Kapitel 3

Am nächsten Abend wurde ich im Merlotte's angerufen. Ja, stimmt, es ist nicht gerade gut, wenn man in der Arbeit Anrufe bekommt; und Sam mag das gar nicht, solange es sich nicht um Notfälle in der Familie handelt. Weil ich aber von allen Kellnerinnen am seltensten angerufen werde - die Anrufe, die ich je in der Arbeit bekommen habe, könnte ich glatt an einer Hand abzählen -, versuchte ich, mich nicht schuldig zu fühlen, als ich Sam ein Zeichen gab, dass ich den Anruf an dem Telefon hinten in seinem Büro entgegennehmen würde.

»Hallo«, sagte ich vorsichtig.

»Hallo«, erwiderte eine vertraute Stimme.

»Oh, Pam. Hi.« Ich war erleichtert, aber nur eine Sekunde lang. Pam war Erics Stellvertreterin, und sie war sein Geschöpf, wie das bei Vampiren so üblich ist.

»Der Boss will dich sehen«, sagte sie. »Ich rufe aus seinem Büro an.«

Erics Büro, das im rückwärtigen Teil seines Clubs Fangtasia lag, war ziemlich gut gegen Schall isoliert. Ich konnte nur schwach hören, was im Hintergrund auf WDED, dem Radiosender für jeden Vampir, lief: Eric Claptons Version von After Midnight.

»Ach ja? Er ist sich wohl zu fein, um selbst anzurufen?«

»Ja«, gab Pam unumwunden zu. Tja, Pam - sie nahm wirklich alles wortwörtlich.

»Worum geht's denn?«

»Ich befolge nur seine Anweisung«, erklärte sie. »Eric hat gesagt, ich soll die Telepathin anrufen, also rufe ich dich an. Er fordert dich auf, herzukommen.«

»Pam, ein bisschen näher musst du mir das schon erklären. Ich habe nämlich wenig Lust, Eric zu sehen.«

»Das ist alles redundant.«

Tja, äh, der Begriff war in meinem Kalender mit dem »Wort des Tages« noch nicht vorgekommen. »Wie? Ich verstehe nicht ganz.« Besser, ich gab's gleich zu, anstatt mich lange mit dem Versuch aufzuhalten, mich durchzumogeln.

Pam seufzte, nein, es war vielmehr ein langes, leidendes Aufstöhnen. »Das kannst du alles weglassen, du redest um den heißen Brei herum«, belehrte sie mich mit ihrem britischen Akzent. »Und du solltest nicht so widerspenstig sein. Eric behandelt dich sehr gut.« In ihrer Stimme lag ein Hauch Verwunderung.

»Ich opfere weder Arbeitszeit noch Freizeit, um nach Shreveport zu fahren, nur weil der große Mr Wichtig mich dazu auffordert«, erklärte ich - sehr vernünftig, wie ich fand. »Er kann seinen Arsch hierher bewegen, wenn er mir was zu sagen hat, oder mich höchstselbst anrufen.« Genau.

»Wenn er dich, wie du es nennst, höchstselbst anrufen wollte, hätte er das getan. Freitagabend um acht hier im Fangtasia, soll ich dir ausrichten.«

»Tut mir leid, keine Chance.«

Bedeutungsschwangeres Schweigen.

»Du willst nicht kommen?«

»Ich kann nicht. Ich habe eine Verabredung«, sagte ich und versuchte, nicht selbstgefällig zu klingen.

Erneutes Schweigen. Dann kicherte Pam. »Oh, klasse.« Sie sprach wieder im normalen amerikanischen Umgangston. »Ich freue mich jetzt schon drauf, ihm das zu erzählen.«

Ihre Reaktion verunsicherte mich etwas. »Äh, Pam«, begann ich und fragte mich, ob ich besser zurückrudern sollte, »hör mal...«

»Oh, nein«, unterbrach sie mich, beinahe laut lachend, was wirklich absolut Pam-untypisch war.

