4. Kapitel
06. Februar 2010
Tucson, Arizona
10.25 Uhr
Ondragon rückte die Sonnenbrille in Pilotenoptik zurecht und drückte auf die Klingel. „Diego“ stand auf einem kleinen Schild daneben. Die laute mexikanische Musik, die eben noch aus dem Innern des Hauses gedrungen war, verstummte und die Tür öffnete sich. Vor ihm stand ein untersetzter Mittvierziger in Trainingshose und geripptem Unterhemd. Wie gut, dass heute Samstag war, dachte Ondragon und fragte: „Mr. Osvaldo Diego?“
„Sí. Quién es?“ Diego beäugte ihn misstrauisch. Er sah aus, wie ein Latino aus der Werbung für Tortilla Chips. Etwas dicklich, mit kurzem, schwarzem Haar, Dreitagebart, chiligelber Haut und nachtfarbenen Augen. Nicht unsympathisch. Ondragon hielt ihm seinen gefälschten Ausweis unter die Nase. „FBI, Special Agent Otter“, brachte er forsch vor. „Ich bin hier, um Sie zu ihrem Nachbarn Mr. Tyler Ellys zu befragen.“ Und etwas freundlicher fügte er hinzu: „Vielleicht besprechen wir das drinnen in Ihrem Haus.“
Diego nickte zerstreut und ließ Ondragon eintreten. Sogleich kamen die beiden Kinder herbeigelaufen und fragten neugierig, wer der Besucher sei. „Der Mann will sich nur mit mir über tío Tyler unterhalten, geht doch hinaus in den Garten und spielt dort. Na los, en marcha!“
Onkel Tyler? Ondragon hob eine Braue.
„Möchten Sie etwas trinken, Mr. Otter?“, fragte Diego, nachdem die Kinder durch die Hintertür verschwunden waren.
„Nein, danke, ich möchte lieber gleich zur Sache kommen.“
Diego nickte und bot seinem Besucher einen Platz auf der Couch an. Ondragon setzte sich, zückte den Notizblock und spitzte die Lippen. Die meisten Menschen kannten FBI-Agenten nur aus dem Fernsehen. Was lag da näher, als sich auch wie einer dieser TV-Affen zu verhalten. C.S.I. und so einen Quatsch, aber die Leute glaubten daran, denn kaum jemand hatte eine Vergleichsmöglichkeit mit der Realität, und in diesem Falle schaffte der Fake mehr Vertrauen, als das Original es tun würde. Sogar seine Verkleidung hatte Ondragon auf das Fernsehbild abgestimmt. Er trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd mit Krawatte und darüber jenen dunklen Regenblouson mit den großen weißen FBI-Lettern auf dem Rücken. Auf seinem Kopf saß ein ebensolches Basecap. Ironischerweise bekam man all diese Artikel in der nächsten Shoppingmall. Bis auf den Ausweis natürlich.
„Mr. Diego“, begann er in professionellem Ton, „wie lange sind Sie und Mr. Ellys schon Nachbarn?“
„Seit dieses Viertel gebaut wurde, seit zehn Jahren“, gab Diego freimütig an. Er schien kooperativ zu sein.
„Wie ist Ihr Verhältnis zu Mr. Ellys? Zweckmäßig oder freundschaftlich? Ich habe gesehen, dass Sie keinen Zaun zwischen ihren Grundstücken haben.“
„Muy bien, Señor Ellys ist ein sehr netter Mensch. Wir haben uns gut verstanden. Auch zu den Kindern war er immer freundlich. Er hatte nie etwas dagegen, dass sie auf seiner Veranda oder in seinem Garten spielten. Er mag Xavier und Maria sehr und …“, Mr. Diego lächelte, „deshalb nennen sie ihn auch tío Tyler.“
Onkel Tyler … und das für Latino-Kinder! Was für ein Neonazi war Ellys eigentlich? „Mr. Diego, wissen Sie, was Mr. Ellys beruflich macht?“
Die Augenbrauen des pummeligen Mexikaners zogen sich kaum merklich zusammen. „Er sagte, er sei im Vertrieb einer Logistik-Firma, so etwas wie UPS oder Fed Ex, und müsse viel in der ganzen Welt herumreisen.“
Das war nahe dran.
