35. Kapitel
17. Februar 2010
New Orleans
22.25 Uhr
Mit dem Mustang fuhren sie nach Chalmette in die Queen Street, von der aus Sterns Bleibe tatsächlich nicht weit entfernt war. In gemächlichem Tempo passierten sie die stillen Häuserreihen, während die Madame auf dem Beifahrersitz saß und ein leises Telefonat mit dem Putzgeschwader führte, das sich um die Wohnung des Reverends kümmern sollte. Mit grimmiger Miene hörte Ondragon neben ihr zu. Sie hatte ihm auf ihre Art ein Rätsel gestellt, um ihn zu testen – und er hatte es nicht kapiert! Es war unverzeihlich, wie lange er dafür gebraucht hatte, es zu lösen! Ein Anflug von Demut überkam ihn und er schaute nach vorne aus dem Fenster.
Im Dunkel der Nacht bildeten die Laternen an der Straße eine gleichmäßige Perlenschnur aus Lichtinseln. Nur an einer Stelle war dieser Rhythmus unterbrochen, weil scheinbar eine der Laternen ausgefallen war. Genau dort, wo sich die Nummer 545 befand. Zufall?
Wohl kaum, dachte Ondragon und wischte die Gedanken an die Madame beiseite. Er fuhr mit dem Mustang an dem Haus vorbei, bog an der nächsten Ecke ab und parkte das Auto in der lichtlosen Kluft zwischen zwei Straßenlaternen. Zusammen mit Rod, Green und der Madame stieg er aus.
Vorsichtig näherten sie sich dem Haus, in dem kein Licht brannte, und waren jederzeit darauf bedacht, in einen Busch zu springen, falls sich jemand auf der Straße blicken ließ. Aber es blieb ruhig in dem nüchternen Vorort, und sie erreichten ungehindert die dunkle Garagenauffahrt der Nummer 545. Als Ondragon das Haus aus dieser Perspektive erneut betrachtete, traf es ihn wie der Tritt eines Elefanten.
Natürlich kannte er diesen Ort!
Hier war er nach der Jagd auf den Zombie niedergeschlagen und verschleppt worden! Hier vor diesem Haus, das Stern und Ellys sich für ihr teuflisches Spielchen gemietet hatten. Endlich fügte sich Teil für Teil zusammen, dachte er zufrieden. Und es würde nur noch wenige Augenblicke dauern, bis er den Fall vollständig gelöst hätte.
Im Schutze der Dunkelheit gelangte er vor die Haustür und lauschte. Nichts war zu hören. Rasch holte er einen Dietrich hervor und öffnete das Schloss. Mit gezogenen Waffen drangen alle vier in das Haus ein, und mit Handzeichen gab Ondragon Anweisung, zuerst das ganze Haus abzusichern. Es konnte ja sein, dass noch jemand, von dem sie nichts wussten, in die Sache verwickelt war und seelenruhig in einem der Schlafzimmer im Obergeschoss schlummerte. Oder Reverend Zombie versteckte sich hier, weil ihm der Zugang zu seinem eigenen Heim momentan verwehrt blieb.
Aber Ondragons Befürchtungen bestätigten sich nicht. Das Haus war leer.
Sie sammelten sich im Wohnzimmer, das ein riesiges Fenster zum Garten hinaus besaß, und berieten, was sie als nächstes tun wollten.
„Wir durchsieben die ganze Hütte noch einmal“, flüsterte Ondragon, „diesmal aber nach dem Material aus dem Labor. USB-Sticks, CDs, Computer, Mappen et cetera. Bringt alles her, was ihr finden könnt. Ich übernehme das Wohnzimmer, Mari-Jeanne die Küche und das Bad, Rod und Green das Obergeschoss. Sucht auch nach möglichen secret rooms!“
„Aye“, riefen Rod und Green gleichzeitig, und nachdem sie ausgeschwärmt waren, richtete Ondragon seine Lampe auf die Einrichtung des Wohnzimmers, leuchtete jeden Gegenstand gründlich ab. Dabei fiel ihm auf, dass alle Möbel an der Wand standen und in der Mitte des Raumes einen größeren Platz frei ließen. Langsam ging er über den Teppich, der dort lag, und trat an einen Tisch, auf dem diverse Objekte lagen. Er hörte, wie die Madame in der Küche rumorte. Wahrscheinlich durchkramte sie gerade die Schränke.