»Sag ihm, ich bedanke mich für das Exemplar des Kalenders.« Eric, der stets über neue Einnahmequellen für das Fangtasia nachdachte, hatte sich einen Vampirkalender ausgedacht, der in dem neuen kleinen Geschenkeshop verkauft werden sollte. Eric selbst war Mr Januar. Er hatte mit Bett und langer weißer Pelzrobe vor einem hellgrauen Hintergrund posiert, auf dem riesige glitzernde Schneeflocken klebten. Doch Eric trug die Pelzrobe nicht etwa, oh, nein. Er trug gar nichts. Das eine Knie angewinkelt auf dem zerwühlten Bett, den Fuß des anderen Beins auf dem Boden, stand Eric aufrecht da und schaute mit glühendem Blick direkt in die Kamera. (Er hätte Claude die eine oder andere Lektion erteilen können.) Seine blonden Haare fielen ihm in einer zerzausten Mähne um die Schultern, und mit einer Hand hielt er die aufs Bett drapierte Pelzrobe, die er gerade weit genug anhob, um sein bestes Stück zu verdecken. Sein Körper war ganz leicht gedreht, um die Rundung des wirklich schönsten Hinterns der Welt zu präsentieren. Die Spur dunkelblonder Haare südlich des Nabels schien förmlich zu schreien: »Verdecktes Tragen einer Waffe!«

Zufällig wusste ich, dass Erics Revolver in etwa einem Magnumkaliber-357 entsprach, beileibe nicht irgendeinem kurzläufigen Modell.

Aus irgendeinem Grund habe ich nie über den Januar hinausgeblättert.

»Oh, das sag ich ihm«, erwiderte Pam. »Eric meinte, es würde die Leute irritieren, wenn ich im Kalender für Frauen posiere... also bin ich in dem für Männer. Möchtest du von meinem Foto auch einen Abzug haben?«

»Ich staune«, sagte ich zu ihr. »Ehrlich. Ich meine, dass es dir nichts ausmacht, für Fotos zu posieren.« Ich hatte echte Schwierigkeiten, mir Pam in einem Projekt vorzustellen, das sich in irgendeiner Weise dem menschlichen Geschmack andiente.

»Wenn Eric sagt, ich soll posieren, dann posiere ich«, erklärte sie ganz sachlich. Obwohl Eric beträchtliche Macht über Pam besaß, da er ihr Schöpfer war, hatte ich doch noch nie gehört, dass Eric Pam zu irgendwas aufgefordert hätte, wozu sie nicht bereit war. Entweder kannte er sie sehr gut (was er natürlich tat), oder Pam war bereit, so ziemlich alles zu tun.

»Ich halte eine Peitsche auf meinem Foto«, erzählte Pam. »Der Fotograf sagt, das verkauft sich eine Million Mal.« Pam hatte die absonderlichsten Vorlieben, wenn es um Sex ging.

Nach einem etwas längeren Augenblick, in dem ich mir vor meinem geistigen Auge eine Vorstellung von dem Foto zu machen versuchte, sagte ich: »Bestimmt, Pam. Aber ich schau's mir lieber später mal an.«

»Wir kriegen Prozente, alle, die als Model mitgemacht haben.«

»Aber Eric kriegt höhere Prozente als die anderen.«

»Nun, er ist ja auch der Sheriff«, sagte Pam nüchtern.

»Stimmt. Also, dann tschüs.« Ich wollte auflegen.

»Warte. Was soll ich denn jetzt Eric sagen?«

»Sag ihm doch einfach die Wahrheit.«

»Du weißt, dass ihn das wütend machen wird.« Pam klang kein bisschen ängstlich, eher irgendwie schadenfroh.

»Tja, das ist sein Problem«, erwiderte ich, vielleicht ein wenig kindisch, und dann legte ich wirklich auf. Ein wütender Eric würde allerdings mit Sicherheit auch mein Problem werden.

Mich beschlich das ungute Gefühl, dass ich Eric zum ersten Mal ernsthaft etwas verweigerte, und ich hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde. Als ich den Sheriff von Bezirk Fünf kennen lernte, war ich mit Bill zusammen. Eric wollte unbedingt meine ungewöhnliche Begabung nutzen und erzwang meine Einwilligung, indem er mir einfach drohte, Bill zu schaden. Nach meiner Trennung von Bill fehlten ihm dann die Mittel zur Erpressung, bis ich ihn um einen Gefallen bitten musste. Und damit lieferte ich selbst Eric die schärfste Munition: das Wissen darum, dass ich Debbie Pelt erschossen hatte. Ganz egal, dass er selbst es war, der ihre Leiche und ihr Auto versteckt hatte, auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, wo. Die Anschuldigung allein würde ausreichen, um mich für den Rest meines Leben zu ruinieren, selbst wenn mir der Mord nie nachgewiesen werden konnte. Selbst wenn ich mich dazu bringen könnte, alles zu leugnen.

