11. Kapitel

Im Sumpf

 

Er war in den Swamps. An welcher Stelle war völlig gleich, denn New Orleans war zu allen Seiten von Schlamm umgeben. Das Mississippi-Delta war ein einziger riesiger nasser Vorhof zur Hölle! Mehrere hundert Quadratmeilen nichts als Sumpf. Louisiana, der einzige Staat, der im Süden eine nicht zu kartographierende Grenze besaß, denn tatsächlich lud der Mississippi jedes Jahr Unmengen von neuem Schlick und Sedimenten in den Swamps ab und veränderte ständig die Küstenlinie. Louisiana wuchs von Tag zu Tag weiter hinaus ins Meer.

Und er saß genau hier fest. Na prima!

Seufzend durchsuchte er seine Taschen. Leider fand er weder sein Handy noch das Messer oder die Sig Sauer. Das Halfter baumelte leer unter seiner Achsel. Nicht einmal seine Armbanduhr und die Kaugummis hatten sie ihm gelassen. Schöne Scheiße! Er saß in der Wildnis fest mit nichts in den Händen, das ihm in irgendeiner Weise behilflich sein konnte. Der einzige Unterschied zu der Situation damals in Minnesota war, dass ihn diesmal kein Scheißwald umgab.

Sondern ein Scheißwald im Wasser!

Fast wünschte sich Ondragon, er wäre in der Wüste geblieben, dann hätte er jetzt wenigstens trockene Füße.

Er hob den Kopf und versuchte, mehr von seiner Umgebung zu erkennen. Das Dunkelgrün vor seinem getrübten Auge wechselte allmählich zu einem Schattenblau und schließlich zu einem schlichten Schwarz. Wenigstens war seine schlechte Sicht mit dem Anbruch der Nacht egal geworden. Schwarz war Schwarz. Jetzt musste er sich ausschließlich auf sein Gehör konzentrieren. Ondragon hatte längst festgestellt, dass seine Ohren gar nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren, wie er zuvor angenommen hatte. Denn das Sirren, Klingeln und Trällern waren nicht die Auswirkungen eines Hörsturzes gewesen, sondern die Stimmen der Vögel, Zikaden und Frösche, die gemeinsam ihr abendliches Sumpfkonzert abgehalten hatten. How lovely!

Während er seine Ohren in alle Richtungen aufsperrte, setzte Ondragon wankend und mit nach vorn ausgetreckten Armen einen Fuß vor den nächsten, bei jedem Schritt mit den Zehen tastend, ob der Grund ihn auch hielt. Er musste eine erhöhte Stelle erreichen, am besten einen Baum, auf den er klettern konnte. Nur so würde er die Nacht überstehen, ohne im Schlick zu ersaufen oder von Alligatoren und anderen lautlosen Sumpfschleichern wie Giftschlangen und Spinnen verspeist zu werden. Die Richtung, in die er sich bewegte, war einerlei.

Nach wenigen Schritten stießen seine ausgestreckten Finger gegen etwas Hartes. Er befühlte das Hindernis und erkannte einen Baum mit ausladenden Wurzeln. Wahrscheinlich eine Sumpfzypresse. Rundherum war Wasser. Na, prächtig! Dieser Baum taugte schon mal nicht als Versteck. Ondragon stieß sich von dem Stamm ab und setzte seinen mühsamen Gang durch den saugenden Untergrund fort. Recht bald wurde das Wasser immer tiefer und als es ihm bis über die Hüfte reichte, hielt er an. Vermutlich war er an einen Bayou gelangt, einen der unzähligen kleinen Flüsse, die das Sumpfgebiet durchzogen. Kurz überlegte er, ob er hindurchwaten sollte. Schwimmen wäre besser, sagte ihm sein Instinkt, so würde er wenigstens nicht in dem Schlamm am Grund stecken bleiben. Aber was war, wenn er schwamm und kein gegenüberliegendes Ufer erreichte? Dann würde er womöglich nie wieder in die flacheren Gefilde zurückfinden, geschweige denn zu seinem Ausgangspunkt. Und dann blieb ihm nur noch das Wassertreten … bis ihm die Kraft ausging. Außerdem gäbe er schwimmend perfektes Alligatorenfutter ab.

