22. Kapitel
14. Februar 2010
Houma, Louisiana
10.45 Uhr
Mit dem Mustang fuhr Ondragon über das Rollfeld und steuerte auf den zweistrahligen, weißleuchtenden Privatjet von DeForce Deliveries zu. Bei der Fahrt nach Houma, das 57 Meilen südwestlich von New Orleans in den Sümpfen lag, hatte er sorgsam darauf geachtet, dass sie nicht in irgendeiner Weise verfolgt wurden. Zu seiner Beruhigung waren die Nebenstecken, die er genommen hatte, hinter ihnen leer geblieben. Ein wenig seltsam fand er das schon, hatte er doch fest damit gerechnet, unter der Beobachtung seiner Widersacher zu stehen und auch zu bleiben. Auch ein Scan ihres Gepäcks auf Signalsender hatte nichts ergeben. Lag er in seiner Einschätzung derjenigen, die ihn entführt und in den Swamps ausgesetzt hatten, so sehr daneben?
Er wandte den Kopf. Die Madame saß in voller Reisemontur (bestehend aus der Hose und dem Kapuzenpulli von letzter Nacht) auf dem Beifahrersitz und blickte erwartungsvoll durch die Windschutzscheibe auf das Flugzeug. Rod war schon lange vor ihnen vom Hotel aufgebrochen, noch bevor er die Madame kennenlernt hatte, und in einem Taxi zum Airport gefahren.
Ondragon sah, dass er sie am Flugzeug erwartete und der Voodoo-Priesterin die Autotür öffnete, als der Mustang am Fuße der Gangway hielt.
„Madame“, sagte er galant. „Mein Name ist Roderick DeForce.“
„Mari-Jeanne Tombeau.“ Sie reichte ihm die Hand.
Aha, seinem Freund verriet sie also gleich ihren Vornamen. Interessant, dachte Ondragon beinahe eifersüchtig.
„Sehr erfreut, Madame.“ Rod deutete eine Verneigung an. Der alte Charmeur.
Nachdem der Höflichkeit Genüge getan war, trugen die drei die Taschen mit der Ausrüstung aus dem Kofferraum ins Flugzeug.
Drinnen pfiff Ondragon leise durch die Zähne, als er die luxuriöse Inneneinrichtung der Kabine sah. „Entzückende Ausstattung!“ Er prüfte die Beschaffenheit der lederbezogenen Polstersessel. „Nice. Da werde ich während des Fluges noch ein hübsches Nickerchen machen können.“ Er brachte die Taschen in den hinteren Teil der Maschine, wo sich in einem kleinen Gepäckraum schon mehrere Kisten stapelten.
„Ich habe mir erlaubt, ein wenig Ausrüstung mitzubringen“, sagte Rod hinter ihm mit unverwechselbarem, britischem Understatement.
„Ein wenig?“ Ondragon sah seinen Freund an. „Schon klar.“ Er warf die Tasche auf den Stapel, der seine Bemühungen vom Vorabend, sich Ausrüstung zuzulegen, lächerlich erscheinen ließ. „Wir sind nur zu dritt, das weißt du, oder?“
Sein Freund hob entschuldigend die Schultern und schaute sich um zu der Madame, die es sich in der Kabine bereits in einem der Sessel bequem gemacht hatte. Obwohl sie sie nicht hören konnte, sprach Rod mit gesenkter Stimme weiter: „Ich dachte sogar, wir wären nur zu zweit. Dass diese charmante Dame mitfliegt, konnte ich ja nicht ahnen, dann hätte ich noch mehr eingepackt, aber du hast ja auch noch etwas mitgebracht.“
Ondragon stieß Rod freundschaftlich den Ellenbogen in die Rippen, und beide kicherten daraufhin wie zwei Zehnjährige, die zu viel Brausepulver intus hatten, rissen sich aber sofort wieder zusammen und kehrten in die Kabine zurück. Dort bot Rod der Madame Getränke an, während Ondragon noch einmal die Maschine verließ, um sein Auto zum Hangar zu fahren.
