7. Kapitel
07. Februar 2010
New Orleans, Louisiana
19.15 Uhr
Die untergehende Sonne tauchte das French Quarter in bonbonfarbenes Licht, als Ondragon im Royal Sonesta Hotel auf der Bourbon Street eincheckte, einem Vier-Sterne-Grand-Hotel von altehrwürdiger Ausstrahlung und zeitloser Eleganz, das sich die Masse der Hardcore-Partytouristen weitgehend mit seinen saftigen Preisen vom Hals hielt.
Mit dem Fahrstuhl fuhr er in den zweiten Stock und schloss sein Zimmer auf, das wie erwartet seinen gehobenen Ansprüchen mehr als gerecht wurde. Es war zum Innenhof gelegen und bot mit einer Balkontür zum großen Patio, der sich über dem mit tropischen Pflanzen und einem Springbrunnen geschmückten Atrium erhob, einen perfekten Fluchtweg. Die schmiedeeisernen Balkone im spanischen Stil an der Außenseite des Hotels hätten es auch getan, wären aber kein Schutz gegen den allabendlichen Partylärm von der Straße gewesen.
Ondragon sah sich in dem Zimmer um: Marmor im Bad und dicke Damastvorhänge vor den Fenstern, ein königliches, sehr gemütliches Bett, das zum Nachholen des verkorksten Schlafs der vergangenen Nacht einlud. Aber seine innere Unruhe hielt ihn davon ab, sich auf die weiche Matratze zu legen und einfach die Augen zu schließen. Er würde so lange wach bleiben, bis Strangelove sich meldete. Das war jedoch nicht die einzige Sache, die ihn beunruhigte. Er dachte an das letzte Gespräch mit Charlize über Bolič. Es konnte einfach nicht sein, dass dessen Leiche nicht in dem Zimmer war. Er hatte ihn doch mit eigenen Augen dort liegen sehen, und zwar mausetot. Dennoch ließ ihn das, was Charlize über die Sache berichtet hatte, allmählich an seinem Erinnerungsvermögen zweifeln. Hatte er einen Fehler gemacht? Hatte er etwas übersehen? Vielleicht war Bolič nur betäubt gewesen oder hatte zu viele Schlaftabletten geschluckt.
Charlize war, nachdem der Zimmerservice offenbar nichts Ungewöhnliches im Zimmer des Bosniers bemerkt hatte, dort heimlich eingedrungen und hatte das Bett zu ihrem großen Erstaunen leer vorgefunden. Gründlich hatte sie die Räume abgesucht und sie Ondragon später beschrieben. Offensichtlich lagen Boličs Sachen noch immer unverändert an ihrem Platz. Alles hätte so ausgesehen, als habe der Bosnier das Zimmer nur kurz verlassen.
„Paul-san, bist du dir wirklich sicher, dass er tot war?“, hatte Charlize die unvermeidliche Frage gestellt, und Ondragon war ohne es zu wollen ins Wanken geraten. Er war sich absolut sicher gewesen, dass der Bosnier tot war. Kein Puls und kein Pupillenreflex, was gab es da falsch zu interpretieren? Gewiss hatte er davon gehört, dass Sportler einen sehr niedrigen Ruhepuls haben konnten, aber einen Aderschlag von Null fand man nicht mal bei einem Hochleistungsathleten. Der Betreffende würde ersticken oder an Herzversagen sterben. Was aber war mit dem Bosnier geschehen? Konnte jemand anderes die Leiche aus dem Hotel geschafft haben? Vielleicht war sie auch in ein anderes Zimmer gebracht worden. Ondragon hatte keine Ahnung, welchem Zweck das hätte dienen sollen, bat aber seine Assistentin, weiterhin in der Nähe zu bleiben, um das Geschehen zu überwachen und nötigenfalls zu versuchen, an die Videoaufnahmen von der Kameraüberwachung des Hotels zu gelangen. Auf denen würde man hoffentlich eindeutig sehen können, was sich alles vor dem Zimmer 506 abgespielt hatte. Denn eines war unbestreitbar klar: Irgendetwas ging da nicht mit rechten Dingen zu!
Wie so oft musste Ondragon an seinen Bruder denken, der zwar auch tot war, aber nicht aufhörte, ihn in Gedanken heimzusuchen. Wurde der Bosnier Bolič nun etwa auch zu einer Heimsuchung?