Seine Konzentration richtete sich wieder auf den Tisch, auf dem sich ein Collegeblock, Stifte, Büroklammern, ein Laptop und ein Drucker befanden. Er schlug den Block auf. Die Seiten waren leer, einige waren herausgerissen worden, sonst nichts. Er klappte den Laptop auf und fuhr ihn hoch. Passwort geschützt. Damn it! Er versuchte gar nicht erst, es zu knacken, sondern setzte die Durchsuchung des Zimmers fort. Über dem Schreibtisch war ein Regalbrett an der Wand angebracht. Darauf gewahrte er ein paar Voodoo-Utensilien, Beutelchen mit Federn und Puppen, daneben standen kleine Glasfläschchen mit unterschiedlichen Inhalten. In einem war eine klare Flüssigkeit und in einem anderen dunkle Klümpchen und Pülverchen. Er las die handgeschriebenen Etiketten: Concombre Zombie, Atropin, Bufo marinus, crapaud de mer/poison de poisson-ballon, Calaba, os humains – ein kleiner Voodoo-Giftschrank also.
Ondragon leuchtete mit seiner Lampe weiter das Regal entlang. Das Licht fuhr über medizinisches Zubehör wie Spritzen, eine Packung Gummihandschuhe und Desinfektionsmittel, bis er an einem ihm wohlvertrauten Gegenstand hängenblieb, der an einem Nagel baumelte.
I like Berlin stand auf dem Bauch des Bären.
Es war sein Autoschlüssel! Ondragon nahm ihn an sich, froh, seinen Glücksbringer endlich wiederzuhaben und stopfte ihn in seine Hosentasche. Er leuchtete weiter, aber es war nichts von seiner Sig Sauer zu sehen. Mist. Wenn die Show hier vorbei war, würde er sich wohl eine neue beschaffen müssen. Oder er behielt die Walther von Bolič.
Er ließ das Licht zu dem großen Panoramafenster schweifen. Dort stand etwas, das er zuvor nicht wahrgenommen hatte. Eine Videokamera auf einem Stativ. Er ging zu dem Gerät und untersuchte es. Kabelgewirr lag zu Füßen des Stativs und darin verborgen wie ein Ei in einem Nest ein großer roter Fußschalter. Ohne zu zögern trat Ondragon darauf. Plötzliches grelles Licht leuchtete auf und blendete ihn. Aber es befand sich nicht im Raum, sondern draußen, wo sich der Garten präsentierte wie am helllichten Tag.
Flutlicht! Ondragon sah hinaus. Das Licht beleuchtete jede Einzelheit mit kalter Präzision, den Schotterweg, den Swimmingpool, die Büsche und Bäume, den Teich und die kleine Gartenhütte am hinteren Ende. Jemand hatte eine Batterie Flutlicht im Garten installiert!
„He, Ecks, was machst du denn da?“, hörte er Rod hinter sich fragen. Der Brite und Green traten neben ihn und sahen ebenfalls hinaus.
„Keine Ahnung, wozu das gut sein soll“, sagte Ondragon und schaltete das Licht wieder aus. Schlagartig fiel die Nacht zurück auf den Garten. „Habt ihr oben etwas gefunden?“
„Nein, nichts. Auch keinen secret room. Nur zerwühlte Betten und schmutzige Klamotten.“
Die drei wandten den Kopf, als die Madame durch die Tür kam. „Ich habe auch nichts gefunden, außer dreckigem Geschirr und Takeaway-Verpackungen, die sich bis unter die Decke stapeln. Die Saubersten waren unsere beiden Mailmen nicht. Was war das für ein Licht?“
„Stern und Ellys haben ihren Garten illuminiert und in ein Stadion verwandelt“, entgegnete Ondragon.
„Stadion wofür?“, fragte die Madame.