Als er wenig später die Kabine der Gulfstream betrat, war Rod vorne bei den Piloten und gab letzte Anweisungen. Ondragon ließ sich gegenüber der Madame in der Vierergruppe von Sesseln nieder, zwischen denen man einen Tisch ausklappen konnte. Prüfend sah er die Voodoo-Priesterin an, die gelassen durch die Gläser ihrer Brille zurückblickte. Sie wirkte keineswegs nervös, was ihn wunderte, denn sie brachen ja nicht zu einem lässigen Karibikurlaub auf. Er fragte sich, was sie wohl gerade dachte, kam aber zu keinem Schluss. Diese Frau und ihr Verhalten waren nicht leicht zu interpretieren. Ihre Fassade war perfekt, das musste er ihr schon lassen. Doch was sie dahinter verbarg, war ihm noch immer ein Rätsel.
„So, wir starten in wenigen Minuten“, sagte Rod und setzte sich neben Ondragon. „Wir haben einen günstigen Slot bekommen, obwohl wir so kurzfristig nachgefragt haben. Ich war auch so frei – und ich hoffe, du verzeihst mir meine Voreiligkeit, Ecks – und habe schon unserem Kontakt vor Ort die voraussichtliche Ankunftszeit mitgeteilt.“
„Das klingt gut.“ Ondragon spürte, wie die Maschine sich in Bewegung setzte, zur Startbahn rollte und kurz darauf abhob. Immer kleiner wurde die Landschaft unter ihnen, auf deren sumpfigen Flächen sich das silberne Licht der Sonne widerspiegelte.
Nachdem das Flugzeug Kurs auf den Golf von Mexiko genommen und seine Reisehöhe erreicht hatte, fischte Ondragon eine Umhängetasche unter dem Sitz hervor, klappte den Tisch herunter und begann das Briefing damit, dass er einen nagelneuen Laptop hochfuhr und seinen beiden Crewmitgliedern eine topografische Karte von der Insel Hispaniola zeigte, auf der sich die beiden Staaten Haiti und die Dominikanische Republik eine Grenze teilten, die längs durch das Land verlief. Er zoomte Haiti heran und deutete auf einen Punkt an der südlichen Küste.
„Das hier ist Jacmel, eine kleine Hafenstadt. Und hier“, sein Finger fuhr einen winzigen Deut nach Westen, „ist das Dorf Nan Margot. Unser Einsatzort liegt in den Bergen nördlich davon in 2600 Fuß Höhe und soll in einer alten Mine versteckt sein. Soweit die Koordinaten. Rod wird uns gleich noch einen Satelliten anzapfen und uns ein genaues Bild von dem Gelände rund um das Dorf und die Mine geben. Aber zuerst möchte ich euch den schedule mitteilen. Wenn alles planmäßig verläuft, werden wir kurz vor vier Uhr Ortszeit auf dem Flugplatz in Jamaika landen, der sich direkt an der Küste befindet. Wir landen deshalb in Jamaika, weil zurzeit sämtliche Flughäfen in Haiti vom amerikanischen Militär kontrolliert werden. Ein Jeep wird uns zum Strand bringen, wo das Speedboat bereitsteht, das auch die Männer der MSC für den Haiti-Einsatz benutzt haben. Für die 269 Seemeilen habe ich bei einer Geschwindigkeit von 25 Knoten elf Stunden Überfahrt errechnet. Die Wettervorhersage für die nächsten drei Tage verspricht kaum Regen und ruhige See. Wir werden also voraussichtlich gut vorankommen und in den frühen Morgenstunden vor der Küste Haitis eintreffen. Bei Tagesanbruch werden wir an dieser kleinen Landzunge hier in einer der unbewohnten Buchten anlanden und mitsamt unserer Ausrüstung, die so leicht sein wird, dass wir sie tragen können, an Land gehen.“ Er deutete auf einen Felseinschnitt, der in westlicher Richtung vom Strand wegführte. „Durch dieses schmale Flusstal werden wir zirka vier Meilen landeinwärts wandern und uns dann zwei Meilen direkt nach Norden querfeldein den Hang hinauf bis zu dem Dorf und der Bergstraße, der Route 208, durchschlagen. Im Dorf werden wir schnellstmöglich einige Auskünfte einholen und dann weiter nach Norden in die Berge hinauf bis über den Grat steigen, hinter dem sich das Gelände der Darwin-Einrichtung befindet. Dort werden wir ein kleines Basiscamp aufschlagen und unsere Erkundungen durchführen, für die ich ein bis maximal zwei Tage eingeplant habe, je nachdem, ob es uns gelingt, in das Labor vorzudringen, denn bekanntlich wurde der Eingang zum Schacht gesprengt. Danach geht es auf der Route des MSC-Einsatzteams zurück zur Küste, für den Fall, dass wir etwas entdecken, das uns darauf bringt, was mit den Mailmen passiert sein könnte.“ Er machte eine kleine Pause, in der er eine Textdatei aufrief.
