26. Kapitel
15. Februar 2010
Nan Margot, Haiti
15.30 Uhr
Die Zeit war um, und Ondragon und Rod gingen zu der Madame, die doch tatsächlich beim letzten Patienten angelangt war. Eine erstaunliche Leistung, das musste er ihr zugestehen. Blieb nur abzuwarten, wie viele der armen Kreaturen die Kräuter-Behandlung überleben würden. Mit geschultertem Gewehr trat er neben sie und machte sich einen Spaß daraus, ihr mahnend auf die Schulter zu tippen.
„Ja doch, ich bin sofort fertig!“, zischte sie und strich dem Patienten, einem traurig dreinblickenden Mann mit kantigem Kopf, über die Hand. Dabei sprach sie beruhigend auf ihn ein. Als der Mann sich endlich erhob und sich mit dankbarem Nicken zurückzog, atmete die Madame auf und erhob sich ebenfalls. Mit einem Stöhnen streckte sie ihren Rücken.
„Ich warte!“, mahnte Ondragon.
„Jetzt machen Sie mal keinen Stress. Ich hab ja, was Sie wollen.“ Sie ging ein paar Runden um den bemalten Mittelpfosten des Peristyls. „Das war anstrengend, ich muss mir mal ein bisschen die Beine vertreten.“
Ungeduldig tippte Ondragon mit den Fingern auf den Kolben seines Gewehres, und die Madame hob beschwichtigend die Hände, als sie seinen Blick auffing. „Gut, gut, ich komme ja schon.“ Sie trat vor Ondragon, spreizte die Finger und legte, als beginne sie eine Aufzählung, einen Finger auf den Zeigefinger der offenen Hand. „Fangen wir bei der Mine an. Die jungen Leute wissen nicht allzu viel darüber, am meisten hatten die Alten darüber zu erzählen. Deren Großeltern haben noch in der Mine gearbeitet. Sie ist seit achtzig Jahren geschlossen. Es wurde zwölf Jahre lang Silber abgebaut, dann war das Vorkommen erschöpft. Dementsprechend ist die Mine nicht besonders groß. Zwei Hauptschächte, einen Seitenschacht, der waagrecht in den Berg führt, aber vor Jahren eingestürzt ist, und – da gehen die Angaben auseinander – fünf bis acht Stollen, die kreuz und quer durch den Berg verlaufen. Eine Karte hat nie existiert. Der Abbau verlief nach uralten Methoden mit reiner Muskelkraft und ohne große technische Hilfsmittel wie mit Druckluft betriebene Meißel, elektrische Fördertechniken oder Loren auf Schienen. Die Männer bearbeiteten den Fels mit Schlägel und Eisen, mit der Hand wurde das Erz dann in Körbe verfrachtet und diese mit Winden oder Eseln über Tage gebracht. Wie im Mittelalter. Tja, damals hatte man sich auch unter der Besatzung der Vereinigten Staaten nicht viel aus menschwürdigen Arbeitsbedingungen gemacht – allerdings muss ich zugeben, dass es heute auch nicht viel besser ist.“ Die Madame strich sich nachdenklich mit der Hand über das Haar. „Das Erz wurde über einen schmalen Pfad ins Dorf hinuntergeschafft, wo es in einer Mühle zerkleinert und das Silber in großen Wannen mit der, wie ein älterer Mann sagte, méthode l’amalgame gewonnen wurde.“
„Das Amalgamverfahren. Pures Gift. Dabei wird das Quecksilber, das sich mit dem Silber verbindet, verdampft und nur das Silber bleibt zurück“, erklärte Rod. „So etwas wird im Übrigen heute noch in den Goldminen Südamerikas praktiziert. Hässliche Sache und natürlich auf Kosten der einheimischen Bevölkerung.“
„Hmm, lecker. Dann sollten wir diesen Teil des Dorfes wohl besser meiden.“ Ondragon bedeutete der Madame fortzufahren.
„Dennoch hatte die Mine dem Dorf damals zu etwas Wohlstand verholfen. Als sie geschlossen wurde, ging es bergab, und die Leute lebten seitdem nur noch von dem, was die kärgliche Landwirtschaft abwarf.“ Ihr Finger wanderte auf den Mittelfinger. „Kommen wir jetzt zur inoffiziellen Wiedereröffnung. Vor drei Jahren kam eine Gruppe Weißer und hat viel Material in die Berge hinaufgeschafft, mit Hubschraubern und Trägerkolonnen. Anders ist die Gegend nicht erreichbar. Aber auch hier gehen die Angaben auseinander – die einen sagen, es waren Amerikaner, die anderen sagen, es waren Franzosen.“
„Vielleicht Kanadier.“
„Möglich. Ich habe nach dem Firmennamen gefragt. Keiner kann sich erinnern, etwas gehört oder gesehen zu haben. Sieht ganz danach aus, als hätten die von Darwin Inc. gewollt, dass sie inkognito bleiben.“
„Also tatsächlich eine geheime Forschungseinrichtung“, sagte Ondragon.