„Manchmal bringt er den Kindern etwas mit. Er ist wirklich sehr nett, der Señor Ellys.“
„Waren Sie jemals in seinem Haus?“
„Ja, oft. Wir haben uns häufig getroffen, wenn er Zeit hatte, zum Barbecue.“
„Waren auch andere Nachbarn dabei?“
„Nein, nur die Kinder und ich. Manchmal auch ein Freund von Señor Ellys aus der Firma. Er hieß Sly oder Sylvester, glaube ich.“
„Wo ist Ihre Frau?“ Ondragon hatte bewusst diesen Verhörstil gewählt. Schnelle Fragen ergaben meist schnelle Antworten und hinderten die Befragten daran, allzu misstrauische Hintergedanken zu entwickeln.
Diego senkte betroffen den Blick. „Sie ist vor drei Jahren gestorben. Cáncer, Krebs.“
„Mein Beileid. Haben Sie irgendeine Ahnung, wohin Mr. Ellys verschwunden sein könnte? Ohne sein Auto und ohne jemandem etwas zu sagen?“
„No. Keine Ahnung.“
„Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Merkwürdiges an Mr. Ellys aufgefallen? Hat er sich anders verhalten? Hatte er Besuch oder Post bekommen, irgendetwas, das ihn beunruhigte? Hat er davon erzählt, dass jemand in sein Haus eingebrochen ist? Fühlte Mr. Ellys sich nicht wohl? Hatte er Streit? Denken Sie nach, Mr. Diego, jeder Hinweis kann wichtig sein.“
„Wissen Sie, Mr. Otter, mir ist ja nicht einmal aufgefallen, dass er verschwunden ist. Ich hatte gedacht, er sei nur wieder verreist. Erst als die Polizei vor meiner Tür stand, war mir klar, dass etwas nicht stimmte. Denken Sie, es ist etwas Schlimmes mit Señor Ellys passiert?“ Diego bekreuzigte sich.
„Das versuchen wir herauszufinden. Nun? Ist Ihnen etwas aufgefallen?“
Diego überlegte und knetete dabei seine volle Unterlippe. „Hm, ich weiß nicht. Zumindest war Señor Ellys in den vergangen zwei Wochen zwei Mal verreist. Wohin, weiß ich nicht, wir haben nicht groß miteinander geredet, ich musste viel arbeiten, auch am Wochenende. Heute ist mein erster freier Tag, Mr. Otter.“
„Das ist alles? Sonst nichts weiter?“
„Perdón, ich…“
„Aber, papá, tío Tyler hat doch mit uns geschimpft! Weißt du das nicht mehr?“
Diego drehte sich auf dem Sessel zu seiner Tochter um, die unbemerkt hereingekommen war. Maria biss sich verlegen auf die Unterlippe und grinste. Sie trug wieder das blaue Kleid, aus dem ihre nackten Beine herausragten wie braune Streichhölzer. Um ihren Hals baumelten die selbstgebastelten Samenketten. Hinter ihr hatte ihr kleiner Bruder beide Hände an die Fliegengittertür gelegt und schaute zu ihnen herein.
„Ah, du hast recht, coranconcita. Komm, Maria, sag Mr. Otter guten Tag.“
„Buenas tardes!“ Maria verneigte sich galant, was Ondragon ein Schmunzeln entlockte.
„Weshalb hat Mr. Ellys mit euch geschimpft?“, fragte er das Mädchen.
„Ach, Señor Ellys hat gedacht, meine Kinder hätten sein Auto mit Farbe beschmiert“, antwortete Diego anstelle seiner Tochter.
„Und war es so?“, hakte Ondragon an Maria gewandt nach.
