34. Kapitel

17. Februar 2010

New Orleans

20.37 Uhr

 

Die Dunkelheit wich einem schweren Grau, das von innen gegen seine Lider drückte. Dann folgte ein greller Blitz, und Schmerz zuckte durch das graue Gewölk der Bewusstlosigkeit, hinterließ rote Punkte aus heißer Pein. Die Punkte begannen zu pulsieren, wurden größer und kleiner im Takt mit einem dumpfen Pochen, das direkt aus seinem Kopf zu kommen schien. Anschwellen. Abschwellen. Der Schmerz presste sich in sein Bewusstsein wie ein Flutlicht, das immer wieder ein-und ausgeschaltet wurde. Licht. Dunkel. Schmerz. Erlösung. Schmerz. Die roten Punkte wuchsen zusammen zu einer Fläche und gelbe Punkte erschienen darauf. Ein seltsam verzerrtes Quaken drang von sehr weit weg an seine Ohren. Kam langsam näher. Wurde deutlicher. Ein erneuter Blitz durchschnitt das zähe Erwachen, und ein unfreiwilliges Stöhnen entrang sich dem, was wohl seine Kehle war. Der Schmerz sprang hin und her. Kehle, Kopf, Gesicht, Kehle. Ein unerträgliches Feuerwerk aus blendend weißen Blitzen. Dann hielt der Schmerz plötzlich inne und floss schlagartig in seine Augen, als seine Lider sich endlich hoben.

Das Rot vor seinen Augen löste sich in einem gelben Funkenregen auf, und ein Bild erschien. Zuerst verschwommen wie bei einer Wärmebildkamera, dann mit weißgeränderten Konturen.

Das Quaken in seinen Ohren schwoll zu einem Donnern an. Es klang, als hätten sich zwei Donnergötter in den Haaren und schleuderten einander Worte entgegen, die sich mit einem lauten Getöse entluden. Nur ganz langsam erhielten die Worte eine Bedeutung, und Ondragon verstand, was die Donnergötter sich zuriefen.

„Hab ich es dir doch gesagt. Es war eine Scheißidee! Außerdem jucken diese verdammten Kontaktlinsen wie blöd! Hätten wir uns doch bloß etwas Einfacheres ausgedacht als diese Zombie-Kacke!“

„Stell dich nicht so an! Du wolltest dir doch einen Spaß daraus machen!“

„Ich soll mich nicht so anstellen? Hast du schon mal aus nächster Nähe eine Kugel in die schusssichere Weste gekriegt. Tut höllisch weh!“

„Aber es hat doch funktioniert. Er ist hier!“

„Ach was. Du und dein beschissener Mailmen-Ehrenkodex! Wir hätten ihn damals gleich erledigen sollen, als wir ihn hatten. Das hätte uns diese ganze Scheiße hier erspart!“

„Aber er hat doch auch mal für Spider gearbeitet!“

„Das ist jetzt vollkommen egal, oder? Wir müssen ihn so oder so erledigen! Hätten wir auch bequemer haben können.“

„Und was ist mit Spider?“

„Ach, der. Der kann uns jetzt auch egal sein! Umso besser, wenn er gleich mit draufgeht. Dann ist einer weniger hinter uns her.“

Ondragon blinzelte. Er sah polierten Dielenboden … direkt vor sich, ganz nah, und in der Ferne zwei verschwommene Gestalten, die mit ihren rosa Gesichtern auf ihn herabsahen.

„Scheiße, er ist wach!“

„Mann, nicht mal gründlich zuschlagen kannst du! Jetzt leg ihn endlich um!“

Eine der beiden Gestalten hob einen schwarzen Gegenstand. Vermutlich eine Waffe.

„Mann, worauf wartest du noch?“ Die andere Gestalt griff der ersten in die Hand und entwand ihr die Pistole. „Dann mach ich es eben!“

Ondragon blickte direkt in den dunklen Lauf.

Doch nichts passierte. Kein weiterer Schmerz, der in ihn eindrang und alle anderen Schmerzen löschte. Keine ewige Dunkelheit, die ihn voll der Gnaden empfing. Nur ein leises Plopp ertönte.

Und dann kippte die Gestalt mit der Waffe zur Seite. Es hörte sich an wie ein Sack Kartoffeln, der auf den Boden schlug. Die Waffe schlitterte ihm aus der Hand.

Ondragon blinzelte erneut.

Während die eine Gestalt reglos auf dem Boden lag, streckte die andere Gestalt ganz langsam die Hände über den Kopf.

Ondragon hob den Kopf. Sofort begann der Schmerz wieder wie eine Flipperkugel wild hin und her zu schießen. Vom Kopf durch seinen Hals und in die Wirbelsäule hinein, wo er eine Zeit lang ziellos wütete. Aber Ondragon ignorierte die sengenden Blitze, die durch seinen Körper jagten, und setzte sich auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Der Schmerz kehrte in seinen Kopf zurück und raste dort, gefangen im Innern seines Schädelknoches wie ein brennender Mähdrescher immer im Kreis.

