Kapitel 2

Kurz bevor die Bar am nächsten Abend schloss, passierte noch etwas Merkwürdiges. Sam hatte uns gerade signalisiert, den Gästen zu sagen, dass wir jetzt die letzte Runde Drinks servieren würden, da kam jemand ins Merlotte's, den wiederzusehen ich nie erwartet hatte.

Er bewegte sich erstaunlich lautlos für einen so großen Mann. An der Tür blieb er stehen und sah sich nach einem freien Tisch um, und ich bemerkte ihn, weil das gedämpfte Licht der Bar auf seinem rasierten Kopf schimmerte. Er war sehr groß, sehr muskulös, hatte eine stolze Nase, leuchtend weiße Zähne und volle Lippen. Sein olivfarbener Teint passte sehr gut zu dem bronzefarbenen Sportjackett, das er über einem schwarzen Hemd und dazu passender Hose trug. Und auch wenn Motorradstiefel an ihm normaler gewirkt hätten, steckten seine Füße in glänzenden Halbschuhen.

»Quinn«, flüsterte Sam. Seine Hände hielten inne, obwohl er gerade dabei war, einen Tom Collins zu mixen. »Was macht der denn hier?«

»Ich wusste gar nicht, dass du ihn kennst«, sagte ich und wurde rot, als mir einfiel, dass ich erst am Tag zuvor an den Mann mit dem Kahlkopf gedacht hatte. Er war derjenige, der das Blut von der Kratzwunde an meinem Bein geleckt hatte - ein sehr interessantes Erlebnis.

»Jeder in meiner Welt kennt Quinn«, erklärte Sam mit ausdrucksloser Miene. »Aber ich wundere mich, dass du ihn kennst, schließlich bist du keine Gestaltwandlerin.« Anders als Quirin war Sam kein großer Mann. Aber er war sehr stark, wie die meisten Gestaltwandler, und seine rotblonden Locken umrahmten sein Gesicht, dass er aussah wie ein Engel.

»Ich kenne Quinn vom Wettkampf der Leitwolfkandidaten«, sagte ich. »Er war der, äh, Wettkampfrichter.« Sam und ich hatten uns natürlich über den Führungswechsel an der Spitze des Werwolfrudels von Shreveport unterhalten. Shreveport ist nicht sehr weit von Bon Temps entfernt, und was bei den Werwölfen geschieht, ist ziemlich wichtig, wenn man irgendeine Art Gestaltwandler ist.

Ein echter Gestaltwandler wie Sam kann sich in jedes Tier verwandeln, auch wenn jeder Gestaltwandler natürlich ein Lieblingstier hat. Und um es noch komplizierter zu machen: Alle, die ihre Menschengestalt in eine Tiergestalt verwandeln können, nennen sich Gestaltwandler, obwohl nur die wenigsten so vielseitig sind wie Sam. Gestaltwandler, die sich bloß in ein einziges Tier verwandeln können, werden Wergeschöpfe genannt: Wertiger (wie Quinn), Werbären, Werwölfe. Die Werwölfe halten sich allerdings für was Besseres und fühlen sich in Zähigkeit und Kultur allen anderen Gestaltwandlern überlegen.

Werwölfe sind zahlenmäßig die größte Untergruppe der Gestaltwandler, doch verglichen mit der Gesamtzahl der Vampire sind es noch immer verschwindend wenige. Das hat verschiedene Gründe. Die Geburtenzahl der Werwölfe ist niedrig, die Sterblichkeitsrate der Neugeborenen liegt viel höher als unter den Menschen, und nur das erstgeborene Kind eines vollblütigen Werwolfpaares wird selbst zu einem vollblütigen Werwolf. Und zwar in der Pubertät - als wäre die Pubertät an sich nicht schon schlimm genug.

Gestaltwandler sind äußerst verschwiegen. Eine Angewohnheit, die sie nur schwer ablegen können, selbst einem verständnisvollen und etwas seltsamen Menschen wie mir gegenüber. Die Gestaltwandler haben sich der Öffentlichkeit noch nicht zu erkennen gegeben, und erst nach und nach lerne ich ihre Welt so langsam kennen.

Selbst Sam hat viele Geheimnisse, von denen ich nichts weiß, und ihn zähle ich zu meinen Freunden. Sam verwandelt sich in einen Collie. In dieser Gestalt kommt er mich oft besuchen. (Manchmal schläft er auf meinem Bettvorleger.)