Ondragon zuckte mit den Schultern und sah sich im Wohnzimmer um. „Wo zum Teufel haben sie die Sachen versteckt?“ Er ging zum Fernseher, der mit DVD-Player ausgestattet war, aber er sah nirgendwo Filmhüllen herumliegen. Seltsam. Wozu brauchten sie dann den Player? Sein Blick streifte den gemusterten Indianer-Teppich in der Mitte des Zimmers. Er sah viel zu klein aus für die große Fläche und wirkte irgendwie fehl am Platz. Allzu begabte Innenausstatter schienen die Mailmen demnach auch nicht gewesen zu sein. Einer Eingebung folgend bückte Ondragon sich und zog mit einem Ruck den Teppich vom Fußboden. Darunter kamen Holzdielen zum Vorschein und die Ritzen eines säuberlich ausgeschnittenen Vierecks. Eine Falltür.
Rod pfiff durch die Zähne, als Ondragon die Tür anhob und mit seiner Lampe in das schwarze Loch leuchtete.
„Das simpelste Versteck seit Anbeginn der Menschheit!“, sagte er und ließ seine Beine in die Dunkelheit hinunterbaumeln. „Ich glaube, wir haben den secret room gefunden.“
Mit der Lampe zwischen den Zähnen tauchte Ondragon ab. In dem niedrigen, von Stützpfeilern durchzogenen Hohlraum fand er ein kleines Warenlager vor, das dem Inventar der anderen secret rooms in nichts nachstand: Waffen in Alukoffern, Munition, diverse Ausrüstungsgegenstände und zwei schwarze Sporttaschen. Ondragon kroch durch den Staub zu ihnen hinüber, öffnete eine davon und fand, wonach er gesucht hatte. Ein gefälschter Reisepass von Stern und ein Führerschein lagen obenauf. Darunter befanden sich Geldbündel, Papiere und Mappen mit dem Logo von Darwin Inc., durchsichtige Plastikboxen mit einem Dutzend USB-Sticks darin und kleine Tütchen mit Maiskörnern. Er öffnete die andere Tasche. Ihr Inhalt war identisch, bis auf den Unterschied, dass der Reisepass das Foto von Ellys trug. Die beiden Mailmen hatten vorgesorgt und sich jeder ein kleines Sicherheitspaket geschnürt.
Ondragon nahm beide Taschen und hievte sie aus dem Versteck ins Wohnzimmer, wo Rod, Green und die Madame sie in Empfang nahmen. Dann schob er noch einen länglichen Metallkoffer hinterher, stieg aus dem Versteck und wischte sich die Spinnenweben aus dem Gesicht.
„Hübscher Fang!“, sagte Rod, als er in die Taschen schaute. „Und was ist das?“ Er deutete auf den Koffer.
„Mein Präzisionsgewehr. Die Aasgeier haben es mir damals aus dem Kofferraum geklaut!“ Beinahe liebevoll strich Ondragon über den Koffer, nahm dann eine der kleinen Plastikboxen aus der Tasche und trug sie zu dem Fernseher. „Dieser DVD-Player hat auch einen USB-Port. Mal sehen, was auf den Sticks drauf ist.“ Er steckte den ersten in den Player und wartete, bis das Gerät die Daten gelesen hatte. Der Bildschirm des Fernsehers wurde blau und eine Liste mit Dateien tauchte auf:
Lab-III-IsoBox-01-Jan-11-2010-1200-1300
Lab-III-IsoBox-01-Jan-11-2010-1300-1400
Lab-III-IsoBox-01-Jan-11-2010-1400-1500 usw.
Ondragon wählte den ersten Film an, von dem er vermutete, dass er von einer Überwachungskamera aus dem unterirdischen Labor stammte, und das Blau der Benutzeroberfläche verschwand. Stattdessen liefen flimmernde Linien über den Bildschirm und ein Bild in schwarz-weiß erschien. Obwohl auf der Aufnahme andere Lichtverhältnisse herrschten, erkannte Ondragon den gefilmten Raum wieder. Es war das Innere einer der Zellen des Versuchstraktes in Labor III, in dem er die toten Ratten und Affen gefunden hatte. Die Zelle war hell erleuchtet, und ein abgemagerter, dunkelhäutiger Mann lag auf der Pritsche.
„Etienne Dadou“, hauchte die Madame überrascht.
Ondragon nickte. Der Mann dort in der Zelle war eindeutig der Vater von der kleinen Christine. Nun gab es keinen Zweifel mehr daran, dass die Mitarbeiter des geheimen Darwin-Labors Versuche an ihm durchgeführt hatten. Ondragon fielen die digitalen Ziffern auf, die am unteren linken Bildrand mitliefen. 11. Januar, 12.01 Uhr. Also der Tag vor dem großen Erdbeben.
