20. Kapitel
13. Februar 2010
New Orleans, Louisiana
12.30 Uhr
Im Geiste ging Ondragon die Checkliste für die Reise durch. Funktionskleidung und leichte Campingausrüstung waren besorgt. Waffen, Munition und spezielles Gerät würden sie bei Stern finden und Verpflegung im Supermarkt einkaufen. Auch das kleine Privatflugzeug, mit dem er fliegen wollte, war inklusive Tankfüllung schon reserviert. Und das alles binnen weniger Stunden. Nicht unbescheiden beglückwünschte Ondragon sich für sein Organisationstalent, hob das Mineralwasserglas und prostete sich selbst zu. Er saß in der hintersten Ecke eines vornehmen Restaurants auf der Bourbon Street bei einem leichten Mittagessen und beobachtete unablässig die Eingangstür. Er war allein. Seine Assistentin hatte er fortgeschickt, damit sie für ihn einige Dinge erledigte, die für den Trip nach Haiti vonnöten waren. Natürlich hatte er sie nicht gehen lassen, ohne ihr vorher einzuschärfen, auf der Hut zu sein. Schon in der Mall, in der sie eingekauft hatten, waren sie äußerst achtsam gewesen. Wegen des kommenden Karnevals war es dort wie überall in der Stadt sehr voll gewesen, und ständig hatte Ondragon das Gefühl gehabt, ihnen würde jemand folgen. Doch selbst als Charlize sich zurückfallen ließ und ihm in einem gewissen Abstand folgte, hatte sie niemand Verdächtigen entdecken können. Schnell hatten sie ihre Besorgungen erledigt und waren mit Charlizes unauffälligem Mietwagen ins French Quarter zurückgekehrt.
Ondragon aß eine Gabel voll Shrimpsreis und kaute bedächtig darauf herum, um seinem verkorksten Magen einen Teil der Arbeit zu erleichtern. Währenddessen war seine Zentrifuge in Bewegung und hielt ihn in Alarmbereitschaft. Er blickte durch die Fenster auf die Straße. Auch wenn er seine Widersacher nicht sehen konnte, ahnte er, dass sie dort draußen waren und ihre unsichtbaren Augen auf ihn gerichtet hielten – was ihn allerdings nur wenig einschüchterte.
Er schluckte den Reis und piekste mit der Gabel in eine Cocktailtomate, die aufplatzte und ihren Inhalt auf den Teller blutete. Die Typen hatten eindeutig einen Fehler gemacht! Durch den Stunt mit dem Sumpf hatten sie die Sache zu einer persönlichen Angelegenheit werden lassen. Und ihn zum Feind zu haben, war schlimmer als den Reitern der Apokalypse zu begegnen.
Ondragon lächelte versonnen und aß die Tomate. Anschließend tupfte er sich mit der Serviette die Lippen ab und winkte die Kellnerin heran. Nachdem er seine Rechnung beglichen hatte, stand er von seinem Tisch auf und verschwand auf der Herrentoilette, wo er sich zunächst vergewisserte, ob er allein war, und sich dann in einer der Kabinen einschloss. Er holte sein Handy hervor und wählte eine Nummer aus seinem eigenen Firmenregister.
Es klingelte am anderen Ende. Doch als abgenommen wurde, drang zunächst nur ein Rauschen aus dem Telefon und danach ein mehrfaches Knacken, so als müsse die Telefonistin erst noch die Steckplätze wechseln. Nach einer halben Ewigkeit vernahm er endlich die Stimme seines Mitarbeiters. Sie kam abgehackt und mit langer Verzögerung.
„Mercier hier, ha-lo, Chef, was gibt’s? D— Empfang schlecht––mitten in der–-üste!“
„Achille, ich brauche deine Hilfe.“ Ondragon bemühte sich, nicht zu schreien. Er legte die Hand vor dem Mund und sprach weiter: „Du musst sofort herkommen. Nach New Orleans!“
„–-geht nicht!––verdammt weit dr—ßen. Mind–-zwei Tage mit–Jeep bis z—nächsten Oase. Kein Hubschrauber, kein Flugzeug!“
„Irgendeine andere Möglichkeit?“
„––keine Chance, Chef! Aber die Tuareg bringen mich vielleicht mit dem Kamel hin. Hihi–-hi.“
Ondragon verzog verärgert das Gesicht. Der Junge hatte Nerven! Er verabschiedete sich von ihm und legte mit einem leisen Fluch auf. Im Kopf hatte er bereits ausgerechnet, dass Achille Mercier mindestens vier Tage brauchen würde, um nach New Orleans zu gelangen. Viel zu lange. Diese Option fiel also schon mal flach.
