Kapitel 14

Jemand kniff mich in den großen Zeh und rief: »Aufwachen! Aufwachen!« Mit einem erschreckten Schrei fuhr ich hoch, war schlagartig wach und sah ein mir unvertrautes, von Sonnenschein durchflutetes Zimmer. Eine Frau, die ich nicht kannte, stand am Fuß des Bettes.

»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte ich gereizt, aber nicht ängstlich, denn sie wirkte nicht gefährlich. Sie war etwa in meinem Alter und sehr braun gebrannt. Das kastanienbraune Haar trug sie kurz, die Augen waren hellblau, und sie hatte khakifarbene Shorts und eine weiße Hemdbluse an, die offen über einem korallenroten Trägertop hing. Sie war der Jahreszeit ziemlich weit voraus.

»Ich bin Amelia Broadway. Mir gehört das Haus.«

»Und warum kommen Sie hier herein und wecken mich?«

»Ich habe in der Nacht Cataliades im Innenhof gehört und mir gleich gedacht, dass er Sie hergebracht hat, damit Sie Hadleys Wohnung auflösen. Ich will mit Ihnen reden.«

»Konnten Sie nicht warten, bis ich von selbst aufwache? Und wieso haben Sie einfach aufgeschlossen, anstatt zu klingeln? Was ist denn mit Ihnen los?«

Jetzt war sie richtiggehend geschockt. Zum ersten Mal wirkte Amelia Broadway, als dämmere ihr, dass sie die Situation nicht gerade optimal gehandhabt hatte. »Na ja, ich bin ziemlich beunruhigt, wissen Sie«, sagte sie kleinlaut.

»Ach ja? Ich auch«, erwiderte ich. »Da sind wir ja schon zwei. Im Moment bin ich sogar sehr beunruhigt. Jetzt gehen Sie schon raus hier und warten Sie im Wohnzimmer, okay?«

»Ja, klar«, sagte sie. »Kann ich machen.«

Ich wartete, bis sich mein Herzschlag wieder normalisiert hatte, ehe ich aufstand. Dann machte ich schnell das Bett und zog ein paar Sachen zum Anziehen aus meiner Reisetasche. Auf dem Weg ins Badezimmer warf ich einen kurzen Blick auf meinen uneingeladenen Gast. Sie wischte im Wohnzimmer Staub - mit etwas, das verdächtig wie ein Männerhemd aussah. Hm.

Ich duschte schnell, trug ein wenig Make-up auf und kam schließlich barfuß, aber in Jeans und Shirt aus dem Bad.

Amelia Broadway hörte mit der Putzerei auf und sah mich an. »Sie sehen Hadley gar nicht ähnlich«, stellte sie fest, aber ihrem Tonfall war nicht zu entnehmen, ob sie das nun gut oder schlecht fand.

»Ich bin auch gar nicht wie Hadley, in keiner Weise«, erwiderte ich ausdruckslos.

»Sehr gut. Hadley war wirklich furchtbar«, sagte Amelia plötzlich unerwartet. »Ups. Entschuldigung, ich bin nicht gerade taktvoll.«

»Ach ja?« Ich versuchte sachlich zu klingen, doch eine Spur Sarkasmus lag wohl in meiner Stimme. »Könnten Sie mir zeigen, wo der Kaffee steht, falls Sie es wissen?« Zum ersten Mal sah ich die Küche im hellen Tageslicht. Sie war aus rotem Backstein und Kupfer, mit einer Edelstahlarbeitsfläche, einem dazu passenden Kühlschrank und einer Spüle mit einer Armatur, die mehr gekostet haben musste als meine Kleidung zusammen. Klein, aber schick und ausgefallen, wie die restliche Wohnung.

Und das alles für eine Vampirin, die eine Küche eigentlich gar nicht brauchte.

»Hadleys Kaffeemaschine steht gleich dort«, sagte Amelia, und da hatte ich sie auch schon entdeckt. Sie war schwarz und fügte sich bestens in das Küchendesign ein. Hadley war immer ein Kaffeefreak gewesen, deshalb hatte ich gehofft, dass sie auch als Vampirin nicht auf ihr Lieblingsgetränk hatte verzichten wollen. Ich öffnete den Küchenschrank über der Kaffeemaschine und sah hinein - zwei Dosen Community Coffee standen darin und ein paar Filter. Der silbrige Verschluss der ersten Kaffeedose, die ich zur Hand nahm, war noch versiegelt, doch die andere war angebrochen und halb voll. Freudig sog ich den herrlichen Kaffeeduft ein. Der Kaffee schien erstaunlich frisch zu sein.