Quinn hatte ich bislang nur in seiner menschlichen Gestalt gesehen.

Ich hatte Quinn nicht erwähnt, als ich Sam von dem Kampf zwischen Jackson Herveaux und Patrick Furnan um die Position des Leitwolfs im Shreveport-Rudel erzählte. Jetzt blickte mich Sam verärgert an, weil ich ihm das vorenthalten hatte. Aber es war keine Absicht gewesen. Ich sah wieder zu Quinn hinüber. Er hatte die Nase ein wenig gehoben und schnupperte in die Luft, er folgte einem Geruch. Wem war er auf der Spur?

In Arlenes Bereich, der näher bei der Tür lag, waren einige Tische frei, und als Quinn schließlich trotzdem zielsicher auf einen Tisch in meinem Bereich zusteuerte, wusste ich die Antwort: Er war mir auf der Spur.

Okay, zugegeben, so ganz geheuer war mir das nicht.

Ich warf Sam einen Blick von der Seite zu, um zu sehen, wie er reagierte. Seit fünf Jahren schon vertraute ich ihm, und er hatte mich noch nie enttäuscht.

Sam nickte mir zu. Auch wenn er nicht gerade glücklich wirkte. »Frag ihn, was er will«, sagte er mit so leiser Stimme, dass es eher wie ein Knurren klang.

Ich wurde nervöser und nervöser, je näher ich dem neuen Gast kam. Ich spürte, wie meine Wangen sich röteten. Warum war ich so aufgeregt?

»Hallo, Quinn.« Es wäre albern gewesen, so zu tun, als würde ich ihn nicht wiedererkennen. »Was kann ich dir bringen? Wir schließen zwar leider bald, aber für ein Bier oder einen Drink reicht die Zeit noch.«

Er schloss die Augen und atmete tief ein, als wollte er mich inhalieren. »Ich würde dich in einem pechschwarzen Raum erkennen«, sagte er und lächelte mich an. Es war ein offenes, herzliches Lächeln.

Ich sah weg und unterdrückte das unwillkürliche Lächeln, das mir auf die Lippen trat. Ich benahm mich irgendwie ... schüchtern. (Unsinn, ich benehme mich nie schüchtern. Vielleicht wäre verschämt der bessere Ausdruck, aber den kann ich einfach nicht leiden.)

»Tja, danke«, begann ich vorsichtig. »Das war doch ein Kompliment, oder?«

»So war es gemeint. Wer ist der Hund da hinter dem Tresen, der mir diesen Raus-hier-Blick zuwirft?«

Er benutzte das Wort Hund als ganz sachliche Bezeichnung, nicht als abfällige Beschimpfung.

»Das ist mein Boss, Sam Merlotte.«

»Er interessiert sich für dich.«

»Das will ich hoffen. Ich arbeite immerhin schon seit fast fünf Jahren für ihn.«

»Hmmm. Wie wär's mit einem Bier?«

»Gern. Was für eins?«

»Budweiser.«

»Kommt sofort«, sagte ich und ging. Ich wusste, dass er mich den ganzen Weg bis zum Tresen beobachtete, denn ich konnte seinen Blick spüren. Und ich wusste aus seinen Gedanken, auch wenn sie schwer zu lesen waren, dass er mich mit Bewunderung betrachtete.

»Was will er?« Sam wirkte beinahe... borstig. Wäre er in seiner Hundegestalt gewesen, hätte er ganz sicher die Nackenhaare aufgestellt.

»Ein Budweiser«, sagte ich.

Sam blickte mich finster an. »Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du auch.«

Ich zuckte die Achseln. Ich hatte keine Ahnung, was Quinn wollte.

Sam knallte das volle Glas direkt neben meine Hand auf den Tresen, so dass ich zusammenzuckte. Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, damit er merkte, wie verärgert ich war, und brachte dann das Bier zu Quinn.

Quinn zahlte gleich und gab mir ein gutes Trinkgeld, kein lächerlich hohes, bei dem ich mir gekauft vorgekommen wäre. Ich steckte es in die Tasche und machte die Runde an den anderen Tischen.