Gebannt schauten alle vier auf den Bildschirm. Zuerst tat sich nichts in der Zelle. Einem dürren, dunklen Embryo gleich lag Etienne Dadou auf der Pritsche, ohne sich zu rühren. Ondragon spulte vor. Das Bild blieb unverändert fast wie bei einem Standbild, nur dass die Ziffern weiterliefen. Um 12.30 Uhr ging endlich eine Veränderung vor. Ein flacher, eckiger Gegenstand schob sich auf dem Fußboden in Richtung der Pritsche. Es war ein Tablett mit einer undefinierbaren Masse und einem Becher mit Flüssigkeit darauf.
„Sieht aus wie Kartoffelbrei“, sagte Rod.
„So ähnlich. Das ist mit Sicherheit Brei aus dem Mais, den sie dort unten züchten. Dem DWIN 411-Crypt. Die Rettung der Welt!“, bemerkte Ondragon sarkastisch. „Sie haben ihren Probanden das Zeug zu essen gegeben und überprüft, ob es negative Auswirkungen auf den menschlichen Organismus hat.“
Rod schnalzte missbilligend mit der Zunge, als er sah, wie Etienne Dadou sich auf seine dünnen Beine mühte, das Tablett zu sich heranzog und mit den Händen zu essen begann. Danach ließ er sich wieder kraftlos auf die Pritsche zurücksinken und legte sich auf die Seite. Sein Gesicht wirkte eingefallen, und immer wieder schien es, als müsse er husten oder seine Kehle von zu viel Schleim freibekommen, denn sein Körper zuckte krampfartig zusammen. Die nächste halbe Stunde rührte er sich nicht, und schließlich war der Film zu Ende.
Ondragon sprang zu der nächsten Datei, und sie beobachteten, wie sich nach einer weiteren ereignislosen Viertelstunde die Tür zu der Zelle öffnete und eine blonde Frau mit weißem Kittel erschien. Es war die Tote aus der Kantine, erkannte Ondragon, die mit dem Skalpell in der Brust. Sie trat an die Pritsche, drehte Etienne auf den Rücken und legte ein Stauband um seinen Oberarm. Danach nahm sie ihm zwei Ampullen Blut ab und schob ihm ein Infrarot-Thermometer ins Ohr. Sie notierte sich die Temperatur auf einem Klemmbrett und horchte Herz und Lunge des Probanden ab, der die ganze Prozedur gleichgültig über sich ergehen ließ. Anschließend verschwand sie aus dem Bild und bis zum Filmende tat sich nichts mehr.
Ondragon wählte eine neue Datei an. Diesmal eine vom Tag des Erdbebens. Lab-III-IsoBox-01-Jan-12-2010-800-900. Noch war alles ruhig in dem Labor.
Die Pritsche mit Etienne Dadou erschien auf dem Bildschirm. Reglos lag der Mann da. Seine Haut hatte eine seltsam graue Färbung angenommen und an seinem Hals waren beulenartige Ausstülpungen gewachsen. Weiterhin geschah nichts. Bei 8.13 Uhr ging die Tür auf und die blonde Frau im Kittel erschien. Sie fühlte Etiennes Puls an mehren Stellen und leuchtete dann in eines seiner Augen. Kopfschüttelnd und mit hängenden Schultern sah sie eine Weile auf ihn herab. Dann drehte sie sich um und machte eine winkende Handbewegung. Zwei Männer in schwarzen Uniformen wie die von Sicherheitsangestellten kamen in die Zelle. Sie verfrachteten den offenbar toten Dadou auf eine Bahre und trugen ihn aus dem kleinen Raum. Das Bild wurde wieder starr und zeigte lediglich die leere Pritsche. Das Einzige, das sich noch bewegte, war die digitale Uhrzeit.