Während ich an diesem Abend meinen Pflichten in der Bar nachkam, fragte ich mich, ob Eric wohl tatsächlich mein Geheimnis verraten würde. Wenn Eric der Polizei erzählte, was ich getan hatte, würde er doch seinen Anteil auch zugeben müssen, oder nicht?

Und dann fing mich auf dem Weg zum Tresen Detective Andy Bellefleur ab. Ich kenne Andy und seine Schwester Portia schon mein Leben lang. Sie sind ein paar Jahre älter als ich, aber wir sind auf dieselben Schulen gegangen und in derselben Stadt aufgewachsen. Wie ich wurden die beiden hauptsächlich von ihrer Großmutter großgezogen. Andy und ich waren nicht immer die besten Freunde gewesen. Seit einigen Monaten war er mit Halleigh Robinson zusammen, einer jungen Grundschullehrerin.

Und heute Abend wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen und mich um einen Gefallen bitten.

»Hör mal, sie wird die Hühnchenstreifen im Korb bestellen«, sagte er ohne Einleitung. Ich spähte zu seinem Tisch hinüber, um mich zu vergewissern, dass Halleigh mit dem Rücken zu mir saß. Tat sie. »Ehe du das Essen an den Tisch bringst, leg das hier unten in den Korb, verdeckt.« Er schob mir eine kleine samtbezogene Schachtel in die Hand. Zusammen mit einem Zehndollarschein.

»Klar, Andy, kein Problem«, erwiderte ich lächelnd.

»Danke, Sookie«, sagte er, und dieses eine Mal lächelte er tatsächlich zurück, ein einfaches, unkompliziertes, ängstliches Lächeln.

Andy hatte sich nicht geirrt. Halleigh bestellte die Hühnchenstreifen im Korb, als ich zu ihnen an den Tisch kam.

»Bitte eine extra große Portion«, sagte ich zu unserer neuen Köchin, als ich die Bestellung in der Küche aufgab. Ich brauchte jede Menge Tarnung. Die Köchin, die am Herd stand, drehte sich um und funkelte mich aufgebracht an. Wir haben schon ein ganzes Sortiment Köche gehabt, jedes Alters, jeder Hautfarbe, jedes Geschlechts, jeder sexuellen Ausrichtung. Sogar ein Vampir war mal darunter. Die jetzige Köchin war eine Schwarze mittleren Alters namens Callie Collins. Callie war dick, so enorm dick, dass ich mich nur wunderte, wie sie all die Stunden in der heißen Küche auf ihren Füßen durchstand. »Extra große Portion?«, rief Callie, als hätte sie noch nie von so etwas gehört. »Oho. Hier gibt's nur eine Extraportion, wenn die Leute dafür zahlen, nicht weil's deine Freunde sind.«

Schon möglich, dass Callie so scharfzüngig war, weil sie sich vom Alter her noch an die schlechte alte Zeit erinnern konnte, in der Schwarze und Weiße verschiedene Schulen, verschiedene Warteräume, verschiedene Trinkbrunnen hatten. Ich konnte mich an all das nicht erinnern, und ich schaffte es einfach nicht, jedes Mal Verständnis für Callies Seelenlast aufzubringen, wenn ich mit ihr sprach.

»Sie haben gezahlt«, log ich, weil ich keine Erklärung durch die Durchreiche rufen wollte, die jemand in der Nähe mithören könnte. Ich würde einfach einen Dollar meines Trinkgelds in die Kasse legen. Trotz unserer Streitereien wünschte ich Andy und seiner Grundschullehrerin nur das Beste. Jede, die Caroline Bellefleurs Schwiegerenkeltochter werden würde, hatte wenigstens einen romantischen Moment verdient.

Als Callie den Korb fertig hatte, holte ich ihn schnell. Es war gar nicht so leicht, die kleine Schachtel unter den frittierten Hühnchenstreifen zu verstecken. Ich fragte mich, ob Andy wohl klar war, dass der Samt ganz fettig werden würde. Ach, was soll's, es war ja seine romantische Geste, nicht meine.

In fröhlicher Vorfreude trug ich das Tablett zum Tisch. Andy musste mich sogar (mit einem strengen Blick) ermahnen, eine etwas neutralere Miene aufzusetzen, als ich ihnen das Essen servierte. Vor Andy stand bereits ein Bier, und Halleigh hatte ein Glas Weißwein. Sie trank nicht viel, ganz wie es sich für eine Grundschullehrerin gehörte. Sobald ich alles abgesetzt hatte, verschwand ich gleich wieder. Ich fragte nicht mal mehr, ob sie noch irgendwas brauchten, wie es sich für eine gute Kellnerin eigentlich gehörte.