»Besuchst du jemanden hier in der Gegend?«, fragte ich Quinn, als ich einen Tisch abgeräumt hatte und auf dem Rückweg an ihm vorbeikam. Die meisten Gäste wollten zahlen und verließen nach und nach das Merlotte's. Etwas weiter außerhalb gab es eine Kneipe, die bis spät in die Nacht offen hatte. Sam tat immer so, als wüsste er nichts davon, doch die meisten Stammgäste gingen sowieso nach Hause und legten sich ins Bett. Wenn es so was gab wie eine auf Familie ausgerichtete Bar, dann das Merlottes's.

»Ja«, erwiderte Quinn. »Dich.«

Darauf fiel mir erst mal keine Antwort ein.

Ich lief weiter und lud am Tresen die Gläser von meinem Tablett, so zerstreut, dass ich beinahe eins fallen ließ. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so verwirrt gewesen war.

»Geschäftlich oder privat?«, fragte ich, als ich das nächste Mal an ihm vorbeikam.

»Beides«, sagte Quinn.

Die Freude ließ ein wenig nach wegen des geschäftlichen Teils, aber es schärfte meine Aufmerksamkeit... und das war sehr gut. Man muss geistig immer absolut präsent sein, wenn man mit Supras zu tun hat. Übernatürliche Wesen haben Ziele und Wünsche, die normale Menschen gar nicht erfassen können. Und das kann ich nun wirklich beurteilen, denn ich bin schon mein ganzes Leben lang unfreiwillig Zeugin der »normalen« Ziele und Wünsche von Menschen.

Quinn war schließlich der letzte Gast in der Bar - sonst waren nur noch die anderen Kellnerinnen und Sam da -, stand vom Stuhl auf und sah mich erwartungsvoll an. Ich ging zu ihm hinüber und lächelte munter, wie ich es immer tue, wenn ich unter Anspannung stehe. Und ich staunte ziemlich, als ich merkte, dass er beinahe genauso angespannt war wie ich. Das konnte ich seinen Gedanken entnehmen.

»Lass uns zu dir nach Hause fahren, wenn es dir recht ist.« Er sah mich ernst an. »Sollte dich das nervös machen, können wir natürlich auch woanders hinfahren. Aber ich möchte noch heute Abend mit dir sprechen, es sei denn, du bist zu erschöpft.«

Das war höflich genug, fand ich. Arlene und Danielle waren sichtlich bemüht, nicht herüberzustarren - na ja, sie bemühten sich, nur dann herüberzustarren, wenn Quinn es nicht merkte -, und Sam hatte sich umgedreht, fummelte an irgendwas hinter der Bar herum und ignorierte den anderen Gestaltwandler einfach. Er benahm sich richtiggehend daneben.

Schnell überdachte ich Quinns Vorschlag. Wenn er zu mir nach Hause kam, wäre ich ihm ausgeliefert. Mein Haus liegt ziemlich entlegen. Mein einziger Nachbar ist mein Exfreund Bill, und der wohnt auf der gegenüberliegenden Seite des alten Friedhofs. Andererseits, wäre Quinn jemand gewesen, den ich regelmäßig sehe, hätte ich keine Bedenken gehabt, mich von ihm nach Hause bringen zu lassen. Und dem, was ich von seinen Gedanken mitbekam, entnahm ich, dass er mir nichts Böses wollte.

»In Ordnung«, sagte ich schließlich. Er entspannte sich und schenkte mir noch einmal sein offenes, herzliches Lächeln.

Ich räumte sein leeres Glas ab und bemerkte, dass drei Augenpaare mich missbilligend musterten. Sam war verärgert, und Danielle und Arlene konnten nicht verstehen, wieso irgendjemand mich ihnen vorziehen sollte; obwohl Quinn sogar diese beiden Kellnerinnen stutzig machte.

Quinn strahlte eine Andersartigkeit aus, die selbst dem fantasielosesten Menschen auffallen musste.

»Bin gleich fertig«, sagte ich.

»Lass dir Zeit.«

Ich füllte die kleinen rechteckigen Porzellanbehälter auf den Tischen mit Zuckertütchen und Süßstoff auf, sorgte dafür, dass die Serviettenhalter voll waren, und überprüfte die Salz- und Pfefferstreuer. Es dauerte nicht lange, dann war ich fertig. Ich holte meine Tasche aus Sams Büro und rief ihm einen Abschiedsgruß zu.