„Kommen wir zur aktuellen Lage im Land, die, wie wir wissen, sehr angespannt ist und das nicht nur in der Hauptstadt Port-au-Prince. Das Beben mit der Stärke 7.0 auf der Richterskala ist genau einen Monat her und hat schwere Schäden im gesamten Süden angerichtet. Noch immer werden Opfer vermisst. Schätzungsweise 300.000 Menschen wurden getötet und noch einmal so viele verletzt, und über 1,5 Millionen sind obdachlos. Es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände und Seuchengefahr, weil Krankenhäuser und Leichenhallen aus allen Nähten platzen. Plünderungen und Gewalt sind an der Tagesordnung, da Lebensmittel und Wasser knapp sind – reiner Zündstoff also für einen Aufstand. Zwar findet unser Einsatz in den Bergen statt, aber hier ist es nicht weniger gefährlich. Ich möchte daher, dass euch bewusst ist, in welche Höhle des Löwen wir uns begeben. Seid also ständig auf der Hut und zögert nicht, von euren Waffen Gebrauch zu machen.“ Er sah die Madame scharf an. Sie hielt seinem Blick stand und nickte kaum merklich. „Wenn wir in dem Dorf erklären, wer wir sind und was wir wollen, werden wir einiges an Aufsehen erregen. Dabei gilt es, absolute Ruhe zu bewahren“, sprach er weiter. „Unsere Tarnung muss nicht perfekt sein, aber überzeugend. Wie schon erwähnt, werden wir als Soldaten der UN-Blauhelmtruppe auftreten, die den Auftrag haben, die Forschungseinrichtung in den Bergen nach gefährlichen Stoffen abzusuchen, die eventuell durch das Beben freigesetzt wurden. Und …“
„Werde ich auch ein Blauhelm sein?“, fragte die Madame.
„Jawohl.“ Ondragon blickte sie streng an, weil sie ihn unterbrochen hatte.
„Aber, als Frau und Haitianerin falle ich doch auf, oder? Wären da Ärzte nicht eine bessere Tarnung?“
„Ich glaube kaum. Stellen Sie sich mal vor, wir kommen in das Dorf und man verlangt von uns, die Verletzten zu behandeln.“
„Ich könnte das tun. Ich weiß, wie man Wunden und Krankheiten auf traditionellem Wege kuriert.“
„Das ist schön, würde uns aber zu viel Zeit kosten.“
Die Madame schürzte die Lippen. „Ich gebe zu bedenken, Monsieur Ondragon, dass die Menschen in meinem Land sehr misstrauisch sind, erst recht gegenüber Weißen. Einige von ihnen zu behandeln, würde Vertrauen schaffen und ihre Zunge lockern. Und außerdem …“ Die Madame zog ebenfalls ihre Tasche unter dem Sitz hervor, holte einen weißen Kittel hervor und zog ihn an. „… mache ich mich nicht schlecht in diesem Kostüm.“ Mit einer preziösen Geste schob sie sich ihre Brille auf der Nase zurecht und warf ihm ein schelmisches Lächeln zu.
Ondragon hob die Augenbrauen, als er das Schildchen las, das über ihrer linken Brust an den Kittel gesteckt war. „Dr. Mari Tombeau –Médecins Sans Frontières.“
„Das ist …“
„Das ist genial, Madame!“, rief Rod erfreut aus. „Damit bekommen wir wahrscheinlich tatsächlich mehr aus den Dorfleuten heraus.“
„Und wie soll sie damit ihre schusssichere Weste tragen?“, wand Ondragon ein.