Er ging die anderen potentiellen Kandidaten durch.
Dietmar Hegenbarth war sein Spezialist für den Nahen Osten. Der ehemalige Vertriebsingenieur eines großen deutschen Rüstungsunternehmens und Ex-Geheimdienstberater hatte in seinen jungen Jahren zwar schon mit den Taliban Tee getrunken, war aber mit seinen 66 Jahren ein wenig zu alt für den Job.
Dann gab es noch Jorge Hidalgo Contreras, einen ehemaligen Kopfgeldjäger aus Kolumbien, der sich seine Sporen in den Achtzigern im Drogenkrieg verdient hatte, mal für Uncle Sam, mal aber auch unter ganz anderen Flaggen. Jetzt war er als Fachmann für den „Schmutzigen Krieg“ für Ondragon Consulting tätig. Leider war Contreras zurzeit in einen Undercover-Auftrag auf einem illegalen Kasinoschiff vor der Küste Floridas eigebunden. Einer von den wenigen Jobs, die Ondragon ausnahmsweise von der US-Regierung angenommen hatte. Das tat er eigentlich äußerst ungern, aber manchmal konnte es sich auszahlen, dankbare Geister in den obersten Rängen der Politik zu haben.
Als letzten sogenannten freien Mitarbeiter beschäftigte Ondragon einen schwedischen Auftragskiller, der sich järnkors nannte, „Eisenkreuz“. Aber dessen Dienste nahm er nur sehr sporadisch in Anspruch. Auch war er dem Mann aus Gründen der Vorsicht noch nie persönlich begegnet. Hieß es doch in den einschlägigen Kreisen, er sei vollkommen durchgeknallt und eine kaltblütige Reinkarnation des Zodiac-Killers von San Francisco. Jedoch war er auch ziemlich gut in dem, was er tat.
Ondragon seufzte. Er hatte alle Personen durch, die für den Job in Haiti infrage kamen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als nur mit der Madame zu vereisen? Der Gedanke gefiel ihm nicht. Zu zweit und zusätzlich noch mit einer Amateurin an seiner Seite war das Risiko einfach zu groß, und irgendwie hatte er das dringende Bedürfnis, für diese Operation einen zweiten erfahrenen Waffenarm zu haben. Und zwar jemanden, der es verstand, die Augen offenzuhalten. Er selbst war zwar kein Teamplayer und tat sich immer schwer, mit jemanden zusammenzuarbeiten, aber dieser Fall war womöglich – und das gestand er sich nur ungern ein – eine Nummer zu groß für ihn alleine. Er dachte an den neuen Springer von DeForce. Wenn Rod dem Mann volles Vertrauen schenkte, dann würde er das auch tun können. Ondragon wählte Rods Nummer, um sich zu erkundigen, ob der Springer schon in der Luft war. Doch es antwortete ihm nur das Besetztzeichen. Er legte auf, wartete und wählte wenig später erneut. Als ihm die wohlbekannte Frauenstimme sagte, dass die Person am anderen Ende nicht erreichbar sei und er doch bitte die Mailbox benutzen solle, drückte Ondragon den Anruf wütend weg. Hatte er Chinesisch gesprochen oder was? Er hatte Rod doch gesagt, er solle erreichbar bleiben!
Verdammter Dreck. Vielleicht sollte er den Fall doch hinschmeißen!
Im selben Moment hörte er, wie sich die Tür zur Herrentoilette öffnete. Ruhig wartete er darauf, dass der Typ sein Geschäft erledigte und wieder verschwand. Doch es rührte sich nichts. Da war nur das Geräusch der Tür gewesen. Alarmiert steckte Ondragon das Handy weg und stieg vorsichtig auf den Rand der Toilette.
Es blieb weiterhin still.
Hatte er sich das Quietschen des Türscharniers bloß eingebildet? Oder stand einer seiner Feinde direkt hinter der Kabinentür und legte auf ihn an? Verdammt, warum hatte er so lange Zeit hier auf der Toilette vertrödelt?
Kaum hatte er das gedacht, ertönte ein langgezogenes Stöhnen aus der Kabine rechts neben ihm. Und es klang ganz sicher nicht nach jemandem mit Verdauungsproblemen. Ja, es mutete nicht einmal menschlich an!