Quinn fuhr in einem dunkelgrünen Pick-up hinter mir her. Im Schein der Parkplatzlaterne hatte der Wagen brandneu ausgesehen mit den sauberen Reifen und den glänzenden Radkappen, der großen Fahrerkabine und dem eingebauten Schlafplatz. Quinns Pick-up war der schickste Wagen, den ich seit langem gesehen hatte. Mein Bruder Jason wäre ganz scharf darauf gewesen, obwohl er einen mit pink und lila Flammen an den Seiten besitzt.

Ich fuhr auf der Hummingbird Road Richtung Süden und bog nach links in meine Auffahrt ab. Es ging ein Stück durch den Wald, dann kam ich zu der Lichtung, auf der das alte Haus unserer Familie steht. Ich hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet, ehe ich zur Arbeit fuhr, und auf dem Leitungsmast befand sich auch noch ein automatisch anspringendes Sicherheitslicht, so dass das Grundstück gut ausgeleuchtet war. Ich fuhr ums Haus herum nach hinten, wo ich immer parkte, und Quinn parkte neben mir.

Er stieg aus und blickte sich um. Im Schein des Sicherheitslichts zeigte sich ihm ein absolut ordentlicher Hof mit Garten. Die Auffahrt war in tadellosem Zustand, und vor kurzem erst hatte ich den Geräteschuppen frisch gestrichen. Es gab einen Propangastank, der durch keine Gartengestaltung zu verbergen war, doch meine Großmutter hatte viele schöne Blumen und Büsche angepflanzt zusätzlich zu den Beeten, die meine Familie in den letzten hundertfünfzig Jahren hier angelegt hatte. Ich wohnte auf diesem Grund und Boden, in diesem Haus, seit ich sieben war, und ich liebte es.

Mein Haus ist nichts Besonderes. Anfangs war es ein ganz normales Bauernhaus, das über die Jahrzehnte immer wieder umgebaut und vergrößert wurde. Ich versuche, es zu pflegen sowie Hof und Garten gut in Schuss zu halten. Große Reparaturen kann ich natürlich nicht selbst machen, aber da hilft Jason mir manchmal. Er war nicht gerade glücklich, als Großmutter mir das Haus hinterließ, doch er war mit einundzwanzig in das Haus unserer Eltern umgezogen. Die Hälfte, die davon mir zusteht, habe ich mir nie von ihm auszahlen lassen. Ich fand Großmutters Testament fair. Es dauerte aber eine Weile, bis auch Jason zugeben konnte, dass sie genau das Richtige getan hatte.

Mein Bruder und ich waren uns in den letzten Monaten wieder nähergekommen.

Ich schloss die Hintertür auf, die in die Küche führte. Quinn sah sich neugierig um, während ich meine Jacke über einen der Stühle hängte, die unter den Tisch mitten im Raum geschoben waren, an dem ich alle meine Mahlzeiten einnahm.

»Sie ist noch nicht fertig«, sagte Quinn.

Die Küchenschränke standen auf dem Boden und mussten noch montiert werden. Wenn dann erst mal die Wände gestrichen und die Arbeitsplatten installiert waren, würde ich endlich zur Ruhe kommen.

»Meine alte Küche ist vor ein paar Wochen abgebrannt«, sagte ich. »Den Leuten von der Baufirma war ein Auftrag abgesagt worden, und sie haben das hier in Rekordzeit hochgezogen. Doch dann kamen die Küchenschränke nicht pünktlich, und sie haben den nächsten Auftrag angenommen. Als die Küchenschränke endlich eintrafen, waren die Arbeiter dort noch nicht ganz fertig, aber irgendwann demnächst tauchen sie hier hoffentlich noch mal auf.« Inzwischen konnte ich wenigstens wieder in meinem eigenen Haus wohnen. Sam war äußerst großzügig gewesen und hatte mich in einem seiner Häuser, die er vermietet, wohnen lassen - wie ich das genossen hatte, die ebenen Böden, das neue Badezimmer, die Nachbarn! Aber es geht doch nichts über das eigene Zuhause.