„Nein, das waren wir nicht. Ehrenwort. Sinceramente!“
„Und wer war es dann? Hast du oder dein Bruder jemanden gesehen?“
Das Mädchen schüttelte schüchtern den Kopf, aber Ondragon konnte sehen, dass sie etwas beschäftige. Er setzte ein freundliches Gesicht auf und fragte: „Was wurde denn auf Mr. Ellys‘ Auto geschmiert?“
„So ein Muster. Kringel und Kreuze mit weißer Farbe. Auf die Türen.“
„Ein Muster? Könnte das auch eines von den Nachbarkindern getan haben?“
Maria zuckte mit den Schultern.
„Ist dir sonst etwas aufgefallen? Du spielst doch oft draußen, oder?“
Das Mädchen nickte. „Ich weiß nur, dass tío Tyler verreist war, dann war er wieder da und dann wieder weg. Dann lag der tote Vogel auf seiner Veranda und danach war er krank.“
„Krank?“, fragten Diego und Ondragon gleichzeitig.
„Ja, Xavier und ich haben auf seiner Veranda gespielt und da ist er aus dem Haus gekommen und hat gesagt, wir sollen wieder rübergehen, weil er krank ist und uns nicht anstecken will.“
Der Anthrax-Brief!, schoss es Ondragon durch den Kopf. Unwillkürlich wurden seine Finger feucht. „Wie sah Mr. Ellys denn aus? War er blass, hatte er Husten?“
Maria nickte zu beiden Fragen.
„Wann war das?“
Das Mädchen rollte nachdenklich mit den Augen und blickte zur Zimmerdecke. „Am Montag.“
Am Donnerstag hatte Roderick DeForce bei Ondragon angerufen. Da hatte er Ellys schon seit zwei Tagen vermisst. Wenn die Kleine ihm am Montag begegnet war, dann war sie womöglich die letzte, die Ellys gesehen hatte.
„Und wie war das mit dem toten Vogel? Was war das für einer?“
Wieder ein kindliches Schulterzucken. „Ein schwarzer, vielleicht eine Krähe. Tío Tyler hat ihn in den Müll geschmissen.“
„Und wann war das?“
„Am Sonntag.“
Dann kam der merkwürdige Brief vorher, dachte Ondragon, zumindest hatte der Springer ihm erzählt, dass er ihn unter dem Vogel gefunden habe. „Hast du sonst noch etwas beobachtet, Maria?“
„Nein, Señor.“
„Kannst du mir dieses Muster, das auf Mr. Ellys‘ Auto war, noch einmal beschreiben?“
„Ja, es waren Kringel und Kreuze. Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.“
Ondragon sah das Mädchen verblüfft an, und Maria lachte. „Es ist auch auf tío Tylers Veranda!“
Gemeinsam eilten sie hinaus in den Garten und hinüber zu Ellys‘ Veranda. Als sie davor standen, erkannte Ondragon die hellen, etwas verwischten Schnörkel und Linien. Sie waren mit einer weißen, glitzernden Farbe auf die Dielen aufgetragen worden, vermutlich mit dem Finger. In der Nacht zuvor hatte er sie nicht gesehen, weil er die Lampe im Freien nicht eingeschaltet hatte. Das Muster war zirka einen Schritt lang und genau vor der Tür. Es zeigte ein zentrales, gleichschenkliges Kreuz, dessen Enden in Schnörkeln und kleineren Kreuzen ausliefen, darum herum waren naive Totenköpfe und wieder diese sargförmigen Objekte angeordnet. Darunter stand das Wort SAMEDI geschrieben.
„Kannst du schreiben?“, fragte Ondragon das Mädchen, das den Kopf schüttelte. „Dann wäre wohl auch bewiesen, dass dies hier nicht von Ihrer Tochter stammt, Mr. Diego.“ Der Mexikaner nickte beipflichtend. Der kleine Xavier umklammerte dessen Bein und sah neugierig zu Ondragon hinauf. „Seit wann ist dieses Muster hier?“
„Seit dem Vogel. Er hat dort gelegen.“ Maria zeigte auf die Mitte des großen Kreuzes.
„Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?“ Ondragon wandte sich wieder an Diego.
„No, ich wusste gar nicht, dass es auch hier eine von diesen Schmierereien gibt. Ich hatte nur die auf dem Auto von Señor Ellys gesehen. Aber die sah so ähnlich aus.“
„Was könnte das bedeuten?“
„Es ist nichts Mexikanisches. Vielleicht Candomblé?“
Ondragon nickte und fotografierte das Muster. Candomblé, so entsann er sich dunkel, war eine Religion in Brasilien, die afrikanische mit christlichen Elementen verband, ähnlich wie bei der Santería in Kuba oder beim Voodoo auf Haiti. Aber was hatte das mit Tyler Ellys zu tun, einem weißen Neonazi? Ondragon wünschte sich nichts dringlicher, als mit Roderick DeForce zu sprechen. Er steckte sein Handy weg und sah Diego an. „Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meine Fragen zu beantworten.“
„No Problemo. Ich hoffe, Señor Ellys taucht bald wieder auf.“ Diego klang ehrlich besorgt.
„Das hoffen wir auch. Einen angenehmen Tag noch.“ Ondragon wurde vor das Haus geführt. Er winkte den beiden kleinen Kindern zum Abschied und ging zu seinem Auto, das er diesmal direkt auf der Straße geparkt hatte.
Auf der Rückfahrt zum Hotel legte er Baseballkappe und Jacke ab und ließ sich das Gespräch mit der Diego-Familie noch einmal durch den Kopf gehen. Ein Gedanke besorgte ihn dabei am meisten: Auch Tyler Ellys war krank gewesen! Er fischte das Handy aus seiner Hosentasche und wählte Boličs Nummer. Die Mailbox war dran. Ondragon legte fluchend auf. Wo steckte der Kerl? Warum konnte er nicht an sein Scheißhandy gehen?
Als anschließend die beiden Freunde von Tyler Ellys und obendrein auch noch Rod seinen Anruf nicht annahmen, schlug er aufgebracht gegen das Lenkrad. Langsam hatte er die Schnauze voll. Dieser Fall verhielt sich wie ein störrischer Esel, den er Schritt für Schritt vorwärts zerren musste. Nichts hatte er bisher herausgefunden. Nicht die müdeste Spur. Es gab keinen Hinweis darauf, wo der verdammte Mailman abgeblieben sein konnte.
Am Hotel parkte Ondragon in der Tiefgarage und setzte sich zum Mittagessen in das Restaurant. Das vorzügliche Menü beruhigte seine in wilde Rotation geratene Gedankenzentrifuge. Auch hatte er nach Anthrax gegoogelt und festgestellt, dass der Erreger sehr selten vorkam und äußerst schwer zu beschaffen war, wenn man nicht gerade einen Chemiker aus den US-Militärlaboren kannte. Kein Grund also, hysterisch zu reagieren. Außerdem war der Brief schon unterwegs zu seinem Chemiker. Heute Abend hätte er Gewissheit, dann war immer noch genügend Zeit, sich Antibiotika einzuschmeißen. Er bestellte sich einen Espresso zum Nachtisch und dabei kam ihm eine Idee. Er kannte jemanden, der ihm mit dem Muster womöglich weiterhelfen konnte. Einen sehr gelehrten Mann, den er vor einigen Jahren bei einem Auftrag in Afrika kennengelernt hatte.
Er wählte die Nummer. Mal sehen, ob der Herr Professor zu Hause war.
„Ludewig?“
„Guten Abend, Günther!“, sagte Ondragon erfreut in seinem besten Hochdeutsch. Als halb Schwede und halb Deutscher beherrschte er beide Sprachen akzentfrei. Außerdem liebte er das Spiel mit der Verständigung, und je nachdem, in welche Rolle er schlüpfte, würzte er seine Worte mit dem passenden Akzent. Für Günther Ludewig war er der deutsche Unternehmensberater.