Nachdem ich die Kaffeemaschine befüllt und eingestellt hatte, suchte ich zwei Becher heraus und stellte sie daneben. Die Zuckerdose stand gleich bei der Kaffeemaschine, doch es war nur noch ein eingetrockneter Rest darin. Ich schüttete die Brocken in den Mülleimer, in dem ein frischer Müllbeutel steckte. Jemand hatte ihn nach Hadleys Tod geleert. Ob Hadley wohl Kaffeeweißer-Pulver im Kühlschrank hatte? Im Süden bewahrten die Leute gern alles kühl auf, was sie nicht häufig benutzten.

Doch als ich den glänzenden Edelstahlkühlschrank öffnete, war außer fünf Flaschen »TrueBlood« nichts darin.

Bisher war mir noch nie derart deutlich zu Bewusstsein gekommen, dass meine Cousine Hadley tatsächlich als Vampirin gestorben war. Nie zuvor hatte ich jemanden als Menschen und dann als Vampir gekannt. Es war ein regelrechter Schock. Ich hatte viele Erinnerungen an Hadley, einige waren schön, andere eher unschön - aber in all diesen Erinnerungen hatte meine Cousine geatmet, und ihr Herz hatte geschlagen. Mit zusammengepressten Lippen stand ich da und starrte die roten Flaschen an, bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich die Tür sanft schließen konnte.

Nachdem ich auch in den Küchenschränken vergeblich nach Kaffeeweißer gesucht hatte, sagte ich einfach zu Amelia, hoffentlich trinke sie ihren Kaffee auch schwarz.

»Oh, sehr gern«, antwortete sie geradezu mustergültig. Offensichtlich gab sie sich größte Mühe, ein höflicheres Verhalten an den Tag zu legen als vorhin, wofür ich nur dankbar sein konnte. Hadleys Vermieterin hatte sich in einen von Hadleys spindelbeinigen Sesseln gesetzt. Die Polsterung war wirklich hübsch, ein gelber Seidenstoff mit dunkelroten und blauen Blumen, doch der zerbrechliche Charakter der Möbel gefiel mir nicht. Mir sind Sessel lieber, die aussehen, als könnten sie auch schwere Leute ohne Ächzen und Knarren aushalten. Ich mag Möbel, denen man ansieht, dass etwas verschüttete Coke sie nicht gleich ruiniert oder dass auch der Hund mal draufspringen und ein Nickerchen dort machen darf. Ich setzte mich auf das kleine Sofa der Vermieterin gegenüber. Hübsch, ja. Bequem, nein. Verdacht bestätigt.

»Was sind Sie, Amelia?«

»Wie bitte?«

»Was sind Sie?«

»Oh, eine Hexe.«

»Ach, darum also.« Ich hatte an ihr nichts von der Ausstrahlung der Geschöpfe gespürt, deren Körperzellen sich durch ihr übernatürliches Wesen verändert hatten. Amelia hatte ihre »Andersartigkeit« selbst erworben. »Haben Sie das Apartment mit Magie versiegelt?«

»Ja«, sagte sie ziemlich stolz und warf mir einen forschenden Blick zu. Ich hatte gewusst, dass das Apartment mit Magie versiegelt und sie ein Mitglied der anderen, der verborgenen Welt war. Ich mochte ein normaler Mensch sein, aber ich wusste Bescheid. All diese Gedanken las ich in Amelias Kopf so deutlich, als hätte sie sie ausgesprochen. Sie war eine außergewöhnlich gute Senderin, so klar und rein wie ihr Teint. »In der Nacht, in der Hadley starb, hat der Rechtsanwalt der Königin mich angerufen. Ich hatte natürlich schon geschlafen. Er hat mir gesagt, dass ich hier abschließen soll, dass Hadley nicht zurückkommt und dass die Königin die Wohnung der Erbin unverändert übergeben will. Gleich am nächsten Morgen bin ich heraufgekommen und habe sauber gemacht.« Sie hatte Gummihandschuhe getragen, das konnte ich in ihrem geistigen Bild von sich selbst am Morgen nach Hadleys Tod erkennen.