Der neue Herd war bereits angeschlossen, kochen konnte ich also, und über die Küchenschränke auf dem Boden hatte ich Sperrholzplatten gelegt, so dass ich eine Arbeitsfläche hatte. Der neue Kühlschrank glänzte und summte leise vor sich hin, ganz anders als Großmutters dreißig Jahre altes Exemplar. Wie unglaublich neu alles war, fiel mir jedes Mal wieder auf, wenn ich über die - jetzt breitere und eingefasste - hintere Veranda ging und die neue, viel schwerere Tür mit dem Guckloch und dem Riegel aufschloss.

»Hier beginnt das alte Haus«, sagte ich und ging von der Küche in die Diele. Im restlichen Haus hatten nur ein paar Holzbohlen in den Fußböden ausgewechselt werden müssen, und alles war frisch gestrichen. Nicht nur waren Wände und Decken voller Rußflecken gewesen, ich hatte auch den Brandgeruch loswerden müssen. Einige Gardinen hatte ich ausgewechselt, ein paar Teppiche weggeworfen und ansonsten geschrubbt, geputzt und gewaschen. Eine ganze Zeit lang war dafür jede freie Minute, die ich wach war, draufgegangen.

»Gute Arbeit.« Quinn sah sich die Stelle an, wo die beiden Teile des Hauses miteinander verbunden waren.

»Komm doch ins Wohnzimmer.« Es machte mir Spaß, jemandem das Haus zu zeigen, jetzt, da die Polstermöbel gereinigt waren, keine Wollmäuse über den Boden huschten und das Glas in den Bilderrahmen glänzte. Die Gardinen im Wohnzimmer waren neu, die alten hatte ich schon seit mindestens einem Jahr rauswerfen wollen.

Gott sei Dank war ich versichert gewesen, und Gott sei Dank hatte ich eine Menge Geld damit verdient, Eric vor seinen Feinden zu verstecken. Meine Ersparnisse waren jetzt zwar ziemlich geschröpft, aber immerhin hatte ich welche gehabt, als ich sie brauchte; dafür war ich enorm dankbar.

Im Kamin lag Holz aufgeschichtet, doch es war zu warm, um Feuer zu machen. Quinn setzte sich in einen Lehnstuhl, und ich setzte mich ihm gegenüber. »Möchtest du was trinken - Bier, Kaffee, Eistee?«, fragte ich, wie es sich für eine gute Gastgeberin gehörte.

»Nein, danke«, erwiderte er und lächelte mich an. »Ich wollte dich wiedersehen, seit ich dich in Shreveport kennen gelernt habe.«

Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. Der Drang, zu Boden zu sehen oder meine Hände zu betrachten, überwältigte mich fast. Seine Augen hatten wirklich diese lilabraune Farbe, an die ich mich nur zu gut erinnerte. »Das ist ein schwerer Tag für die Familie Herveaux gewesen«, sagte ich.

»Du bist eine Weile mit Alcide ausgegangen«, stellte er in neutralem Ton fest.

Einige mögliche Antworten schössen mir durch den Kopf, und ich entschied mich für: »Ich habe ihn seit dem Wettkampf der Werwölfe nicht mehr gesehen.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Du bist nicht fest mit ihm zusammen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann bist du also ungebunden?«

»Ja.«

»Ich würde niemandem auf die Zehen treten?«

Ich versuchte zu lächeln, doch das Ergebnis meiner Mühe war vermutlich nicht sonderlich geglückt. »Das habe ich nicht gesagt.« Es gab da schon gewisse Zehen. Aber die hatten kein Recht dazu, mir im Weg zu stehen.

»Mit ein paar verärgerten Exfreunden komme ich schon zurecht. Würdest du also mal mit mir ausgehen?«

Ein, zwei Sekunden lang sah ich ihn an und dachte nach.

In seinen Gedanken las ich nichts als Hoffnung: keine Falschheit, keine Selbstsucht. Meine Vorbehalte lösten sich in nichts auf.

»Ja«, sagte ich, »gern.« Sein herzliches Lächeln war so ansteckend, dass ich ebenfalls lächelte, und diesmal echt und aufrichtig.

»Abgemacht«, sagte er. »Den erfreulichen Teil hätten wir also besprochen. Kommen wir nun zum geschäftlichen Teil, der damit nichts zu tun hat.«

»Okay«, erwiderte ich und hörte auf zu lächeln. Dazu würde sich hoffentlich später wieder Gelegenheit finden, doch alles Geschäftliche zwischen uns würde unweigerlich mit Supranaturalen zu tun haben und war daher ein Grund zur Sorge.

