Prolog
12. Januar 2010
Süd-Haiti, auf der Route 208 in Richtung Nan Margot
16.25 Uhr
Der Himmel drohte mit Regen. Die Wolken hingen in den Bergen, als wollten sie diese verschlingen. Grau fraß der Dunst sich die steilen Hänge hinab und löschte die Sicht auf Felsen und Bäume.
Christine Dadou beeilte sich. Sie wollte nicht nass werden. Wollte nicht, dass ihre schöne neue Schuluniform, ein rosa Kleid, für das ihre Mutter eisern gespart hatte, mit dem Schmutz der unbefestigten Straße besudelt wurde. Denn bei Regen verwandelte sie sich innerhalb von Sekunden in einen schlammigen Fluss.
Mit eingezogenem Kopf eilte Christine weiter und dachte an ihren Vater. Seit seinem Verschwinden vor drei Monaten war das Leben ihrer kleinen Familie noch beschwerlicher geworden. Sein mageres Einkommen als Blechschmied fehlte hinten und vorne, oft mussten Christine und ihr kleiner Bruder nach der Schule der Mutter bei der Arbeit auf dem Feld helfen. Christine war neun und ihr Bruder sieben. Sie besaßen nicht viel, lebten in einer kleinen Hütte aus Brettern und Wellblech auf einem winzigen Stück Land, auf dem sie Mais, Bananen und Kürbis anbauten. Zum Glück verlief hinter dem Grundstück ein kleiner Bach, so mussten sie das Wasser für den Haushalt wenigstens nicht von weit her schleppen wie einige ihrer Klassenkameradinnen. Das war der einzige Luxus, den sie hatten.
Christine bog auf den schmalen, steilen Pfad ein, der die Serpentinen der Passstraße abkürzte. Er führte durch einen Wald aus Kapok-und Gummibäumen. Christine kannte jeden Stein und jede Biegung, doch heute im Nebel der tiefhängenden Wolken wirkte der Pfad unheimlich und fremd. Wie ein Weg in die Geisterwelt.
In die Welt der Loas.
Dem Mädchen fröstelte, obwohl tropische Schwüle herrschte. Normalerweise wäre Christine jetzt mit den anderen Schulkindern aus dem Dorf unterwegs gewesen. Sie alle hatten denselben Schulweg und gingen immer gemeinsam, doch heute war ihr nicht wohl und die Lehrerin hatte sie früher aus dem Unterricht entlassen. Christine fühlte sich in letzter Zeit immer trauriger und weinte häufig, weil ihr der Vater fehlte.
Unbewusst hob sie die Hand an die Brust und umklammerte das Gris-Gris, das sie um ihren Hals trug. Ihre Mutter hatte das Amulett von der Mambo im Dorf gekauft. Es war ein Abwehrzauber. Auch ihre Mutter und ihr Bruder trugen eins.
Der Dunst wurde dichter und kroch zwischen den Stämmen der Bäume hindurch den Berg hinab. Ängstlich hob Christine den Blick hinauf ins Geäst. Sie fürchtete, dass Marinette-bois-chèche auf der Jagd war. Ein bösartiger Loa, der gern Menschenfleisch fraß. Marinette flog als Schleiereule verwandelt durch die Wälder und stürzte sich lautlos auf ihre Opfer, um sie zu verschlingen.
Christines Schritte wurden schneller. Der Wald war voller Geister. Sie wohnten in den Bäumen, in den Tümpeln und unter der Erde. Auch Werwölfe trieben sich hier herum. Eindringlich hatte ihre Mutter sie davor gewarnt, mit fremden Frauen mitzugehen, auch wenn sie noch so nett erschienen und ihr Hilfe anbieten würden. Dahinter verbarg sich meistens ein Loup-Garou, der es auf kleine Kinder abgesehen hatte.