Ondragon spürte, wie ihm das Adrenalin bis unter die Fingernägel schoss und tastete nach seiner Waffe im Hosenbund. Das Stöhnen widerholte sich nicht. Dafür hörte er ein Schaben und kurz darauf schlurfende Schritte.
Er zielte mit der Waffe auf die geschlossene Tür, vor der die Schritte Halt gemacht hatten, und hielt den Atem an. Sollte er einfach abdrücken? Nein, dann hätte er mächtig Ärger am Hals. Eine Schießerei in einem Restaurant war suboptimal. Er konzentrierte sich auf die Tür. Wenn es tatsächlich ein Zombie war, dann würde er ihn leicht überwältigen können. Zumindest glaubte er das. Er spannte seine Muskeln an, bereit zum Sprung. Die Kabinentür würde er einfach aus den Angeln reißen und sie dem Zombie vor die Stirn knallen!
Ohne zu zögern drückte Ondragon sich vom Toilettenrand ab und prallte mit der Schulter gegen die Tür, die sich mit berstenden Scharnieren öffnete. Keine Sekunde später stand er geduckt im Raum vor den Kabinen.
Aber dort war niemand!
Kein Zombie und auch kein überraschter Mitbürger, der sich die Nase rieb.
Rasch checkte Ondragon die anderen Kabinen, aber auch sie waren leer. Er steckte die Waffe weg und verließ mit angespannten Sinnen und schnellen Schritten das Restaurant, ehe seine Sachbeschädigung auffallen konnte.
Weil er fürchtete, verfolgt zu werden, machte er eine ausführliche Gegenaufklärung. Er schlenderte durch das schachbrettartige Straßennetz des French Quarters, blieb hier und da vor einem Schaufester stehen und tat so, als interessiere er sich für die dort ausgestellte Kunst, während er in Wirklichkeit das Glas als Spiegel benutzte, um die andere Straßenseite im Auge zu behalten. Zum Glück war in den Nebengassen nicht sonderlich viel los, obwohl der weltberühmte Karneval kurz bevorstand. Wahrscheinlich war es noch zu früh für die ganz große Party.
Für eine Viertelstunde ließ Ondragon sich in einem kleinen französischen Café nieder, in dessen grünbewachsenem Patio Tische mit Blick auf die Straße aufgestellt waren, und trank dort einen passablen Café au lait. Noch bevor er das Lokal verließ, steckte er sich die Knöpfe seiner Kopfhörer ins Ohr und tat so, als höre er über sein iPhone Musik. Wenig später setzte er seinen Weg fort und flanierte durch die Straßen. Das war einer seiner besten Tricks. Ein billiger, das musste er zugeben, aber er funktionierte immer, denn obwohl er leicht zum Takt mit dem Kopf nickte, blieben die Kopfhörer stumm. Für seine Beschatter erweckte das den Eindruck, als sei er durch die vermeintliche Musik abgelenkt und könne nichts hören. Das verleitete die meisten von ihnen dazu, unvorsichtig zu agieren und sich früher oder später durch eine Unbedachtheit zu verraten.
Ondragon bemerkte, dass ihm in einiger Entfernung ein junger, blonder Typ mit betont unauffälliger Kleidung folgte, und blieb stehen. Er tat so, als drehe er die Lautstärke hoch und beobachtete dabei über ein Autofenster, welches die Straße widerspiegelte, wie der Typ ebenfalls stehenblieb und sich für das Sortiment von Gitarren im Schaufenster einer Musikalienhandlung zu interessieren schien. Ondragon steckte das Telefon wieder weg und ging weiter. Er überquerte die Straße und bog um die nächste Ecke in die Royal Street. Hier würde er warten, bis sein Verfolger auftauchte.
Doch es kam niemand.
Nach fünf Minuten riskierte Ondragon einen Blick um die Ecke. Die Straße war leer, bis auf ein paar mit Plastikketten behangenen und albernen Hüten bestückten Mardi-Gras-Touristen, die ihm laut singend entgegenkamen. Der blonde Typ war verschwunden.
Entweder war er nur ein unbeteiligter Passant gewesen, oder er verstand etwas von seinem Handwerk. Schulterzuckend trat Ondragon wieder auf die Chartres Street und marschierte in Richtung der Kathedrale am Jackson Square.