»Hast du schon mal von der Südstaatenkonferenz gehört?«

Die Konferenz der Vampire: Alle Könige und Königinnen aus den Südstaaten versammelten sich zu Beratungen über ... Vampirangelegenheiten. »Eric hat mal davon gesprochen.«

»Hat er dich gebeten, dort für ihn zu arbeiten?«

»Er sagte, dass er mich vielleicht brauchen würde.«

»Als die Königin von Louisiana erfuhr, dass ich hier in der Gegend bin, bat sie mich, dich um deine Dienste zu ersuchen. Das dürfte Erics Pläne hinfällig machen.«

»Da musst du Eric fragen.«

»Du brauchst es ihm nur mitzuteilen. Die Wünsche der Königin sind Eric Befehl.«

Ich spürte förmlich, wie mir mein Gesichtsausdruck entglitt. Ich wollte Eric, dem Sheriff von Bezirk Fünf, gar nichts mitteilen. Seine Gefühle für mich verwirrten Eric. Und eins kann ich euch versichern: Vampire mögen es überhaupt nicht, wenn sie sich verwirrt fühlen. Der Sheriff konnte sich an die kurze Zeit, die er bei mir im Haus versteckt gewesen war, nicht mehr erinnern. Und diese Gedächtnislücke hatte Eric fast wahnsinnig gemacht; er muss immer alles unter Kontrolle haben und das heißt, dass er sich in jeder einzelnen Sekunde der Nacht bewusst sein will, was er tut. Also hatte er abgewartet, bis er etwas für mich tun konnte, und als Gegenleistung einen detaillierten Bericht über all das verlangt, was bei mir zu Hause passiert war.

Tja, vielleicht bin ich da etwas zu sehr ins Detail gegangen. Eric war nicht sonderlich überrascht, dass wir Sex hatten. Aber er war ziemlich fassungslos, als ich ihm erzählte, dass er bereit gewesen war, seine hart erkämpfte Position in der Vampirhierarchie aufzugeben, um mit mir zusammenzuleben.

Wenn ihr Eric kennen würdet, wüsstet ihr, dass das für ihn ein ziemlich unerträglicher Gedanke war.

Seitdem sprach er nicht mehr mit mir. Wenn wir uns mal begegneten, starrte er mich bloß an, als versuche er, seine eigenen Erinnerungen an diese Zeit aufleben zu lassen und mir einen Irrtum nachzuweisen. Es machte mich traurig, dass die Beziehung, die wir mal hatten - nicht das heimliche Glück jener paar Tage, sondern die unterhaltsame Freundschaft eines Mannes und einer Frau, die nicht viel gemeinsam hatten außer Sinn für Humor -, nicht mehr zu existieren schien.

Natürlich, es war meine Aufgabe, Eric zu erzählen, dass seine Königin ihn verdrängt hatte. Aber Lust dazu hatte ich nicht.

»Kein Lächeln mehr auf den Lippen«, stellte Quinn fest. Er wirkte selbst recht ernst.

»Na ja, Eric ist...« Ich wusste nicht, wie ich den Satz beenden sollte. »Er ist ein komplizierter Typ«, sagte ich lahm.

»Was wollen wir bei unserer ersten Verabredung machen?«, fragte Quinn, der kein Problem damit zu haben schien, einfach das Thema zu wechseln.

»Wir könnten ins Kino gehen«, schlug ich vor, um den Ball ins Rollen zu bringen.

»Ja, könnten wir, und danach gehen wir in Shreveport essen. Vielleicht bei Ralph & Kacoo's«, erwiderte er.

»Die Langustenschwänze dort sollen sehr gut sein, habe ich gehört«, sagte ich und ließ den Ball des Gesprächs weiterrollen.

»Und mag nicht jeder Langustenschwänze? Oder wir könnten zum Bowling gehen.«

Mein Großonkel hatte begeistert Bowling gespielt. Ich sah seine Füße in den Bowlingschuhen noch heute vor mir. Ich schauderte bei dem Gedanken. »Das kann ich nicht.«

»Wir könnten uns ein Hockeyspiel ansehen.«

»Das würde sicher Spaß machen.«

»Oder wir könnten zusammen in deiner neuen Küche kochen und dann einen Film auf DVD ansehen.«

»Lass uns das erst mal zurückstellen.« Für eine erste Verabredung war es mir ein bisschen zu vertraulich; nicht, dass ich viel Erfahrung mit ersten Verabredungen gehabt hätte. Aber ich wusste, dass die Nähe eines Schlafzimmers nur dann eine gute Idee war, wenn es einem auf keinen Fall etwas ausmachte, dort im Laufe des Abends möglicherweise zu landen.