Als seine Sicht schließlich zurückkehrte, war sie viel klarer als vorher. Blinzelnd sondierte er das Zimmer. Nicht weit von ihm entfernt und in einer sich allmählich ausbreitenden Blutlache lag der Zombie Sylvester Stern. Sein Gesicht war ihm zugewandt, aber der Kopf war zur Hälfte fort, so als hätte etwas sehr Großes von ihm abgebissen. Fröhlich sprudelte das Blut aus den zerfetzten Arterien im halbierten Gehirn. Ungerührt hob Ondragon den Blick und war wenig überrascht, als er sah, wer neben dem Ex-Zombie stand. Tyler Ellys, der verschollene Mailman!

Er hatte die Arme über den Kopf gehoben und starrte auf einen Punkt hinter ihm. Ondragon atmete durch und fühlte tiefe Dankbarkeit. Die Madame war zurückgekehrt und hatte Stern den Kopf weggepustet. Er wandte sich um und erkannte seinen Irrtum!

In der Tür stand nicht die Voodoo-Priesterin, sondern ein Mann, den er erst auf den zweiten Blick wiederkannte.

Alejandro Green.

Blitzschnell warf Ondragon sich herum und griff nach der Waffe von Stern, obwohl es sich in seinem Kopf so anfühlte, als explodiere der Mähdrescher. Um nicht das Bewusstsein zu verlieren, biss er sich hart auf die Zunge und richtete den Lauf auf Green. Blutgeschmack breitete sich in seinem Mund aus, als er den Finger auf den Abzug legte.

Doch im Gesicht des Anderen erschien nicht dieser spezielle Ausdruck, den Ondragon von jenen Momenten her kannte, in denen es hieß: Du oder ich! Im Gegenteil. Greens Lippen zogen sich zu einem unsicheren Lächeln auseinander und vorsichtig hob er eine Hand.

„He, Mr. Ondragon. Nicht schießen. Ich bin auf Ihrer Seite!“

„Und woher soll ich wissen, dass das stimmt?“, blaffte Ondragon und zielte mit einem Auge über den Lauf auf Greens Brust.

„Weil ich Sie sonst erschossen hätte und nicht meinen Kameraden! Außerdem könnten Sie einen Blick auf Ihr Handy werfen. Die Nummer darauf ist meine. Ich habe die ganze Zeit versucht, Sie zu erreichen!“

Ondragon spürte, wie ein verwunderter Ausdruck auf sein Gesicht trat, noch bevor es ihm gelang, seine Mimik wieder zu kontrollieren. „Ihre Nummer? Aber das–“

„He, Ty! Bleib stehen!“, brüllte Green plötzlich und richtete seine Waffe wieder auf Tyler Ellys.

Der Mailman erstarrte in seinem Versuch, sich aus dem Staub zu machen, und hob erneut die Hände. Sein Hass stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Green, du kleiner Pisser!“, stieß er hervor. „Wir hätten dich längst kaltmachen sollen!“

„Ihr habt mich aber nicht gekriegt! Ich hab euch nämlich durchschaut.“

Ellys spuckte aus. „Das glaubst du wirklich?“ Er lächelte böse.

„Es ist vorbei, Ty. Euer Spielchen ist aufgeflogen. Ach, Mr. O, wären Sie so freundlich?“ Green warf Ondragon eine Rolle Panzerband zu. Er fing sie auf und machte sich mit pochendem Schädel daran, Ellys zu fesseln, während Green weitersprach.

„Nachdem Mr. O mich angerufen hatte, war mir noch nicht klar, was da läuft. Ich dachte zunächst, unsere Crew sei wegen der Unregelmäßigkeiten in Schwierigkeiten. Deswegen habe ich meine Fresse gehalten, denn ich verpfeife keine Kameraden. Aber Mr. O hatte mich gewarnt, und als später tatsächlich dieser komische Voodoo-Brief bei mir eintraf, wusste ich, dass es um mehr als nur Unregelmäßigkeiten ging. Vorsichtshalber habe ich mich erstmal nach Mexiko abgesetzt. Dort habe ich eine Weile über alles nachgebrütet und bin noch einmal die Berichte über den Haiti-Job durchgegangen. Dabei ist mir schließlich klargeworden, was ihr vorhattet. Einen inside sellout! Und dass ich euch dabei im Weg bin, wurde mir auch schnell bewusst. Aber ich brauchte einen Beweis für meinen Verdacht, damit ich euch guten Gewissens bei Spider melden konnte. Deshalb habe ich euch beschattet – die ganzen letzten vier Tage lang!“

„Guten Gewissens? Ha! Das ist ja wohl ’n Witz. Du und Gewissen?“, zischte Ellys, der nun verschnürt wie eine kolumbianische Mumie mit dem Rücken an den Spiegel gelehnt dasaß. „Du bist nichts weiter als ein feiger Arsch. Ein Kameradenschwein. Fahr zur Hölle, Green!“

„Ich ein Kameradenschwein? Ihr wolltet mich doch umlegen! Oh, Mann, wer hat dir bloß ins Gehirn geschissen, Ty?“ Green lachte. Doch plötzlich erstarrte er.

Ondragon sah, dass jemand hinter ihn getreten war und ihm von hinten eine Pistole an die Schläfe hielt.

„Runter mit der Waffe, wer auch immer Sie sind, oder ihr Oberstübchen bekommt Besuch!“

Es war die Madame.

