17. Kapitel

13. Februar 2010

New Orleans, Louisiana

8.30 Uhr

 

Ondragon ließ sich von einem Streifenwagen zum Royal Sonesta Hotel fahren. Er hatte die Nacht im Krankenhaus am Tropf verbracht und sich heute früh selbst entlassen, obwohl sich sein Verdauungstrakt noch nicht vollständig beruhigt hatte, und sein Gesicht wegen des bösen Sonnenbrandes in lodernden Flammen stand. Auch fühlte er sich noch immer sehr wackelig auf den Beinen, aber der Fall wartete, und außerdem hasste er Krankenhäuser. Bevor man ihn jedoch hatte gehen lassen, war ihm neue Kleidung verpasst worden, die aus Spenden stammte. Dementsprechend sah er jetzt auch aus: Dreitagebart kombiniert mit einer schlabbrigen Trainingshose von den Houston Rockets, einem karierten, kurzärmeligen Hemd und Badelatschen. Ein Traum. Die vergangene Stunde hatte er seinen Hintern zudem noch auf der Polizeiwache plattgesessen, da er sich am Tag zuvor nicht hatte ausweisen können. Seine Brieftasche war ihm ja von seinen Entführern abgenommen worden, was nicht weiter schlimm war, denn im Hotel hatte er noch mehr gefälschte Papiere. Allein der Verlust seines Glücksbringers, der Schlüsselanhänger aus Berlin, der ihm einst das Leben gerettet hatte, schmerzte ihn. Wo sein Auto war, würde er ohnehin noch herausfinden müssen. Jetzt aber wollte er nur noch in sein Zimmer und allein sein. Er musste nachdenken. Nach der Episode im Sumpf war er kurz davor, den ganzen Mist hinzuschmeißen. Das war sonst nicht seine Art, aber irgendwie entwickelte sich der Fall zu einer ähnlichen Katastrophe wie die Geschichte in Minnesota. Und darauf hatte er herzlich wenig Lust.

Der Streifenwagen hielt vor dem Eingang des Hotels. Einer der Polizisten stieg zusammen mit ihm aus, was Ondragon nicht passte, aber er konnte auch nichts dagegen tun.

Als sie die Tür erreichten, blickte der Portier zuerst auf seine Klamotten und auf sein gerötetes Gesicht, dann auf den Cop. Der Hotelangestellte zögerte, grüßte aber schließlich bemüht freundlich und öffnete ihnen die Tür. Es war allzu offensichtlich, was er dachte. ‚Wieder einer von diesen unmöglich gekleideten Mardi-Gras-Touristen!‘

Ondragon ignorierte ihn und steuerte durch das Foyer direkt auf die Rezeption zu.

„Guten Morgen, Mr. On Drägn!“, flötete ihm die junge Frau hinter den Tresen entgegen. Wenigstens hatte sie ihn wiedererkannt, wenngleich sie seinen Namen mal wieder falsch ausgesprochen hatte. Ihr Blick fiel auf den Officer hinter ihm.

Ondragon räusperte sich. „Mrs …“, er sah auf ihr Namensschild, „… Myers, wären Sie so freundlich, dem Gentleman von der Polizei hier zu bestätigen, dass ich bei Ihnen ein Zimmer hatte.“ Er sprach deshalb in der Vergangenheit, weil er nicht damit rechnete, dass sein Zimmer jetzt noch da war, nachdem er es zuvor nur für zwei Nächte gebucht hatte.

„Aber natürlich, Sir“, sie blickte den Cop an. „Mr. On Drägn ist hier schon seit einigen Tagen Gast.“ Sie zeigte dem Polizisten unaufgefordert die Registrierung.

„Okay, Ma’am, dann ist ja alles in Ordnung. Mr. On Drägn.“ Der Cop tippte sich an den Schirm seiner Mütze und verließ das Foyer.

Ondragon blickte ihm kurz hinterher und wandte sich dann wieder an die Rezeptionistin. „Entschuldigen Sie die Umstände, ich war einige Tage … indisponiert und hatte keine Möglichkeit, Sie zu benachrichtigen. Sie haben mein Zimmer in der Zwischenzeit gewiss vergeben.“ Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen. „Ist es möglich, ein neues Zimmer zu bekommen?“

„Aber wir haben Ihr Zimmer nicht vergeben. Es ist noch da. Nr. 2118.“

Ondragon hob verwundert die Brauen.