Um sich von diesen unerfreulichen Erinnerungen abzulenken, kramte er Handy und Laptop des Springers aus der Reisetasche. Er wischte sich über die brennenden Augen und sagte sich, dass das bloß von der langen Autofahrt und der wenig erholsamen Nacht herrührte … vom Alkohol ganz zu schweigen. Apropos, wer hatte noch gleich gesagt: Kein Alkohol sei auch keine Lösung?
Ondragon ging zum Fenster, zog die Vorhänge zu und angelte sich die angebrochene Flasche Talisker aus der Tasche. Großzügig schenkte er sich gut drei Fingerbreit in ein Glas ein und ließ zwei Eiswürfel aus dem Eisbehälter in die goldbraune Flüssigkeit fallen. Eine Weile beobachtete er die Schlieren, die sich in dem Getränk bildeten, dann nahm er einen tiefen Schluck und ließ den Whiskey langsam auf seiner Zunge kreisen, um das rauchige Aroma von achtzehn Jahren Eichenfasslagerung und salziger Meeresluft aufzunehmen. Als er spürte, wie der Alkohol sich angenehm warm in seinen Adern ausbreitete und seine entspannende Wirkung entfaltete, stellte er das Glas auf den Nachttisch und begann mit der Untersuchung der digitalen Inhalte der beiden Geräte.
Das Handy war passwortgesichert. Nach drei Versuchen war es gesperrt, und Ondragon widmete sich dem Laptop. Aber auch hier funktionierte keine seiner Kombinationen. Womöglich hatte Bolič bosnische Wörter benutzt. Mist! Um an die Daten zu kommen, würde er wohl doch seinen Computerspezialisten Rudee darauf ansetzen müssen. Jedoch benötigte er dafür eine Internetverbindung. Ondragon spürte, dass er keine Energie mehr hatte, bei der Rezeption anzurufen, um das LAN auf seinem Zimmer freischalten zu lassen, und klappte daher den Laptop zu. Morgen war auch noch ein Tag. Das hoffte er zumindest!
Er legte beide Geräte zurück und füllte sein Glas erneut mit Whiskey. Das Klirren der Eiswürfel und der scharfe Geschmack des Getränks beruhigten sein Gemüt, und nach weiteren Schlucken befand er sich ich einer angenehmen Scheißegal-Stimmung. Genau das Richtige, um auf seine Hinrichtung zu warten!
Ein Geräusch ließ ihn die Augen öffnen. Sofort war er hellwach. Ruhig setzte er sich im Bett auf und lauschte, während seine Hand unter dem Kissen nach seiner Waffe tastete. War da jemand an der Balkontür?
Ein schwaches Schaben ertönte von dort, so als probiere jemand, ob die Tür offen war. Leise stand Ondragon auf und schlich zum Fenster. Mit dem Lauf der Pistole schob er den Vorhang ein winziges Stück beiseite, da klingelte sein Handy. Erschrocken fuhr er zusammen und ließ den Vorhang wieder zurückgleiten. Schnell ging er zum Nachttisch und spürte plötzliche Nervosität in sich aufsteigen, als er das Gespräch annahm.
„Ich bin‘s, Strangelove!“, säuselte es am anderen Ende.
Ondragon spähte auf die Digitalanzeige des Weckers. Kurz vor drei Uhr nachts. „Strangelove, das hat aber scheißlange gedauert! Verdammt noch mal, was war denn los? Ist eine Milzbrandepidemie ausgebrochen und das Gerät belegt, oder was?“ Er merkte, dass er seinen Chemiker gar nicht zu Wort kommen ließ und schwieg übellaunig. Als dieser jedoch noch immer nichts sagte, brüllte er: „Jetzt gib mir endlich das Ergebnis, so schlimm es auch sei!“
„Negativ!“
„Scheiße noch mal, was heißt das?“ Ondragon war verwirrt, sein Kopf schmerzte von der wiederholten Überdosis des schottischen Hochprozentigen. Er starrte auf die Flasche. Sie war leer.