„Paul! Das ist ja eine Überraschung. Wo bist du denn gerade?“
„In den Staaten.“
„Schade, ich dachte, du stattest mir mal einen Besuch in Hamburg ab.“
Ondragon dachte, dass er das wirklich mal tun sollte. „Leider nicht, Günther. Ich rufe an, weil ich deinen Rat brauche als Fachmann.“
„Als Fachmann, soso. Und um was geht es?“
„Ich schicke dir gleich ein Foto auf dein Handy. Schau es dir an und sag mir, was du davon hältst.“
„Du machst es aber mal wieder spannend, Paul. In Ordnung, sende mir das Bild und ich melde mich dann wieder.“ Ludewig legte auf, und Ondragon schickte ihm die MMS.
Das Warten auf die Antwort dauerte eine Weile, und Ondragon nutzte die Gelegenheit, um über seinen Freund in Deutschland nachzusinnen. Professor Dr. Dr. Günther Ludewig war so etwas wie sein Telefonjoker. Unzählige Male hatte er ihn schon angerufen, wenn er einen wissenschaftlichen Rat brauchte, und so waren sie über die Jahre immer in einem guten Kontakt geblieben. Der siebenundsechzigjährige Anthropologe und Forschungsreisende arbeitete noch immer an der Universität Hamburg und wusste einfach alles. In seinem abenteuerlichen Leben hatte er unzählige Expeditionen auf allen fünf Kontinenten durchgeführt und einen derart phänomenalen Erfahrungsschatz angehäuft, dass er damit die Enzyklopedia Britannica zum Bilderbuch degradierte. Ondragon stellte sich das Gehirn seines Freundes als Terabyte-Festplatte vor, voll mit Informationen und immer noch bereit, weitere aufzunehmen. Ludewig war Vollblutwissenschaftler und lebte für die Forschung. Gerne teilte er sein Wissen mit anderen. Und – was noch viel wichtiger war – er stellte nie Fragen.
Nach zehn Minuten des Wartens wurde Ondragon allerdings ungeduldig. Wofür brauchte Ludewig so lange? Gereizt trank er seinen Kaffee aus. Dieser Fall ist ein Esel!
Ein Esel!
Ein Esel!
Ich sollte mal wieder Yoga machen oder so was, um meine Geduld zu trainieren, dachte er.
Plötzlich klingelte das Telefon und er nahm ab.
„Entschuldige bitte, dass es so lange gedauert hat, Paul. Aber ich habe sofort einen Kollegen in Atlanta angerufen, der mehr Ahnung von diesem speziellen Bereich hat als ich.“
„Und welcher Bereich ist das?“
„Voodoo. Besser gesagt, Vodou, so, wie er in Haiti praktiziert wird.“
Voodoo, dachte Ondragon. Was zur Hölle, hatte Tyler Ellys mit diesem Spuk zu tun?