Also doch waten. Wenn er bloß einen Stock hätte, mit dem er die Tiefe des Schlamms ausloten oder sich die Viecher vom Hals halten könnte.

Das Wasser wurde noch tiefer und hatte schnell seinen Brustkorb erreicht. Ondragon hielt inne und stellte sich die Frage: Umkehren oder weitergehen? Er biss sich auf die Lippen und horchte auf Geräusche. Und tatsächlich hörte er ein Platschen. Direkt hinter sich!

Geh weiter! Wenn dort eine von den hungrigen Riesenechsen lauert, dann bleibt dir nur die Flucht nach vorn!

Er streckte die Arme aus und ruderte damit im Wasser, was sein Fortkommen etwas erleichterte, aber viel Lärm verursachte. Damit würde er die Raubtiere ganz bestimmt anlocken.

Plötzlich verlor er den Grund unter den Füßen und tauchte unter. Prustend kam er wieder an die Oberfläche und hektisch traten seine Beine im dunklen Wasser, fanden aber keinen Grund. Panik erfasste ihn, während er sich in der flüssigen Schwärze umsah. Keine Chance, auch nur den Schwanz einer Bisamratte zu erkennen, keine Aussicht, auf rettenden festen Boden zu stoßen! Ondragon wusste, dass ihm nun nichts anderes mehr übrigblieb. Er holte Luft, legte sich nach vorn und begann zu schwimmen. Nach zehn Zügen kam noch immer nichts. Auch nach zwanzig spürte er nur freies Wasser um sich herum. Es schwappte in seinen Mund und schmeckte leicht salzig. Brackwasser, das tröstete ihn auf der einen Seite, denn zusammen mit dem fehlenden Wellengang war es ein sicheres Indiz dafür, dass er noch nicht auf das offene Meer hinausschwamm. Auf der anderen Seite konnte er es auch nicht trinken, ohne von Montezumas Rache heimgesucht zu werden. Und als sei mit diesem Gedanken seine trockene Kehle an den Mangel an Flüssigkeit erinnert worden, spürte er plötzlich fürchterlichen Durst.

Welch Ironie! Du bist von Wasser umgeben, kannst es aber nicht zu dir nehmen. Unvermittelt kam ihm noch ein weiterer Gedanke. Was, wenn du dich mitten auf dem Mississippi befindest? Er hielt Arme und Beine ruhig und prüfte, ob es eine Strömung gab. Doch das Wasser war still wie in einem Glas.

Schwimm weiter!

Nach einigen Dutzend Zügen spürte Ondragon etwas sein Bein streifen. Er versuchte sich zu beruhigen, indem er sich sagte, es sei ein Stück Treibholz oder Algen gewesen und kein tauchendes Reptil mit zwei Reihen spitzer Zähne im Maul. Er beschleunigte sein Tempo, bis seine Muskeln brannten und seine Lunge schmerzte. Wenn er hier lebend rauskam, musste er seine Schwimmkondition dringend auffrischen.

Sein Atem stockte, als seine Finger schmerzhaft gegen ein Hindernis stießen. Schnell zog er sie zurück und tastete sich dann etwas vorsichtiger wieder vor. Ein erleichtertes Lachen drang aus seiner Kehle. Es war eine Wurzel! Und die Wurzel gehörte zu einem dichten Flechtwerk von vielen weiteren Wurzeln, die wiederum zu einem schenkeldicken Baumstamm hinaufführten. Eine Mangrove! Mit zitternden Armen zog Ondragon sich hinauf in das Geflecht, wo er eine Möglichkeit fand, sich etwas oberhalb der Wasserlinie hinzusetzen und anzulehnen. Dort verharrte er – in den Ästen hängend wie ein nasses Kleidungsstück – bis zum Morgengrauen.