»Wir könnten uns das Musical The Producers ansehen. Das läuft zurzeit im Strand

»Wirklich?« Okay, das klang aufregend. In Shreveports restauriertem Theater »Strand« gastierten Bühnenproduktionen, und von Schauspiel über Musical bis Ballett war alles dabei. Ich hatte noch nie ein richtiges Stück auf der Bühne gesehen. Wäre das nicht schrecklich teuer? Aber Quinn hätte es sicher nicht vorgeschlagen, wenn er es sich nicht leisten könnte. »Wirklich?«, wiederholte ich.

Er nickte, sehr erfreut über meine Reaktion. »Ich kann fürs Wochenende Karten reservieren. Wie sieht denn dein Arbeitsplan aus?«

»Freitagabend habe ich frei«, sagte ich ganz glücklich. »Und, äh, meine Karte zahle ich natürlich selbst.«

»Du bist eingeladen«, sagte Quinn obenhin. In seinen Gedanken las ich, dass er mein Angebot erstaunlich fand. Und rührend. Hmmm. Das gefiel mir nicht. »Okay, abgemacht. Wenn ich wieder an meinem Notebook sitze, reserviere ich online Karten. Ich weiß, dass es noch ein paar sehr gute gibt, denn ich habe mir mal angesehen, was so läuft, ehe ich hierhergekommen bin.«

Ich machte mir natürlich schon über angemessene Kleidung Gedanken. Aber das vertagte ich auf einen späteren Zeitpunkt. »Quinn, wo wohnst du eigentlich?«

»Ich habe ein Haus außerhalb von Memphis.«

»Oh.« Das schien mir denn doch eine sehr große Entfernung zu sein, wenn man hin und wieder gemeinsam ausgehen und sich kennen lernen wollte.

»Ich bin Manager in einer Agentur namens Special Events. Wir sind so eine Art geheimes Tochterunternehmen von Extrem (Elegante) Events. Das Firmenlogo hast du bestimmt schon mal gesehen: E(E)E?« Die Klammern malte er mit den Fingern in die Luft. Ich nickte. E(E)E plante und organisierte sehr extravagante Veranstaltungen in ganz Amerika. »Für Special Events arbeiten vier Manager, und jeder von uns beschäftigt wiederum ein paar Leute in Vollzeit, andere in Teilzeit. Da wir viel auf Reisen sind, haben wir überall im Land Wohnungen. Manchmal sind es bloß Zimmer im Haus von Freunden oder Geschäftspartnern, manchmal Apartments. Wenn ich in dieser Gegend hier bin, wohne ich in Shreveport, im Gästehaus hinter der Villa eines Gestaltwandlers.«

In knapp zwei Minuten hatte ich eine ganze Menge über ihn erfahren. »Du organisierst also Veranstaltungen in der Welt der Supras, wie den Wettkampf der Leitwolfkandidaten?« Das war ein gefährlicher Auftrag gewesen, der noch dazu einiges an Spezialausrüstung erfordert hatte. »Aber was gibt es denn sonst noch? Ein neuer Leitwolf wird ja nur in größeren Abständen mal bestimmt. Wie oft bist du auf Reisen? Welche anderen Events stellst du auf die Beine?«

»Hauptsächlich arbeite ich im Südosten, von Georgia bis Texas.« Er hatte sich vorgebeugt, seine großen Hände ruhten auf seinen Knien. »Von Tennessee bis runter nach Florida. Wer in diesen Bundesstaaten ein Event ausrichten will - Leitwolf-Wettkämpfe, Himmelfahrtsriten für Schamanen und Hexen oder hierarchische Vampirhochzeiten nach allen Regeln der Kunst -, der kommt zu mir.«

Ich erinnerte mich an die außergewöhnlichen Fotos in Alfred Cumberlands Mappe AUGENBLICKE. »Und da gibt es so viele, dass du immer zu tun hast?«