„Negativ heißt, die Probe ist negativ, keine Erreger waren darin zu finden, nada, niente, nichts! Sie sind nicht infiziert, Mr. Ondragon! War das deutlich genug?“
„Nicht infiziert!“, wiederholte Ondragon ungläubig und stieß einen erleichterten Jubellaut aus. „Wow, Mann, das ist jetzt aber wirklich mein zweiter Geburtstag – einer von den Unzähligen by the way. Junge, das hast du spitze gemacht! Vielen Dank.“
„Gern geschehen.“ Strangelove klang nervlich angeschlagen, und Ondragon beschloss, den Burschen aufzumuntern, nachdem er zuvor seine schlechte Laune an ihm ausgelassen hatte. „Sind Tausend extra genug, um den Stress, den du hattest, zu kompensieren?“
„Mr. Ondragon, das ist sehr großzügig von Ihnen, aber ich kann das nicht annehmen. Ich habe viel zu lange gebraucht, um das Ergebnis zu bekommen, und habe Sie über die Gebühr im Dunkeln gelassen. Es ging Ihnen bestimmt dreckig deswegen und schließlich habe ich auch meine Philosophie.“
„Und die wäre?“
„Ergebnis und Effizienz!“
„Dann ticken wir ja gar nicht mal so verschieden. Hör mal, ich gebe dir die Tausend als Forschungsgeld, und du versprichst mir, das nächste Mal deiner Philosophie treu zu bleiben, in Ordnung?“ Ondragon spürte, wie das Leben und damit auch die gute Laune in ihn zurückflossen. Der Schatten des Todes war besiegt – ein weiteres Mal. Aber er hatte ihm den Arsch ganz schön auf Grundeis gehen lassen. Ich werde alt, dachte er. Früher hat mir die Nähe des Todes nie etwas ausgemacht.
„Okay, Mr. Ondragon.“ Strangelove nahm den Deal mit hörbar besserer Stimmung an.
„Was hat denn an der ganzen Sache jetzt so lange gedauert?“, wollte Ondragon wissen.
„Der Test an sich dauert nur drei Minuten, aber das Gerät an der Uni war kaputt!“
„Ach, und womit hast du dann die Probe untersucht?“
Strangelove erklärte, er habe einen Freund, der am LAX beim Security Check arbeite. Ihn habe er mit dem entsprechenden Schweigegeld dazu überredet, den Bioflash am Flughafen benutzen zu dürfen. Aufgrund der Milzbrandattentate der vergangenen Jahre verfügte mittlerweile jeder Flughafen in den USA über solch ein Gerät.
„Interessant“, entgegnete Ondragon. „Aber was ist denn nun in der Probe, wenn es kein Anthrax war? Konntest du das herausfinden?“
„Die gesamte Probe ging für den Scan drauf. Es ist nichts mehr übrig, anhand dessen ich prüfen könnte, um was für eine Substanz es sich handelt. Aber wenn Sie mir noch etwas davon schicken, kann ich es untersuchen“, erklärte Strangelove mit neu entflammtem Forschergeist.
Ondragon versprach, dem jungen Chemiker noch etwas von dem Zeug zu schicken, falls er dessen habhaft werden sollte, und verabschiedete sich. Befreit von tausend Tonnen Sorgenfels sank er zurück ins Kissen, und der Schlaf, der nun folgte, war sehr erholsam.
Am nächsten Morgen genoss er sein Frühstück, als sei es sein erstes in einem neuen Leben. Dabei plante er seinen Tagesablauf, schließlich war er nicht zum Vergnügen hier. Seine Feierlaune würde heute Abend noch genügend Auslauf bekommen, wenn er die Bourbon Street unsicher machte. Aber zuerst wollte er diese Madame Tombeau in ihrem Laden aufsuchen und ihr die Bilder von dem Voodoo-Kram aus Tyler Ellys‘ Haus zeigen. Danach wäre er hoffentlich um eine Erkenntnis reicher und würde damit nach Chalmette fahren und mit Sylvester Stern sprechen, vorausgesetzt, er war zu Hause.
Ondragon wählte die Nummer des Mailman. Diesmal erklang das Besetztzeichen. Na, das war mal eine Abwechslung. Er steckte das Telefon wieder weg, ließ für den Kellner etwas Trinkgeld auf dem Tisch zurück und machte sich auf den Spazierweg zu der Adresse, die er von Günther Ludewig bekommen hatte. Es waren nur ein paar Schritte die Bourbon Street entlang, auf der im hellen Morgenlicht eine verschlafene Stimmung und reger Lieferverkehr herrschten. Noch merkte man nichts davon, dass hier in einer Woche der verrückteste Karneval der Welt gefeiert werden würde. Zum Mardi Gras würden tausende Feierlustige das French Quarter überschwemmen und es in Bier ertränken. Aber noch herrschte wunderbare Ruhe. Ach, New Orleans!