»Haben Sie auch den Müll weggebracht und das Bett gemacht?«

Sie wirkte verlegen. »Ja. Ich wusste ja nicht, dass unverändert bedeutete, ich sollte nichts anrühren. Cataliades war ziemlich aufgebracht, als er es sah. Aber ich bin trotzdem froh, dass ich den Müll rausgeschafft habe. Seltsam war allerdings, dass schon jemand drin rumgewühlt hatte, bevor ich ihn für die Müllabfuhr hinausgestellt habe.«

»Sie wissen wohl nicht, ob jemand was herausgenommen hat, oder?«

Amelia warf mir einen ungläubigen Blick zu. »Also, von so was fertige ich eigentlich keine Inventarlisten an«, sagte sie und fügte dann zögernd hinzu: »Der Müll war mit einem Zauberspruch versehen worden, aber ich wusste nicht, was er bewirken sollte.«

Das war keine gute Neuigkeit. Aber Amelia gab das nicht mal sich selbst gegenüber zu. Sie wollte einfach nicht glauben, dass ihr Haus ein Angriffsziel für Supras sein könnte. Amelia war stolz darauf, dass ihre magische Versiegelung funktioniert hatte, und sie war einfach nicht auf die Idee gekommen, auch den Müll durch Magie zu schützen.

»Ach, und ich habe all ihre Topfpflanzen zu mir runtergebracht, weil es so mit dem Gießen einfacher ist. Wenn Sie die also in Ihr Nest im Nirgendwo mitnehmen wollen, gern.«

»Bon Temps«, korrigierte ich. Amelia schnaubte mit der Geringschätzung der Großstadtmenschen für Kleinstadtbewohner. »Ihnen gehört das Haus also. Wann haben Sie Hadley denn das obere Stockwerk vermietet?«

»Vor einem Jahr etwa. Da war sie schon Vampirin«, sagte Amelia. »Und die Freundin der Königin war sie auch schon eine ganze Weile. Ich hielt es für einen guten Schutz, verstehen Sie? Keiner wird das Schätzchen der Königin angreifen, oder? Und es wird auch keiner wagen, bei ihr einzubrechen.«

Ich hätte Amelia zu gern gefragt, wie sie selbst zu so einem Haus kam, aber das erschien mir denn doch etwas zu unhöflich. »Sie leben also vom Hexengeschäft?«, fragte ich stattdessen und versuchte, nur beiläufiges Interesse zu zeigen.

Sie zuckte die Achseln, freute sich aber über die Frage. Obwohl sie von ihrer Mutter sehr viel Geld geerbt hatte, war Amelia stolz, dass sie sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Ich las es so deutlich in ihren Gedanken, als hätte sie es ausgesprochen. »Ja, davon lebe ich«, sagte sie in der Absicht, bescheiden zu erscheinen - was aber misslang. Sie hatte hart dafür gearbeitet, eine Hexe zu werden, und jetzt war sie stolz auf ihre magischen Kräfte.

Es war, als würde ich in einem Buch lesen.

»Wenn's mal nicht so gut läuft, helfe ich bei einer Freundin aus, die gleich beim Jackson Square einen Laden für Magie hat. Als Wahrsagerin«, gab sie zu. »Und manchmal mache ich magische Touren durch New Orleans für Touristen. Das kann ganz lustig sein, und je stärker ich sie in Angst und Schrecken versetze, desto besser fallen die Trinkgelder aus. Und mit allem zusammengenommen komme ich schon hin.«

»Sie treiben auch ernsthafte Magie«, sagte ich, und sie nickte glücklich. »Für wen?«, fragte ich. »Die normale Welt gibt doch nicht zu, dass so etwas existiert.«

»Die Supras zahlen wirklich gut«, sagte sie, überrascht, dass ich danach erst fragen musste. Eigentlich musste ich das gar nicht, aber es war am einfachsten, ihre Gedanken zu lenken, indem ich sie direkt nach dem fragte, was ich wissen wollte. »Besonders die Vampire und Werwölfe. Sie mögen Hexen zwar nicht besonders, aber gerade die Vampire sind ganz versessen auf jeden kleinen Vorteil, den sie sich verschaffen können. Alle anderen sind längst nicht so organisiert.« Mit einer wegwerfenden Geste fegte sie die schwächeren Geschöpfe der übernatürlichen Welt beiseite, die Werfledermäuse, Werkatzen und sonstige Gestaltwandler. Sie unterschätzte die Kräfte der anderen Supras, ein echter Fehler.