„Na, unter dem Pulli und dem Kittel. Ist doch kein Problem.“
Ondragon überlegte. Die Idee der Madame war tatsächlich nicht schlecht, es ärgerte ihn nur, dass er sie nicht selbst hatte. „In Ordnung, da Sie sich offensichtlich schon so gut auf Ihre Rolle vorbereitet haben.“ Er räusperte sich, um zu verdeutlichen, dass er keine weitere Unterbrechung wünschte, und fuhr fort.
„Vor Ort besteht unsere Aufgabe darin, jeden noch so kleinen Hinweis zu sammeln und herauszufinden, welchem Zeck dieses geheime Labor gedient und in welcher Hinsicht es mit dem Verschwinden, beziehungsweise mit dem Tod, der Mailmen zu tun hat.“
„Vielleicht sollten wir eine ganze Nacht in dem Dorf einplanen“, unterbrach ihn die Madame erneut.
Ondragon atmete tief durch, um nicht laut zu schreien. Einerseits musste er der Madame ihre Fragen nachsehen, weil sie noch nie an einer paramilitärischen Aktion teilgenommen hatte, anderseits wollte er die Einsatzbesprechung so schnell wie möglich abhaken, damit er noch ein wenig Schlaf bekam, bevor es ernst wurde. Er merkte, wie Rod und die Madame ihn erwartungsvoll anblickten.
„Wir werden sehen, wie sich unser Vorankommen entwickelt. Jeder schedule ist nur ein Leitfaden und flexibel abwandelbar. Muss er sogar sein, denn selten läuft eine Operation wie geplant.“ Er warf einen kurzen Blick zu Rod. „So, und nun noch einiges zum Procedere.“ Er erklärte der Madame einige Handzeichen zur nonverbalen Kommunikation und wies sie in die Benutzung des Sprechfunks und ein Dutzend verkürzter Begriffe für operative Einsätze ein, wobei er die allgemein gültigen Termini benutzte und nicht die DeForce-Formeln. Danach bat er Rod, die Verbindung zum Satelliten herzustellen, ihn mit den Koordinaten zu füttern und ein Bild vom Einsatzort zu liefern.
Der erste Ausschnitt, den sie bekamen, war viel zu grob, und Rod gab den Befehl ein, näher heranzuzoomen. Das Bild wurde klarer, und aus den gefleckten Brauntönen trat bergiges Gelände hervor, an einigen Stellen gesprenkelt mit mehr oder weniger dichtem Baumbewuchs, der sich als unregelmäßige grüne Flecken darstellte. Nach wenigen Justierungen fanden sie das Gelände mit der Darwin-Einrichtung und der Mine. Deutlich konnten sie das H des Heliports, das zerstörte Gebäude und den verschütteten Minenschacht sehen. Sogar der Zaun war zu erkennen, der in einem perfekten Viereck das baumbewachsene Gelände umschloss.
„Wenn wir nur schon mehr Informationen über die Mine hätten und wüssten, ob es vielleicht noch weitere Eingänge gibt. Leider kann man auf dem Satellitenbild nichts dergleichen erkennen“, murmelte Rod nachdenklich.
„Das wird Madame Tombeau für uns herausfinden. Ich setze all meine Hoffnung auf einen zweiten Eingang, denn falls deine Männer so gut gearbeitet haben, wie ich glaube, Rod, dann ist der Hauptschacht unpassierbar. Zumindest für uns mit unserem kleinen Gerät.“
„Aber wenn ein zweiter Eingang bekannt wäre, hätte Darwin Inc. dann nicht auch diesen von uns versiegeln lassen?“, fragte Rod.
„Das stimmt. Ich hoffe ja auch, dass wir uns von dem zweiten Schacht einen Weg in den Hauptschacht oder die unterirdischen Laborräume sprengen können.“
Rod nickte, und Ondragon fuhr den Rechner runter. „Gut, dann hätten wir alles soweit besprochen. Eine weitere Einsatzbesprechung folgt auf dem Boot. Ich werde mich jetzt ein wenig aufs Ohr hauen, falls ihr nichts dagegen habt.“ Er ging in die Sitzreihe hinter den beiden und ließ sich dort am Fenster nieder. Eine Weile kreisten seine Gedanken noch um die bevorstehende Operation, dann schlief er ein.