Christine spürte, wie ihr Herz immer härter gegen die Rippen schlug. Ihr schmaler Brustkorb hob und senkte sich mit jedem ängstlichen Atemzug. Ihre Mutter sagte auch, dass ein Bokor in der Gegend sein Unwesen trieb, ein böser Zauberer. Desgleichen erzählten die Leute im Dorf davon. Sie behaupteten, dass die blancs, die sich vor drei Jahren oben in der verlassenen Mine in den Bergen niedergelassen hätten, mit dem Bokor zusammenarbeiteten. Denn seit die Fremden da waren, verschwanden immer wieder Menschen aus den umliegenden Dörfern. So auch Christines Vater, Etienne Dadou. Eines Tages war er nicht mehr aus Jacmel zurückgekehrt, wo er auf dem Markt regelmäßig seine selbstgemachten Blechsachen verkaufte. Für die Dorfleute war sofort klar, dass der Bokor der blancs damit zu tun hatte. Aber keiner unternahm etwas. Alle fürchteten sich. Auch Christines Mutter blieb tatenlos. Gegen einen Schwarzmagier könne man nichts machen, außer sich mit Gegenzauber schützen, sagte sie. Aus diesem Grund hatte sie drei ihrer besten Hühner im Tempel gegen die Gris-Gris-Anhänger getauscht.
Christine wusste nicht, was die blancs dort oben in den Bergen trieben, und es war auch verboten, in die Nähe der Gebäude zu kommen, die sie gebaut hatten. Aber natürlich war sie neugierig gewesen. Sie hatte noch nie einen Menschen mit weißer Haut gesehen und sich deshalb über das Verbot hinweggesetzt. Heimlich war sie in die Berge hinaufgestiegen, um einen blanc zu sehen.
Christine horchte auf. Irgendwo vor ihr im Wald hatte es geknackt. Im Nebel erschienen ihr die Silhouetten der Büsche und Felsen wie unheimliche Wesen, doch sie wusste, dass ihre Fantasie ihr nur einen Streich spielte. Dort war niemand.
Ihre Gedanken schweiften wieder zu den Fremden in den Bergen. Ihnen zu begegnen, war zunächst beängstigend gewesen, doch dann hatte sich ihre Furcht schnell in Enttäuschung gewandelt. Sie war ganz nah an das Lager der blancs herangeschlichen, bis zum beißenden Zaun, der dort gespannt war. Unter einem Busch liegend hatte sie so lange gewartet, bis etwas geschah. Nach einer ganzen Weile waren zwei Gestalten aus einem der Gebäude herausgekommen. Sie hatten sich Zigaretten angezündet und sich in einer fremden Sprache unterhalten. Beängstigend war gewesen, dass sie von Kopf bis Fuß weiß waren. Sie trugen weiße Hosen und Hemden und komische Hauben, und ihre Haut war so blass wie die Knochen, welche die Mambo in ihrem Tempel zum Beschwören der Geister benutzte. Die Gestalten sahen aus wie die beiden leibhaftigen Todesgeister: der Kreuzsammler Ramassent-de-croix und General Fouillé, von dem es hieß, er durchwühle nachts die Gräber auf Friedhöfen.
Am liebsten wäre Christine sofort weggelaufen, doch ihre Neugier war stärker gewesen. Und je länger sie den beiden weißhäutigen Wesen dabei zugesehen hatte, wie sie sich unterhielten und miteinander scherzten, desto klarer wurde ihr, dass dies keine Gèdè-Geister waren. Sie sahen zwar aus wie lebendig gewordene Skelette, entpuppten sich aber lediglich als Menschen. Männer aus Fleisch und Sehnen. Enttäuscht hatte Christine den Ort verlassen.
Ein erneutes Geräusch holte sie zurück in die Wirklichkeit.
War da ein Stöhnen zu hören?