„Das Muster auf dem Bild ist ein Vèvè. Eine rituelle Zeichnung, die für einen bestimmten Loa steht. Loas sind Voodoo-Gottheiten mit den unterschiedlichsten Charakteren, die man je nach ihren Eigenschaften anruft und sich von ihnen besitzen oder reiten lässt, um sich mit ihrer Lebensenergie aufzuladen. Das ist dann die Trance. In diesem Falle handelt es sich um das Vèvè des Totenbaron Samedi. Steht ja auch groß darunter. Mein Kollege hat mir erklärt, dass Samedi der Herr der Toten ist. Er treibt auf dem Friedhof sein Unwesen und ist ein gefürchteter Gèdè-Loa. Das ist so etwas wie ein Teufel oder böser Geist.“
„Und was soll das alles bedeuten?“
„Nun, das kann viele Bedeutungen haben. Ich kenne den Kontext leider nicht. Sicher ist nur, dass schwarze Magie im Spiel ist. Nur ein Schwarzmagier würde das Vèvè des Baron Samedi verwenden.“
„Schwarze Magie?“
„Ja, die Anhänger des Voodoo-Kultes unterscheiden zwischen schwarzem und weißem Zauber. Der schwarze wird natürlich dazu benutzt, um Menschen Böses an den Hals zu wünschen, oder sie zu beeinflussen. Deshalb kann ein Liebeszauber auch in das Ressort der schwarzen Magie fallen, denn für den Behexten ist das Resultat meistens weniger erfreulich, schließlich wird er ja seines freien Willens beraubt.“
„Und es gibt heutzutage Menschen, die ernsthaft an so etwas glauben?“
„In Haiti ja. Und auch in anderen Ländern Südamerikas und Afrikas, denn Teile dieser Religion stammen ursprünglich vom schwarzen Kontinent. Sie ist mit den afrikanischen Sklaven auf die Plantagen der weißen Eroberer gekommen. Selbst in der Industrienation USA und in Europa gibt es Menschen, die Voodoo praktizieren. Als eine Art Geisterreligion steht Voodoo im Trend bei zivilisationsmüden Leuten mit Hang zur Esoterik. Gerade die Praktiken mit den Voodoo-Puppen sind sehr beliebt, obwohl diese herzlich wenig mit dem echten Voodoo-Glauben zu tun haben.“ Ludewig lachte leise. Auch er schien nicht viel von dem Hokuspokus zu halten. Blieb nur noch das Rätsel, wie die Voodoo-Zeichen auf eine Veranda in Tucson, Arizona, gekommen waren.
„Du schweigst, mein lieber Paul. Das ist selten.“ Wieder lachte Ludewig.
„Ich bin in der Tat ratlos, nach wie vor.“ Das wurmte Ondragon, behielt es aber für sich.
„Tut mir wirklich leid. Aber vielleicht kann ich dir noch ein bisschen weiterhelfen. Mein Kollege aus Atlanta nannte mir eine Spezialistin in New Orleans, die kann dir bestimmt mehr über das Vèvè erzählen.“
„In New Orleans, war ja klar!“, seufzte Ondragon. Er mochte die Wendung im Fall Tyler Ellys überhaupt nicht. Voodoo-Zauber. Schwarze Magie. So ein Blödsinn.
„Die Dame ist in ihrem Laden ‚Captain Zombie‘ auf der Bourbon Street anzutreffen. Frag dort nach Madame Tombeau. Sie soll eine erfahrene Mambo sein – das sind initiierte Voodoo-Priesterinnen. Sie weiß alles über schwarze und weiße Magie.“
„The Witch Queen of New Orleans”, sang Ondragon in sarkastischem Tonfall. Wie oft war dieser Mythos schon besungen worden? Mehr Klischee ging nicht!
„Im Ernst, Paul, sie wurde mir von einem seriösen Kollegen empfohlen. Versuch es doch einfach erst mal, danach kannst du urteilen.“
„Du hast ja recht. Man soll mir schließlich nicht nachsagen, ich hätte nicht alles versucht. Warum dann nicht auch Voodoo?“
Günther Ludewig seufzte. „Ich geb dir besser noch die Nummer meines Kollegen in Atlanta. Ich hab ihn schon vorgewarnt, dass du ihn früher oder später anrufen wirst.“
„Wohl eher nicht“, lachte Ondragon. „Die Witch Queen reicht mir. Aber vielen Dank für deine Hilfe, Günther. Ich melde mich wieder.“
„Vielleicht aus Hamburg?“
„Gut möglich. Bis dann.“ Ondragon legte auf. Seine Miene verfinsterte sich. Magie, Zauber, Monster. So ein Quatsch! Aber irgendwie schienen diese Spukgeschichten ihn zu verfolgen. Erst letztes Jahr im Sommer in dieser besagten Klinik in Minnesota war er kurz davor gewesen, von einem indianischen Waldmonster, das eigentlich nur in den Legenden der Ojibway existierte, zerfleischt zu werden. Dem Wendigo. Für eine Legende war das Biest verdammt real gewesen. Heute war er sich allerdings nicht mehr so sicher, ob er sich das Ganze nicht bloß eingebildet hatte. In seiner damaligen desolaten psychischen Verfassung hätte er sich das komplette „Tanz der Vampire“-Ensemble vorstellen können und es für die Wirklichkeit gehalten. Ondragon rieb sich über die Augen, öffnete sie aber schnell wieder, weil das Bild seines Bruders auf der Innenseite seiner Lider erschien. Verdammte Scheiße! Voodoo. Ausgerechnet!