„Mari-Jeanne! Er gehört zu uns!“, rief Ondragon ihr zu. „Nicht schießen.“

Die Madame zögerte, kam dann aber hinter Green hervor. „Zu uns?“, fragte sie, die Desert Eagle immer noch auf den Mailman gerichtet.

„Ja, die beiden dort sind die Bad Boys!“ Ondragon wies auf Stern und Ellys.

Ein schiefes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ah, wie ich sehe, haben Sie den Zombie schon so richtig erledigt.“

„Stern war kein Zombie“, sagte Ondragon matt. „Er hat nur einen gespielt. Das war alles nur Show.“

„Aber wozu?“ Die Madame sah ihn an.

„Das versuchen wir gerade zu klären. Aber als allererstes sollten wir uns um Rod kümmern!“

Die Voodoo-Priesterin nickte ernst, schob sich einen Mundschutz vors Gesicht und kniete sich neben den reglosen Briten. Sie zückte eine Schere und schnitt ihm die Kleidungsstücke vom Leib.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte Ondragon aus sicherer Entfernung, denn er war sich des giftigen Pulvers noch immer bewusst.

„Ja, das können Sie. Helfen Sie mir, ihn in die Badewanne zu tragen. Aber seien Sie vorsichtig und wirbeln Sie nicht das Pulver auf. Das Gift dringt hauptsächlich über die Haut ein, aber wenn es in die Lunge gelangt, kann es auch gefährlich werden. Vor allem, wenn Glassplitter darin sind. Die kleinste Verletzung reicht, und das Gift gelangt in den Körper. Der Bokor hat ihm die Glassplitter ins Gesicht geschleudert. Sie haben die Haut geritzt und dem coup poudre Eingang verschafft. Nehmen Sie den Mundschutz und tragen Sie das hier auf Ihre Hände und Arme auf.“ Sie reichte ihm eine klebrige Metalldose mit einem stinkenden, fettartigen Inhalt. „Das schützt die Haut vor dem Pulver.“ Sie hob ihre Arme, und Ondragon sah, dass sie fettig glänzten. Auch ihr Geruch war nicht mehr ganz so betörend wie sonst.

Er band sich den Mundschutz vors Gesicht, fuhr anschließend mit der Hand in die Paste und rieb sich damit großzügig die Unterarme ein, bis auch er roch wie ein Pavian aus dem Hintern.

„Atmen Sie so flach wie möglich“, empfahl ihm die Madame.

„Kein Problem bei dem Zeug!“ Mit einem Zwinkern gab er ihr die Dose zurück.

Kommentarlos ließ sie das schmierige Ding in ihrer Jackentasche verschwinden und ergriff entschlossen Rods nackte Füße. Ondragon packte seine Arme, und gemeinsam schleppten sie den gelähmten Briten ins Bad, wo sie ihn in die Badewanne hievten. Die Anstrengung ließ den Schmerz in seinem Kopf erneut anschwellen, und der Motor des Mähdreschers sprang heulend an. Mit einem wütenden Satz fuhr er los und häckselte in seinem Hirn alles kurz und klein. Ondragon musste sich an der Wand abstützen und warten, bis der rote Schleier vor seinen Augen verschwunden war.

Unterdessen stellte die Madame das Wasser warm und duschte Rod gründlich ab. Danach holte sie eine kleine Ampulle aus ihrer Jackentasche und eine verpackte Einwegspritze.

„Wie?“, fragte Ondragon erstaunt. „Kein Voodoo-Zauber? Kein Wabuwabu?“

Die Madame sah ihn mit einem verschwörerischen Lächeln an. „Nur für Sie, Monsieur Ondragon, enthülle ich jetzt mein Geheimnis. Ich hoffe, Sie erkennen diese Ehre an und versprechen mir, darüber zu schweigen wie ein Grab.“

Ondragon unterdrückte ein belustigtes Lachen. „Ähm, ja, natürlich. Ich verspreche es.“ Er hob zwei Finger und verzog schmerzverzerrt das Gesicht. Im Geiste tastete seine Hand nach dem Zündschlüssel des Mähdreschers und versuchte, den Motor der Höllenmaschine abzuwürgen.

„Gut.“ Die Madame stach die Nadel durch die Membran der Ampulle und zog die Spritze mit der klaren Flüssigkeit auf. Sie schnippte mit dem Finger gegen die Kammer, drückte die Luft hinaus und injizierte den Inhalt mit einer schwungvollen Bewegung in Rods Oberschenkel. Danach warf sie die Spritze weg und sah Ondragon an.

Voilà. Jetzt müssen wir nur noch warten. In der Zwischenzeit erkläre ich Ihnen meine Magie.“ Sie musste selbst leise lachen. Es war ein warmes Geräusch, das Ondragon mochte. „Und sperren Sie Ihre Ohren schön auf. Vielleicht brauchen Sie das Wissen über die Behandlung eines Zombies ja irgendwann selbst noch einmal.“

Sie begann sich unter dem Wasserhahn im Waschbecken die Schmiere von den Armen zu waschen. „Alors, es gibt zwei Antidote für das coup poudre, die sich auf wundersame Weise in einer Pflanze vereinen. Nämlich der Datura Stramonium. Einer von den beiden Wirkstoffen ist das Scopolamin, das in kleinen Dosen als Gegenmittel wirken kann. Verabreicht man davon jedoch zu viel, so verliert der Betroffene seinen Verstand und wird tatsächlich zu einem Zombie. Nimmt man aber das hier“, sie hob die Ampulle, und Ondragon las das Etikett, „kann man sicher sein, dass der Betroffene wieder zu sich kommt und die Lähmung nachlässt.“