»Und wie sieht's mit Elfen aus?«, fragte ich neugierig.

»Die haben genug eigene Magie«, sagte sie achselzuckend. »Die brauchen mich nicht. Ich weiß, jemandem wie Ihnen fällt es sicher schwer, zu akzeptieren, dass es solch ein unsichtbares, aber ganz natürliches Talent gibt, das alles in Frage stellt, was Sie von Haus aus gelernt haben.«

Ich unterdrückte ein ungläubiges Lachen. Sie wusste wirklich gar nichts über mich. Wer weiß, worüber Hadley und sie sich unterhalten hatten, über Hadleys Familie jedenfalls nicht. Als mir das durch den Kopf schoss, schrillte eine Alarmglocke im hintersten Winkel meines Hirns und forderte mich auf, diesen Gedankengang weiterzuverfolgen. Doch ich schob ihn beiseite, um später darüber nachzudenken. Jetzt musste ich erst mal mit Amelia Broadway zurechtkommen.

»Würden Sie sagen, dass Sie ein großes übernatürliches Talent besitzen?«, fragte ich.

Ich konnte spüren, wie sie die Welle von Stolz, die in ihr hochstieg, zu unterdrücken versuchte. »Ich habe etwas Talent«, erwiderte sie bescheiden. »Dieses Apartment habe ich zum Beispiel mit einem Tempus-Stasis-Zauber belegt, als ich nicht weiter sauber machen konnte. Obwohl seit Monaten niemand mehr hier drin war, riecht man doch gar nichts, oder?«

Das erklärte, warum von den fleckigen Handtüchern kaum ein Geruch ausging. »Sie betreiben also Hexerei für Supras, arbeiten als Wahrsagerin am Jackson Square und machen hin und wieder magische Touristenführungen. Nicht gerade normale Bürojobs.«

»Richtig.« Sie nickte, glücklich und stolz.

»Das heißt, Sie bestimmen Ihren Arbeitsplan selbst?« Ich konnte Amelias Erleichterung darüber, dass sie nicht mehr in ein Büro musste, förmlich hören. Sie hatte drei Jahre lang bei der Post gearbeitet, ehe sie eine vollwertige Hexe wurde.

»Ja.«

»Würden Sie mir dann vielleicht helfen, Hadleys Wohnung auszuräumen? Ich bezahle Sie natürlich dafür.«

»Aber sicher helfe ich Ihnen. Je schneller die Sachen hier raus sind, desto schneller kann ich die Wohnung wieder vermieten. Und was die Bezahlung angeht: Warum warten wir nicht erst mal ab, wie viel Zeit ich da reinstecken kann? Manchmal bekomme ich so was wie, na ja, Notrufe.« Amelia lächelte mich so strahlend an, dass sie glatt als Zahnpastareklame durchgegangen wäre.

»Hat seit Hadleys Tod nicht die Königin die Miete gezahlt?«

»Doch, hat sie. Aber es ist irgendwie gruselig, dass Hadleys Zeug noch immer hier oben herumsteht. Und es hat schon zwei Einbruchsversuche gegeben. Der letzte war erst vor zwei Tagen.«

Mir erstarb das Lächeln auf den Lippen.