Mrs. Myers registrierte seinen verwirrten Blick und lächelte. „Die Buchung wurde verlängert, und bezahlt ist auch schon alles.“

„Und von wem, wenn ich fragen darf?“

„Das kann ich aus den Unterlagen leider nicht ersehen. Die Buchung hat außerdem ein Kollege vorgenommen.“ Mrs. Myers lächelte entschuldigend.

„Wurde die Rechnung mit Kreditkarte bezahlt?“, hakte Ondragon nach. „Dann müsste es einen Namen geben.“

„Nein, die Zahlung erfolgte in bar.“

Ondragon war sprachlos. Wer hatte das getan? Charlize? Von den zwei Telefonaten, die er vom Police Department aus geführt hatte, war eines ein Anruf bei seiner Bank gewesen, wegen der gestohlenen Kreditkarte, und der andere bei seiner Assistentin, die aber nicht drangegangen war.

„Wie lange ist das Zimmer bezahlt?“, fragte er.

„Noch für drei Nächte. Sie werden viel Spaß beim Mardi Gras haben, Sir!“

Ondragon erinnerte sich daran, dass es bis zum Karneval mit dem Fat Tuesday nicht mehr lang hin war. Demnach war er ganze vier Tage im Sumpf gewesen. „Haben Sie vielen Dank, Mrs. Myers. Ach ja, haben Sie vielleicht eine neue Keycard für mich? Meine alte habe ich verloren.“ Entschuldigend hob er die Schultern.

„Aber natürlich, Sir.“ Die Rezeptionistin codierte eine neue Karte und schob sie über den Tresen. Ondragon nahm sie an sich, wünschte einen schönen Tag und ging zu den Fahrstühlen.

 

Oben im zweiten Stock angekommen, öffnete er die Tür zu seinem Zimmer. Es war dunkel, und Ondragon knipste das Licht an. Als er einen prüfenden Blick in den Raum warf, prallte er jäh zurück. Instinktiv griff seine Hand nach der Sig Sauer, fand aber nicht einmal das Holster.

Verdammt, jetzt bin ich geliefert!, schoss es ihm durch den Kopf. In kapitulierender Geste hob er beide Hände und versuchte mit zusammengekniffenen Augen zu erkennen, wer dort unter der Bettdecke lag und den Revolver hielt, dessen Mündung ihn anstarrte.

„Chef?“

Der Revolver senkte sich.

„Charlize!“ Er stieß ein überraschtes Lachen aus. „Du liebe Güte. Und ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.“ Erleichtert trat er auf das Bett zu.

Charlize pellte sich aus der Decke. „Paul-san, da bist du ja endlich! Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich dich vier Tage lang nicht erreicht habe. Wow, hast du mit einem Hummer im Kochtopf den Platz getauscht? Und dann diese Haute Couture!“

Ondragon setzte sich kommentarlos auf die Bettkante und bemühte sich, nicht auf Charlizes taubengraues Negligé zu achten, dessen Träger ihr über die Schulter gerutscht war. Sie sah verdammt sexy aus.

„Es ist einiges passiert“, begann er und ließ eine nüchterne Darstellung seiner unfreiwilligen Sumpfexpedition und der Geschehnisse in Sterns Haus folgen. Am Ende bat er Charlize, ihrerseits zu berichten, was sie in Miami in Erfahrung gebracht hatte.

„Nun, Mr. Alejandro Green, bekanntlich letztes Mitglied der Mittel-und Südamerika-Crew, war nicht aufzufinden. Ich habe sein Haus zwei Tage lang beschattet.“

„Hast du es auch untersucht?“

Charlize sah ihn an.

Natürlich hatte sie. Ondragon machte eine beschwichtigende Geste, damit sie fortfuhr.

