24. Kapitel

14. Februar 2010

Die Küste von Jamaika,

7,6 Meilen westlich von Port Antonio

15.35 Uhr Ortszeit

 

Nachdem das Flugzeug auf der asphaltierten Bahn gelandet und langsam vor dem Hangar, der eher einer flachen Wellbrechhütte glich, zum Stehen gekommen war, wurde von zwei Mitarbeitern des Privatflugplatzes eine wackelige Gangway an die Maschine geschoben, und die Tür zur Kabine öffnete sich. Heraus traten drei Gestalten. Zwei Weiße in dunkler Soldatenmontur und mit Sonnenbrillen auf den Nasen und eine dunkelhäutige Frau mit Brille und Arztkittel. Auf der Kleidung der Soldaten waren deutlich die Abzeichen des amerikanischen Militärs und der Friedenstruppe der Vereinten Nationen zu erkennen, und die Ärztin schien einer der bekannten Hilfsorganisation anzugehören. Es war offensichtlich, dass sie auf dem Weg zu einer Hilfsaktion nach Haiti waren.

Schwere Taschen schleppend gingen die drei Neuankömmlinge auf einen wartenden Jeep zu und stiegen ein. Wortlos startete der Fahrer den Motor und fuhr bis zum Ende der Startbahn, wo er ein Tor im Maschendrahtzaun passierte. Auf einem kaum zu erkennenden Weg holperte der Jeep zwischen rosa blühender Strandwinde und niedrigen Sea-Grape-Bäumen hindurch direkt an den Strand, wo ein Schnellboot mit einem überdachten Heck auf sie wartete.

Die Gruppe stieg aus und watete, die Taschen auf Schulterhöhe gestemmt, durch das flache, türkisfarbene Wasser zum Boot, das vorne eine kleine Kabine besaß, die schon mit acht riesigen Benzinkanistern beladen war. Ihr Rückfahrticket.

Der Mann, der das Boot bewacht hatte, grüßte den Anführer der Gruppe und sprang von Bord ins Wasser. Als er den Strand erreichte, brüllten die drei Außenmotoren mit jeweils 300 PS auf und der Bug des Bootes hob sich aus dem schäumenden Wasser. Rasch entfernte sich das Gefährt von der Küste und nahm in einem eleganten Bogen Kurs nach Osten.

Niemand hatte irgendwelche Fragen gestellt.

 

Ondragon hielt das Ruder fest in der Hand und überprüfte den Kurs. Das Boot war eine helle Freude. Mit ungeheurer Kraft bretterte es über die ruhige See. Das Wasser glitzerte in der karibischen Sonne, und bei jeder Welle, die sie kreuzten, hob der Rumpf kurz ab, um danach gleich umso härter wieder aufzusetzen, als treffe er auf Beton und nicht auf Wasser. Diese ständigen Stöße auf die Bandscheiben waren anstrengend, auch der Sound der Motoren war irre laut und versetzte das ganze Schiff in Vibration. Aber die Kraft, die dahintersteckte, fühlte sich unwiderstehlich gut an. Ondragon grinste in den Fahrtwind. Ein echtes Männerspielzeug!

Er blickte sich zu seinen beiden Begleitern um, die, nachdem sie die Ausrüstung sortiert und festgezurrt hatten, nun auf ihren gepolsterten Plätzen saßen und jeder für sich auf das Meer hinausschauten, wo Pelikane so dicht über dem Wasser dahinglitten, als hofften sie, dass die fliegenden Fische, die vor der Gischt des Motorenmonsters flohen, direkt in ihre Schnäbel springen würden.

Ondragon fing einen Blick von Rod auf, der ihm kameradschaftlich zuzwinkerte, und sogleich überkam ihn ein wohliges Gefühl. Er war froh, den Briten für diese Mission an seiner Seite zu haben, obwohl er es sonst bevorzugte, alleine zu arbeiten. Aber als Partner konnte es keinen besseren geben. Mit dem Vater aller Mailmen als Waffenbruder fühlte er sich unbezwingbar.

Er schaute kurz zu der Madame hinüber, die Rod gegenübersaß. Sie wirkte blass und noch verschlossener als sonst. War sie etwa seekrank? Oder hatte sie Sorge, ihre alte Heimat zu betreten? Ondragon spürte das alte Misstrauen aufkeimen. Was, wenn sie doch nicht ganz koscher war? Schließlich hatte sie im Flugzeug bei ihrem Gespräch mit Rod ihre Mimikryspielchen unbewusst offenbart. Ondragon beschoss, sie besser im Auge zu behalten. Dieser prächtige Nachtfalter war nicht das, was er vorgab zu sein.