Nervös schaute Christine sich um. Der Nebel war inzwischen so dicht geworden, dass sie ihn schmecken konnte. Mit jedem Atemzug floss er über ihre Lippen in ihre Lungen; feucht und mit erdigem Aroma. Wie der Atem des Grabes, dachte sie und erschauerte. Schnell setzte sie sich in Bewegung.
Als der Weg endlich bergab führte, begann sie zu laufen. Das Klatschen der abgetragenen Sohlen ihrer Sandalen auf dem harten Boden vereinte sich mit ihrem hämmernden Herzschlag. Es war nicht mehr weit bis zu der Stelle, an welcher der Pfad wieder auf die Straße führte. Von dort aus konnte man das Dorf schon sehen. Nur noch durch die schmale Schlucht und über den kahlen Buckel und dann …
Plötzlich stand eine Gestalt vor ihr, ragte wie ein Grabstein aus der Erde.
Erschrocken bremste Christine ihren Lauf, um nicht mit ihr zusammenzuprallen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und fiel hintenüber. Sie wollte ihren Sturz abfangen, doch ihre schmalen Handgelenke knickten einfach weg. Ein stechender Schmerz schoss ihre Arme hinauf, und das neue Kleid landete im Schmutz. Tränen traten Christine in die Augen. Mit bebenden Lippen sah sie auf. Sie musste blinzeln, um durch den Tränenschleier etwas erkennen zu können.
Vor ihr stand ein Mann. Ein schwarzer Mann, doch seine Haut wirkte auf merkwürdige Weise weniger schwarz, sondern eher grau. Eine totengleiche Blässe überzog seine Arme und Hände, fast wie bei einem blanc. Er war bis auf die Knochen abgemagert und trug zerschlissene Kleidung, die von seinen Gliedmaßen hing wie zerfetzte Mullbinden. Seine Haltung war gebeugt, sein Gesicht mit Beulen übersät und entstellt.
Leicht schwankend, als hätte er zu viel Clairin getrunken, kam er auf Christine zu. Ein Arm hob sich ihr mechanisch entgegen und ein undefinierbarer Laut drang aus seiner Kehle. Verwesungsgeruch stieg ihr in die Nase.
Hastig rappelte Christine sich auf und wischte sich über die Augen, um besser sehen zu können.
Ihr Atem stockte.
Noch mehr Tränen quollen aus ihren Augen.
„Papa?“, hauchte sie ungläubig, als der feuchte Nebel ihr wieder Luft zum Atmen gab.
Der Mann, in dem sie ihren Vater erkannte, sagte nichts. Seine Augen waren milchig trüb wie bei einem kranken Hund und starrten an ihr vorbei. Aus seinem Mund troff gelblicher Speichel. Er machte einen weiteren schwankenden Schritt auf sie zu. Seine Finger mit den zersplitterten Nägeln bogen sich zu Krallen.
„Papa?”
Plötzlich schoss eine Hand vor und legte sich um Christines Hals.
„Papa! Was machst du?“, brachte sie mit Mühe hervor. Entsetzt starrte sie in das entstellte Gesicht. Brutal presste die Hand ihr die Luft ab. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen.
„Papa, ich bin es!“ Es war ein tonloses Krächzen. Verzweiflung packte Christine. Da fiel ihr das Gris-Gris ein und sie tastete mit einer Hand danach. Sie fühlte ihre Kräfte schwinden. Warum tat ihr Vater das?
Aber sie wusste es längst.
Er war nicht mehr ihr Vater.
Er war ein Zombie Cadavre - ein wiedererweckter Toter!
Mit letzter Kraft riss Christine sich das Schutzamulett vom Hals und stopfte es dem Zombie in den Mund, der ihr so nah gekommen war, dass sein fauliger Gestank sie einhüllte.
Mit einem schrillen Schrei ließ der Zombie von ihr ab und versuchte, sich das Gris-Gris aus dem Mund zu holen. In wilder Raserei drehte er sich um sich selbst und schrie dabei mit seltsam verzerrter Stimme. Beißender Qualm drang aus seinem Mund. Es roch nach verkohltem Fleisch.