Ondragon atmete tief den Duft der Stadt ein: schwanger von Feuchtigkeit mit einer leicht fauligen Note, was natürlich davon herrührte, dass das ganze Viertel auf Flussschlamm erbaut worden war. Man sah kaum noch etwas von den Schäden, die 2005 der Hurrikan Katrina hinterlassen hatte. Die Einheimischen hatten N’awlins, wie sie ihre Stadt nannten, mühevoll wieder aufgebaut und zu neuer Blüte verholfen. Ondragon dachte erneut daran, dass er, wenn er nicht in Los Angeles seine Heimat gefunden hätte, sicherlich diesen moderigen, vor Sünde überbordenden Pfuhl ausgesucht hätte. The Big Easy und er hätten bestimmt gut zusammengepasst; eine verdorbene Schönheit und ihr Liebhaber.
Während Ondragon auf dem von eisernen Balkonarkaden überdachten Bürgersteig entlangschlenderte, erfreute er sich an den bunt glitzernden Auslagen der Touristenshops, den Bars, Restaurants und Musikschuppen, für die das French Quarter so berühmt war.
Als er vor dem Laden mit dem Namen „Captain Zombie“ ankam, schaute er kurz in das Schaufenster, das von oben bis unten mit Voodoo-und Esoterikzubehör vollgestopft war. Ein süßlich würziger Geruch drang aus der offenen Ladentür. Mit einem belustigten Lächeln trat er ein und wurde von einem völlig fremden Universum empfangen. Halb staunend, halb erheitert schritt er, den neugierigen Touristen mimend, durch die schummrigen Räume und betrachtete die zum Bersten vollgestopften Regale.
Es gab alles! Komplette Voodoo-Schreine mit Opfergaben, Marienstatuen, Heiligenbilder, Kruzifixe in sämtlichen Ausfertigungen von schlicht bis pompös mit Halbedelsteinen besetzt, Tarotkarten, Glücksbringer aller Art, Hexenzutaten, Flaschen mit Heil-und Zaubertränken, in gelbliche Flüssigkeit eingelegte Artefakte, die Ondragon nicht zuordnen konnte, Kristalle, Liebesamulette, Zigarren, Zähne, Haare, Knochen, Räucherwerk, handgezogene Kerzen, Mojo-Bags, Voodoo-Puppen und Ketten aus getrockneten Samen. Von der Decke hingen Kräuterbündel und Teile von Tieren, vornehmlich Alligatorenköpfe und -klauen. Und von all diesem Zeug ging dieser durchdringende Geruch nach blumigem Parfum und mumifizierter Tierhaut aus, der Ondragon einen leichten Ekel bescherte.
Unauffällig ließ er seinen Blick schweifen und zählte zwei weitere Kundinnen im Geschäft, wovon es eine tatsächlich ernst zu meinen schien. Zumindest war sie in ein eifriges Gespräch mit der Frau hinter dem mit Hexen-Artikeln zugebauten Kassentresen vertieft.
Ondragon musterte die dunkelhäutige und etwas fülligere Dame hinter dem Tresen eingehend. In ihrer weißen Bluse mit Rüschenkragen, dem roten Kopftuch und den großen, goldenden Ohrringen sah sie aus wie eine typische Cajun-Königin. Immer wieder holte sie beschriftete Blechdosen aus dem Regal hinter sich, füllte daraus geheimnisvolle Ingredienzen in Papiertüten, wog sie ab und reichte sie der Kundin. War das Madame Tombeau?
Ondragon ging hinter einem Stehregal in Stellung und lugte darüber hinweg zur Kasse. Er würde warten müssen, bis die Kundin weg war, schließlich wollte er sich nicht blamieren, wenn sich diese Adresse als falsch herausstellen sollte. Er nahm einen im mexikanischen Stil bemalten Totenschädel aus Porzellan in die Hand und tat so, als interessiere er sich dafür. Über die Ränder seiner Sonnenbrille hinweg beobachtete er die Voodoo-Lady.
Nachdem die Kundin endlich ihre botanische Sammlung bezahlt hatte und mit einem fröhlichen Au revoir den Laden verließ, ergriff Ondragon die Initiative und ging mit dem nächstbesten Glücksbringer zur Kasse.
„Sie sind nicht aus New Orleans, Monsieur.“ Die Voodoo-Lady lächelte ihn an. Ihre Stimme war dunkel und angenehm.
„Nein, ich bin nur auf der Durchreise. Ein paar Tage Spaß, Sie wissen schon“, entgegnete Ondragon freundlich.