Er erwachte, weil er das Gefühl hatte, jemand starre ihn an. Ruckartig öffnete er die Augen, doch da war niemand außer Rod und der Madame in den Sesseln vor ihm, und die schienen in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein. Ondragon konnte ihre murmelnden Stimmen trotz des Turbinenlärms gut hören. Das war neben der Zentrifuge eine seiner besonderen Fähigkeiten. Er konnte verschiedene Geräusche filtern, so dass er nur noch das hörte, worauf er sich fokussierte. Kam wahrscheinlich von dem verhassten Cello-Unterricht, auf den sein Vater in seiner Jugend bestanden hatte. Aber dadurch war es ihm nun möglich, das Turbinenheulen auszublenden und die Stimmen seiner beiden Begleiter so deutlich hervortreten zu lassen, als säße er direkt neben ihnen. Sie redeten gerade über Haiti und Madames Kindheit, in der sie in Cap Haïtien eine Privatschule besucht hatte. Nichts sonderlich Aufregendes.
Ondragon gähnte und sah auf die Uhr. Noch eine Stunde Flugzeit. Er konnte getrost noch ein wenig weiterschlafen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.
Kurz bevor die Welt der Traumbilder sich für ihn auftat, hörte er Rod die Madame fragen, warum sie von Haiti in die Staaten übergesiedelt sei, um ausgerechnet dort als Voodoo-Priesterin zu arbeiten. Das machte Ondragon nun doch neugierig und er lauschte mit einem Ohr dem Gespräch.
Die Madame lachte, warum, wusste er nicht, dann antwortete sie: „Ich war mit Zwanzig an der Harvard Businessschool in Cambridge und habe dort meinen MBA gemacht.“
Die Madame war in Harvard gewesen? Jetzt wurde Ondragon hellhörig und lauschte mit voller Aufmerksamkeit. Er wunderte sich nicht nur darüber, dass sie an einer Eliteuniversität studiert hatte, sondern auch, weil das Studium dort verdammt teuer war. Wie hatte sie sich das als armes Kind Haitis leisten können?
„Danach habe ich bei einer Unternehmensberatung gearbeitet“, fuhr die Madame fort, „aber nur zwei Jahre. Mein Vater wurde sehr krank, und ich hatte ihm versprochen, in seine Fußstapfen zu treten. Ich flog also nach Haiti und unterzog mich mehrere Jahre lang der Ausbildung zur Priesterin. Ich bin tief verbunden mit der Tradition meines Landes, müssen Sie wissen, aber ich wusste damals schon, dass ich dort nicht mehr würde leben können. Ich war, wie sagt man so schön, spoiled – verdorben. Dennoch wollte ich meines Vaters Wunsch erfüllen und es macht mich auch sehr stolz, das tun zu dürfen. Mein Vater war ein sehr einflussreicher und auch wohlhabender Mann in unserer Stadt, er war nicht nur ein Houngan, ein Priester, er war auch ein Kopf der Shanpwel.“
„Ah, davon habe ich schon mal was gehört“, hörte Ondragon Rod sagen, „das sind geheime Gesellschaften, am ehesten mit den Logen der Freimaurer zu vergleichen. Sie existieren unter der Oberfläche des haitianischen Staatsapparates und sprechen für ihre eigene Gemeinschaft Recht, unabhängig von der staatlichen Jurisdiktion. Sie sind gefürchtet, kümmern sich aber auch um ihre Mitglieder, wenn sie in Not geraten.“
„Das ist richtig, Mr. DeForce, da sind Sie gut informiert.“ Die Stimme der Madame klang anerkennend. „Mehr kann ich Ihnen aber nicht darüber verraten, mich bindet ein Eid.“
„Selbstverständlich. Und warum sind Sie zurück in die USA gekommen?“
„Nach meiner Initiation zur Mambo starb mein Vater. Ich wollte und konnte seinen Humfó, seinen Tempel, nicht übernehmen. Mein Cousin hatte diesen Anspruch angemeldet. Aber darüber war ich nicht traurig, ich verließ meine Heimat und suchte mir einen Ort, an dem ich eine neue Gemeinschaft gründen konnte.“
„Und Sie wählten New Orleans.“
„Ja, in New Orleans hat der Vodou-Glauben eine lange Tradition, ich fand dort fruchtbaren Boden. Es gibt dort drei verschiedene Shanpwel. Eine davon ist meine.“
Erstaunt stellte Ondragon fest, dass die Madame schon die ganze Zeit über ohne Akzent und frankophone Begriffe sprach. Auch wunderte er sich darüber, wie freimütig sie seinem Freund ihre Lebensgeschichte offenbarte. Er spürte einen missgünstigen Stich. Warum hatte sie ihm bisher nichts davon erzählt? Und warum hatte sie sich ihm gegenüber verstellt und so getan, als spreche sie nur gebrochenes Englisch?