Danach war's mir natürlich völlig unmöglich, nicht mehr hinzusehen. Ich beobachtete das Paar möglichst unauffällig, doch so genau wie nur möglich. Andy saß wie auf Kohlen, und in seinen Gedanken herrschte pure Aufregung. Er war sich tatsächlich nicht sicher, ob sein Antrag angenommen würde, und im Geiste spulte er eine ganze Liste Dinge ab, die sie einwenden könnte: dass Andy fast zehn Jahre älter war, sein riskanter Beruf...

Ich wusste genau, in welchem Augenblick sie die kleine Schachtel entdeckte. Es war vielleicht nicht so furchtbar nett von mir, die Gedanken der beiden in einem so besonderen Moment zu belauschen, aber um ehrlich zu sein, daran habe ich zu dem Zeitpunkt nicht mal gedacht. Für gewöhnlich halte ich meine Schutzbarrieren ja hoch aufgezogen, doch wenn ich mal was Interessantes entdecke, dann tauche ich ganz automatisch in die Gedanken der Leute ein. Da ich meine Fähigkeit als einen Minus- und nicht als einen Pluspunkt betrachte, fühle ich mich wohl irgendwie berechtigt, zumindest das bisschen Spaß damit zu haben, das sie mir bieten kann.

Ich stand mit dem Rücken zu ihnen und räumte einen Tisch ab, eine Arbeit, die ich dem Aushilfsjungen hätte überlassen sollen. Aber so war ich ihnen nahe genug.

Einen Augenblick lang war Halleigh ganz erstarrt. »Da ist eine Schachtel in meinem Essen«, sagte sie endlich, sehr leise, denn sie wollte Sam nicht aufregen, indem sie einen großen Wirbel machte.

»Ich weiß«, erwiderte Andy. »Die ist von mir.«

Und da wusste sie es; ihre Gedanken rannten immer schneller und begannen sich schier zu überschlagen.

»Oh, Andy«, flüsterte sie. Sie musste die kleine Schachtel wohl gerade geöffnet haben. Unter Aufbietung all meiner Disziplin schaffte ich es, mich nicht umzudrehen und mit hineinzuschauen.

»Gefällt er dir?«

»Ja, er ist wunderschön.«

»Wirst du ihn tragen?«

Schweigen. Ihr schwirrte der Kopf. Die eine Hälfte rief laut »Jippie!«, und die andere war verwirrt.

»Ja, unter einer Bedingung«, sagte sie langsam.

Ich konnte seinen Schock förmlich spüren. Was immer Andy erwartet hatte, das nicht.

»Und die wäre?«, fragte er und klang plötzlich mehr wie ein Polizist als wie ein Liebhaber.

»Dass wir in unserem eigenen Haus wohnen.«

»Was?« Wieder hatte sie Andy überrascht.

»Ich hatte immer den Eindruck, dass du in dem Haus deiner Familie wohnen willst, zusammen mit deiner Großmutter und deiner Schwester, auch wenn du verheiratet bist. Es ist ein wunderschönes altes Haus, und deine Großmutter und Portia sind großartige Frauen.«

Das war wirklich taktvoll. Sehr gut, Halleigh.

»Aber ich möchte mein eigenes Haus haben«, sagte sie sanft und stieg immer weiter in meiner Wertschätzung.

Dann musste ich die Beine in die Hand nehmen, ich hatte schließlich Gäste zu bedienen. Doch während ich Bierkrüge auffüllte, leere Teller abräumte und Geld zu Sam an die Kasse trug, wuchs mein Respekt vor Halleigh, denn die Bellefleur-Villa war das schönste Haus von ganz Bon Temps. Die meisten jungen Frauen hätten einen Finger oder auch zwei hergegeben, um dort leben zu dürfen; erst recht nachdem die alte Villa aufwendig renoviert und modernisiert worden war, da der Familie von einem geheimnisvollen Fremden Geld zugeflossen war. Dieser Fremde war eigentlich Bill, der entdeckt hatte, dass die Bellefleurs seine Nachfahren waren. Und weil er wusste, dass sie von einem Vampir kein Geld annehmen würden, hatte er zur List der »geheimnisvollen Erbschaft« gegriffen. Caroline Bellefleur hatte sich mit einem solchen Feuereifer auf die Renovierung der Villa geworfen, wie Andy in einen Cheeseburger biss.