„Wie kann das sein?“, fragte die Madame, als der Bildschirm schwarz wurde. „Wir haben Dadou doch gesehen, lebend. Das verstehe ich nicht.“
„Ich nehme an“, antwortete Ondragon, „sie haben gedacht, er sei tot, und haben ihn aus dem Labor an die Oberfläche geschafft, wo sie seine Leiche beseitigen wollten. Womöglich haben sie das mit all den anderen auch so gemacht und sie einfach in den Wald geworfen. Die Aasfresser haben dann den Rest erledigt. Waren ja genug Geier da.“
„Diese Dreckskerle!“, empörte sich die Madame. „Wie Abfall haben sie die Leichen entsorgt!“
„Tja, armselig. Und dämlich. Wahrscheinlich haben sie Etienne über den Zaun geworfen und dort liegen lassen. Aus irgendeinem Grund ist er wieder in die Welt der Lebenden zurückgekehrt und hat als Halbwahnsinniger die Gegend unsicher gemacht. Wie passend für Darwin Inc., dass zuvor die Priesterin von Nan Margot das Zombie-Märchen in die Welt gesetzt hat. So gab es sogar für solche Schlampereien eine tolle Erklärung.“ Ondragon wählte die letzte Datei aus. Er spulte zu dem Punkt vor, an dem die Digitalanzeige 16.50 Uhr anzeigte. Drei Minuten lang starrten sie das Bild mit der leeren Pritsche an. Dann begann der Raum plötzlich zu erzittern, immer heftiger, bis die Pritsche einen Satz durch die Zelle machte und gegen die Tür stieß. Weiße Störungslinien durchschnitten das Bild, bevor der Bildschirm in stummes Schwarz getaucht wurde.
16.54 Uhr. Nach den Beben!
Unangenehm berührt schaute die Madame Ondragon an. „Ich wünschte, ich hätte das nie gesehen.“
„Das wünsche ich mir auch manchmal, aber diese Welt ist eben kein Wohltätigkeitsball!“, entgegnete er hart und zog den USB-Stick aus dem DVD-Player. Er wählte einen neuen aus und steckte ihn in den Port. „Sind Sie bereit, oder möchten Sie gern rausgehen, solange wir das Material sichten?“
Die Madame verschränkte trotzig ihre Arme vor der Brust. „Ich bleibe!“
„Nun gut.“ Ondragon wählte eine Datei mit der Bezeichnung 0-12. Der Bildschirm des Fernsehers wurde kurz weiß, und dann baute sich ein farbiges Bild auf.
Üppiges Grün.
Vogelgezwitscher.
Der Wipfel eines Baumes.
Eine mächtige Sumpfeiche mit ausladenden Ästen.
Ondragon runzelte die Stirn. Das kam ihm bekannt vor. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Da war nichts Gutes im Anmarsch … Und als er schließlich sich selbst erkannte, wie er in schmutzigen Klamotten und mit gerötetem Gesicht auf einem Ast hing und laut fluchend mit seinem Gürtel nach etwas angelte, brach ihm schlagartig der Schweiß aus allen Poren. Das waren die Aufnahmen von seiner Sumpf-Odyssee! Die, von denen Ellys gesprochen hatte.
Peinlich berührt wollte er den Film schnell wieder ausschalten, da schwenkte die Kamera von seinem im Baum hängenden Selbst auf das, was sich unter ihm befand. Ondragon erwartete, den gezackten Rücken eines Alligators an der Wasseroberfläche zu sehen, doch mit wachsendem Staunen bemerkte er, dass es nur ein Pool war. Ein türkisfarbener Swimmingpool… und darauf dümpelte träge ein quietschgrünes, aufblasbares Gummikrokodil.
Was zum …!
Sein Staunen wandelte sich in sprachlose Fassungslosigkeit, als er sich selbst dabei beobachtete, wie er versuchte, mit dem Schuh am Ende der Angel immer wieder auf den Kopf des Gummikrokodils zu treffen. Langsam zoomte die Kamera aus dem Bild heraus, und man konnte mehr von der Umgebung erkennen. Mit weit aufgerissenen Augen begriff Ondragon, wo er sich befand. Es war verrückt, aber er hockte tatsächlich auf dem Baum in jenem Garten, in den er vor nicht einmal fünfzehn Minuten geblickt hatte. Dem Flutlichtstadion!
Unter den besorgten Blicken der anderen taumelte er von dem Fernseher zurück. War das möglich? Das alles hatte sich doch anders angefühlt. So echt! Er war im Sumpf gewesen. Er war Meile um Meile gelaufen, hatte Durst und Hunger gelitten, hatte Bayous durchschwommen und Bäume erklettert und war von der Sonne fast zu Kochfleisch verarbeitet worden. Das alles konnte doch nicht bloß Einbildung gewesen sein!