„Mit Sicherheit aber von der haitianischen Regierung gedeckt“, warf die Madame ein, „denn die lässt keine ausländischen Firmen ins Land, ohne nicht dafür vorher die Hand aufgehalten zu haben. Wenn blancs ins Land kommen, wird abkassiert. Das ist allgemeine Praxis. Blancs sind Goldesel. Wenn das Erdbeben und das dadurch entstandene Chaos nicht wären, könnte ich mit einigen Telefonaten vielleicht herausbekommen, ob eine derartige ‚Absprache‘ im Vorfeld stattgefunden hat. So wird es aber unmöglich sein, den Verantwortlichen ans Telefon zu bekommen. Wenn wir wieder in den Staaten sind, kann ich es trotzdem versuchen.“
Aha, dachte Ondragon, das war doch mal eine Info! Die Madame hatte Kontakt zu den haitianischen Behörden. Sie war also doch mehr als eine Voodoo-Priesterin. Vielleicht die Tochter eines Politikers oder andren hohen Tieres und deshalb ihr Einfluss.
„In Ordnung“, sagte er schließlich. „Haben die Leute aus dem Dorf irgendetwas darüber gesagt, was in dem Labor vor sich gegangen ist?“
„Nein, denn der Ort rund um den Schacht war hermetisch abgeriegelt. Ein sehr hoher, elektrischer Zaun und bewaffnete Wachen schützten ihn. Es war verboten, dorthin zu gehen. Und es hieß, dass ein Bokor mit den blancs zusammenarbeitet und alle Eindringlinge bestraft, die es wagen sollten, dort zu erscheinen. Daran haben die Dorfbewohner sich gehalten, sie hatten Angst vor dem Bokor.“
„Könnte eine sehr effektive Kampagne von Darwin Inc. gewesen sein“, meinte Rod.
Die Madame nickte zustimmend. „Schon möglich. Es ging sogar soweit, dass immer wieder Leute aus dem Dorf verschwanden. Es heißt, der Bokor der blancs hätte sie zu sich geholt und zu Zombies gemacht. Das bringt uns zu den jüngsten Geschehnissen.“ Die Madame blickte Ondragon eindringlich an, während ihr Finger zum Ringfinger hüpfte. „Ich weiß, dass Sie nichts mehr davon hören möchten, und in diesem Falle gebe ich nur das wieder, was die Leute mir erzählt haben. Zuletzt verschwand ein Mann namens Etienne Dadou aus dem Dorf. Das war vor vier Monaten. Seine kleine Tochter berichtete jedoch, ihn kurz vor dem Erdbeben gesehen zu haben, dort oben an der Straße. Er sei ein Zombie gewesen, hätte sie bis zu ihrem Haus verfolgt und sei dann vom Beben vertrieben worden. Ihre Mutter habe die Mambo des Dorfes verständigt und sie gebeten, ihren Mann zu suchen und zu retten. Vor fünf Tagen ist diese Expedition in die Berge aufgebrochen, um Etienne Dadou aufzuspüren. Heute kam einer der Jungen wieder … und wir wissen ja, wie er zugerichtet war.“ Die Madame verzog beinahe schmerzhaft das Gesicht. Sie schien doch gar nicht so abgebrüht zu sein, wie sie tat.
Ondragon beschloss, ihr noch eine Chance zu geben. „Das heißt also, der Zombie läuft jetzt immer noch dort oben rum, bewaffnet mit einer Machete oder Axt?“
„Ja, vermutlich“, entgegnete die Madame.
„Und die anderen Mitglieder der Expedition? Wie viele waren das, haben sie das herausgefunden?“
„Fünf: die Mambo, Madame Dadou, ihre neun Jahre alte Tochter und zwei Tempelgehilfen, einer von ihnen war der Junge.“
„Warum zum Teufel nimmt man Kinder zu so etwas mit?“
Die Madame zuckte mit den Schultern.
Ondragon schüttelte den Kopf. Manche Sitten waren ihm ein Rätsel. „Na, fein. Dann gehen wir mal davon aus, dass der Rest dieser dubiosen ‚Forschungsreise‘ auch tot ist und dort oben gerade vor sich hin fault.“ Er wies auf die kreisenden Geier am Himmel und sah dann wieder die Madame an. „Aber mit Ihnen haben wir ja eine hervorragend ausgebildete Zombiejägerin an unserer Seite, Madame. Sie wissen, was zu tun ist, falls wir einem Untoten begegnen. Deshalb wollten Sie doch mitkommen, oder? Sie wollten mich vor dem bösen Zauber des Bokor beschützen.“
Die Madame blitzte ihn böse an, ohne etwas zu sagen.