Ein paar Minuten später hielt Andy mich plötzlich fest. Er hatte mich auf dem Weg zu Sid Matt Lancasters Tisch abgefangen, und so musste der alte Rechtsanwalt noch etwas länger auf seinen Hamburger mit Pommes frites warten.

»Sookie, ich muss es wissen«, sagte er mit drängendem Unterton, wenn auch sehr leise.

»Was denn, Andy?« Seine Eindringlichkeit erschreckte mich.

»Liebt sie mich?« In Gedanken bemühte er sich, die Demütigung niederzukämpfen, dass er mich tatsächlich gefragt hatte. Andy war stolz, und er wollte irgendeine Art Versicherung, dass nicht auch Halleigh, wie alle anderen Frauen, nur hinter seinem guten Namen oder dem schönen Haus seiner Familie her war. Tja, das mit dem Haus hatte er ja bereits herausgefunden. Halleigh wollte es nicht; und er wäre bereit, in ein bescheidenes kleines Haus mit ihr zu ziehen, wenn sie ihn wirklich liebte.

Noch nie hatte jemand so etwas von mir verlangt. Und nach all den Jahren, in denen ich sehnlichst gewünscht hatte, die Leute sollten mir glauben und meine verrückte Begabung verstehen, musste ich schließlich feststellen, dass es mir doch keinen Spaß machte, in der Hinsicht ernst genommen zu werden. Aber Andy wartete auf eine Antwort, und ich konnte sie ihm nicht einfach verweigern. Er war einer der hartnäckigsten Männer, die ich je kennen gelernt hatte.

»Sie liebt dich genauso sehr wie du sie liebst«, sagte ich, und er ließ meinen Arm los. Ich setzte meinen Weg zu Sid Matts Tisch fort. Als ich mich nach Andy umdrehte, starrte er mir noch immer nach.

Daran kannst du jetzt herumkauen, Andy Bellefleur, dachte ich. Dann schämte ich mich ein wenig. Aber er hätte eben nicht fragen sollen, wenn er die Antwort nicht hören wollte.

Irgendetwas war da draußen im Wald um mein Haus.

Ich hatte mich bettfertig gemacht, sobald ich nach Hause gekommen war, denn das ist einer meiner Lieblingsmomente jeden Abend: mir das Nachthemd anzuziehen. Es war so warm, dass ich keinen Bademantel brauchte, und deshalb war ich in meinem alten knielangen Schlafshirt durchs Haus gestreunt. Beim Abwaschen hatte ich auf die Geräusche der Nacht gelauscht, das Quaken der Frösche, das Sirren der Insekten, und eben dachte ich daran, das Küchenfenster zu schließen, weil die Märznacht jetzt doch kühl zu werden schien.

Da verstummten die vertrauten Geräusche, die die Nacht bis dahin so freundlich und geschäftig gemacht hatten wie den Tag, auf einmal abrupt.

Ich hielt inne, die Hände im schaumigen heißen Abwaschwasser. In die Dunkelheit hinauszuspähen führte zu gar nichts, ich erkannte nur, wie deutlich sichtbar ich sein musste, direkt am offenen Küchenfenster mit den aufgezogenen Gardinen. Im Hof brannte das Sicherheitslicht, doch jenseits der Bäume, die die Lichtung umstanden, lag der Wald dunkel und lautlos da.

Irgendetwas war da draußen. Ich schloss die Augen und versuchte, mit meinen Gedanken etwas zu erfassen; und tatsächlich, da war irgendeine Art von Aktivität. Aber sie war nicht deutlich genug, dass ich sie erkennen konnte.

Ich überlegte, ob ich Bill anrufen sollte; doch ich hatte ihn früher schon angerufen, wenn ich um meine Sicherheit besorgt war, und wollte es nicht zu einer Gewohnheit werden lassen. Hey, vielleicht war der Beobachter da draußen im Wald ja sogar Bill selbst? Manchmal streifte er nachts herum und schaute hin und wieder auch bei mir vorbei, ob alles in Ordnung war. Sehnsüchtig sah ich zum Telefon an der Wand hinter der Küchentheke hinüber. (Okay, da, wo die Küchentheke sein würde, wenn erst alles eingerichtet war.) Mein neues Telefon war schnurlos. Ich könnte es mir schnappen, mich ins Schlafzimmer verkrümeln und im Handumdrehen Bill angerufen haben - denn ich hatte seine Telefonnummer als Kurzwahl gespeichert. Und wenn er abhob, war klar, dass ich mir über das, was da draußen im Wald war, wirklich Sorgen machen musste.