Hai, ich war nachts im Haus. Aber bis auf diesen Brief, den du auch bei Ellys und Stern gefunden hast, und Greens geheime Waffenkammer habe ich nichts Ungewöhnliches entdecken können.“

Ondragon fiel ein, dass er Dr. Strangelove anrufen musste. Er seufzte. Er musste so viele Dinge dringend erledigen. „Hast du den Brief mitgebracht?“, fragte er.

Charlize nickte. „Luftdicht in Plastik verpackt. Das war er allerdings schon, als ich ihn gefunden habe. Der Umschlag war ungeöffnet. Ist das nicht seltsam?“

„Nein, denn das bedeutet, Green hat zumindest meinen Rat befolgt. Dass er nun gleichfalls verschwunden ist, wundert mich nicht. Das passt in das Schema dieses beschissenen Falls. Und …“ Ohne den Satz zu Ende zu sprechen, sprang er auf und riss die Tür des Zimmersafes im Schrank auf. Leere stierte zurück. „Fuck! Ich bin ein verdammter Trottel!“

„Der Safe stand schon offen, als ich vor zwei Tagen in dein Zimmer kam, Chef. Ich dachte, du hättest ihn aufgelassen, weil ohnehin nichts drin war.“

„Es war aber etwas drin. Der Safe ist aufgebrochen worden, zwar ohne erkennbare Spuren, aber die Sachen, die ich hineingelegt hatte, sind verschwunden. Verfluchte Scheiße!“

„Glaubst du, es waren dieselben Typen, die dich entführt haben?“

„Mit Sicherheit.“

„Und was könnten sie mit den Sachen anfangen wollen?“ Charlize dachte wie immer sehr analytisch.

„Weiß ich nicht. Vielleicht Spuren verwischen. In dem Safe waren eigentlich nur mein Notizblock, der Computer und das Handy vom Springer Bolič. So ein Mist, hätte ich doch gleich Rudee darauf angesetzt!“ Ondragon schlug mit der Faust auf die Schranktür, frustriert von seiner eigenen Dummheit, den Computer damals nicht sofort ans Netz gehängt zu haben. Er ging zu seiner Reisetasche, die noch immer neben dem Bett lag, und sah nach, was seine Entführer noch so alles mitgenommen hatten. Aber bis auf das Ersatz-Magazin für seine Sig Sauer war alles da. Nachdenklich sah Ondragon sich um. Der Notizblock war nicht so wichtig. Er war bisher eh nur sehr mager mit Informationen gefüllt gewesen. Aber er würde eine neue Waffe brauchen.

„Paul-san?“

„Ja?“

„Ich habe noch eine gute Nachricht.“ Charlize klopfte neben sich aufs Bett.

Ondragon kam der Aufforderung nach und setzte sich.

„Dein Baby steht unten in der Tiefgarage.“

„Der Mustang? Und wie ist er hierhergekommen?“ Zwar war seine Erinnerung an den Abend in Sterns Haus und die Jagd auf den vermeintlichen Zombie verschwommen, aber er war sich ziemlich sicher gewesen, sein Wagen stünde noch immer dort draußen in Chalmette.

„Eine gewisse Madame Tombeau hat den Wagen hierhergebracht und mit mir Kontakt aufgenommen. Sie war es auch, die das Zimmer für dich weiterbezahlt hat, bevor ich nach New Orleans kam.“

„Ach, ja? Und wie hat sie das Auto ohne Schlüssel gefahren? Und überhaupt, wo hat sie gesteckt, als ich entführt wurde? Sie war plötzlich verschwunden.“

Charlize nickte. „Sie hat mir von eurem Besuch in Sterns Haus berichtet und, dass ihr jemanden verfolgt habt. Mari-Jeanne …“

„Mari-Jeanne?“

„Ja, Madame Tombeau.“

Ondragon schürzte die Lippen. Seine Assistentin und die Voodoo-Queen duzten sich also schon.