Nach Atem ringend sah Christine zu, wie der Zombie sich mit Gewalt den Unterkiefer herunterriss. Knochen knackten und das Gelenk gab nach. Aber der Zombie wütete weiter, ohne Schmerz zu verspüren, bis er schließlich das Gris-Gris in der blassen Hand hielt.
In diesem Moment gelang es Christine, ihren Blick von dem Schreckensbild loszureißen. Ohne auf den kleinen Beutel mit den Schulutensilien zu achten, den sie hatte fallen lassen, rannte sie los. In waghalsig großen Sätzen stolperte sie den Weg hinab, bog hastig auf die Straße ein und lief in Richtung Dorf. Hinter ihr herrschte Stille. Dennoch traute sie sich nicht, sich umzuschauen. Sie rannte, bis ihr die Lunge zu zerspringen drohte. Ihre Muskeln brannten wie Feuer. Bald würden ihre Beine sie nicht mehr tragen können.
Die ersten Regentropfen trafen auf ihre Stirn, als sie mit letzter Kraft die Ansammlung von ärmlichen Hütten erreichte. Sie schrie, doch niemand kam ihr zu Hilfe. Das Dorf war wie ausgestorben. Wo waren alle?
In Panik lief sie zu ihrem Haus. „Mama? Mama!“ Doch auch das war leer. Christine warf die Tür zu und verriegelte sie. Schnell verkroch sie sich unter dem Bett. Gegen die Trommelschläge ihres rasenden Herzens anlauschend blickte sie zur Tür.
Stille.
Dann ein Scharren. War das ihre Mutter? Sie wollte gerade nach ihr rufen, da hörte sie das Stöhnen. Der Schweiß gefror ihr auf der Haut. Er war da vor der Tür. Das schreckliche Bild von der aschfahlen Fratze mit dem ausgerenkten Kiefer ließ sie am ganzen Köper zittern. Christine wusste, dass sie nun nichts mehr tun konnte, falls der Zombie zu ihr in die Hütte käme. Ihr Gris-Gris war weg. Sie hatte keinen Schutz mehr.
An der Tür erklang ein Schaben. Zersplitterte Fingernägel auf rauem Holz.
Der Zombie versuchte, sie zu öffnen, schaffte es aber nicht. Er stieß ein frustriertes Röcheln aus. Gurgelnd, unartikuliert.
Dann erneute Stille.
Ein Scharren an der Seitenwand der Hütte.
Christine wagte es kaum zu atmen. Von der wilden Flucht rauschte ihr noch immer das Blut in den Ohren. Ihre Augen suchten im Dunkel der Hütte nach einer Waffe. Regen begann laut auf das Wellblechdach zu trommeln.
Ein weiteres Scharren.
Plötzlich flog die Tür auf. Ein schwarzer Schatten stand im hellen Viereck. Ein Schatten mit verrenktem Kiefer. Christine schrie auf und versuchte, noch weiter unter das Bett zu kriechen. Sie hörte die schweren Schritte des Zombies. Sie näherten sich dem Bett.
Bondieu, dachte sie, bitte beschütze mich. Dann hörte sie nur noch ein ohrenbetäubendes Donnern. Etwas Schweres stürzte auf das Bett über ihr, und Staub drang ihr in Mund und Nase.
Die Welt wankte. Der Boden bäumte sich auf, als versuchte er, die Menschheit abzuwerfen. Sämtliche Geister der Erde waren erzürnt aus ihrem Schlaf erwacht.
16.53 Uhr.
In der Hauptstadt Port-au-Prince fiel der Regierungspalast in sich zusammen, mit ihm unzählige weitere Gebäude. Zehntausende von Menschen wurden lebendig unter den Trümmern begraben.
16.54 Uhr.
Stille.