Die Cajun-Königin deutete auf den Glücksbringer aus gläsernen Chilischoten, den er in der Hand hielt. „Dieses Amulett stammt aus Mexiko und wehrt Unglück ab. Alle Gegenstände hier im Laden sind mit den entsprechenden Formeln besprochen oder von einer Priesterin geweiht worden. Sie werden sehen, es wird seine Magie entfalten. Hängen Sie das Amulett an den Rückspiegel Ihres Autos und es schützt Sie vor Unfällen. Ist immer gut, wenn man einen teuren Wagen fährt.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Darf es sonst noch etwas sein?“
Ondragon überlegte, wie zum Teufel sie wissen konnte, dass er ein teures Auto fuhr. Wahrscheinlich pures Glück, dass sie darauf getippt hatte, zumal er in seiner Verkleidung als gewöhnlicher Tourist in T-Shirt und Jeans überhaupt nicht nach Geld aussah. „Nein, danke.“ Er zog seine Brieftasche hervor und drückte der Dame einen Zwanziger in die Hand. Als sie ihm die Quittung und das Amulett in einer Papiertüte überreichte, beugte sich Ondragon zu ihr über den Tresen und fragte flüsternd. „Ich möchte zu Madame Tombeau. Bin ich da bei Ihnen richtig?“
„Wer will das wissen?“ Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden, ihr Ton plötzlich harsch.
„Sagen wir, ich habe Ihre Adresse von einem angesehenen Kollegen aus der Wissenschaft erhalten. Ich brauche die Hilfe einer Voodoo-Priesterin in einer, nennen wir es … vertraulichen Angelegenheit.“
Die Voodoo-Lady beäugte ihn misstrauisch. Dann schnalzte sie mit der Zunge. „Sie sehen mir nicht gerade aus, als glaubten Sie an die Magie des Voodoo, Monsieur! Warum brauchen Sie den Rat einer Mambo?“
Ondragon verspürte wenig Lust, ihr das zu erklären, bevor er nicht wusste, ob sie die gesuchte Person war. „Wie ich schon sagte, es ist vertraulich, und ich kann es nur mit Madame Tombeau persönlich besprechen.“ Allmählich kam er sich lächerlich vor, hier mit Flip Flops in diesem Hokuspokusladen zu stehen. Und dazu noch dieser Name! Tombeau, „Grabstein“, das war doch ein schlechter Witz!
„Madame Tombeau ist nicht da!“
„Ich bitte Sie …“
„Was ist der Grund für Ihre Konsultation? Sagen Sie es mir. Woher soll ich sonst wissen, dass Sie es tatsächlich ernst meinen und nicht bloß ein sensationslüsterner Tourist sind?“
Die Lady begann ihn allmählich zu nerven, also holte er sein iPhone hervor, öffnete das Foto mit dem Vèvè vom Totenbaron und zeigte es ihr.
Die Cajun-Königin zuckte beim Betrachten des Bildes unvermittelt zusammen. „Bondieu!“, entfuhr es ihr. „Und das tragen Sie mit sich herum?“ Schnell bekreuzigte sie sich und sah von dem Foto in sein Gesicht.
Überrascht erkannte Ondragon blanke Furcht in ihren dunklen Augen.
„Madame Tombeau ist in ihrem Büro. Einen Moment bitte, ich frage nach, ob sie Zeit hat.“ Sie holte ein altmodisches Telefon unter dem Tresen hervor, wählte eine kurze Nummer und sprach dann beinahe hektisch und in einem solch starken kreolischen Akzent, dass er nur die Worte Samedi, maléfique und so etwas wie cadavre verstand. Was hatte die Dame an dem Foto so aufgeregt?
Mit zitternden Händen legte sie auf und sagte: „Madame Tombeau erwartet Sie, Monsieur. Gehen Sie durch diese Tür da und dann den Gang entlang. Ihr Büro ist hinter der letzten Tür rechts. Klopfen Sie viermal und öffnen Sie auf keinen Fall eine der anderen Türen!“ Sie warf ihm einen warnenden Blick zu und bekreuzigte sich ein weiteres Mal. „Gehen Sie schon! Allez!“
Ondragon folgte ihrer Anweisung und öffnete die Tür im hinteren Teil des Ladens, die so dicht mit afrikanischen Masken und Tierschädeln behangen war, dass er sie zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Ein dunkler Gang tat sich auf, in dem noch weitere Gegenstände unergründlicher Herkunft an den Wänden hingen und ihn anglotzten. Auch sie verströmten diesen unangenehmen Geruch, der immer intensiver wurde, je tiefer er in den Gang vordrang. Er zählte sechs Türen, die davon abgingen. Vor der letzten auf der rechten Seite blieb er stehen. Es stand kein Name oder etwas Ähnliches daran. Er klopfte viermal. Eine Stimme rief ihn herein und er drückte die Klinke. Verblüfft erstarrte Ondragon noch auf der Türschwelle.