Er griff sich an die schweißnasse Stirn. Was war das für ein abgefuckter Wahnsinn? War die Dehydration daran schuld? Hatte sie ihm das alles vorgegaukelt?
In seiner bestürzten Rückwärtsbewegung stieß Ondragon mit den Kniekehlen gegen den Couchtisch, auf dem etwas klirrend umfiel. Das Geräusch lenkte seine Augen von dem Film auf den Tisch. Langsam beugte er sich hinab und seine Finger schlossen sich um einen Gegenstand. Eine kleine Glasflasche, die mit winzigen Kügelchen gefüllt war. Er hielt sich das Etikett dicht vor die Augen.
„Lysergsäurediethylamid“, sagte er, als spräche er mit sich selbst und stieß danach ein bitteres Lachen aus. „Gottverdammtes LSD!“ Mit einem wütenden Schrei warf er die Flasche gegen die Wand und rannte zur Terrassentür, riss sie auf und stürzte nach draußen in die laue Nacht. Mit hastigen Schritten durchquerte er den dunklen Garten, bis er vor der kleinen Hütte stand. In seinem Rücken flammte mit einem Fauchen das Flutlicht auf und übergoss die Wand der Holzbaracke mit schattenlosem Licht. Nur seine eigene Silhouette ragte pechschwarz und wie ausgeschnitten vor ihm auf. Von irgendwoher hörte er Rods Stimme.
„Ecks. Warte! Wo willst du hin?“
Wo ich hin will?, dachte Ondragon mit bitterer Ironie und legte eine Hand auf die vertraute Tür.
Ins Hotel Bayou!
Er gab der Tür einen leichten Stoß und sie schwang auf. Das kalte Licht fiel durch den Türrahmen und erhellte den Raum. Mit zwei Schritten war Ondragon in der Hütte und sah sich um. Die fleckige Matratze kauerte noch immer in der einen hinteren Ecke, und der zertrümmerte Stuhl lag gleich daneben. Auf dem Boden vor sich sah er ein Stuhlbein und eine in zwei Teile zerschnittene Konservendose liegen. Sie war ohne Etikett und leer. Er gab der einen Dosenhälfte einen Tritt und sie flog scheppernd gegen die Wand, wo ein ausgeblichenes Plakat hing.
Del Monte Peach Halves!
Ein Kunstdruck des berühmten Gemäldes von Andy Warhol.
Auf was für einen beschissenen Trip hatten Stern und Ellys ihn da geschickt?
Und alles nur, um sich über ihn lustig zu machen! Ondragon ballte die Fäuste. Niemand hatte ihn je so gedemütigt! Niemand! Und wenn die beiden Mailmen nicht schon längst tot wären, dann hätte er sie spätestens jetzt bei lebendigem Leib gehäutet! Bitter floss ihm die Galle über. Er packte das Stuhlbein und mit einem hasserfüllten Schrei stürzte er vor und begann rasend wie ein tollwütiger Stier den kläglichen Rest der Einrichtung zu zertrümmern.
Mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn sah Rod ihm dabei von der Tür aus zu.
Er wusste nicht, wie lange er sich hatte abreagieren müssen, aber nachdem er sich wieder gefasst hatte, ließ Ondragon es zu, dass Rod ihn zurück ins Haus begleitete. Dort hatten die Madame und Green gnädigerweise den Fernseher ausgestellt und waren gerade dabei, alles, was noch an verdächtigem Material im Wohnzimmer herumlag, in die Sporttaschen zu packen.
Schwer atmend und ohne die Voodoo-Priesterin und den Mailman anzusehen, stapfte Ondragon zu der Kamera, schraubte sie vom Stativ und schmetterte sie auf den Fußboden. Sein Stiefel erledigte den Rest. Knirschend barst das Plastikgehäuse und die Linse sprang heraus. Anschließend klaubte er die Bruchstücke auf und warf sie in eine der Taschen.
„Was wirst du mit dem ganzen Material machen?“, fragte er Rod mit angriffslustig gesenktem Kopf.
„Oh, ich denke, ich werde es pulverisieren“, sagte sein Freund und warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu.