„Atropin?“

„Ja, es beschleunigt den Herzschlag und weitet die Bronchien. Und in dieser extrahierten Form kann es auch viel exakter dosiert werden, als wenn man mit Pflanzenpräparaten arbeitet.“

„Verstehe“, sagte Ondragon und seufzte erleichtert auf. In seinem Hirn gab der Mähdrescher endlich hustend seine letzten Zuckungen von sich und verstummte kurz darauf ganz. „Und wo haben Sie das Atropin her? Das bekommt man sicher nicht in der Drogerie.“

„Sie erinnern sich an den Arzt, der keine Fragen stellt?“

„Hm, ich sehe, Sie sind gut ausgerüstet.“

„Das ist mein Job!“ Sie zwinkerte ihm zu, und Ondragon grinste. Plötzlich öffnete sie den Mund und rief: „Oh, na sieh mal einer an, da ist ja jemand wach!“ Sie wandte sich an Rod, der splitterfasernackt in der Wanne lag und mit geweiteten Pupillen aufgeregt blinzelte. Sein Mund klappte zu, und ganz allmählich wich auch die bläuliche Färbung aus seinem Gesicht. Seine Finger und Zehen begannen sich zu bewegen, und unkontrolliert zuckend folgten seine Arme und Beine. Schließlich erfasste ein heftiges Zittern den ganzen Körper und schüttelte Rod kräftig durch, so als taue er nach einer langen Zeit des Tiefgekühltseins schlagartig wieder auf.

Die Madame nahm seine Hände zwischen die ihren und rieb sie fest. Dabei murmelte sie auf Kreolisch einige beschwörende Formeln.

Ganz ohne Magie schien es bei ihr dann doch nicht zu gehen, dachte Ondragon und sah, wie sich Rods Mund öffnete und seine Zunge versuchte, die ersten Worte zu formen. Gebannt schauten sie ihn an.

„W-wo sss-s-innnnd m-m-meieieine Kl-aaa-m-m-otten, goooddaaammm?“

Ondragon grinste amüsiert. „Warte, alter Freund, ich hol dir was.“

Suchend ging er durch die Wohnung des Reverends. Im verspiegelten Schlafzimmer fand er einen Schrank voll mit Soutanen. Er fischte eine vom Bügel und brachte sie ins Bad. Mit Hilfe der Madame holte er Rod aus der Badewanne und streifte ihm das Gewand über den Kopf.

Auf wackeligen Beinen stand der Brite da und stierte sie an. „M-mann, d-das hat ab-ber scheißl-lange gedauert! Wisst ihr, w-wie b-beschhhissssen sich das anfühlt, s-sich nicht bewegen zu können, a-aber alles mitzubekommen?“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Ondragon, um sich gleich darauf zu korrigieren. „Sorry, ich nehm‘s zurück, ich glaube, ich kann das doch nicht. Wie fühlst du dich, Rod?“

„Och, w-wie man sich so fühlt, w-wenn man von den Untoten auferstanden ist!“ Er machte vorsichtig einen Schritt und als er sah, dass er das Gleichgewicht halten konnte, machte er gleich darauf noch ein paar.

Ondragon hielt ihn auf. „Wow, wo willst du hin?“

„Diesem Bastard von einem Mailman den Arsch aufreißen!“ Mit entschlossen vorgerecktem Kinn entwand sich Rod dem stützenden Griff und stapfte aus dem Bad, die beiden anderen mit besorgter Miene hinter ihm her.

Als sie das Zimmer betraten, sahen sie Green, der unverwandt auf den gefesselten Ellys hinabstarrte und ihn mit der Waffe bedrohte. Der dunkelhaarige Head der MSC wandte den Kopf, und ein erleichterter Ausdruck erhellte seine finstere Miene.

„Spider!“ Er räusperte sich. „Ich meine, Mr. DeForce. Schön, dass Sie wieder wohlauf sind.“

„Green! Zuerst möchte ich Ihnen danken, dass Sie uns vor Schlimmerem bewahrt haben, aber ich muss Sie auch rügen, warum Sie das nicht schon eher getan haben!“ Rod trat neben seinen Mailman, der verlegen das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte.

„Nun, Sie wissen doch, unser …“

„Ja, ja, der Mailmen-Ehrenkodex! Schon gut. Immerhin haben wir es ihm zu verdanken, dass wir alle noch leben, nicht wahr?“ Rod warf Ondragon einen undefinierbaren Blick zu. „Und nun zu diesem kleinen Arschloch hier!“ Er blickte wieder auf Ellys, der es vermied, irgendjemanden anzusehen. „Du dreckiges Verräterschwein! Du und dein Kumpan habt mich hintergangen und wolltet einen hübschen kleinen inside sellout abziehen. Aber nicht mit mir!“ Rod holte mit dem nackten Fuß aus und platzierte ihn schwungvoll in Ellys‘ Seite.

Der Mailman presste die Augen zu und stöhnte.

„Du Abschaum, du blutiger Auswurf einer Hure! Blast!“ Wieder trat Rod zu. Diesmal aber ins Gesicht.