„Nun, sie hat jedenfalls berichtet, dass du zu schnell warst und sie nicht hinterherkam, weil sie Highheels trug, und dann hat sie aus dem Nichts einen Schlag auf den Kopf bekommen. Als sie wieder zu sich kam, warst du verschwunden. Sie hat dich noch gesucht, aber nicht finden können. Dann ist sie zum Auto zurück und hat festgestellt, dass es offen war. Sie hat dort bis zum Morgengrauen auf dich gewartet. Als du aber auch dann nicht aufgekreuzt bist, hat sie das Auto kurzgeschlossen und es zum Hotel in die Tiefgarage gefahren. Beinahe jede Stunde hat sie an der Rezeption nach dir fragen lassen und dein Zimmer schließlich verlängert, nachdem man ihr mitgeteilt hatte, dass die Reservierung auslaufen würde. Sie begann sich ernsthaft Sorgen zu machen und rief mich schließlich an.“

„Und woher hat sie deine Nummer?“ Ondragon wusste nicht, was er davon halten sollte. Irgendwie hegte er Misstrauen gegen die Voodoo-Priesterin. Vielleicht hatte sie das alles eingefädelt, um ihn von der Existenz ihres Hokuspokus‘ zu überzeugen.

„Du hattest ihr am selben Abend eine deiner Visitenkarten gegeben, eine von denen mit meiner Nummer drauf.“

„Oh, habe ich das?“

Charlize nickte, schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett.

Ondragon kam nicht umhin zu registrieren, dass der Saum ihres Negligés nur bis kurz unter ihren wohlgeformten Po reichte. Er wandte den Blick ab und betrachtete die Kunstrepliken an der Wand, während Charlize in ihrer Handtasche kramte. Als sie gefunden hatte, wonach sie suchte, trat sie vor ihn und hielt ihm den Gegenstand unter die Nase. Es war ein iPhone.

„Ich habe es vorgestern im Applestore gekauft. Neue Sim-Karte, alte Nummer. Du musst es nur noch neu einrichten.“

„Woher wusstest du …?“

Sie machte eine wegwerfende Geste. „Ich hab‘s mir gedacht.“

Lächelnd nahm Ondragon das Handy entgegen. Charlize war manchmal selbst ihm einen Schritt voraus. Was würde er nur ohne sie tun? Er schaltete das Handy ein, loggte sich ins Internet ein und lud sich über eine sichere Verbindung sämtliche Daten, Nummern und alles, was sonst noch auf dem alten Telefon gewesen war, in verschlüsselter Form auf das neue. Dann musste er nur noch ein Passwort eingeben und die Dateien installierten sich von allein. Kinderleicht und idiotensicher. Rudee, sein thailändisches Computergenie, hatte auf einem geschützten Server eine Cloud für ihn eingerichtet, in der alle seine sensiblen Daten gespeichert waren. Verlor er sein Handy oder seinen Laptop, brauchte er nur ein neues Gerät, und mit einem Klick war alles wieder da. Zusätzlich hatte Rudee die Software so programmiert, dass sich niemand in das Telefon einhacken konnte. Alle Inhalte löschten sich automatisch, wenn das Passwort nur zweimal falsch eingegeben wurde. Einem Unbefugten war es somit quasi unmöglich, seine Daten zu lesen.

Das iPhone gab einen Piepton von sich und die gewohnten Icons erschienen auf dem Display. Ondragon öffnete die App für das Aufspüren von Wanzen – ein Spezial-Gimmick von Rudee – und marschierte eine Weile mit Blick auf das Display durch das Zimmer. Derweil nutzte Charlize die Gelegenheit und verschwand im Bad. Ondragon hörte die Dusche und stellte sich lieber nicht vor, wie seine Assistentin darunter aussehen mochte.

Nachdem er keine versteckte Abhöreinrichtung hatte entdecken können, beendete er den Scan und checkte im Schnelldurchgang seine Mails und entgangenen Anrufe. Er sah die Nummer von Roderick DeForce und drückte auf Rückruf. Es war an der Zeit, Klartext zu reden.

„Hi, Ecks. Mann, bin ich froh, dass du dich meldest! Deine Assistentin hat mich vor zwei Tagen angerufen und mir mitgeteilt, du seiest verschwunden“, erklärte Rod mit deutlich hörbarer Erleichterung.