Ondragon war es egal, wenn sie sich von ihm gekränkt fühlte. Sie musste lernen, damit klarzukommen. Er holte sein Handy hervor und sah auf das Display. Keine Nachricht von Charlize. Was aber nicht daran lag, dass das Roaming in Haiti schlecht war. Sie bekamen hier sogar einen prima Empfang, denn offenbar waren die Funkmasten beim Beben stehengeblieben.
Erst heute Morgen hatte er mit seiner Assistentin telefoniert, kurz bevor sie an Land gegangen waren, und sie gebeten, sie möge sich mit ihren Recherchen beeilen. Denn ihm wäre deutlich wohler, wenn er mehr Informationen über das Labor und mögliche Zwecke bekäme, bevor sie sich dahin aufmachten.
„Wird uns einer aus dem Dorf zum zweiten Schacht führen?“, fragte er die Madame und steckte das Handy wieder weg.
„Ich glaube kaum.“
„Dann brauchen wir eine genaue Beschreibung oder noch besser eine Zeichnung. Veranlassen Sie das?“
Ergeben winkte die Madame den La Place heran, der in einigem Abstand im Schatten eines Baumes gesessen und sie misstrauisch beäugt hatte. Sie sprach einige Worte mit dem grauhaarigen, etwas untersetzten Mann, der träge nickte und schließlich auf seinen Stummelbeinen davonwatschelte.
„Er wird jemanden holen, der uns den Weg beschreibt.“ Die Madame zog sich den Arztkittel aus, stopfte ihn in den Rucksack und trank durstig aus ihrer Wasserflasche.
„Na, hoffentlich heute noch!“, knurrte Ondragon und sah dem Zeremonienmeister mit dem Entengang nach.
„Kann uns der Zombie aus den Bergen gefährlich werden?“, fragte Rod unvermittelt. Er war neben die Madame getreten, und seine Miene zeigte viel zu deutlich sein Unbehagen, fand Ondragon.
Die Madame stieß ein trockenes Lachen aus und entgegnete in sarkastischem Ton: „So wie er für diesen Jungen gefährlich geworden ist, denke ich.“
Rod schien damit nicht zufrieden zu sein. Er legte gedankenvoll einen Finger an die Unterlippe und fragte: „Aber kann das nicht auch ein … normaler Mann getan haben?“
„Sicherlich. Ich behaupte ja auch nicht, dass es ein Zombie war, der Junge hat es mir zugeflüstert, bevor er starb. Er sagte, er hätte mit dem Untoten gekämpft. Aber eines ist dennoch seltsam.“
„Was denn?“, wollte Rod wissen.
„Ich wundere mich darüber, dass es die Mambo und die Shanpwel, die Mitglieder der Geheimgesellschaft, die es auch hier im Ort geben muss, akzeptiert haben, dass hier ein fremder Bokor sein Unwesen treibt. Normalerweise wird so jemand vertrieben oder gar getötet, es sei denn, er wurde von den Shanpwel autorisiert, seine schwarze Magie zu praktizieren.“
„Madame, Sie sagten doch vorhin selbst, es sei möglich, dass das mit dem Bokor eine Kampagne von Darwin Inc. sein könnte“, warf Rod ein. „Gehen wir doch mal einen Schritt weiter. Vielleicht war es gar kein fremder Bokor. Könnte der Zauberer nicht aus der Geheimgesellschaft selbst stammen und könnte dieser nicht von Darwin Inc. engagiert sein?“
„Soll das heißen, die Priester hier im Dorf haben mit Darwin Inc. zusammengearbeitet und den bösen Zauber verbreitet, damit die Leute im Dorf nicht neugierig werden und sich von dem Labor fernhalten?“, fragte Ondragon.
„Könnte doch sein.“ Rod zuckte mit den Schultern.
Die Madame schwieg für eine Weile.
„Nun, für Geld hat schon so mancher Priester mit beiden Händen gedient, den Loas sowie den Diabs“, sagte sie schließlich geheimnisvoll, ohne einen von ihnen anzusehen.
Ondragon warf ihr von der Seite einen prüfenden Blick zu. Was, wenn sie mit beiden Händen diente?