Nach einer weiteren halben Stunde und vier Häuserblocks später konnte er sich endgültig sicher sein, dass ihm niemand folgte und kehrte über die Dumaine und Bourbon Street zurück zum Hotel.
Dort wurde er bereits von Charlize erwartet, die im Zimmer die beiden neu gekauften, schwarzen Duffelbags auf das Bett gestellt hatte und dabei war, deren Inhalt zu überprüfen.
„Ich habe alles besorgt, Chef: zwei Funksprecheinheiten, zwei Kevlarwesten, ein Fernglas mit Restlichtverstärkung, zwei Stirnlampen, Batterien, drei Rollen Panzerband, ein Kletterseil mit Karabinerhaken und Geschirr, Farbe Schwarz, Kletterhandschuhe, Farbe Schwarz. Einen Umschlag mit kleinen Banknoten, die Aufnäher mit den Militärabzeichen – die waren übrigens nicht so leicht zu bekommen –, hellblauer und weißer Sprühlack und zwei wasserdichte Taucheruhren. Ach ja, und Kaugummis. Fehlen jetzt nur noch die Waffen, Munition, der Proviant und ein paar andere Kleinigkeiten.“
„Gut, hast du auch darauf geachtet, dass dich niemand verfolgt?“
„Sicher.“ Charlize richtete ihren Oberkörper auf und streckte ihren Rücken.
„Ich hatte da nämlich gerade eine seltsame Begegnung, wenn man das so nennen darf.“ Er erzählte seiner Assistentin von dem unheimlichen Erlebnis auf der Herrentoilette.
Charlize sah ihn an. „Mir ist auch so etwas passiert. Als ich über den Bürgersteig zu dem Laden ging, in dem ich die Ausrüstung besorgt habe, hatte ich kurz das Gefühl, im Schaufenster spiegele sich das Gesicht vom Springer Bolič. Als ich mich umwandte, war da aber niemand. Ich habe eine Extrarunde um den Block gemacht als Gegenaufklärung und gewartet, ob er wieder auftaucht. Nichts.“ Sie machte mit den Händen eine Bewegung wie ein Zauberer, der ein Kaninchen verschwinden ließ. „Vielleicht habe ich mich getäuscht, vielleicht war da aber doch jemand.“
„Ich glaube, unsere Nerven sind etwas überreizt und lassen uns an jeder Straßenecke Zombies sehen. Wir sollten zusehen, dass wir einen kühlen Kopf bewahren.“
„Das tue ich, Chef! Denk ja nicht, dass ich plötzlich an Zombies glaube!“
„Aber hast du das nicht heute Morgen bei Madame Tombeau noch behauptet?“, stichelte Ondragon.
„Ich habe nicht gesagt, dass ich an Zombies oder Untote glaube“, sie stemmte die Hände in die Hüften, „ich habe lediglich zu bedenken gegeben, dass es vielleicht tatsächlich eine Art Droge oder Gift gibt, das Menschen willenlos und somit zum Werkzeug anderer macht. Was nicht minder unheimlich ist, wenn du mich fragst.“
„Wir werden noch herausfinden, was wirklich dahintersteckt. Echte Magie oder nur Blendwerk.“ Er lächelte versöhnlich. „Wann geht dein Flug?“
„Um vier Uhr.“
Er sah auf seine Armbanduhr. „Das ist bald. Sind deine Sachen gepackt?“
„Na klar, auch der Mietwagen ist schon abgegeben.“
Ondragon nickte anerkennend. Charlize war wirklich die einzige Frau, die er kannte, die schneller abreisebereit war als er. Er ließ zu, dass ein warmes Gefühl der Zuneigung ihn durchfloss. Ein Luxus, den er sich nur selten gönnte.
„Ach, Chef, bevor ich es vergesse. Erste Rechercheergebnisse über Darwin Inc. findest du in deinen Mails. Ist nur eine grobe Zusammenstellung anhand dessen, was man auf die Schnelle im Internet findet. Aber es reicht aus, um einen kleinen Vorgeschmack darauf zu bekommen, mit wem wir es hier zu tun haben. Und ich habe Rudee kontaktiert und ihm gesagt, er soll sich breithalten für einen kleinen Hackerangriff auf Darwin Inc., falls wir diesen benötigen.“
„Gute Arbeit, Charlize.“
„Domo arigato gozaimashita.“Sie verneigte sich leicht nach Väter Sitte, und Ondragon hätte ihr am liebsten ihr entzückendes japanisches Näschen geküsst, riss sich aber in letzter Sekunde von dieser Dummheit los und griff nach seiner Sonnenbrille.