„Ich habe ganz schön in der Scheiße gesteckt, Rod.“ Ondragon ließ seine Stimme absichtlich vorwurfsvoll klingen. „Aber ich bin nochmal glimpflich davongekommen. Habe mich sozusagen selbst am Zopf aus dem Sumpf gezogen wie Münchhausen.“

„Wie wer?“

„Ach, vergiss es.“ Offenbar kannte Rod die Legenden vom deutschen Lügenbaron nicht. „Hat dir Charlize berichtet, dass Bolič und Sylvester Stern tot sind und Alejandro Green ebenfalls verschwunden ist?“

„Ja, sie hat mir alles erzählt. Gibt es etwas Neues?“

Ondragon überlegte. Aus einem unerfindlichen Grund hatte er plötzlich das Gefühl, als wüsste Rod mehr, als er zugeben wollte. „Nein, nichts. Aber du könntest mir zur Abwechslung mal etwas Neues erzählen!“

„Was meinst du?“

War Rod so unwissend, oder gab er sich nur so?

„Na, auf was für einen verdammten Höllentrip du mich da angesetzt hast!“, antwortete Ondragon gereizt. „Hör mal, du solltest nicht vergessen, dass es nicht mehr so ist wie früher! Ich bin nicht mehr dein Mailman, der alles tut, was du ihm aufträgst. Heute kann ich den ganzen Kram einfach hinschmeißen, wenn mir danach ist. Und ich bin kurz davor! Also, raus mit den Fakten, die du mir bist jetzt vorenthalten hast!“

Das Schweigen am anderen Ende dauerte genau so lange, dass es Ondragon bestätige, wie richtig er lag. Rod hatte ihm nicht alles erzählt. Bemüht, deswegen nicht auszurasten, wartete er ungeduldig auf eine Antwort.

Sein alter Freund räusperte sich. „Ecks, bitte entschuldige mein undurchsichtiges Vorgehen. Das hat nichts mit mangelndem Vertrauen dir gegenüber zu tun. Ich weiß, dass du der richtige Mann für diese Sache bist. Ich wollte dir nur nicht sofort alle Informationen geben, weil ich fürchtete, ich könnte damit deinen objektiven Blick beeinflussen. Ich wollte, dass du dir eine eigene Meinung bildest, ungeachtet meines von mir vorgefertigten Standpunktes. Es hätte ja sein können, dass ich mich irre und du zu einem vollkommenen anderen Ergebnis gelangst. Es …“

„Wir sind Freunde, verdammt nochmal! Du hättest es mir sagen müssen“, fiel Ondragon ihm bissig ins Wort, „Aber ich nehme deine Entschuldigung an. Meine Geduld ist jedoch am Ende und auch mein Wille, mich gefährlichen Situationen auszusetzen, die ich womöglich hätte voraussehen können, wenn ich ein wenig mehr Informationen von dir bekommen hätte. Also bitte, hör auf, um den heißen Brei herumzureden. Das beleidigt meine Intelligenz! Gib mir das, was du mir vorenthalten hat, und ich entschließe mich vielleicht, den Fall weiterzubearbeiten!“

Ein Seufzen drang aus dem Telefon. „Asche auf mein Haupt, Ecks. Es tut mir wirklich leid, falls ich dich gekränkt habe. Ich hoffe, du weißt, dass ich niemals auf die Idee kommen würde, dich zu unterschätzen. Also …“, Rod machte ein Pause, „es ist so: Ich habe noch keine Beweise dafür, aber ich habe den Verdacht, dass es bei einem der Aufträge für die MSC Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Die Berichte der Beteiligten gingen arg auseinander. Das hat mich stutzig gemacht.“

Da Ondragon in die internen Abläufe von DeForce eingeweiht war, wusste er, dass nach einem Job zwei Mailmen unabhängig voneinander einen Rapport über den Verlauf der Mission abzuliefern hatten. Das gehörte zu den Kontrollmechanismen von DeForce, welche die Loyalität seiner Mitarbeiter garantieren sollten.

„Lass mich raten, Rod. Es geht um den Haiti-Einsatz?“

„Das ist richtig.“ Sein Freund klang nicht verwundert.