 

Mit einem Ruck erwachte er aus einem kurzen unruhigen Schlaf. Blendendes Licht, juckende Haut und taube Druckstellen am Hintern quälten ihn, und Kleidung, die nach Moder stank. Noch während Ondragon all diese Dinge registrierte, stellte er fest, dass seine Sicht wieder klar war. Sogleich blickte er sich um und checkte seine Umgebung im Licht der aufgehenden Sonne.

Vor ihm lag der zirka achtzig Yards breite Wasserarm, den er gestern Nacht durchquert haben musste und dahinter das schlammige Ufer, gesäumt von Bäumen, deren Wurzelballen direkt im Wasser standen. Es waren massive Sumpfeichen, von deren knorrigen Ästen graue Moosfahnen hinabhingen wie das Haar von alternden Hexen. Er drehte sich um. Hinter ihm erstreckte sich ein schier undurchdringliches Gestrüpp aus Mangroven und anderen Sumpfgewächsen, das von einem schattigen Blätterdach überspannt war. Nicht besonders einladend, aber immerhin gab es hier eine Möglichkeit, sich trockenen Fußes fortzubewegen. Außerdem wusste er jetzt auch, wo Osten war, nämlich zu seiner Linken. Von dort sandte die Sonne ihre ersten Strahlen durch das Geäst und besprenkelte die Wasseroberfläche mit goldenen Lichtpunkten. Ein hübscher Anblick … doch momentan stand ihm der Sinn ganz und gar nicht nach entzückter Naturbetrachtung.

Er schaute nach unten und zog eilig seine baumelnden Beine ein. Keine zwei Armeslängen unter ihm lauerte zwischen den Wurzeln im Wasser geduldig ein Alligator. Er war keine sechs Fuß lang, aber sein breites Maul hatte eine Größe, in die locker ein Basketball hineingepasst hätte. Und das reichte, um bösartige Wunden zu reißen.

Ondragon erhob sich mit steifen Gliedern auf dem schwankenden Geäst und balancierte zum nächsten Wurzelballen, weg von der Bestie im Kroko-Look. Er hatte wenig Lust, herauszufinden, ob irgendwo dort draußen im freien Wasser noch der große Bruder des Reptils wartete. Ein unwillkürlicher Schauer packte ihn bei der Erinnerung an seine Bayou-Überquerung in völliger Dunkelheit. Er hatte mal gehört, dass ein Mississippi-Alligator an die zwanzig Fuß lang werden konnte. Das Vieh konnte einen Menschen binnen weniger Augenblicke verschlingen, ohne auch nur ein Haar übrig zu lassen.

Ondragon verdrängte den Gedanken und versuchte, sich auf seine aktuelle Situation zu fokussieren. Er sah an sich hinab. Wieder ein Anzug versaut!

Ein Moskito wollte sich auf seiner Wange niederlassen und er schlug danach. Diese fliegende Pest hatte ihm noch gefehlt! Fahrig strich er sich den Schweiß von der Stirn. Mit der Sonne war auch die Temperatur rasch gestiegen und erreichte den Punkt des unangenehmen Schwitzens. Ondragon wusste, dass dieser bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 Prozent bei um die 80 Grad Fahrenheit oder umgerechnet 27 Grad Celsius lag. Ein Mensch brauchte mindestens eine halbe Gallone Trinkwasser am Tag – und das ohne körperliche Betätigung und bei mittlerer Außentemperatur. Schon bei einem Wasserverlust bis drei Prozent verspürte man Durst. Bei zehn Prozent wurde es kritisch. Im Kopf überschlug Ondragon schnell, wie lange er es bei solchen Bedingungen ohne Wasser aushalten würde.

Das Ergebnis war niederschmetternd.

Er hatte keine 38 Stunden. Und er wusste nicht, wo er war. Das Sumpfgebiet, in dem er sich befand, konnte so groß sein wie Massachusetts und er würde nahezu planlos darin herumirren, bis die ersten Symptome einer Dehydrierung einsetzen würden: Sprachstörungen, Kopfschmerz und allgemeine Verwirrtheit. Sein Blut würde immer dicker werden und sein Herzschlag sich verlangsamen, bevor ein allgemeiner Kreislaufkollaps ihn niederstrecken würde.