„Was? Sie wollen es zerstören?“, rief die Madame empört aus. „Wollen Sie diese Schweine von Darwin Inc. nicht damit drankriegen? Sollen die immer weiter solch abscheuliche Versuche machen können? Unschuldige Menschen sind gestorben!“
„Unschuldige Menschen sterben jede Sekunde auf dieser Welt!“, erwiderte Ondragon. „Und Konzerne wie Darwin Inc. sind schuld daran. Aber es wäre lebensmüde von uns, wenn wir uns mit denen anlegen würden. Darwin Inc. ist eine eiskalt berechnende Superintelligenz mit weltweitem Einfluss. Da hätten wir null Chance. Das wäre wie David gegen Goliath. Und das ging bekanntlich nur einmal in der Geschichte gut. Sind sie so selbstlos, dass sie ihr Leben für andere geben würden, Madame? Denken sie gut nach! Sie haben ihre Gemeinde, sie haben Familie und sie haben jetzt die kleine Christine. Kümmern sie sich darum, dass es ihr und den Menschen um sie herum gut ergeht. Das ist es, was sie für diese Welt tun können. Die kleinen Dinge, nicht die großen. Von denen lässt man lieber die Finger, sonst fressen sie einen auf … mit Haut und Haaren.“
Die Madame blickte ihn forschend an. Doch dann legte sich ein belustigtes Lächeln auf ihre Lippen. „Das ist sehr weise von Ihnen, Monsieur Ondragon. Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet“, sagte sie keck. „Sie machen sich. Wollen Sie meiner Gemeinde beitreten?“
Ondragon wollte gerade den Mund zu einer Erwiderung öffnen, da meldete sich Rod zu Wort: „Ähm, ich will euren kleinen Flirt ja nicht stören, aber ich hätte da auch noch eine Anmerkung zu machen. Wenn du das Material, das du aus dem Labor geholt hast, selbst nicht mehr brauchst, Ecks, dann hätte ich das auch gern vernichtet.“
„Kommt nicht in Frage! Das behalte ich. Man kann ja nie wissen. Ich muss mich schließlich auch absichern können, falls Darwin Inc. mir eines Tages auf die Schliche kommt. Keine Sorge, Rod, ich werde es sicher lagern. In einem Bankschließfach irgendwo im Ausland. Schweiz vielleicht. Es heißt, die seien gründlich und zuverlässig.“ Ondragon gestattete sich ein grimmiges Lächeln. „Haben wir alles?“
Die Madame und Green nickten.
„Gut!“ Ondragon holte sein iPhone aus der Hosentasche und schaltete es an. Bevor sie das Haus verließen, wollte er noch einer Sache nachgehen. Er ließ sich von Google Maps die Satellitenkarte von der Umgebung des Hauses zeigen und zoomte den Ausschnitt größer, bis das Straßennetz von Chalmette erschien. Anschließend steckte er das Handy wieder weg und sah seine drei Begleiter an. „Und nun weg hier. Dieser Ort kotzt mich an!“
Sie schlichen aus dem Haus und auf schnellstem Wege zum Auto. Ondragon steckte den Schlüssel in das Zündschloss und startete den Mustang, der mit einem satten Brüllen ansprang. Ein versöhnlicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und er gab Gas. Der Mustang durchpflügte die Nacht wie ein U-Boot das schwarze Wasser der Tiefsee und ließ die schlafenden Häuser hinter sich. Als sie die Hauptstraße erreichten, bog Ondragon zur großen Überraschung der anderen nicht nach New Orleans ab, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
„Was hast du vor?“, fragte Rod, aber Ondragon antwortete nicht.
Schweigend steuerte er den Wagen die breite, zweispurige Straße entlang, bis sie nach wenigen Meilen leicht anstieg und sich über das dunkle, sumpfige Gelände erhob. Am höchsten Punkt hielt Ondragon auf dem Seitenstreifen an, stellte den Motor ab und stieg aus.
Er trat an das Geländer der Brücke und lauschte. Endlich kamen zwei Fahrzeuge, und das Geräusch, das sie im Vorbeifahren verursachten, verscheuchte endgültig den letzten Zweifel.
Klak, klak. Klak, klak.
Seine Wanderung durch die Swamps hatte nie stattgefunden.