„Nun, dann wollen wir dich mal zum Flughafen bringen. Auf dem Rückweg kann ich den Proviant besorgen und wenn ich heute Nacht die Waffen aus Sterns Haus hole, nehme ich Madame Tombeau mit, dann kann sie gleich mal zeigen, was in ihr steckt.“
Charlize ging zu dem Stuhl, auf dem ihre Reisetasche stand. „Und wann gedenkt ihr, nach Haiti aufbrechen?“
„Wahrscheinlich morgen Mittag. Das Flugzeug muss erst noch beladen werden. Die Route habe ich schon berechnet. Ich schätze, wir werden roundabout vierundzwanzig Stunden unterwegs sein.“
Charlize stieß einen theatralischen Seufzer aus. „Was würde ich darum geben, auch in die Karibik zu fliegen. Strand, Cocktails, hübsche Jungs … stattdessen schickt mich mein Boss nach Portland, Oregon. Toll! Regen, schlechtgelaunte Eingeborene und schauderhaften Clamchowder.“ Sie verzog das Gesicht. „Aber dafür bin ich wenigstens in der Zivilisation und nicht wie ihr im karibischen Chaos.“ Belustigt zwinkere sie ihm zu und schulterte ihre Tasche. „Von mir aus können wir los.“
„Okey-dokey, Miss Moneypenny!“ Grinsend öffnete Ondragon ihr die Tür.
Nachdem Ondragon vom Flughafen und dem Einkauf des Proviants wieder zurück im Hotel war, untersuchte er sein Zimmer auf ein Neues nach Wanzen, denn es war möglich, dass es jemand während seiner Abwesenheit betreten hatte. Glücklicherweise war alles clean.
Beruhigt setzte Ondragon sich auf das Bett und sah sich auf seinem iPhone an, was Charlize über Darwin Inc. zusammengetragen hatte. Die wichtigsten Eckdaten hatte sie ihm schon im Auto erzählt, doch auch das Kleingedruckte machte deutlich, dass der neue Spieler auf dem Feld nicht zu unterschätzen war.
Darwin Incorporated – ein multinationaler Unternehmenskoloss. Gegründet in den Fünfzigern hatte er sich über die Jahre zu einem wahren Schwergewicht entwickelt, und das nicht nur in der amerikanischen Industrie. Umso seltsamer mutete es an, dass Ondragon zuvor noch nichts von ihm gehört hatte, aber den Grund dafür fand er schnell beim Weiterlesen. Darwin Inc. war nur der Name für den relativ kleinen Bereich der Agrartechnologie, der aber gleichzeitig den Hauptzweig des Konzerns bildete. Alle anderen Firmenableger und Tochtergesellschaften hatten andere große Namen, darunter bekannte Chemieunternehmen, Erdölraffinerien, Produktionsstätten für Halbleitertechnologie, ein Pharmariese und unzählige Zulieferer aus der Auto-, Flugzeugbau-und Energiebranche – um nur die wichtigsten Zweige zu nennen, denn in einer Börsenzeitschrift hieß es, dass sich das Konglomerat aus über 50 eigenständigen Unternehmen und noch einmal so vielen Partnern zusammensetzte. Was für ein Todesstern von einem Konzern, dachte Ondragon zynisch.
Besonders auffällig an der Firmenhistorie war, dass die meisten Aufkäufe von anderen Unternehmen durch Darwin Inc. erst in den letzten zehn Jahren stattgefunden hatten und das klammheimlich hinter dem Rücken der Öffentlichkeit. In nahezu jedem Sektor der amerikanischen Industrie hatte Darwin Inc. seine Finger im Spiel und mit seinen 73 Standorten im Ausland einen gigantischen Fuß in der Tür zur Welt. Dass die Firma mit dem harmlos klingenden Namen der Kopf des Imperiums war, wusste hingegen kaum jemand.