Aber wenn er zu Hause war, würde er sofort zu mir gerannt kommen. Meinen Anruf würde er garantiert so auffassen: »Oh, Bill, bitte komm und rette mich! Ich weiß gar nicht mehr, was ich tun soll, nur ein großer, starker Vampir kann mir noch helfen!«

Dann gab ich mir selbst gegenüber zu, dass das da draußen im Wald auf keinen Fall Bill war. Denn ich hatte irgendeine Art Gedankenmuster aufgeschnappt. Wäre das geheimnisvolle Wesen ein Vampir gewesen, hätte ich gar nichts wahrgenommen. Nur zweimal hatte ich bisher das Aufflackern eines Vampirhirns gespürt, und das war wie ein elektrischer Schlag während eines Stromausfalls gewesen.

Direkt neben dem Telefon war die Hintertür - die nicht abgeschlossen war.

Als mir einfiel, dass die Tür nicht abgeschlossen war, hielt mich nichts mehr am Spülbecken. Ich rannte auf die hintere Veranda hinaus, hakte den Schließhaken an der Glastür ein, flitzte in die Küche zurück, schloss die schwere Holztür ab und versperrte sie mit dem Riegel, den ich extra hatte anbringen lassen.

Ich lehnte mich gegen die Tür, nachdem ich sie fest verschlossen hatte. Dabei wusste ich besser als sonst jemand, wie nutzlos alle Schlösser und Riegel sein konnten. Für Vampire waren solche Dinge überhaupt kein Hindernis - doch Vampire brauchten die Erlaubnis, ein Haus zu betreten. Für Werwölfe stellten Türen schon eher ein Problem dar, aber keines, das nicht zu bewältigen war. Mit ihrer unglaublichen Kraft kamen Werwölfe einfach überallhin, wo sie hinwollten. Und dasselbe galt für andere Gestaltwandler.

Eigentlich konnte ich auch gleich mein Haus für jedermann offenhalten.

Dennoch, ich fühlte mich sehr viel besser, als zwei verschlossene Türen mich von dem trennten, was da draußen im Wald war. Die Vordertür war zugesperrt und verriegelt, das wusste ich, denn ich hatte sie schon tagelang nicht geöffnet. Ich bekam nicht viel Besuch, und ich selbst benutzte immer die Hintertür.

Ich schlich zum Fenster zurück, machte es zu und legte auch dort den Haken vor. Dann zog ich noch die Gardinen zu. Jetzt hatte ich alles für meine Sicherheit getan, was in meiner Macht stand, und so kümmerte ich mich wieder um den Abwasch. Mein Schlafshirt bekam einen großen nassen Fleck, weil ich mich gegen den Rand des Spülbeckens lehnen musste, damit meine Knie zu zittern aufhörten. Doch ich zwang mich weiterzumachen, bis alle Teller im Abtropfgestell gelandet waren und ich das Spülbecken trocken gewischt hatte.

Danach lauschte ich aufmerksam nach draußen. Der Wald lag absolut lautlos da. Wie sehr ich auch alle mir zur Verfügung stehenden Sinne anstrengte, meine Gedanken bekamen jenes schwache Anzeichen nicht mehr zu fassen. Es war weg.

Eine Weile saß ich noch angespannt in der Küche, dann brachte ich es endlich fertig, dem üblichen Ablauf meiner Abende zu folgen. Mein Herzschlag hatte sich bereits wieder normalisiert, als ich mir die Zähne putzte. Und als ich mich ins Bett legte, hatte ich mich selbst fast schon davon überzeugt, dass da draußen in der lautlosen Dunkelheit eigentlich gar nichts passiert war. Doch ich nehme es sehr genau mit der Aufrichtigkeit mir selbst gegenüber. Ich wusste, dass irgendein Wesen da draußen im Wald gewesen war, und zwar etwas sehr viel Größeres und Furchterregenderes als bloß ein Waschbär.

Ich hatte kaum die Nachttischlampe ausgeschaltet, da hörte ich es wieder, das Quaken der Frösche und das Sirren der Insekten. Und weil die vertrauten Geräusche der Nacht unvermindert anhielten, schlief ich schließlich ein.