„Ich muss zugeben, dass ich mich über die Art des Auftrags gewundert habe. Ich dachte immer, DeForce macht nicht auf Privatarmee, sondern nur Transporte. Dass ihr jetzt auch Bomben ‚liefert‘ und der Fremdenlegion Konkurrenz macht, ist mir neu. Willst du dein Geschäft erweitern?“

Rod räusperte sich. „Nein, nicht direkt. DeForce ist und bleibt ein Logistik-Spezialist. Aber der Auftrag war sehr lukrativ. Ich meine sehr lukrativ! Aber nicht nur deshalb hatte ich ihn angenommen. Durch den Auftraggeber hatte ich mir erhofft, in neue Kundenkreise vorzudringen. Denn der Sponsor ist eine ganz große Nummer auf dem Markt. Leider hatte ich von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Ich hätte darauf hören sollen.“

„Schon gut, Rod. Auch ein alter Hase wie du rennt mal übers falsche Feld. Das werfe ich dir nicht vor. Lediglich die mangelhafte Aufklärung im Vorfeld. Ein wenig mehr Information hätte mich nicht wie einen Dilettanten in die Falle tappen lassen. Ich erspare dir die Details. Und jetzt hätte ich gerne noch weitere Auskünfte, bevor ich mich entscheide, den Fall weiter zu bearbeiten. Zum Beispiel: Wer hat die Berichte geschrieben?“

„Green, der Head, und Stern als Body.“

Das hatte Ondragon sich gedacht, denn es war üblich, dass immer der Anführer der Crew und der Rangniedrigste einen Bericht schrieben. Er fischte sich den kleinen Block vom Nachttisch, den das Hotel seinen Gästen bereitlegte, und notierte sich die Angaben. „Und wer ist der Auftraggeber?“

„Ich wusste gleich, dass ich mich nicht darauf hätte einlassen sollen.“ Roderick De Force seufzte. „Was soll‘s, jetzt ist es eh zu spät. Eigentlich darf ich den Auftraggeber um keinen Preis an einen Dritten verraten, aber du würdest den Fall augenblicklich hinschmeißen, wenn ich es nicht täte, stimmt’s?“

„Korrekt.“

Well, dann hab ich wohl keine andere Wahl. Der Sponsor ist ein großes, börsennotiertes Biotech-Unternehmen namens Darwin Inc. mit Stammsitz in Portland, Oregon. Seine Hauptgeschäftszweige sind Nutzpflanzenforschung und die Produktion von Herbiziden, Düngemittel und Saatgut. Dazu der Handel mit diesen Produkten weltweit. Ihm gehören aber auch noch andere große Ableger wie Fabriken für Spezial-Chemikalien und -Materialien und ein Pharma-Unternehmen.“

„Darwin Inc., hm, noch nie gehört, und das, obwohl er ein Global Player ist?“

„Die stehen nicht so auf Öffentlichkeit.“

„Verstehe, wohl Dreck am Stecken.“ Aber welcher große Konzern hatte das nicht, dachte Ondragon und fragte: „Was war das für ein Labor von Darwin Inc. in Haiti und warum dieser geheime Standort?“

„Soweit ich weiß, war es eine kleine, aber hochtechnologisch ausgestattete Forschungseinrichtung für Gentechnik. Und das Labor war deshalb so geheim, weil Darwin Inc. Industriespionage von Konkurrenten fürchtete. Es ist also nichts, was einen beunruhigen könnte. Kein Labor für eine Supergrippe oder Ähnliches.“

„Dann bin ich ja beruhigt“, sagte Ondragon sarkastisch. Er fragte sich trotzdem, was man bei Gentechnik so sehr vor Spionage schützen musste, dass man einen derart abgelegenen Standort wählte. „Wer ist der Kontaktmann bei Darwin Inc.?“

„Diese Daten kann ich dir beim besten Willen nicht geben. Und du darfst dort auf keinen Fall auftauchen und Nachforschungen anstellen, hörst du, Ecks? Das würde den Ruf von DeForce ruinieren! Alles, was ich dir sage, muss geheim bleiben!“

„Keine Sorge, Rod. Ich werde nur darauf zurückkommen, wenn es eine unmissverständliche Spur zu Darwin Inc. geben sollte. Einverstanden?“

„Das Ganze beunruhigt mich, Ecks. Wenn unsere Kunden Wind davon bekommen, dass es bei uns Unregelmäßigkeiten gibt, dann ist DeForce erledigt. Niemand würde uns auch nur noch eine Bananenkiste transportieren lassen. Deshalb bitte ich dich, sei vorsichtig!“ Rods Ton klang beinahe flehend.