Traumhafte Aussichten!

Deshalb war es umso dringlicher, ruhig über einen möglichen Ausweg nachzudenken. Er lehnte sich an einen Mangrovenstamm und besann sich auf das, was er seinerzeit bei DeForce gelernt hatte. Wenn man irgendwo in der Scheiße saß, lautete die erste Grundregel: Zunächst immer die Fakten sammeln, dann nach einem Ausweg suchen!

Nun gut, Panik konnte er später immer noch schieben. Er blickte sich erneut um und resümierte, was er vor sich sah und darüber wusste. Immerhin saß er nicht in einem völlig fremden Nirgendwo fest, auch wenn es sich so anfühlte. Er war in Louisiana (hoffte er zumindest) und das war ein Staat der USA, einer hochentwickelten Industrienation. Allmählich lief die Zentrifuge warm und brachte aus seinem visuellen Gedächtnisfundus brav alles ans Tageslicht, was er dort zuvor über den Pelican State abgespeichert hatte. Zuallererst stand fest, dass Louisiana auf seinen 43.562 Quadratmeilen die größten Feuchtgebiete der Vereinigten Staaten beherbergte und dazu fast 4,5 Millionen Einwohner. Daraus ließ sich eine Bevölkerungsdichte von 103 Menschen pro Quadratmeile ableiten, welche sich ganz bestimmt nicht auf die Sümpfe bezog! Die meisten Einwohner konzentrierten sich natürlich auf die Großstädte und die weniger schlammige Nordhälfte des Landes. Neben einem gut ausgebauten Netz von Seitenstraßen (was leider wieder nicht für die Sümpfe galt) gab es vier große Hauptverkehrsadern, die durch den Staat führten: den Mississippi als schiffbaren Wasserweg, den Interstate-Highway Nr. 20 im Norden, den diagonal verlaufenden Interstate 49 und den nördlich von New Orleans entlangführenden Interstate 10, der auf Stelzen gebaut war und The Big Easy mit Baton Rouge im Westen und Gulfport im Osten verband.

Südlich von New Orleans schloss sich das Mississippi-Delta an, das hauptsächlich aus Swamps und Bayous bestand und einige verstreute Siedlungen und Straßen aufwies, aber keine größere Stadt. Blieb noch zu erwähnen, dass der höchste Berg Louisianas, der einen nennenswerten Ausblick zu bieten hatte, ganze 535 Fuß hoch war und sich – wo natürlich? – im Norden befand.

Aber da wären wir schon beim Zauberwort angelangt, dachte Ondragon. Ausblick!

Er legte den Kopf in den Nacken. Die Mangroven, die ihn umgaben, waren nicht besonders hoch. Er sah über den Bayou zum anderen Ufer. Wenn es ihm gelänge, eine der Sumpfeichen oder Zypressen dort drüben zu erklimmen und sich einen Überblick über die Gegend zu verschaffen, wäre das schon mal das halbe Rückfahrticket in die Zivilisation. Zu dumm, dass diese Art von Bäumen anscheinend nur auf der anderen Seite des breiten Wasserarmes wuchsen. Ondragon überlegte. Sollte er durch das Mangrovendickicht klettern und hoffen, dass er dort auf höhere Bäume stieß? Oder gar auf Hilfe?

Aber ohne grobe Orientierung loszumarschieren, war reiner Selbstmord.

Durch den Bayou mit einem Alligator um die Wette zu schwimmen auch!