Ellys‘ Kopf flog herum und knallte gegen den Spiegel. Eine frische Platzwunde tat sich an der Braue auf und begann zu bluten.

„Ich werde dir die Scheiße aus dem Leib prügeln. Du Judas, du mieser kleiner Wichser!“ Wieder landete sein Fuß in zuckendem Fleisch.

„He, Rod“, ging Ondragon schließlich dazwischen, „lass noch was von ihm übrig. Wir wollen doch hören, wie die beiden das ganze Spektakel geplant haben. Ein bisschen Unterhaltung muss sein! Außerdem habe ich auch noch ein paar Fragen an den Mistkerl.“

Rod fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein weißes Haar hing ihm wirr ins Gesicht, und aus seinen Eisaugen sprühte kalte Wut. „In Ordnung“, knurrte er, „dann bring das Schwein mal zum Singen!“

Ondragon stellte sich breitbeinig vor Ellys, der ihn noch immer nicht ansah. Dann beugte er sich vor, packte ihn an den Haaren und zwang ihn, ihm in die Augen zu blicken.

„Es ist wahr, was die Mailmen bei DeForce über mich erzählen. Ich bin eine gottverdammte Legende!“ Ondragons Blick brannte sich in die geweiteten Pupillen seines Gegenübers. „Du weißt, was ich alles mit dir anstellen kann, wenn du nicht auspackst. Die Frage ist also, wie du dich entscheidest? Für das offene Wort oder für die Spiegelscherben, die ich dir in deine Bauchdecke rammen werde, bis dir die Scheiße aus deinen zerfetzten Gedärmen spritzt?“

Ondragon wartete, doch seine kleine Ansprache schien keinerlei Wirkung zu zeigen.

Der Mailman blinzelte träge, so als stünde er unter Drogen.

In einer plötzlichen Explosion trat Ondragon gegen den Spiegel neben Ellys. Der Spiegel wankte in seiner Wandverankerung und einige Scherben fielen heraus und landeten klirrend auf dem Dielenboden. Er nahm eine davon auf, hielt sie vor Ellys‘ Augen und dann gegen dessen Unterbauch. Das Glas durchdrang mit einem reißenden Geräusch den Stoff seines TShirts und glitt in die oberste Schicht der Haut. Blut schoss aus der Wunde, doch der Mailman zuckte nicht einmal mit der Wimper. In seinen Augen lag vollkommene Gleichgültigkeit … und noch etwas anderes.

Ondragon stieß die Scherbe tiefer in Ellys‘ Bauch und gleichzeitig seinen Blick in dessen Augäpfel, bis er buchstäblich hinten auf die Netzhaut prallte. Er spürte den Schweiß in den Haaren des Anderen, spürte dessen viel zu schnellen Herzschlag.

Aha! Die Gleichgültigkeit war also nur vorgetäuscht. Im Innern kochte der Mailman auf höchster Flamme. Nur warum? Hatte er Angst vor dem Tod? Fürchtete er die Schmerzen?

Ondragons Geist verschwand in der Versenkung und glitt durch das Archiv der kleinen Folterkunde. Alle seine Sinne erinnerten sich an die damalige Zeit vor achtzehn Jahren, als Roderick DeForce ihn unter seine Fittiche genommen und ihn zu einem Mailman gemacht hatte. Nicht jeder konnte die Signale lesen, die ein physisch wie psychisch manipulierter menschlicher Körper aussandte. Ondragon lächelte. Darin war er damals besonders gut gewesen.

Er blickte in Ellys‘ bleiches Gesicht, registrierte jede einzelne Pore in der Haut, jedes pulsierende Äderchen.

Der Typ war ein DeForce-Mailman, dachte er. Und die waren bekanntermaßen aus härterem Stahl geschmiedet als seine übliche Kundschaft. Er näherte sich mit der Nase dem Gesicht und sog laut Luft ein. Der Schweiß des Gefesselten roch süßlich, nicht säuerlich. Als stünde er unter Glückshormonen und nicht unter Adrenalin. Er ließ Ellys‘ Haare los und musterte noch einmal eingehend dessen erschlaffte Mimik. Und schließlich wusste er, was es war, das er in Ellys‘ Augen gelesen hatte.

Hohn!

Der Mann machte sich über sie lustig. Trotz seiner Niederlage lachte er sie aus. Verdammt!

Ondragon wandte sich an Rod. „Bei dem bringt Folter nichts. Das will er nur. Er will den Tod. Er wird schweigen, egal, was wir ihm antun. Das ist sicher.“

„Ach ja?“, sagte Rod und trat mit seinem nackten Hacken unvermittelt in Ellys Gesicht.

Der Mailman kämpfte mit den Schmerzen, spuckte Blut und Bruchstücke seiner Schneidezähne aus, aber er behielt die Fassung. Sein anschließendes Grinsen war durchsetzt mit schwarzen Lücken.

Blast, jetzt mach ich dich fertig!“ Rod holte zu einer finalen Tätlichkeit aus, doch die Madame hielt ihn zurück.