Weil du ein ignoranter Arsch bist, deswegen!
Ondragon presste die Lippen zusammen, weil ihm klar wurde, dass die Madame die gleichen Tricks bei ihm angewendet hatte, die er selbst gerne benutzte, um die Leute zu täuschen. Leider hatte er sich zu sehr von seinen Vorurteilen leiten lassen und war darauf reingefallen. Ein grober Fehler!
Mit verdrossener Miene lauschte er weiter.
Unterdessen fragte Rod: „Wie ist das so, als Voodoo-Priesterin zu leben, wenn ich fragen darf?“
„Es ist eine Mischung aus verschiedenen Berufsgruppen. Am Ehesten kann man es mit dem Leben eines Seelsorgers, Lebensberaters, Entertainers und“, sie lachte leise, „Popstars vergleichen. Vodou-Priester genießen nämlich ein hohes Maß an Prominenz. Nicht nur in Haiti, auch in allen Exklaven des Vodou-Kultes. Wir sind so etwas wie Celebrities mit spiritueller Aura.“
„Sie sagen das, als ob Sie das nicht ganz ernst meinen.“
„Oh, ich meine das alles vollkommen ernst. Aber im Vodou wird nicht so sehr im bitteren Ernst gesprochen wie zum Beispiel im Katholizismus. Wir sind eine sehr undogmatische und elastische Religion. Ein Ritual folgt zwar immer einem bestimmten Ablauf, aber es kann auch Abweichungen geben, sogar schon von Priester zu Priester, denn jeder hat seinen eigenen Meister-Gott, seinen Loa mèt-tèt. Desgleichen verhält es sich mit unseren Göttern, die sich zwar in ihrem typischen Habitus zeigen, wenn sie sich in den Sattel eines Menschenpferdes schwingen und seinen Seelen-Engel, den Gros-bon-ange, für einem Moment verdrängen, aber auch hier folgt es keiner strikten Regel. Wir sind ein lebendiger Glauben, der den Menschen direkt mit einbezieht. Und der Mensch selbst ist unberechenbar, das wissen wir. Es gibt ein haitianisches Sprichwort: In die Kirche geht man, um mit Gott zu sprechen, in den Tempel geht man, um ein Gott zu sein.“
„Weil die Götter in der Trance von den Menschen Besitz ergreifen und durch sie sprechen?“
„Nicht ganz. Besser wäre, sie leben durch sie. Sie laden den Menschen mit ihrer Energie auf. Das muss nicht immer positive Energie sein. Wir haben auch eine ganze Dynastie von Göttern, die der Schattenseite angehören.“
„Dämonen und Teufel.“
Wieder lachte die Madame. „So würden Sie das bezeichnen mit Ihrer, verzeihen Sie, westlichen Schwarzweißerziehung. Gut und Böse. Engel und Teufel. Das ist auch ein Prinzip, das wir kennen, nur dass ein Loa, der zu der Schattenseite zählt, auch Gutes erwirken kann. Es sind sehr erfahrene Götter, die deshalb oft um Rat angerufen werden. Aber sie treiben auch gerne Schabernack. Sie sehen also, unser Universum ist weit komplizierter.“