Ondragon war nicht wohl bei der Entscheidung. Sollte er ohne Gewissheit durch den Sumpf irren oder zurück durch den Bayou schwimmen? Wenn er seine irrationale Angst entscheiden lassen würde, so würde er die erste Möglichkeit wählen. Aber er war kein Mensch, der sich durch bloße Gefühlsempfindungen leiten ließ. Zumindest meistens nicht. Er dachte an die vermeintliche Infizierung mit dem Anthrax und seine panische Reaktion. Naja, niemand war perfekt. Aber immerhin konnte er von sich behaupten, dass zumindest die größere Hälfte seines Hirns ein rationaler und kühl denkender Stratege war. Schließlich war auch er ein Ex-Mailman! Und ein solcher ließ seinen Verstand nicht von ein paar Unwägbarkeiten aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil, in Situationen wie diesen blühte er sogar noch auf! Letztendlich hatte dieser außergewöhnlich akkurate Verstand ihm schon unzählige Male das Leben gerettet. Und das würde er auch dieses Mal tun.

Ondragon spürte förmlich, wie sein Gehirn mit mechanischer Präzision die Chancen errechnete. Dabei kam heraus, dass eine Durchquerung des Bayou den größeren Erfolg versprach als eine Wanderung mit ungewissem Ausgang durch die Mangroven. Tja, hoch lebe die Wahrscheinlichkeitsrechnung!

Von frischer Zuversicht beseelt kletterte er zurück an den Rand des Wasserarms und spähte nach unten in das trübe Wasser. Der Alligator war verschwunden. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass er mit seinem erdnussgroßen Hirn der höher entwickelten Intelligenz auf zwei Beinen hoffungslos unterlegen war, und sich aus dem Staub gemacht.

Als Vorbereitung für die Überquerung zog Ondragon sich einen seiner Schuhe aus (die guten aus Leder) und stülpte ihn sich über seine rechte Hand. Er würde ihn dem Alligator zwischen die Zähne schieben, falls er ihn angreifen sollte. Und falls die Attacke nicht von unten kam …

Das Jackett wand er sich um die Hüfte und ließ die ruinierte Krawatte gelockert um seinen Hals hängen. Man konnte nie wissen. Ansonsten war der feine Stadtanzug für einen Survival-Marsch in der Wildnis eher ungeeignet. So waren jedoch nun mal die Fakten.

Ondragon blickte auf den spiegelglatten Bayou hinaus und suchte nach kleinen Kräuselungen, die verrieten, dass sich dort etwas im Wasser bewegte. Aber die Oberfläche des Flusslaufs blieb reglos. Scharf sog er Luft ein, weil er einen kleinen Stich der Angst verspürte. Der unliebsame Begleiter aller Hasenfüße hatte sich heimlich in das Kühlfach seiner Emotionen eingeschlichen und stöberte dort nun ungehindert nach Nahrung. Das konnte er auf keinen Fall zulassen. Mit der harten Geraden seiner unbestechlichen Logik streckte er den Eindringling nieder.

Entweder du schwimmst, oder du krepierst! So einfach ist das.

Kurzentschlossen streckte er die Arme nach vorn und ging in die Knie. Dann stieß er sich ab und tauchte mit einem Kopfsprung ins trübe Wasser. Noch unter der Oberfläche begann er mit langen Zügen zu schwimmen und ging erst, als er wieder hochkam, in einen kraftvollen Kraulstil über. Laut klatschten die Bewegungen in seinen Ohren, was ihn taub für andere Geräusche machte. Aber er hatte keine andere Wahl. Kraulen war immer noch am schnellsten.

Mit einem ruhigen Rhythmus versuchte er, die Geschwindigkeit noch zu steigern, und blickte bei jedem Atemzug über das Wasser. Noch war alles glatt und ruhig. Das gegenüberliegende Ufer kam immer näher. Yard um Yard. Als er zwei Drittel des Wasserarms durchmessen hatte, schreckten vor ihm eine Handvoll Reiher aus dem Schilf auf, und er erkannte etwas Längliches, das sich vom Ufer ins Wasser schob. Doch anstatt innezuhalten, änderte Ondragon um ein paar Grad die Richtung und erhöhte die Schlagzahl. Wieder entflammte der brennende Schmerz in seinen Gliedern und legte sich lähmend auf die Wirksamkeit seiner roten Muskelfasern, die für die Ausdauer zuständig waren. Ondragon spürte einen gewissen Ärger über seine Unzulänglichkeit. So schlecht in Form war er schon lange nicht mehr gewesen. Er schaffte noch nicht mal zwei Beckenlängen Freistil! Wahrscheinlich hatten seine Entführer ihn mit Drogen vollgepumpt, die seine Körperfunktionen immer noch bremsten.