Auf seinem Zimmer wählte Ondragon die Nummer seiner Assistentin, die in L.A. die Stellung hielt.
„Ja, Chef?“
„Charlize, sei so lieb und buch mir ein Hotel in New Orleans auf der Bourbon Street. Was Nettes, ja? Ab übermorgen und erstmal für zwei Nächte plus Garage. Ich nehme das Auto und unterwegs ein Motel.“
„Hai, Paul-san, mach ich sofort. Und wie läuft‘s?“ Ondragon liebte ihren japanisch-brasilianischen Akzent.
„Naja, nicht besonders.“ Charlize gegenüber war er stets ehrlich, denn er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Nicht zuletzt, weil sie ihn schon oft aus so manch brenzliger Situation gerettet hatte. „Gibt es sonst noch etwas, Charlize?“
„Nein, alles ruhig. Dietmar ist im Irak und Achille in Algerien. Die Aufträge laufen nach Plan.“ Gut, dachte Ondragon. Er war froh, dass er solch hervorragende Leute wie Dietmar Hegenbarth und Achille „die französische Geheimwaffe“ Mercier bei Ondragon Consulting beschäftigte. Das waren zwei seiner insgesamt vier Angestellten – die freien Mitarbeiter nicht mit eingerechnet. „Na, dann mach ich mich jetzt wieder auf die Jagd nach dem weißen Kaninchen.“
Charlize kicherte. „Viel Glück dabei, Chef.“
Viel Glück! Ondragon legte auf. Wie oft hatte er das in den letzten Tagen schon gehört? Er sah auf die Uhr. Keine Chance, in Dubai war es gerade mitten in der Nacht. Und so dringend war die Angelegenheit auch wieder nicht, dass er Rod dafür aus dem Bett holen musste. Also versuchte er es bei Bolič. Nichts.
Jetzt reicht es! Ich gehe hin!
Ondragon riss seine Reisetasche auf und legte seine Verkleidung als Businessmann an: feiner Anzug, Krawatte, Aktenkoffer, Ray-Ban.
Zwanzig Minuten später erreichte er zu Fuß das Hotel Arizona. Den Überwachungskameras wich er aus, indem er seinen Kopf ständig gesenkt hielt und so tat, als sei er mit seinem Smartphone beschäftig. Oben im fünften Stock klopfte er an die Nr. 506, doch nichts rührte sich. „He, Bolič, machen Sie auf. Hier ist Mr. O!“, rief er gedämpft gegen die Tür. „Verdammt, Mann, öffnen Sie die Tür!“ Aber es blieb noch immer still in dem Zimmer.
Ondragon holte sein Dietrichset hervor und öffnete das Schloss. Zum Glück war die Sicherheitskette nicht davorgelegt. Ein muffig säuerlicher Luftschwall kam ihm entgegen. Schnell trat er ein und schloss die Tür. Als er sich umdrehte, sah er Bolič. Er lag auf dem Bett unter der Decke und schlief.
„He, Bolič! Wachen Sie auf. Sie können später weiterschlafen. Ich muss etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen!“
Bolič rührte sich nicht. Ondragon trat an das Bett und rüttelte an der Schulter des Springers. Aber Boličs Augen blieben geschlossen. Ondragon runzelte die Stirn und legte einen Finger auf den muskulösen Hals des Bosniers. Kein Puls. Er hob ein Lid an, aber das braune Auge starrte ihn nur ausdruckslos und ohne Pupillenreflex an. Kein Zweifel, der Springer war tot!
