, und es war mir auch egal. Aber solange er in meiner Nähe war, durfte ich nicht weinen. Das hätte ich mir niemals erlaubt.

»Raus hier«, stieß ich schließlich mühsam hervor. Was immer er sonst noch zu sagen hatte, ich konnte einfach nicht ertragen, dass er den Schmerz, den er mir bereitete, auch noch mit ansehen durfte.

Er versuchte mir direkt in die Augen zu blicken, aber die standen voller Tränen. Was immer er mir zu übermitteln versuchte, es drang nicht zu mir durch. »Bitte, lass mich zu Ende erzählen«, sagte Bill.

»Ich will dich nie wieder sehen, mein ganzes Leben lang nicht«, flüsterte ich. »Niemals.«

Er sagte kein Wort. Seine Lippen bewegten sich, als versuchte er, Worte zu formen. Doch ich schüttelte den Kopf. »Raus«, wiederholte ich mit so erstickter Stimme voller Hass und Seelenqual, dass sie gar nicht mehr wie meine eigene klang. Bill drehte sich um und ging durch den Vorhang hindurch und aus der Notaufnahme hinaus. Eric sah mir nicht ins Gesicht. Gott sei Dank. Flüchtig legte er die Hand auf mein Bein, tätschelte es, und dann ging auch er.

Ich wollte schreien. Ich wollte jemanden mit meinen bloßen Händen umbringen.

Ich musste jetzt allein sein. Ich konnte nicht zulassen, dass irgendjemand mich so leiden sah. Dieser Schmerz war an eine so tiefe Wut gefesselt, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich war krank vor Zorn und Schmerz. Der Vampirbiss von Jake Purifoy war nichts gewesen dagegen.

Ich konnte nicht still liegen bleiben. Mit einiger Mühe stieg ich aus dem Bett. Ich war natürlich noch immer barfuß, und seltsam unbeteiligt dachte ich, wie unglaublich schmutzig meine Füße doch waren. Ich taumelte aus dem Untersuchungsbereich heraus, entdeckte die Schwingtüren zum Wartezimmer und hielt darauf zu. Das Gehen war echt ein Problem.

Eine Krankenschwester mit Klemmbrett im Arm eilte auf mich zu. »Miss Stackhouse, in einer Minute kommt ein Arzt zu Ihnen. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten...«

Ich drehte mich zu ihr um, und sie wich erschrocken zurück. Ich ging weiter auf die Türen zu, mit unsicheren Schritten, aber mit klarer Absicht. Ich wollte hier raus. Was danach kommen sollte, wusste ich nicht. Ich erreichte die Türen, stieß sie auf und schleppte mich durch das überfüllte Wartezimmer. In dem bunten Gemisch von Patienten und Verwandten, die auf einen Arzt warteten, fiel ich gar nicht weiter auf. Manche waren noch schmutziger und blutiger als ich, manche älter - und wieder andere viel jünger. Mit einer Hand stützte ich mich an der Wand ab und tastete mich vorwärts, auf die Eingangstür der Notaufnahme zu, nach draußen.

Ich schaffte es.

Draußen war es viel ruhiger, und es war warm. Es ging ein Wind, aber nur ein sehr milder. Barfuß und ohne jeden Cent stand ich unter den grellen Lichtern der Tür. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich im Verhältnis zum Apartment befand, und wusste auch nicht, ob ich dahin gehen sollte, aber ich war jedenfalls nicht mehr im Krankenhaus.

Ein Obdachloser kam auf mich zu. »Haste 'n bisschen Kleingeld, Schwester?«, fragte er. »Hab auch grad 'ne Pechsträhne.«

»Sehe ich so aus, als hätte ich irgendwas?«, fragte ich ihn mit vernünftig klingender Stimme.

Genauso erschrocken wie die Krankenschwester sah er mich an. »'tschuldigung«, sagte er und wich zurück. Ich ging einen Schritt hinter ihm her.

»Ich habe gar nichts!«, schrie ich. Und dann fügte ich in absolut ruhigem Ton hinzu: »Wissen Sie, ich hatte von Anfang an überhaupt nichts.«

Er zitterte und brabbelte irgendetwas, doch ich ignorierte ihn und machte mich auf den Weg. Der Krankenwagen war auf dem Hinweg rechts in die Klinikauffahrt abgebogen, also ging ich nach links. Ich konnte mich nicht erinnern, wie lange die Fahrt gedauert hatte, denn ich hatte mich mit Delagardie unterhalten. Da war ich noch ein anderer Mensch gewesen. Ich ging und ging und ging, unter Palmen entlang, an rhythmischer Musik vorbei, streifte abblätternde Fensterläden von Häusern, die direkt am Gehweg standen.

In einer Straße mit vielen Bars kamen ein paar junge Männer aus einer heraus, als ich gerade vorbeiging. Einer von ihnen packte mich am Arm. Schreiend fuhr ich herum, und mit einer seltsam ruckartigen Bewegung schleuderte ich ihn gegen die Wand. Benommen stand er da und rieb sich den Kopf.

Seine Freunde zogen ihn weg. »Die is verrückt«, sagte einer besänftigend. »Lass die in Ruh.« Sie verschwanden in die andere Richtung.

Nach einiger Zeit hatte ich mich so weit erholt, dass ich mich fragte, was ich hier tat. Aber ich hatte nur eine unklare Vorstellung. Als ich auf einem kaputten Gehweg stolperte, hinfiel und mir das Knie aufschlug, so dass es blutete, brachte der neuerliche körperliche Schmerz mich ein Stück weit zu mir selbst zurück.