Zu seinem großen Entsetzen zerschnitt plötzlich eine scharfe V-Linie die glatte Oberfläche zu seiner Rechten. Zwei Erhebungen so groß wie Pingpongbälle lugten aus dem Wasser. Die Augen eines Alligators. Ob es derselbe war, der ihm heute Morgen Gesellschaft geleistet hatte, oder ein weit größeres Exemplar, konnte er nicht feststellen. Schnell warf er einen prüfenden Blick nach vorn ans Ufer. Geschätzte zwanzig Yards trennten ihn von dem schmalen Schilfstreifen, der gleichfalls unter Wasser stand. Kein fester Boden also. Würde ihn das schützen?

Es gab keine andere Möglichkeit. Er musste dorthin. Im offenen Wasser war er verloren. Verzweifelt seine Arme in immer kraftloser werdenden Zügen vorwärtswerfend, riskierte er einen Blick zur Seite. Die V-Linie war da und sie war näher gekommen, auch wenn das Reptil ein gemächliches Tempo vorlegte, holte es dennoch mühelos auf. Ondragon mobilisierte all seine verbliebene Energie und ließ die Arme durch das Wasser pflügen.

Denk nicht an das, was hinter dir ist, denk an das, was vor dir liegt! Oder besser, denk überhaupt nicht! Schwimme! Schwimme um dein verdammtes Leben! Eins, zwei, atmen, eins, zwei, atmen. Schneller! Du schaffst es.

Ein harter Schlag traf ihn am rechten Bein und ein jähes Stechen schoss hinauf bis in sein Rückgrat. Überrascht schrie Ondragon auf und rollte sich im Wasser zur Seite. Wild schlug er mit den Armen um sich, und seine Füße traten in die bodenlose Tiefe aus wie die Hufe eines Maulesels. Hastig wandte er den Kopf in alle Richtungen, die Hand mit dem Schuh erhoben. Wo war das Vieh? Natürlich war die V-Linie von der Oberfläche verschwunden und der Alligator auf Tauchfahrt gegangen, damit das Opfer seinen nächsten Angriff nicht vorausahnen konnte. Heimtückisches Biest!

Wieder streifte etwas seine Wade, und vor Schreck geriet Ondragon das moderige Wasser in die Lunge. Hustend bemühte er sich, an der Oberfläche zu bleiben und seinen Blick auf das Ufer zu heften. Es waren nur noch fünf Yards, drei lächerliche Körperlängen! Los, schwimm weiter! Aufgeben ist etwas für Amateure!

Trotz seines schmerzenden Beines und der eklatanten Ermüdungserscheinungen warf er sich nach vorn in die Fluten und kraulte, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Welt bestand nur noch aus braunem Brackwasser, das ihm in Mund und Ohren drang, und dem schäumenden Getöse seiner Schwimmbewegungen. Wie ein Marathonläufer auf der Zielgeraden kämpfte er sich voran … bis seine Füße endlich auf Grund trafen. Mit einem rauen Siegesschrei stemmte er sich aus dem Fluss und wollte auf das Ufer zustürzen, da tauchte neben ihm der Kopf des Alligators aus dem Wasser auf. Lautlos schoss sein Maul vor und präsentierte ihm eine rosafarbene Zunge und die unregelmäßigen Reihen von konischen Reißzähnen. Instinktiv reagierte Ondragon, stopfte dem Reptil den Schuh tief in den Rachen und zog schnell seine Hand wieder zurück.

Der Alligator, der spürte, dass er etwas Festes erwischt hatte, tauchte gurgelnd unter und drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Ondragon nutzte die bei dem Tier einprogrammierte Todesrolle und wand sich mit letzter Kraft an den Uferstreifen, wo er sich hastig zum nächsten großen Baum flüchtete. Es gelang ihm, einen tiefhängenden Ast zu greifen und seine Beine hinaufzuschwingen.