Das haben die mit Sicherheit auch so gewollt, vermutete Ondragon, der in Charlizes provisorischem Portfolio zwar eine Werbebroschüre mit dem markigen Slogan „We don’t make Evolution, we ARE Evolution!“ finden konnte, aber leider nichts über die Beteiligung von Darwin Inc. an der Herstellung von chemischen oder biologischen Waffen. Was nicht viel zu bedeuten hatte, denn diesen Produktzweig konnte der Konzern durchaus geheimhalten, erst recht wenn er mit der Regierung zusammenarbeitete. Aber das, so dachte Ondragon grimmig, würde er mit größter Wahrscheinlichkeit herausbekommen. Denn Rudee, sein hochbegnadeter Computerwurm, hatte sich bisher noch in jede Datei gebohrt!
Das für ihn wirklich Beeindruckende an Darwin Inc. war aber nicht seine schiere Größe, sondern dass es bereits 90 Prozent des weltweiten Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen kontrollierte. Und allmählich dämmerte Ondragon, was die Firma langfristig bezweckte. Die Bestätigung für diese Vermutungen fand er in den Aussagen der Kritiker, die Charlize aus dem Netz gefischt hatte:
„Darwin Inc. strebt an, die weltweite Landwirtschaft unter seine Kontrolle zu bringen!“ (Greenpeace)
„Darwin Inc. übt eine aggressive Übernahmetaktik gegen andere Unternehmen im Bereich Seeds and Genomics aus und hat sich eine Alleinherrschaft bei der Produktion von genverändertem Saatgut erkauft.“ (Financial Times)
„Darwin Inc. gebietet über unser Essen und darüber, wer auf der Welt Hunger leidet und wer nicht! Wir müssen uns demnächst tief vor dieser neuen Majestät verneigen, wenn wir wollen, dass unser Teller voll ist.“ (Kommentar der New York Times)
Das waren klare Worte.
Ondragon scrollte zum Ende des Dokuments, wo Charlize die größten Konkurrenten des Kraken Darwin Inc. auf dem Gebiet der Genforschung an Nutzpflanzen aufgelistet hatte: Monsanto, Syngenta, Dow AgroSciences, Du Pond Pioneer, Bayer CropScience, BASF Plant Science, KWS.
Alles gewichtige Adressen.
Und eine bezaubernde Schar von rechtschaffenden Streitern für die Gentechnik, dachte Ondragon. Dabei bin ich noch nicht einmal bei den Skandalen angelangt.
Er legte sich zurück auf das Kissen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ die Zentrifuge kreisen.
Wäre doch möglich, dass Darwin Inc. tatsächlich etwas mit dem Verschwinden der Mailmen zu tun hatte. Eine solche Firma hatte viel Einfluss und keine Skrupel, drei Menschen verschwinden zu lassen. Erst nimmt man die Dienste in Anspruch und dann entledigt man sich der Dienstboten, weil sie zu viel gesehen haben. Genau wie bei den alten Pharaonen. Diejenigen, die die geheimen Grabkammern gebaut hatten, wurden gleich mit verscharrt, damit sie für immer schwiegen.
Was die ganze Sache aber noch perfider machte, war, dass Darwin Inc. (wenn der Konzern denn tatsächlich dahintersteckte) nicht nur Tyler Ellys und Alejandro Green aus dem Weg geräumt hatte, es hatte auch noch Sylvester Stern und Kaplan Bolič zu einer Art willenlosen Sklaven mit zermatschten Gehirnen gemacht, um sich ihrer zu bedienen. Vermutlich, um eine falsche Fährte zu legen. Dieses ganze Szenario sollte offensichtlich den Anschein erwecken, ein Voodoo-Fluch von der Karibikinsel hätte die Männer der MSC dahingerafft.
War Darwin Inc. also der Bokor?
Nur, warum hatten sie sich auch Bolič geschnappt? Der wusste doch rein gar nichts über den Job in Haiti, das hatte Rod ihm bestätigt. Außerdem gab es weder intern noch extern eine ersichtliche Verbindung des Bosniers zur MSC, außer, dass er ein paar Nachforschungen über Ellys angestellt hatte. War Bolič ein kollaterales Opfer, wie Charlize es bereits vermutet hatte? Hatte er tatsächlich etwas gefunden, das für Darwin Inc. gefährlich werden konnte und das er ihm, Ondragon, gegenüber verschwiegen hatte?
Er schloss die Augen.
Fragen über Fragen, auf die er eine Antwort finden musste.
Er spürte, wie die Müdigkeit an seinen Gliedern zog. Für einen kurzen Moment wehrte er sich dagegen, doch dann gab er der Verlockung nach. Schließlich hatte er gewaltigen Nachholbedarf … und eine Nachtschicht vor sich.