Er hatte erwartet, einen von Kerzen beleuchteten, mit Voodoo-Utensilien vollgestopften Raum zu betreten und sich einer weiteren Ausgabe der Cajun-Königin von vorn aus dem Laden gegenüberzusehen, doch das, was ihn empfing, war alles andere als ein Klischee!
Die Frau, die sich von ihrem modernen Schreibtisch erhob, war zwar von exotisch dunkler Hautfarbe, jedoch nicht in das vermutete Priesterinnengewand gehüllt. Sie trug ein graues Businesskostüm mit weißer Bluse, einen knielangen Rock und schwarze Schuhe mit Absatz. Ihr Haar war zu einem strengen Dutt zurückgesteckt, was ihre ausnehmend hübschen kreolischen Züge hervorhob. Allerdings saß auf ihrer Nase eine markante, schwarzgerahmte Brille, die sie sehr seriös wirken ließ … sehr seriös …
Sie trat ihm mit einem Blick entgegen, der deutlich ihre Belustigung ob seiner Irritation verriet. „Haben Sie jemand anderen erwartet, Monsieur …?“
Ondragon löste sich aus seiner Starre, riss sich die Sonnenbrille herunter und besann sich auf seine gute Schule. Er lächelte charmant und nahm die Hand, die sie ihm anbot. „Mein Name ist Paul Eckbert Ondragon. Ich bin Consultant aus L.A.“ Er suchte nach seiner Visitenkarte, musste aber feststellen, dass er keine dabeihatte, da er dieses lächerliche Touri-Outfit trug. Plötzlich fühlte er sich unsicher und wünschte sich, er hätte einen Anzug mit Krawatte angezogen.
„Sehr erfreut, Monsieur Ondragon, ich bin Madame Tombeau.“ Ihre Sprache war sehr weich und mit einem Akzent von den französischen Antillen gefärbt. „Kommen Sie zu mir wegen Ihrer beiden Flüche?“
Ondragon runzelte die Stirn. „Meine Flüche? Ähm, nein … ich …“
„Aber ich sehe in Ihrer Aura zwei Flüche, die Ihnen anhaften. Den einen könnte ich Ihnen nehmen, wenn Sie das wünschen, den anderen allerdings nicht. Ich fürchte, der ist Ihr Schicksal und stärker als meine bescheidene Macht.“
„Ich bin aber nicht wegen meiner Flüche hier.“ Das ist vollkommen absurd, dachte Ondragon und straffte seine Haltung. „Verzeihen Sie mein legeres Erscheinungsbild, Madame, das ist nicht meine übliche Kleidung und erweckt womöglich den falschen Eindruck. Es ist lediglich … eine Tarnung.“
Sie hob interessiert ihre schmalen Brauen. „Wofür benötigen Sie denn eine Tarnung?“
„Nun, normalerweise berate ich Firmen und Privatleute bei ihren Problemen, im Augenblick aber bin ich im Auftrag eines Freundes unterwegs und suche einen seiner Mitarbeiter, der in Haiti mit Voodoo-Zauber in Kontakt gekommen sein könnte. In seinem Haus habe ich zumindest einige Hinweise darauf entdecken können und sie fotografiert. Zu Ihnen kam ich, weil Sie mir von einem Experten empfohlen wurden, der sagte, Sie könnten mir dabei helfen, die Fotos zu untersuchen. Jede noch so kleine Spur ist wichtig für mich. Und um darauf zurückzukommen: Für meine detektivische Arbeit verwende ich gerne eine Tarnung. Muss ja nicht jeder gleich auf eine Meile riechen, wer ich bin, Sie verstehen.“
Madame Tombeau nickte leicht belustigt. „Nun, dann nehmen Sie meinen Laden Ihrerseits als Tarnung. Er ist nur ein kleines Nebengeschäft. Die Touristen kaufen gerne hier ein. Hauptberuflich bin ich eine ausgebildete und eingeweihte Mambo, eine Vodou-Prêtresse, und praktiziere hier in New Orleans für all die Menschen, die meiner Gemeinde angehören. Und das sind nicht nur Männer und Frauen aus meiner Heimat Haiti, auch Amerikaner und Europäer glauben an die Kraft des Vodou und suchen meine Konsultation. Ich bin nicht nur ihre Vermittlerin zu den hohen Engeln, den Loas, ich löse auch ihre ganz alltäglichen Probleme wie Krankheiten oder Liebeskummer. Aber setzen Sie sich doch, s’il vous plaît. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Gern ein Wasser, wenn es keine Umstände macht.“ Ondragon setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, auf dem ein neues Macbook stand, und erging sich heimlich in der Betrachtung seiner Gastgeberin, während diese eine Flasche Perrier aus einem Kühlschrank und ein Glas aus einer Hängevitrine holte. Sie war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt, hatte makellose, ebenholzfarbene Haut und tolle Beine. Und sie bewegte sich mit einer Grazie, die nur jenen Persönlichkeiten inne war, die sich ihrer Ausstrahlung sehr deutlich bewusst waren. Mit einem höflichen Lächeln stellte sie das Getränk vor ihm ab.