»Zuerst dachte ich ja noch«, plapperte Amelia weiter, »dass so was eben vorkommt, wenn jemand stirbt und die Todesanzeige in der Zeitung steht. Einbrüche während Beerdigungen sind keine Seltenheit. Es gibt natürlich keine Todesanzeigen für Vampire, vermutlich, weil die sowieso schon tot sind oder weil die anderen Vampire keine Texte an die Zeitung schicken ... wäre aber ganz interessant zu erfahren, wie die das handhaben. Sie könnten ja ein paar Zeilen über Hadley einschicken. Aber Sie wissen ja, wie Vampire tratschen. Es haben sicher eine Menge Leute mitbekommen, dass Hadley zum zweiten Mal, also endgültig gestorben ist. Spätestens, als Waldo vom Hof der Königin verschwand. Jeder wusste, dass er nichts für Hadley übrig hatte. Allerdings gibt es ja keine Beerdigungen für Vampire. Die Einbrüche haben wahrscheinlich überhaupt nichts mit Hadleys Tod zu tun.«

»Oh, Sie kannten Waldo«, sagte ich, um ihren Redefluss zu stoppen. Waldo, einst Günstling der Königin - nicht im Bett, sondern als Lakai -, hatte sich nicht damit abgefunden, dass meine Cousine Hadley ihn verdrängte. Als Hadley über eine noch nie da gewesene Zeitspanne hinweg die Gunst der Königin genoss, hatte Waldo sie auf den St.- Louis-Friedhof gelockt, unter dem Vorwand, dass sie dort den Geist von Marie Laveau, der berüchtigten Voodookönigin von New Orleans, beschwören wollten. Doch stattdessen tötete er Hadley und beschuldigte die Bruderschaft der Sonne des Mordes. Mr Cataliades hatte mir so lange Hinweise gegeben, bis ich in Waldo den Schuldigen erkannte, und die Königin hatte mir die Möglichkeit gewährt, Waldo selbst hinzurichten - das war es, was sie unter einem »großen Gunstbeweis« verstand. Ich hatte dankend verzichtet. Doch auch er war jetzt tot, genauso endgültig tot wie Hadley. Ich schauderte.

»Tja, ich kenne Waldo besser als mir lieb ist«, erwiderte Amelia Broadway mit der Offenheit, die charakteristisch für sie zu sein schien. »Aber Sie sprechen in der Vergangenheitsform von ihm. Darf ich etwa hoffen, dass Waldo seine allerletzte Reise angetreten hat?«

»Das dürfen Sie«, sagte ich. »Und die Hoffnung ist sogar schon zur Sicherheit geworden.«

»Oh, wow!«, rief sie glücklich.

Na, zumindest einer Person hatte ich heute schon Freude beschert. Ich las in Amelias Gedanken, wie sehr sie den Vampir gehasst hatte, und konnte ihr keinen Vorwurf machen. Er war abscheulich gewesen. Amelia war eine sehr zielstrebige Frau, was sie sicher zu einer eindrucksvollen Hexe machte. Doch in diesem Moment hätte sie besser darüber nachdenken sollen, was ich mit all dem zu tun hatte, und das tat sie nicht. Es hat auch Nachteile, sich zu sehr auf ein einziges Ziel zu konzentrieren.

»Sie wollen also Hadleys Wohnung ausräumen, damit in Ihr Haus nicht mehr eingebrochen wird? Von diesen Dieben, die von Hadleys Tod erfahren haben?«

»Genau«, erwiderte sie und trank ihren letzten Schluck Kaffee. »Mir gefällt's, wenn ich weiß, dass auch noch jemand anders im Haus ist. Ich finde so ein leer stehendes Apartment gruselig. Wenigstens können Vampire nicht als Geister umgehen.«

»Das wusste ich gar nicht.« Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.

»Es gibt keine Vampirgeister«, erklärte Amelia lebhaft. »Nicht einen einzigen. Man muss als Mensch gestorben sein, um als Geist umgehen zu können. Hey, soll ich Ihnen vielleicht wahrsagen? Ich weiß, das klingt ein bisschen unheimlich, aber ich bin wirklich gut, echt!« Sie dachte, sie könnte mir ein bisschen touristischen Nervenkitzel verschaffen, da ich ja sowieso nicht lange in New Orleans bleiben würde. Und sie war überzeugt, je netter sie zu mir wäre, umso schneller würde ich Hadleys Wohnung auflösen, so dass sie das Apartment anderweitig vermieten könnte.

»Klar«, sagte ich langsam. »Wenn Sie wollen, jetzt gleich.« Eine prima Gelegenheit, um herauszufinden, wie gut Amelia als Hexe wirklich war. Denn mit den typischen Hexen hatte sie keinerlei Ähnlichkeit. Amelia sah gepflegt, blühend und gesund aus wie eine Vorstadthausfrau mit Ford Explorer und Irish Setter. Schneller als ich gucken konnte, zog sie Tarotkarten aus der Tasche ihrer Shorts und beugte sich über den Couchtisch, um die Karten auszulegen. Das tat sie sehr rasch und professionell, ohne dass ich darin irgendeinen Sinn erkannt hätte.