Ondragon zog die Decke zurück und betrachtete Bolič, der zusammengekauert wie ein Embryo dalag. Er trug lediglich Boxershorts. Die bleiche Haut war an einigen Stellen gerötet, zeigte ansonsten aber keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung. Auch Boličs Gesicht war aschfahl mit einem seltsam entspannten Ausdruck. In einem Anfall von plötzlicher Erkenntnis trat Ondragon vom Bett zurück und schlug zum Schutz seine Krawatte vor Mund und Nase.
Panik erfasste ihn. War Bolič am Milzbrand gestorben? Er selbst hatte den Brief ja auch angefasst. Scheiße! Hektisch sah er sich um. Er musste hier raus! Doch vorher war es klüger, alle Spuren, die zu ihm selbst führten, zu beseitigen. Er suchte Handy und Waffe des Bosniers und steckte beides ein. Dabei fand er einen Laptop in dessen Tasche und nahm ihn ebenfalls an sich. Auch zu DeForce musste jede Verbindung gekappt werden, den Gefallen war er Roderick schuldig. Nachdem Ondragon alles durchwühlt hatte, öffnete er die Tür zum Flur, spähte hinaus und floh in gemäßigtem Tempo aus dem Hotel hinaus auf die Straße, wo er tief durchatmete.
Endlich frische, keimfreie Luft!
Er sah hinauf in den grellblauen Wüstenhimmel über der Stadt. Um sich zu beruhigen, zählte er auf Japanisch bis Zehn, wie er es von seinen Kampfsportübungen gewohnt war: ichi, ni, san, shi, go, roku, shichi, hachi, kyu … ju …
Ganz ruhig, Paul. Noch ist nichts bewiesen. Heute Abend weißt du mehr. Also, reiß dich zusammen. Er setzte sich in Bewegung und begab sich unauffällig zurück ins Hotel. Der Tod von Bolič würde erst morgen früh entdeckt werden, wenn der Zimmerservice kam. Bis dahin hatte er genügend Zeit, aus Tucson zu verschwinden.
Nachdem er lange und heiß geduscht hatte, setzte er sich auf das Bett und wählte Rods Nummer. Egal, wie spät es gerade bei ihm war, jetzt war es wichtig!
„The person you want …“ Ondragon ballte seine Faust um das Handy, dass es knirschte. Warum ging eigentlich niemand an sein beschissenes Telefon? Wie sollte er Rod davon unterrichten, dass sein Springer tot im Hotel lag und er selbst womöglich auch das Anthrax-Pulver eingeatmet hatte?
„Mann, beruhige dich, du benimmst dich ja wie ein Anfänger“, sprach er leise mit sich selbst. „Rod kann dir von Dubai aus auch nicht helfen. Das musst du schon alleine tun.“ Mühsam löste er seinen Griff um das Handy und schickte Rod eine SMS mit dem alten DeForce Codewort „Carwash“, was bedeutete, sich augenblicklich bei dem Absender zu melden. Dann legte er das iPhone beiseite und merkte, wie sehr seine Hände zitterten. War das Einbildung oder schon das erste Symptom des Erregers? Er ballte die Hände wieder zu Fäusten. Wichtig war jetzt erstmal, dass er hier verschwand.
Schnell packte er seine Sachen zusammen und checkte unten an der Rezeption aus. Mit dem Mietwagen fuhr er zur Verleihstation und mit dem Taxi wieder zurück zum Hotel, wo er seinen Mustang aus der Tiefgarage holte. Um kurz nach drei Uhr nachmittags ließ er Tucson im Rückspiegel hinter sich und steuerte seinen Wagen auf dem Interstate 10 nach Osten, immer tiefer in die Wüste hinein. 1400 Meilen lagen vor ihm.