Ungefähr so elegant wie ein Faultier, aber sicher vor dem Alligator, hing er schließlich dort, bis er neuen Atem schöpfen und sich ganz auf den Ast ziehen konnte. Danach dauerte es eine sehr lange Zeit, bis sein Herzschlag sich wieder normalisiert hatte.

 

Irgendwann hob Ondragon erschöpft den Kopf von der rauen Rinde des Astes und sah hinab. Dort kauerte das Mistvieh noch immer im flachen Wasser und wartete. Zum Glück war es sein alter Freund, denn wäre es ein größerer Kollege gewesen, dann hätte er jetzt womöglich statt einer Schnittwunde einen unsauber amputierten Unterschenkel. Ondragon ließ die Arme baumeln und zeigte dem Reptil den Mittelfinger.

„Wir sprechen uns noch, du beißende Handtasche!“ Wenigstens hatte er seinen Humor wiedergefunden, anders war die Scheiße hier auch nicht zu ertragen. Er setzte sich langsam auf, jeden einzelnen Muskel prüfend. Aber bis auf ein dumpfes Ziehen in den Gliedern und das Brennen der Wunde am Bein schien alles okay zu sein.

Gut, dann kommen wir jetzt zum nächsten Projekt, dachte er zynisch. Nach der Amazonasdurchquerung folgt die Besteigung des Mount Everest. Die Dschungel-Olympiade ließ aber auch keine Disziplin aus!

Er schaute hinauf in die Krone der mächtigen Sumpfeiche, auf die er sich gerettet hatte. Der Weg nach oben sah machbar aus. Schließlich kam Klettern gleich nach Schwimmen in der Beliebtheitsskala amerikanischer Individual-Sportarten. Da er keine Zeit zu verlieren hatte, legte er gleich los.

Ast um Ast arbeitete er sich nach oben und durchbrach nach einer quälend langen Ewigkeit endlich das dichte Blätterdach.

Die Aussicht, die sich ihm bot war … ernüchternd.

Der Baum überragte zwar seine Nachbarn, jedoch war von hier aus meilenweit nichts als der grüne Teppich des Sumpfes und der Feuchtwälder zu erkennen, hier und da lediglich von der silbernen Ader eines Bayou durchzogen. Weit und breit keine Zeugen menschlicher Anwesenheit, kein Telegrafen-oder Mobilfunkmast und kein Hausdach.

Enttäuscht knetete Ondragon seine Nasenwurzel. Was sollte er jetzt tun? Hatte er in Wirklichkeit überhaupt eine Chance, oder mühte er sich umsonst ab? Legte er vollkommen sinnlos all seine Hoffnung in eine Illusion?

Matt glitt er wieder in den Schatten des Blätterdachs. Nicht einmal hier oben wehte der Hauch einer Brise, die ihn hätte erfrischen können. In wahren Strömen lief ihm der Schweiß über die gereizte Haut und beschleunigte das Unvermeidliche, die Dehydration. Zusammengesunken hing er in der Astgabel und dachte erneut über seine Lage nach. Er wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte – die Tatsache, dass er keinerlei Werkzeuge zur Verfügung hatte, oder sein Mangel an Proviant. Er brauchte dringend Wasser, das stand fest! Ohne Essen würde er noch etwas länger aushalten. Der limitierende Faktor war definitiv die fehlende Flüssigkeitsversorgung. Unmittelbar trat ein Bild in seine Gedanken: silbrig glänzende Pfützen. Er hatte trinkbares Wasser gesehen … hier auf dem Baum! Ondragon lachte über die Trägheit seiner Nervenbahnen, die das Bild erst jetzt an die grauen Zellen weitergeleitet hatten. Auf dem Weg nach oben hatte er mehrere Astgabeln passiert, in denen Wasser gestanden hatte.