 

Zwei Stunden später ging die Sonne als leuchtender Protagonist in einem spektakulären Schauspiel unter. Kurz und heftig glühte der Himmel auf, als hätte jemand eine Atombombe gezündet, und wurde dann schnell mit Schwärze übergossen. In den tropischen Breiten kamen die Nächte schnell und schnörkellos.

Ondragon drückte den Memoryknopf auf seiner Taucheruhr, der den aktuellen Zeitpunkt speicherte, und blickte zu den ersten Sternen hinauf. Der Wind auf seiner Haut fühlte sich noch immer warm an, und obwohl es früh am Abend war, spürte er, wie ihn seine alte Freundin, die Müdigkeit, noch immer nicht losließ. Wenn er für den Einsatz fit sein wollte, dann sollte er jetzt besser ein paar Stunden schlafen, dachte er und bat Rod, die erste Wache am Steuer zu übernehmen.

Dort saß sein Freund nun und unterhielt sich gedämpft mit der Madame, während er genüsslich eine Havanna rauchte. Der Rauch der Zigarre zog mit dem Fahrtwind nach achtern, wo Ondragon auf einem Schlafsack lag und das stetige Vibrieren und Stampfen des Bootes zu ignorieren versuchte. Der aromatische Geruch und Rodericks entferntes Lachen beförderte angenehme Erinnerungen herauf. Hinter geschlossenen Lidern sah sich Ondragon am Strand von Mombasa mit seinen Kumpels in seiner Lieblingsbar sitzen, in der sich alle Mailmen stets getroffen und gefeiert hatten. Grund genug gab es dafür jedes Mal nach einem erfolgreich ausgeführten Job – man war am Leben geblieben.

Ondragon war damals fünfundzwanzig gewesen, als er von Roderick DeForce angeheuert wurde und durch ihn eine völlig neue und anregende Welt betrat. Eine Welt jenseits der trockenen Theorie von Optimierungskonzepten für Firmenstrukturen und Controlling-Abteilungen, eine Welt hinter den Kulissen von Politik und Wirtschaft, zwielichtig und faszinierend. Sein Vater war natürlich dagegen gewesen, aber Ondragon hatte keine Lust mehr gehabt, nach dessen Pfeife zu tanzen. Er hatte es lange genug versucht. Es war an der Zeit gewesen, endlich seinem eigenen Willen zu folgen. Mit seinem Umzug von New York nach Kairo zu DeForce Deliveries besiegelte er den finalen Bruch in der Beziehung zu seinen Eltern. Traurig hatte ihn das ganz gewiss nicht gestimmt, eher hatte ihn ein triumphales Gefühl emporgehoben, so als hätte er eine hundertjährige Schlacht gewonnen. Ondragon erinnerte sich gerne an die knapp sechs Jahre bei DeForce. Der Job war wie das Schlüpfen aus einem Ei gewesen, die Wiedergeburt seiner lange unterdrückten Fähigkeiten. Fähigkeiten, die er endlich einsetzen konnte für jemanden, der sie zu schätzen wusste und der ihn nicht wie einen durchgeknallten Freak behandelte. Roderick DeForce hatte ihn gefunden und geformt, hatte den Grundstein gelegt zu dem, was er heute war. Sicher, der Job bei DeForce war hart gewesen und die Einsätze riskant, aber Ondragon hatte sich nie zuvor lebendiger gefühlt.

Hart waren auch die Charaktere gewesen, mit denen er es zu tun hatte. Seine Kameraden waren raue, aber sehr zuverlässige Gesellen. Immer bereit, für den anderen durch die Hölle zu gehen. Darauf hatte Roderick DeForce bei der Auswahl seiner Leute großen Wert gelegt. Zwei Jahre lang war Kairo Ondragons Heimat und Ausgangsbasis für die Einsätze gewesen, die sie zumeist in den Mittleren Osten und nach Afghanistan geführt hatten. Danach zog das Mainoffice von DeForce nach Mombasa um und zwei Drittel der Mailmen mit ihm. Als Heimatloser war es Ondragon sowieso egal, wo er lebte, und er ging gern in die kenianische Hafenstadt, wo er sich eine Wohnung mit einem Kollegen teilte, nur wenige Schritte vom Strand und ihrer Stammbar entfernt. Er konnte die exotisch kribbelnde Atmosphäre, welche damals die Stadt beherrschte, förmlich spüren, hörte das multilinguale Stimmengewirr der Einwohner aus aller Welt, gemischt mit afrikanischen Musikklängen, und fühlte das eisgekühlte Glas mit dem Bier in seiner Hand.