„Und wie ist das, von einem Loa ‚geritten‘ zu werden?“
„Es ist der totale Verlust der Kontrolle. Für einen westlich geprägten Menschen der absolute Albtraum. Für einen Vodou-Anhänger jedoch ein heiliger Augenblick. Die Energie des Loa fährt in einen wie ein Blitz, der aus Himmel und Erde zugleich in den Körper trifft. Er vereint die Welt der Menschen mit der der Mystères, der Geister. Alles ist eins. Das eine durchdringt das andere.“
„Das ist wirklich faszinierend. Aber wie können Sie davon leben? Ich meine, wollten Sie nie zurück in die ‚normale‘ Welt? Sie haben einen Universitätsabschluss und könnten jede Menge Geld in irgendeiner Führungsetage verdienen.“
Die Madame stieß einen amüsierten Laut aus. „Durch meine Profession bin ich hinreichend versorgt, falls es Sie beruhigt. Und wenn mir Geld wichtig wäre, dann hätte ich auch einen Platz in dieser Welt eingenommen, die vom Geld regiert wird. Ich bin jedoch froh, abseits der Fremdbestimmung durch das Streben nach Geld leben zu dürfen. Und ich habe diesen Schritt nie bereut. Ich fühle, dass ich das Richtige tue, das Richtige bin! Das ist so, wie Sie es von sich berichtet haben, Mr. DeForce. Sie leben in diesem Sinne auch nicht in der ‚normalen‘ Welt. Sie leben von und für die außergewöhnliche Herausforderung und machen den Job in erster Linie aus Leidenschaft, und nicht, weil er Sie reich macht. Genau wie Mr. Ondragon. Er scheint mir sehr von etwas getrieben zu sein, das sich nicht mit simplen Worten beschreiben lässt. Geld ist es in jedem Fall nicht. Er liebt das Rätselhafte, nicht wahr?“
„Das haben Sie gut erkannt, Madame. Paul ist ein wirklich besonderer Mensch, und ich kann mich glücklich schätzen, ihn zum Freund zu haben. Es gibt nicht viele seines extraordinären Schlages auf der Welt.“
„Er hat mal für Sie gearbeitet, Mr. DeForce?“
„Ach bitte, nennen Sie mich Rod, ich mag das Förmliche nicht so, das erinnert mich an meine Zeit auf dem Internat in England.“
„Gern, Rod. Ich bin Mari.“
Ondragon vermutete, dass die beiden sich gerade die Hände schüttelten, und presste seine Kiefer noch härter aufeinander.
„Übrigens, was mich noch interessiert“, sagte Rod, „ist Tombeau Ihr richtiger Name?“
„Ja. Ob Sie es glauben oder nicht. Der Name unserer Familie geht auf einen Totengräber zurück. Auf meinen Ur-Ur-Ur-Großvater. Er war ein berüchtigter Magier.“
„Aha.“
„Aber wir sprachen gerade über Mr. Ondragon“, erinnerte ihn die Madame.
„ Ja, ganz recht. Nun, Paul hat für mich gearbeitet, aber das ist schon lange her“, sagte Rod mit wehmütigem Klang in der Stimme.
„Und warum ist er jetzt Ihr Boss?“, wollte die Madame wissen.