„Moment noch!“, rief sie. „Ich glaube, ich könnte dem berüchtigten Mr. O ein wenig aushelfen.“

Rod hielt inne und sah die Madame mit gesenktem Kopf und blutunterlaufenden Augen an. In der Soutane des Reverends sah er aus wie ein rasender, schwarzer Stier, und eine bange Sekunde lang dachte Ondragon, Rods Zorn würde sich gegen die Voodoo-Queen richten. Doch dann trat ein milderer Ausdruck auf das rote Gesicht, und der Brite sprach plötzlich wieder wie ein wohlerzogener englischer Gentleman. „Mari-Jeanne, ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie uns helfen würden. Bitte, verzeihen Sie meinen Ausbruch. Ich habe vollkommen meine Manieren vergessen.“

Die Madame lächelte charmant und steckte eine Hand in ihre geheimnisvolle Jackentasche, die eine komplette Zauber-Apotheke zu beinhalten schien. Und als sie sie wieder herauszog, kam tatsächlich ein mit Federn verziertes Beutelchen zum Vorschein. „Vorsichthalber habe ich auch noch das hier eingesteckt. Voilà. Zombie-Gurke! Das Original!“ Sie ließ das Voodoo-Amulett zwischen ihren Fingern in der Luft baumeln. „Es macht nicht nur die Zombies verrückt, man kann es auch als Wahrheitsdroge verwenden. Davon müssten Sie eigentlich wissen, Mr. O.“ Sie sah ihn herausfordernd an.

„Selbstverständlich!“, sagte Ondragon sarkastisch. „Scopolamin. Das wird nicht nur gern in der Zombiebranche benutzt. Bis das geeignetere Mittel Thiopental aufkam, verwendeten es auch die Geheimdienste rund um die Welt, um Gefangene zum Reden zu bringen. Ich habe nie mit so etwas gearbeitet. War nicht mein Stil. Aber bitte sehr, versuchen Sie Ihr Glück.“ Mit einer auffordernden Geste überließ er der Madame das Feld.

„Könnte bitte jemand den Kopf des Delinquenten festhalten?“, fragte sie.

„Nichts lieber als das!“, entgegnete Rod und fixierte mit beiden Händen den Schädel des sich wehrenden Mailman.

Mit einer prätentiösen Bewegung öffnete die Madame das Säckchen und griff mit zwei Fingern hinein. „Gleich haben Sie, was Sie wollen, Messieurs. Und zwar … très vite.“ Mit raschen Handgriffen hatte sie das getrocknete Pflanzenpulver hinter beiden Ohren und auf den Schläfen von Ellys verteilt und richtete sich wieder auf.

„Jetzt müssen wir nur kurz warten“, sagte sie zufrieden und begann mit dunkler Schamanenstimme archaische Zauberformeln zu singen, wie sie es zuvor auch bei Rods Errettung getan hatte. Dazu holte sie eine kleine Rassel aus der Tasche und schlug sie vor Ellys‘ Gesicht in einem immer langsamer werdenden Takt. Bis sie innehielt.

Et bien, Ihr Kandidat wäre jetzt bereit zur Befragung!“

Ellys saß da. Unter halb gesenkten Lidern war sein Blick nach innen gerichtet. In die Schatzkiste seiner Erinnerungen, die sie jetzt plündern würden.

Ondragon ging vor dem Mailman in die Hocke. „Beginnen wir mit dem Job auf Haiti. Was habt ihr dort hinter dem Rücken von Spider gemacht?“

Ellys‘ Mund klappte auf wie ein Fach, in das man Münzen einwarf, und seine Zunge rollte nach vorn. Zuerst brachen nur unartikulierte Laute hervor, und Ondragon wandte sich zu der Madame um. „Funktioniert ja prima, Ihr Zauber!“

„Abwarten. Seine Zunge braucht einen Moment, bis sie fügsam wird. Die Mächte der Geister müssen sie erst zähmen.“

„Ah ja, natürlich.“ Ondragon drehte sich wieder zu dem Mailman, dessen Gestammel tatsächlich deutlicher wurde.

„D-die Mine. Der Zugang w-war eingestürzt, aber wir mussten irgendwie … reinkommen.“ Ellys lallte fürchterlich, aber wenigstens verstand man ihn jetzt einigermaßen. „In der Nacht … haben wir Green nach seiner Wache betäubt … und eine Dynamitstange dazu verwendet, um den vom Erdbeben verschütteten Eingang wieder aufzusprengen. Wir gingen hinunter … in das Labor und haben dort alles mitgenommen, was sich als Beweis gut verwenden lässt. USB-Sticks und so ’n Kram. Dann sind wir wieder hoch und haben mit ‘ner weiteren Ladung den Eingang wieder verschlossen. Green sollte nichts merken.“

„Habe ich aber doch, ihr Pisser“, zischte Green hinter Ondragon. „Denn ich kann zählen! Und ich habe am Ende der Operation noch einmal nachgesehen und bemerkt, dass zwei Ladungen fehlen. Endlich haben wir die Erklärung dafür.“

„Und wofür wolltet ihr die Beweise aus dem Labor verwenden?“, fragte Ondragon Ellys.

„Wir wollten einen inside sellout machen, von Darwin Inc. Geld erpressen und uns zur Ruhe setzen. In Thailand. Die Mädchen dort sind billig, alles is‘ billig. Wir hätten ein schönes Leben gehabt und viiiiel Geld!“ Ellys grinste debil.