„Glace?“
„Non, merci.“ Er goss sich ein und nahm einen erfrischenden Schluck. „Ein zweckmäßiges Büro haben Sie da.“ Er ließ seine Augen in dem minimal eingerichteten und von Neonröhren beleuchteten Raum umherwandern. Es gab darin nicht den geringsten Hinweis auf ihre absonderliche Profession und Ondragon fragte sich, was für eine Voodoo-Queen das war, die in einem sterilen Büro statt an einem verrauchten Götzenaltar arbeitete? Gerne wollte er sich noch ein weiteres Mal von dieser Frau überraschen lassen, deren Reize ihre Wirkung auf ihn nicht verfehlten. Eigentlich stand er eher auf den asiatischen Habitus, aber es war ja nie zu spät, seinen Geschmack zu verfeinern.
Madame Tombeau ließ sich auf ihrem Stuhl nieder und faltete die Hände auf der gläsernen Tischplatte. „Natalie – das ist eine meiner Hunsi, meiner Tempelgehilfinnen, Sie haben sie vorne im Laden kennengelernt – sagte mir, Sie trügen ein verbotenes Vèvè bei sich. Würden Sie es mir bitte zeigen?“
„Aber natürlich.“ Er holte sein Handy hervor, lud das Foto von Ellys‘ Veranda hoch und gab es Madame Tombeau. Ohne sich dazu zu äußern, sah sie sich auch die Bilder mit den anderen Voodoo-Paraphernalien an. Ihr Gesichtsausdruck behielt dabei ganz im Gegensatz zu ihrer Gehilfin vorn im Laden eine professionelle Kühle.
„Alors“, sagte sie nach einer Weile und gab Ondragon das iPhone zurück. „Sprechen wir zuerst über das Vèvè. Dieses spezielle hier ist ein verbotenes Bild, das nur Schwarzmagier benutzen. Es verbindet die Anrufung des Baron Samedi, Herr der Friedhöfe, und die des Maître Carrefour, Meister des Scheideweges. Dessen Hilfe erbittet man sich nur, wenn man einen Diab, einen Teufel, heraufbeschwören möchte. Das ist eine gefährliche Angelegenheit, denn ein Diab verlangt für seine Hilfe am Ende eine Bezahlung in Form eines Menschenopfers. Bekommt er dieses nicht, holt er sich den Bokor selbst. Man sollte sich also ganz sicher sein, dass man den Fluch, den man aussprechen möchte, auch bezahlen kann, sonst kehrt er sich um und vernichtet einen selbst. Das Vèvè auf Ihrem Bild sieht professionell aus, aber irgendetwas stört mich an der Art, wie es hergestellt wurde. Mit weißer Farbe, in die etwas Glitzerndes hineingemischt wurde. Ein Bokor würde eher Mehl oder Knochenpulver verwenden. Auch der tote Vogel – Sie sagten, er sei schwarz gewesen – stimmt mich nachdenklich, denn für Meister Carrefour hätte der Bokor einen roten wählen müssen. Nun, vielleicht hatte er seine Gründe. Kommen wir nun zu dem Anhänger. Es ist ein kleines Säckchen an einem Band mit einem Hühnerfuß und Federn. Das ist ein Gris-Gris, ein Schutzamulett.“
„Schutz wovor?“, unterbrach Ondragon, der noch immer nicht wusste, ob er diesen Mumpitz für bare Münze nehmen sollte. Allerdings entfachte die Ernsthaftigkeit der Madame in ihm eine gewisse Neugier. Es war doch interessant, an was Menschen so alles glaubten.