Nachdem sie eine Weile über den Bildern gegrübelt hatte, hielt ihr über die Karten wandernder Blick inne und fixierte einen Augenblick lang den Tisch. Ihr Gesicht lief rot an, und sie schloss die Augen, als würde sie sich fast zu Tode schämen. Was sie auch tat.

»Okay«, sagte sie schließlich leise und ausdruckslos. »Was sind Sie?«

»Telepathin.«

»Immer ziehe ich voreilige Schlüsse! Warum lerne ich nie dazu!«

»Keiner hält mich für irgendwie unheimlich«, sagte ich so sanft wie nur möglich, doch sie zuckte zusammen.

»Na, den Fehler mach ich kein zweites Mal«, erwiderte sie. »Deshalb wussten Sie so viel mehr über die Welt der Supras als jeder normale Mensch.«

»Und ich lerne jeden Tag noch hinzu.« Selbst in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme grimmig.

»Jetzt muss ich meiner Mentorin sagen, dass ich es vermasselt habe«, sagte Amelia, die so düster dreinsah, wie es ihr möglich war. Also nicht allzu sehr.

»Sie haben eine... Mentorin?«

»Ja, eine ältere Hexe, die in den ersten drei Jahren der Berufspraxis meine Fortschritte überwacht.«

»Woher wissen Sie, wann Sie für die Berufspraxis geeignet sind?«

»Oh, wir müssen Prüfungen ablegen«, erklärte Amelia, stand auf und ging zur Spüle hinüber. Ratzfatz hatte sie den Filter aus der Kaffeemaschine geholt, die Kanne und die Becher abgewaschen und die Spüle wieder trocken gewischt.

»Wollen wir morgen mit dem Zusammenpacken beginnen?«

»Wieso nicht jetzt gleich?«, fragte sie zurück.

»Erst mal möchte ich Hadleys Sachen allein durchgehen«, erwiderte ich und hoffte, dass das nicht gereizt klang.

»Oh. Ja, sicher.« Sie versuchte sich den Anschein zu geben, als hätte sie daran auch schon gedacht. »Und heute Abend müssen Sie sicher zur Königin, was?«

»Keine Ahnung.«

»Oh, ich wette, die erwarten Sie. War da gestern nicht so ein großer, dunkelhaariger, gutaussehender Vampir bei Ihnen? Er kam mir irgendwie bekannt vor.«

»Bill Compton«, sagte ich. »Ja, er wohnt schon seit Jahren in Louisiana und hat für die Königin gearbeitet.«

Sie sah mich an, ihre hellblauen Augen wirkten überrascht. »Oh, ich glaubte, er kannte Ihre Cousine.«

»Nein«, meinte ich. »Danke, dass Sie mich so früh geweckt haben. Da kann ich jetzt gleich mit der Arbeit beginnen. Und danke, dass Sie mir helfen wollen.«

Sie freute sich, gehen zu können, weil ich mich als ganz anders als erwartet herausgestellt hatte. Jetzt wollte sie erst mal bei ein paar Hexenschwestern in der Gegend von Bon Temps herumtelefonieren. »Holly Cleary«, sagte ich. »Sie kennt mich am besten.«

Amelia schnappte nach Luft und verabschiedete sich mit zittriger Stimme. Sie verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war.

Und auf einmal fühlte ich mich ausgelaugt. Ich hatte gerade ziemlich angegeben und innerhalb nur einer Stunde eine selbstbewusste, fröhliche junge Hexe in eine ängstliche Frau verwandelt.

Doch als ich mir Papier und Stift geholt hatte - die dort waren, wo sie hingehörten, in der Schublade beim Telefon -, um eine Aufgabenliste aufzustellen, beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass Amelia dieser kleine Schlag ins Gesicht ganz gut getan hatte. Wenn er nicht von mir gekommen wäre, dann vielleicht irgendwann von jemand anderem, der ihr wirklich schaden wollte.