„Und habt ihr Darwin Inc. bereits erpresst? Weiß der Konzern, dass ihr das Material aus dem Labor habt?“

„Nein und nein, hehe. Wir wollten Gras über die Sache wachsen lassen, wir mussten doch erst verschwinden. Simsalabim, weg sind die Mailmen. Spider musste von unserem Tod überzeugt sein, damit wir unsere Ruhe haben würden.“

„Woher wusstet ihr überhaupt, dass in dem Labor etwas zu finden war, mit dem ihr Darwin Inc. würdet erpressen können? Normalerweise kennt ein Mailman noch nicht einmal den Auftraggeber.“

„Ganz einfach. Wir haben einen Tipp bekommen.“

„Von wem?“

Ellys lächelte, so als sei er überrascht, dass er die Antwort nicht kannte. „Natürlich von einem Maulwurf.“

Jetzt ging auch Rod neben Ondragon die Hocke. „Was? Ein Maulwurf? Bei DeForce? Wer ist das? Verdammt, raus damit.“ Ungeduldig schlug er Ellys mit der flachen Hand auf die Wange.

„Vorsichtig, Rod, Sie dürfen ihn nicht aufwecken!“, mahnte ihn die Madame.

„Wer ist der Verräter bei DeForce?“, setzte Ondragon die Befragung fort. „Wer hat euch die Insider-Informationen gegeben?“

Ellys schwieg. Sein Kopf rollte von einer Seite auf die andere und wieder zurück.

„Bugs Bunny!“, sagte er kurz darauf.

„Wer?“

„Bugs Bunny hat es uns verraten!“ Ellys grunzte vergnügt. „Der Hase!“

„Scheiße, so kommen wir nicht weiter“, murmelte Ondragon nachdenklich und versuchte, die Frage anders zu stellen: „Wer hat euch geholfen?“

„Na, der Voodoo-Priester. Ich habe ihn aus einem Buch. Er hat geholfen, alles so aussehen zu lassen, als seien wir von einem Fluch verfolgt. Reverend Zombie heißt der, bescheuert nicht?“ Ellys kicherte.

„Der Reverend arbeitet also nicht für Darwin Inc.?“

„Nein, für uns. Er hat das Pulver gemischt und uns damit für kurze Zeit in Zombies verwandelt, damit Sie uns sehen, Mr. O, und glauben konnten, wir seien tatsächlich verflucht. Der Reverend hat uns dann zurückgeholt. Er trug dabei immer dieses Kostüm mit dem Zylinder. Er dachte, er wäre ein Baron. Hihihi. Baron! Das klingt irgendwie europäisch, nicht?“ Ellys hielt kurz inne, als erinnere er sich an etwas. „Auch das Pulver in dem Brief von Green war tödlich. Ihn mussten wir beseitigen, auch wenn er ein Kamerad war. Sorry, Al!“ Er blickte entschuldigend zu Green hinauf.

„Genauso, wie ihr Bolič benutzt und hinterher beseitigt habt?“, hakte Ondragon nach.

„Jepp! Bolič, der Hoppelhase! Hahaha! Hoppeldihopp, peng und weg!“ Ellys wirkte zunehmend, als sei er betrunken. Er schien blendender Laune zu sein und gluckste fröhlich vor sich hin.

„Weiß der Reverend, dass ihr Darwin Inc. erpressen wolltet?“

„Nope. Er weiß nur, dass wir untertauchen wollen. Aber wir hätten ihn später noch beseitigt. Zur Sicherheit. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein, wissen Sie?“

„Und warum habt ihr mich niedergeschlagen und im Sumpf ausgesetzt, statt mich gleich zu erledigen? Ich war euch doch auch auf der Spur“, wollte Ondragon wissen.

„Pfff, auf der Spur, Mr. O, dass ich nich‘ lache! Sie waren meilenweit davon entfernt, eine Spur von uns zu haben. Damals wollten wir Sie nicht umlegen. Sie waren doch auch mal ‘n Mailman. Wir wollten Sie nur ein bisschen testen. War ein Fehler, ich weiß, aber Sie haben so ein niedliches Versuchskaninchen abgegeben. Wir haben alles gefilmt. War ‘ne unterhaltsame Show, die Sie da abgeliefert haben. Wirklich, totkomisch!“

„Ihr habt mich also die ganze Zeit beobachtet?“

„Logo! War ‘n Riesenspaß!“

Ondragon biss sich auf die Lippen. Diese Scheißkerle! Sie hatten ihn in den Swamps umherirren lassen und sich über ihn amüsiert. „Und wo habt ihr das Material jetzt, das ihr aus dem Labor geholt habt? Wo habt ihr es versteckt?“

Rod drehte sich zu ihm. „Ich brauche das Zeug unbedingt. Es muss vernichtet werden. Wenn Darwin Inc. von der ganzen Sache Wind bekommt, dann bin ich erledigt!“

Ondragon nickte und wandte sich an Ellys. „Raus damit! Wo ist das Material?“

„In der Queen!“

„In der Queen?“

„Street 545, hahah! Queen Street.“

„Das ist in Chalmette, gar nicht weit von dem Haus entfernt, in dem der andere Typ wohnte, dieser Stern“, rief die Madame aus.

„Okay. Und was finden wir da?“, fragte Ondragon Ellys.