»Tust du das, damit es ihnen leidtut, dass sie dir wehgetan haben?«, fragte ich mich selbst laut. »O mein Gott, die arme Sookie! Ist aus dem Krankenhaus weggelaufen, ganz verrückt vor Kummer, und allein durch die gefährlichen Straßen von Big Easy geirrt, weil Bill ihr das angetan hat!«

Ich wollte nicht, dass Bill jemals wieder meinen Namen aussprach. Als ich langsam - sehr langsam - zu mir kam, begann ich mich zu wundern, dass ich mit solch einem heftigen Ausbruch reagiert hatte. Wären Bill und ich noch zusammen gewesen, als ich erfuhr, was ich an diesem Abend erfahren hatte, hätte ich ihn umgebracht; das wusste ich glasklar. Und der Grund, warum ich aus dem Krankenhaus raus musste, war ebenso glasklar. Ich hätte es nicht ertragen, mit irgendjemand auf der Welt reden zu müssen. Wie aus heiterem Himmel hatte mich das allerschmerzlichste Wissen getroffen: Der erste Mann, der je zu mir sagte, dass er mich liebte, hat mich nie geliebt.

Seine Leidenschaft war vorgetäuscht.

Sein Werben um mich war arrangiert.

Ich muss eine so leichte Beute für ihn gewesen sein, so gutgläubig und bereit, mich von dem ersten Mann, der mir ein bisschen Zeit und Aufmerksamkeit schenkte, gewinnen zu lassen. Gewinnen zu lassen! Schon die Worte allein taten mir weh. Er hatte mich nie als erstrebenswerten Gewinn betrachtet.

Bis das ganze Gebäude in einem einzigen Moment eingestürzt war, hatte ich mir nie eingestanden, wie sehr mein Leben im letzten Jahr auf die morschen Grundmauern von Bills Liebe und Anerkennung gebaut gewesen war.

»Und dem habe ich das Leben gerettet«, sagte ich erstaunt. »Ich bin nach Jackson gefahren und habe mein Leben für ihn riskiert, weil er mich liebte.« Ein Teil von mir wusste, dass das so nicht ganz stimmte. Ich hatte es getan; weil ich ihn liebte. Und in diesem Moment wunderte ich mich auch darüber, dass der Ruf seiner Schöpferin Lorena noch stärker gewesen sein sollte als der Befehl der Königin. Aber ich war ganz und gar nicht in der Stimmung, emotionale Haarspaltereien zu betreiben. Beim Gedanken an Lorena durchfuhr mich allerdings ein anderer Schock. »Und getötet habe ich auch für ihn«, sagte ich in die tiefschwarze Nacht hinein. »O mein Gott. Ich habe getötet für ihn

Zerschrammt, voller blauer Flecken, blutbeschmiert und schmutzig stand ich auf der Straße und sah zu einem Schild hinauf. »Chloe Street« stand darauf. Hier war Hadleys Apartment, dämmerte es mir. Ich bog rechts ab und ging wieder weiter.

Das Haus war dunkel, oben und unten. Vielleicht war Amelia noch im Krankenhaus. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war oder wie lange ich gelaufen war.

Hadleys Apartment war abgeschlossen. Ich ging hinunter, nahm einen der Blumentöpfe, die Amelia vor ihrer Tür arrangiert hatte, stieg die Treppe erneut hinauf und warf ihn durch eine der Glasscheiben der Tür. Ich fasste hindurch und entriegelte die Tür. Die Alarmanlage ging nicht los. Ich war mir ziemlich sicher gewesen, dass die Polizei den Code nicht kannte und daher auch nicht aktivieren konnte, als sie nach getaner Arbeit - was immer das gewesen sein mochte - gegangen war.

In der Wohnung herrschte ein wüstes Durcheinander von unserem Kampf mit Jake Purifoy. Da erwartete mich eine neuerliche Putzaktion, morgen früh ... oder wann immer mein Leben weiterging. Im Badezimmer zog ich mir die Kleider aus und sah mir eine Minute lang an, in welchem Zustand sie waren. Dann ging ich über den Flur, öffnete das nächstliegende Fenster und warf die Sachen in hohem Bogen über das Geländer der Galerie. Wenn doch bloß alle Probleme so leicht zu beseitigen wären, dachte ich und hatte gleich ein schlechtes Gewissen, weil ich noch mehr Durcheinander schaffte, das dann irgendein anderer aufräumen musste - immerhin schien meine eigene Persönlichkeit so weit wiederhergestellt zu sein, dass ich dieses Verhalten nicht als das von Sookie Stackhouse akzeptieren konnte. Mein schlechtes Gewissen reichte allerdings nicht so weit, dass ich runtergegangen wäre, um die dreckigen Klamotten wieder einzusammeln. Noch nicht.

Ich schob einen Stuhl unter die Tür mit der zerbrochenen Glasscheibe, tippte die Zahlenkombination, die Amelia mir genannt hatte, in die Alarmanlage und stellte mich unter die Dusche. Das Wasser brannte auf meinen vielen Kratz- und Schnittwunden, und der tiefe Vampirbiss begann wieder zu bluten. Mist. Meine Vampircousine hatte natürlich keine Hausapotheke benötigt. Schließlich fand ich ein paar runde Baumwollpads, die sie wahrscheinlich zum Abschminken benutzt hatte, und in einem der Kleidersäcke fand ich ein lächerlich buntes Halstuch mit Leopardenmuster. Ich drückte die Pads auf die Wunde und zog das Halstuch so fest darum, wie es ging.

Wenigstens waren diese abscheulichen Satinlaken jetzt meine geringste Sorge. Unter Schmerzen streifte ich mir mein Nachthemd über, legte mich ins Bett und betete einfach nur um Bewusstlosigkeit.