Ondragon stieg hinab zu der ersten mit Wasser gefüllten Astgabel. Nach einigem Zögern warf er seine Bedenken ob der Genießbarkeit über Bord und schöpfte mit einer Hand das klare Nass in seinen Mund. Es schmeckte moosig, schien aber ansonsten recht bekömmlich. Er trank die Astgabel leer und auch die nächste, bis er das Gefühl hatte, seine Speichelproduktion sei wieder angeregt und seine Zunge klebe nicht mehr am Gaumen fest. Da er keine Möglichkeit sah, das Wasser mit sich zu nehmen, leerte er vorsichtshalber auch noch das dritte Wasserreservoir.

Auf dem untersten Ast angekommen begrüßte ihn die schlanke Silhouette des Alligators im Wasser, und in seinem Ohr sang Sir Elton John leise Crocodile Rock. Wie sollte er das Biest bloß loswerden? So ein Alligator konnte Tage, wenn nicht Wochen ausharren. Wahrscheinlich verdaute er gerade in aller Seelenruhe seinen Schuh.

Wenn ich ein Messer hätte, Freundchen, dann würde ich Kroko-Sushi aus dir machen! Ondragon ließ den Blick von dem Reptil in die Ferne schweifen. Erst einmal sollte er sich überlegen, in welche Richtung er überhaupt gehen wollte. Nach Norden, dachte er und hoffte, dass sich dort der Interstate 10 befand. Diese Richtung würde er wenigstens auch nachts einhalten können, indem er den Polarstern nutzte. Den Bayou würde er jedenfalls nicht noch einmal durchschwimmen.

Eine halbe Ewigkeit grübelte er darüber nach, wie er die schwimmende Gucci-Tasche loswerden sollte, aber ein adäquates Patentrezept wollte sich einfach nicht einstellen. Missmutig registrierte Ondragon, dass sich die Sonne schon wieder auf der absteigenden Bahn befand. Ein oder zwei Uhr, schätzte er. Sein Blick blieb an seinen Füßen hängen, der eine in Socken, der andere im Schuh. Ein einzelner nützte ihm nicht mehr viel.

Endlich erleuchtete der ersehnte Geistesblitz die dunklen Wolken seiner Einfallslosigkeit. Rasch wand er sich die Krawatte vom Hals und legte das Holster ab. Beides verknotete er zusammen mit seinem Gürtel zu einer langen Leine, an der er den Schuh mit den Schnürsenkeln befestigte. Mal sehen, ob sich Mr. Caiman nicht ein wenig ärgern ließ. Vielleicht verschwand er ja, wenn man ihn zu sehr stresste.

Let’s dance! Ondragon seilte den Schuh ab und ließ ihn auf den Rücken des Alligators klatschen. Das Raubtier ging unter und war nicht mehr gesehen. So viel zum Stresstest von Reptilien.

Ondragon wollte den Schuh hochziehen, da spritzte das Wasser auf und der Kopf des Alligators erschien mit geöffnetem Maul und schnappte nach dem Köder. Rasch zog Ondragon an der Behelfsleine und konnte den Schuh gerade noch retten. In seinem Kopf hörte er Roy Scheiders Stimme in Jaws: „I think, we‘re gonna need a bigger boat!“

Erneut ließ er den Schuh hinab und triezte das lauernde Tier, das sogleich zum Angriff überging. Wieder schnappte es ins Leere und platschte zurück in die braune Brühe. So ging es eine ganze Weile, bis es so schien, als verliere der Alligator die Lust an dem Spiel. Beinahe beleidigt zog er sich vom Baum zurück und beäugte ihn aus gebührender Entfernung.

Zufrieden holte Ondragon die Leine ein. Er würde das Vieh schon kleinkriegen, und wenn nicht mit Waffen, dann mit Psychoterror.

Plötzlich tauchte ein zweiter Kopf aus dem Wasser auf. Und kurz darauf ein dritter, noch viel größerer. Durch das Theater waren noch andere Alligatoren aus der Umgebung angelockt worden. Ondragon wurde blass. Schöner Mist! Das war gründlich nach hinten losgegangen. Jetzt saß er endgültig hier fest!

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 02 - Totenernte
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