„Gold! Edelsteine! Den Schatz von Captain Bugs! Ein aufblasbares Krokodil und Dosenpfirsiche! Hahahaha!“

„Jetzt dreht er vollkommen durch“, sagte Rod und erhob sich. „Kann man da noch was machen?“, wollte er von der Madame wissen.

Sie schüttelte den Kopf. „Seine Zunge ist wieder frei, sie erzählt, was sie will. Die Geister haben keine Macht mehr über sie. Wenn ich ihm jetzt noch etwas von dem Gift gebe, stirbt er.“

„Na dann …“, hörte Ondragon Rod hinter sich leise sagen. Im Spiegel konnte er gerade noch sehen, wie der Brite eine Waffe hob und abdrückte.

Mit einem erschrockenen Satz sprang Ondragon zurück auf die Füße und rieb sich die dröhnenden Ohren. „Scheiße, Rod! Sag das nächste Mal Bescheid. Das war laut!“

„Hohlmantelgeschoss!“, sagte dieser zufrieden und gab der Madame die Desert Eagle zurück. „Macht hübsche Löcher. Sorry, Ecks, ich musste ihn umlegen. Zur Polizei kann ich mit ihm schließlich nicht gehen!“

Genervt wischte sich Ondragon Blutspritzer aus dem Gesicht und nahm Abstand von dem gefesselten Mailman, dessen Kopf nun mitten in der Stirn ein faustgroßes Loch aufwies, das aussah wie ein zersplitterter Schlund, durch den man die graue Masse des Gehirns sehen konnte. Der Spiegel hinter dem Schädel war rot eingefärbt und in hunderte Scherben zersprungen. Wie in Zeitlupe sackte Ellys‘ Kopf nach vorn auf die Brust. Blut ergoss sich aus dem Loch in der Stirn und gluckerte mit einem ekelerregenden Plätschern auf das T-Shirt.

Ondragon blickte auf Rod in seiner Soutane. „Und wie finden wir jetzt heraus, wer der Maulwurf ist?“

„Och, keine Sorge, ich werde schon dahinterkommen, wenn ich erstmal wieder in Dubai bin. Dann räume ich so richtig auf!“

„Ich kann dir einen meiner Männer schicken, wenn du möchtest. Dietmar Hegenbarth ist gut im Aufräumen.“

„Nur zu.“ Rod wischte sich die Hände an dem schwarzen Stoff ab. „Aber jetzt würde ich gerne etwas Dezenteres anziehen, wenn das möglich ist.“

„Gehen wir erstmal in mein Haus zurück“, schlug die Madame vor. „Und danach können wir in die Queen Street fahren“,

„Was ist mit dem Reverend? Und wer kümmert sich um diese Sauerei hier?“ Rod wies auf die beiden Leichen und die Blutlachen auf dem Dielenboden. „Wenn nicht sowieso schon jemand die Schüsse gehört und die Bullen gerufen hat.“

„Keine Angst, ich kenne auch jemanden, der gut aufräumen kann“, sagte die Madame. „Er wird sich darum kümmern und keine Spur übrig lassen, die zu uns führen könnte. Den Reverend überlassen Sie getrost mir. Ich weiß ja schließlich, wo er wohnt.“ Sie zwinkerte Rod zu und drehte sich um.

Ondragon starrte sie an. „Ich weiß, wer Sie sind, Madame!“, sagte er plötzlich. „Deshalb können Sie auch all diese Dinge tun!“

Rod und die Madame sahen ihn verwundert an.

„Was für Dinge?“, fragte sie.

„Na, das alles!“ Ondragon machte eine allumfassende Geste.

„Ecks, was soll das?“, mischte sich Rod ein. „Für sowas haben wir jetzt keine Zeit!“

„Oh, und ob wir Zeit haben! Für die Wahrheit ist immer Zeit. Und ich kenne die Wahrheit über Sie, Mari-Jeanne Tombeau – Tochter von Michel Tombeau, Enkelin von Emile Tombeau, Großnichte von François Duvalier!“

„Papa Doc?“ Rod klang entgeistert. „Du willst sagen, sie ist mit dem ehemaligen Diktator von Haiti verwandt?“

Ondragon nickte knapp. „Jepp!“ Er ließ die Madame nicht aus den Augen, um zu sehen, wie Rudees Rechercheergebnisse auf sie wirkten.

Doch die Voodoo-Priesterin machte keinerlei Anstalten, in irgendeiner Weise nervös zu erscheinen. Stattdessen verzog sich ihre Miene zu einem mitleidigen Lächeln. „Mon Dieu, und das haben Sie erst jetzt herausgefunden, Monsieur Ondragon? Quel dommage, das hätte ich schon viel früher von Ihnen erwartet. Sie lassen nach, mon ami!“ Sie schnalzte mit der Zunge. „So, und jetzt sollten wir gehen.“

Mit einem Lächeln ging sie an dem überraschten Ondragon vorbei und blieb an der Tür stehen. „Allez“, winkte sie ihm zu, „bevor es hier noch ungemütlich wird.“

Rod zog Ondragon am Arm mit sich und eilig verließen sie das Haus. Durch leere Seitenstraßen schlichen sie zurück in die Ursulines Avenue.

 

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 02 - Totenernte
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