Ondragon war überrascht. So kannte er seinen Freund gar nicht. Normalerweise war es Spider, der seine Gegner ins Netz lockte und ohne ein Wimperzucken verspeiste!

In seinem Innern begann der Spürhund zu bellen. Zuerst zaghaft und dann immer lauter. Wenn Rod so etwas wie Angst zeigte, dann war die Sache gefährlicher als vermutet. Und gefährlicher bedeutete mehr Herausforderung. Ondragon fühlte, wie sein Ehrgeiz ihn kitzelte. „In Ordnung, Rod, ich bleibe an dem Fall dran. Und ich werde nichts tun, was DeForce in irgendeiner Weise schädigen könnte. Aber eine Bitte habe ich noch. Schick mir die Berichte von Green und Stern und halte das Equipment bereit. Es könnte sein, dass ich demnächst eine Reise nach Haiti mache.“

„Ecks, ist das denn nötig?“

„Das entscheide ich. Bleib erreichbar, ja? Und schick einen zweiten Springer rüber. Einen, dem du hundertprozentig vertraust. Ich brauche hier noch einen Mann. Die Operationsbasis ist New Orleans. Der Karneval wird eine prima Tarnung sein.“

„Klar. Ich setze noch heute jemanden ins Flugzeug.“

Ondragon verabschiedete sich von seinem Freund und legte auf. Im selben Moment kam Charlize aus dem Badezimmer. Sie war komplett angekleidet, trug eine Jeans und ein schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt und hochgerollten Ärmeln. Ihre langen dunklen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und nur ein dezentes Makeup auf ihre bronzefarbene Haut aufgetragen. Sie bemerkte seinen Blick.

„Ich dachte, etwas Unauffälliges wäre hier im French Quarter angebracht. Noch eine Kamera dazu und fertig ist das Touristen-Outfit.“ Sie schlüpfte in schwarze Sandalen. Ihre Zehennägel waren dunkelrot lackiert.

Ondragon lächelte. Charlize hatte das mit der Tarnung lässig drauf.

„Hier, Chef! Fang!“ Seine Assistentin warf ihm eine Tube mit Aloevera-Gel und einen Klarsichtbeutel zu. „Damit kannst du deinen Sonnenbrand kühlen, das andere hab ich hinter dem Vorhang gefunden.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Danke.“ Ondragon öffnete den Beutel, den er selbst mit einer Sicherheitsnadel in den Falten des Vorhanges am Fenster versteckt hatte. Er enthielt seinen zweiten Satz Papiere: Führerschein, gefälschter US-Reisepass, Kreditkarte und ein paar Hunderter. Die Deppen hatten sie nicht gefunden.

„Hast du was dagegen, wenn ich schon mal zum Frühstück runtergehe?“, fragte Charlize.

„Nein, geh ruhig. Ich brauche noch ein Weilchen, um mich auf Vordermann zu bringen. Wir sprechen später über alles. Ich habe neue Informationen von Roderick bekommen.“

Hai, dann bis gleich.“ Sie schulterte ihre Handtasche, in der sie ihren ziemlich großen Revolver verstaut hatte, und verließ fröhlich summend das Zimmer.

Während Ondragon die Spendenkleidung auszog und sich unter die Dusche stellte, überlegte er, wie er weiter vorgehen wollte. Immerhin hatte er einen neuen Faden, an dem er anknüpfen konnte: Darwin Inc.

 

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 02 - Totenernte
titlepage.xhtml
Ondragon_02_-_Totenernte_split_000.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_001.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_002.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_003.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_004.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_005.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_006.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_007.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_008.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_009.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_010.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_011.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_012.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_013.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_014.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_015.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_016.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_017.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_018.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_019.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_020.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_021.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_022.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_023.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_024.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_025.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_026.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_027.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_028.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_029.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_030.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_031.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_032.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_033.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_034.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_035.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_036.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_037.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_038.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_039.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_040.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_041.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_042.html
Ondragon_02_-_Totenernte_split_043.html