»Oh, ja«, sagte Quinn. »Natürlich ist manches von den Jahreszeiten abhängig. Vampire heiraten im Winter, weil dann die Nächte so viel länger sind. Erst im Januar habe ich eine hierarchische Vampirhochzeit in New Orleans organisiert. Und einiges andere ist beispielsweise an den Kalender der Wiccas gebunden. Oder auch an Lebensphasen wie die Pubertät.«

Ich konnte mir noch immer nichts Genaues unter den Zeremonien vorstellen, die er da arrangierte. Doch auf eine Beschreibung konnte ich bis zu einem späteren Mal warten. »Und es gibt bei Special Events noch drei andere Manager, die das gleiche machen, auch Vollzeit? Oh, tut mir leid. Ich will dich nicht so ausfragen. Aber das ist eine unglaublich interessante Art, Geld zu verdienen.«

»Freut mich, dass du es so siehst. Man muss ziemlich gut mit Leuten umgehen können, ein Auge für Details und ein Händchen fürs Organisatorische haben.«

»Und man muss absolut tough sein«, murmelte ich einen meiner Gedanken vor mich hin.

Er lächelte, ein sehr bedächtiges Lächeln. »Kein Problem für mich.«

Ja, Quinn schien in der Tat ziemlich tough.

»Und man muss die Kunden richtig einschätzen und in die richtige Richtung lenken können, damit sie glücklich und zufrieden sind mit dem, was man für sie getan hat«, fügte er hinzu.

»Kannst du mir ein paar Geschichten erzählen? Oder bist du zur Vertraulichkeit verpflichtet?«

»Die Kunden schließen einen Vertrag mit uns, aber eine Vertraulichkeitsklausel hat noch keiner verlangt«, sagte Quinn. »Ich habe natürlich auch nicht viel Gelegenheit, vom Job zu erzählen, denn die meisten Kunden stehen ja außerhalb der normalen Welt. Tut richtig gut, mal darüber zu reden. Normalerweise muss ich den Frauen erzählen, ich sei Berater oder sonst irgend so ein Schwindler.«

»Mir tut's auch gut, mal zu reden, ohne ständig befürchten zu müssen, ich könnte Geheimnisse verraten.«

»Dann ist es doch ein Glück, dass wir uns begegnet sind, hm?« Und wieder dieses offene, herzliche Lächeln. »Jetzt brauchst du aber erst mal deine Ruhe, schließlich bist du gerade aus der Arbeit gekommen.« Quinn stand auf und streckte sich. Eine eindrucksvolle Sache bei jemandem, der so muskulös war wie er. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Quinn nicht wusste, wie gut er aussah, wenn er sich so streckte. Ich blickte zu Boden, um mein Lächeln zu verbergen. Es störte mich kein bisschen, dass er mich beeindrucken wollte.

Er ergriff meine Hand und zog mich mit einer fließenden Bewegung auf die Füße. Ich konnte spüren, wie er sich ganz auf mich konzentrierte. Seine Hand war warm und fest. Damit hätte er mir alle Knochen brechen können.

Eine ganz normale Frau dachte wohl kaum je darüber nach, wie schnell ihr neuer Freund sie töten könnte, doch ich war nie eine ganz normale Frau gewesen. Ich war anders - das war mir klar geworden, als ich alt genug war, zu begreifen, dass nicht jedes Kind wusste, was seine Familienangehörigen über es dachten. Nicht jedes kleine Mädchen wusste, ob die Lehrerin es mochte, verachtete oder mit seinem Bruder verglich (Jason war schon damals ein Charmeur gewesen). Nicht jedes kleine Mädchen hatte einen komischen Onkel, der auf jeder Familienfeier versuchte, es irgendwo allein zu erwischen.

Also ließ ich Quinn meine Hand halten, schaute in diese samtigen, purpurfarbenen Augen, und einen Augenblick lang gab ich dem Drang nach, mich in seiner Bewunderung und Zuneigung zu sonnen.

Ja, ich wusste, dass er ein Tiger war. Und damit meine ich nicht im Bett. Obwohl ich bereit war, jederzeit zu glauben, dass er auch da wild und kraftvoll war.

Als er mir einen Gutenachtkuss gab, streiften seine Lippen sanft meine Wange, und ich lächelte.

Ich mag es, wenn ein Mann weiß, wann er die Dinge beschleunigen muss... und wann nicht.