Ich bin zwar der Auftraggeber, aber es ist seine Operation, also gelten auch seine Regeln. Damit habe ich kein Problem. Paul ist verdammt gut in dem, was er tut! Er war der beste Mailman, den ich je hatte, und ich habe es damals sehr bedauert, dass er gegangen ist. Aber er wollte unbedingt sein eigenes Geschäft aufziehen. Für ihn war ein eigenes Business das Einzige, was in Frage kam. Er ist ein Einzelgänger, ein einsamer Jäger – immer auf der Suche nach dem Thrill und dem kniffeligsten Rätsel dieser Galaxie. Immer in Bewegung. Unglaublich, was für eine Energie den Kerl antreibt. Er hat im Übrigen eine ganz ähnliche Ausbildung wie Sie, Mari. Einen Harvard-Abschluss in Politik und einen MBA. Auch er hat bei einer großen Consulting-Fima angefangen, in Deutschland, glaube ich. Aber er war sehr unzufrieden mit dem Job. Seinen Aussagen zufolge ist er überall mit seinen unorthodoxen Ideen angeeckt und galt schnell als Freak in der Branche. Schließlich traf er mich auf einer Dienstreise in Ägypten. Danach kündigte er. Ich habe ihn unter meine Fittiche genommen und in allem ausgebildet, was ein Mailman können muss. Das hat ihm sehr gelegen und eine Weile war er bei DeForce der beste Mann, doch dann packte ihn sein Ehrgeiz, wenn Sie es so nennen möchten, und er stieg aus. Leider. Aber Paul ist eben nicht zu bremsen. Und er hat sich mit unheimlicher Geschwindigkeit weiterentwickelt. Aber er besitzt auch einen ziemlich speziellen Charakter, wie Sie wohl schon festgestellt haben dürften.“
Ondragon hörte, wie die Madame einen zustimmenden Laut von sich gab, und Rod amüsiert weiter sprach: „Heute tobt er überall in der Weltgeschichte herum und erledigt diese heiklen Aufträge, ohne dass es ihm etwas auszumachen scheint. Ich glaube, er hat nicht einmal Jetlag und ist immer in Topform. Und er hat vor nichts Angst!“
Dies alles von seinem Freund zu hören, schmeichelte Ondragon natürlich sehr. Aber seine Laune sackte schlagartig in den Keller, als er daraufhin Madames Bemerkung hörte.
„Mr. Ondragon ist in der Tat sehr speziell. Leider auch ein wenig steif in seinen Umgangsformen, will ich meinen. Und er ist nicht ganz so furchtlos, wie Sie ihn beschreiben.“
„Nicht?“
„Nein, er hat durchaus Ängste, die ihn bremsen!“
Rod schien zu stutzen, bevor er fragte: „Wie meinen Sie das, Mari?“,
„Seine Ängste sind seine Achillesferse. Sie führen ihn an dunkle Grenzen, denen er lieber ausweicht, anstatt sich ihnen zu stellen. Das ist sein Fehler: Er geht bis an die Schwelle, aber nicht weiter.“
Das stimmt nicht, dachte Ondragon empört.
„Er weiß, dass er es tun müsste“, fuhr die Madame fort, „aber er fürchtet sich zu sehr vor den Konsequenzen, deshalb kneift er und ignoriert seine Ängste.“
„Welche Ängste sind das? Ich hatte Paul eigentlich immer für ziemlich unerschrocken gehalten.“
„Ich ziehe es lieber vor, das vertraulich zu behandeln. Es steht mir nicht zu, über seine Probleme zu reden, zumal er sie mir persönlich auch nicht anvertraut hat.“
„Und woher wissen Sie dann davon?“
„Ich kann es fühlen, ich sah etwas Ungewöhnliches in seiner Aura.“
„Soso.“
In der Sitzreihe hinter den beiden spürte Ondragon deutlich, dass nun Rod an der Reihe war, den Voodoo-Zauber in Zweifel zu ziehen und damit auch die seltsamen Kräfte, die dieser der Madame angeblich verlieh. Er hörte, wie sich die Priesterin in ihrem Sessel vorlehnte und Rod mit gedämpfter Stimme fragte: „Eines würde ich allerdings noch gerne wissen. Kannten Sie Mr. Ondragons Zwillingsbruder und wissen Sie, was mit ihm geschehen ist?“
„Er hatte einen Bruder?“, fragte Rod erstaunt zurück. „Tut mir leid, Mari, darüber weiß ich nichts. Seltsam, dass er mir nie davon erzählt hat.“
Sorry, mein Freund, dachte Ondragon.
„Nun“, fuhr die Madame fort, „Mr. Ondragon behauptet, sein Bruder sei seit über dreißig Jahren tot. Aber ich habe das Gefühl, er sagt nicht die Wahrheit.“
Das Gespräch nahm eine definitiv unerwünschte Wendung. Und während Roderick DeForce zu dem Thema unangenehm berührt schwieg, beschloss Ondragon, dem ein Ende zu setzen. Es war ohnehin höchste Zeit, sich auf die Landung vorzubereiten. Unter ihnen tauchte schon das helle Band der jamaikanischen Küste auf. Daher erhob er sich hörbar laut gähnend aus seinem Sessel und streckte seine Glieder.