„Wenn sich das Amulett auf das Vèvè bezieht“, antwortete Madam Tombeau mit sachlicher Miene, „oder der Träger zumindest davon wusste, dass ein böser Zauber gegen ihn gesprochen werden sollte, dann schützt es ihn vor den niederträchtigen Machenschaften des Bokor.“
„Ein Fluchabwender sozusagen? Oder so etwas wie das Mojo bei ‚Austin Powers‘?“
Die Madame warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Oui et non. Ja, es ist eine Art Fluchabwehr, aber kein Mojo-Bag. Mojo ist ein Begriff aus dem Hoodoo. Das ist eine neumodische Abwandlung einiger Vodou-Rituale, hat aber zumeist nur die Praktiken der magischen Sprüche und Talismane im Sinn, nichts aber mit dem echten Glauben an die Loas zu tun. Im Vodou dagegen gibt es viele verschiedene Amulette. Die meisten werden Gris-Gris, Ouanga oder Makandal genannt.“ Sie machte eine Pause und sah Ondragon an, wie um ihn zu prüfen. „Ich rede keinen Unsinn, Monsieur Ondragon. Es gibt Menschen, die glauben an die Magie des Vodou, genauso wie es welche gibt, die an Gott oder an Allah glauben.“
Verdammt, sie hatte erkannt, dass er sich heimlich über sie amüsierte. „Das mag schon sein“, sagte er beschwichtigend, „aber Sie müssen zugeben, dass Ihre Worte recht abenteuerlich klingen.“
„Monsieur Ondragon, ich habe gleich gesehen, dass Sie zu der Sorte Mensch gehören, die an gar nichts glauben. Aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, darüber zu urteilen, was andere Menschen glauben. Schließlich tun sie das aus freiem Willen und die Religiosität, ganz egal welche, ist nichts Schlimmes. Da wir so etwas wie Kollegen sind, weil wir Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen, bitte ich Sie, machen Sie sich nicht lustig über unseren Glauben!“
Ondragon rutschte auf dem Stuhl hin und her und zwang sich, weniger zynisch dreinzuschauen, schließlich brauchte er ihre Hilfe. Er wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, da kam sie ihm zuvor.
„Wenn Sie sich nicht ein wenig für die Thematik öffnen, dann werden Sie das, was ich Ihnen noch über Ihre Fotos zu erzählen habe, für Humbug halten. Das wäre ein schwerer Fehler, denn in Wirklichkeit ist es tödlicher Ernst und Sie schweben vielleicht in Gefahr.“
Er nickte und hob schuldbewusst beide Hände. „Je suis desolé. Verzeihen Sie, Madame, ich wollte mich Ihnen gegenüber nicht ungebührlich verhalten. Bitte, fahren Sie fort.“
Sie blickte ihn zweifelnd an. „Eh bien, aber nur, damit Sie nachher nicht behaupten können, ich hätte Sie nicht vor möglichen Gefahren gewarnt.“ Sie hob einen Zeigefinger. „Kommen wir also zu dem Brief, von dem Sie ein Foto gemacht haben. Er beweist uns eindeutig die Absicht des Bokor.“
„Ich habe ein merkwürdiges Pulver in dem Briefumschlag gefunden, das hatte ich ganz vergessen zu erwähnen“, warf Ondragon ein.
„Ich weiß.“ Ihr Blick bekam eine beunruhigende Tiefe. „Sie sagen, dass Sie denjenigen, der diesen Brief erhalten hat, nicht finden können und dass ein anderer, der diesen Brief berührt hat, tot in seinem Hotelzimmer lag und nun fort ist?“
„Oui, c‘est ça!“ In Ondragon stieg ein ungutes Gefühl auf … langsam und unaufhaltsam wie ein mit Gas gefüllter Ballon.
„Auch Sie haben den Brief berührt?“
Ondragon nickte.
„Fühlen sie etwas? Eine Taubheit in den Gliedern, ein Jucken an den Händen oder Kopfschmerzen?“
„Ich hatte Kopfschmerzen, aber was soll das alles?“ Der Ballon seines Unbehagens hatte die Ionosphäre hinter sich gelassen und steuerte unkontrolliert ins All hinaus.
Die Madame lehnte sich vor und sah ihn besorgt an. „Es ist so: In dem Brief war ein coup poudre. Ein Zombiepulver!“
„Zombiewas?“ Hatte er das richtig verstanden? Zombie?
Aber die Madame zeigte alles andere als ein Lächeln auf seine Reaktion. Allem Anschein nach war es kein Scherz gewesen. „Das Pulver in dem Brief“, sagte sie ernst, „ist ein Zaubermittel, mit dem der Schwarzmagier einen Menschen zum Zombie macht!“