Ondragon seufzte und ließ es zu, dass diese Retrospektive ihn wie ein willkommener Gast umfing und sanft die Rotation seiner Zentrifuge abwürgte. Noch vor ihrer letzten Drehung schlief er ein.

 

Punkt Mitternacht wurde er von Roderick geweckt. Schlaftrunken setzte Ondragon sich auf und brauchte einige Sekunden, bevor er sich bewusst wurde, wo er war. Hatte er so tief geschlafen? Das war wirklich erstaunlich, wenn man bedachte, dass das Boot über die Wellen sprang wie ein bockender Bronco beim Rodeo.

Dankend nahm er die Hand seines Freundes und ließ sich auf die Beine ziehen. Gegen den Motorenlärm anschreiend erstattete Rod ihm Bericht. Laut GPS-Gerät hatten sie den westlichsten Zipfel Haitis vor zwei Stunden passiert und befanden sich nun rund 75 Seemeilen vom Ziel entfernt. Der Wind hatte etwas aufgefrischt, was einen höheren Wellengang verursachte, aber sonst war das Wetter beständig und die Lage ruhig.

„Puh! Ruhig nennst du das?“, Ondragon hielt sich den strapazierten Rücken. „Das Boot tritt wie ein Maultier! Was ist mit der Madame?“

„Sie versucht, in der Kabine etwas Schlaf zu finden.“

„Bei den Benzinkanistern? Wie gemütlich.“

„Ich hatte es ihr auszureden versucht, doch sie wollte lieber für sich sein.“

Ondragon verstand. Die Madame hatte wenig Lust gehabt, sich neben ihn zu legen. Sonderlich viel Platz war auf dem kleinen Schiff ja nicht und da blieb nur noch die Kabine. Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Hau dich hin, Rod. Ich wecke euch, wenn wir unseren PO erreicht haben.“

PO war die Abkürzung für Point One. Das stand für den Startpunkt einer jeden Operation und nicht selten markierte es auch den Endpunkt. Endete die Mission woanders, so hieß der Ort PT, Point Two. PC, der Point of Contact, bezeichnete den Punkt, an dem der Kontakt zu gefährlichem Boden oder Feindgebiet (in diesem Falle die Küste) stattfand. RT, Reach Target, bezeichnete das Ziel, wobei es sich entweder um ein bewegliches, zu transportierendes Objekt handeln konnte oder um eine fest verankerte Koordinate, die es zu erreichen galt. Und MC war das Signal an alle Crewmitglieder, dass die Mission erfüllt und erfolgreich beendet worden war. Mission Complete!

Roderick DeForce beherrschte diese und andere Termini im Schlaf und er nickte, als er Ondragon die Wache überließ und sich auf dem Schlafsack zusammenrollte.

Bockend fuhr das Boot durch die sternenklare Nacht. Weit genug von der Küste entfernt, um nicht aufzufallen, aber dennoch innerhalb der zwölf-Meilen-Zone. Bis jetzt war kein Schiff oder Flugzeug der Küstenwache auf sie aufmerksam geworden.

Die hatten womöglich anderes zu tun, dachte Ondragon. Und das würde hoffentlich auch so bleiben. Er legte eine Hand auf das Steuer, spürte die Vibrationen der Motoren und ließ sie durch seinen Arm in seinen Körper fließen. Er wurde eins mit der Kraft des Bootes und genoss das Gefühl, wie auf Schwingen durch die Schwärze der Nacht zu fliegen.

Um 3.14 Uhr drosselte er die Motoren und ließ das Boot langsam auf die Küste zugleiten, die sich als schwarzes unregelmäßiges Band vor dem dunkelblauen Nachthimmel abzeichnete.

Sie hatten PO erreicht!

In zirka drei Stunden würde die Sonne aufgehen. Doch vorher wären sie, sofern alles nach Plan verlief, schon längst an Land gegangen.

 

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 02 - Totenernte
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