„Ich weiß, was Sie gerade denken, Monsieur Ondragon!“ Die dunklen Augen der Madame blitzten in seine Richtung. „Aber es ist nicht so, das schwöre ich Ihnen beim Ti-bon-ange meines Vaters. Meine linke Hand dient nicht den Teufeln.“
„Aber Sie könnten es, wenn Sie wollten, stimmt’s?“
Bevor sie antworten konnte, kam der La Place über den Hinterhof geschlurft, begleitet von einem athletisch gebauten jungen Mann mit fleckigen Shorts und bloßem Oberkörper. Der Zeremonienmeister sagte etwas und dann sprach der Bursche. Die Madame streckte Ondragon fordernd eine Hand entgegen, und dieser reichte ihr wortlos seinen Notizblock und einen Stift.
Eifrig begann sie, die Angaben des jungen Mannes zu notieren. Seine Stimme war ein verhaltener Singsang … und seine schwarzen Pupillen huschten nervös hin und her wie zwei gehetzte Tiere.
Er war die Angst in Person!
Das hätte sogar Ondragons Oma erkannt.
Als der Bursche fertig war, lief er schnell davon und hinterließ einen Geruch von Schweiß und Staub.
„Wissen wir jetzt, welchen Weg wir nehmen müssen?“, fragte Ondragon ungeduldig.
„Ich denke schon“, die Madame tippte mit dem Stift auf den Block.
Ondragon warf theatralisch beide Hände in den Himmel. „Gelobt sei der Herr und alle Gottheiten des Voodoo, dann können wir ja endlich aufbrechen!“
Nachdem sie einen kleinen Happen gegessen hatten, packten die drei alles zusammen und schulterten ihre Rucksäcke. Die Helme ließen sie hinten an einem Gurt baumeln, denn es war noch immer viel zu heiß, um sie aufzusetzen. Stattdessen wickelte Ondragon sich ein olivgrünes Tuch um den Kopf. Er war nicht scharf auf einen zweiten Sonnenstich.
Sie verließen das Dorf in nördlicher Richtung, passierten den trostlosen Friedhof und die Mauerecke, an der der Junge gestorben war und die durch dunkle Blutspuren im Sand markiert war. Ondragon warf einen Blick hinauf zu den Geiern, die als schwarze Striche über dem Bergkamm schwebten. Die geflügelten Aasfresser wussten mit großer Sicherheit eine Antwort auf den Verbleib der Expeditionsgruppe.
Er schob sich die Sonnenbrille auf den Scheitel und unterzog das immer steiler werdende Gelände vor sich einer genauen Betrachtung. Zwischen dem trockenen Buschwerk und den paar mickrigen Bäumen ragten nichts als gelbliche Felsen aus dem sonnenverbrannten Boden. Wo vor einem halben Jahrhundert wahrscheinlich noch üppig grüner Regenwald gestanden hatte, wirkte nun alles ausgedörrt und tot. Ähnlich wie in manchen Teilen Afrikas hatten auch hier die Einwohner rücksichtslos Holz für ihre Kochfeuer geschlagen, und die Berge waren zu Wüsten geworden; staubige Hänge, auf denen nichts mehr wuchs, weil sie nicht mehr in der Lage waren, das Regenwasser zu speichern. Nur noch Kakteen gediehen hier.
Ondragon sah wieder auf den ausgetretenen Pfad, der sich wie eine gelbe Schlange die Bergschulter hinaufwand, und setzte mit Bedacht einen Fuß vor den anderen. Er führte die Gruppe an, sein Gewehr schussbereit vor dem Körper, was den Aufstieg nicht unbedingt erleichterte, und auch die verdammte Kevlarweste ließ ihn tierisch schwitzen. Aber er wollte auf jeden Angriff gefasst sein. Die Madame lief hinter ihm, schwer bepackt und mit der improvisierten Karte in der Hand. Immer wieder hielt sie Ausschau nach den beschriebenen Wegmarken. Am Schluss folgte Rod, das M16 ebenfalls griffbereit. Aber trotz aller Routine schien auch der Brite wachsamer als sonst zu sein. Ondragon hörte, wie er mehrmals angestrengt Luft ausstieß und sich räusperte. Ein deutliches Anzeichen für die Anspannung, unter der sein Freund stand.
Yard für Yard erklommen sie in der Hitze mühsam den Berg. Nach einer halben Stunde legten sie eine kurze Pause ein, um zu verschnaufen und etwas zu trinken. Die Serpentinen führten weiter rechts den Berghang hinauf. Sie hatten bereits die Hälfte der Strecke bis zum Kamm hinter sich gebracht. Ondragon blickte zurück auf das Dorf, das auf der dunstigen Ebene unter ihnen lag. Irgendwie war er froh, dass sie diesen trostlosen Ort verlassen hatten, und er verspürte auch wenig Lust, jemals wieder dorthin zurückzukehren. Glücklicherweise würde sie ihr Rückweg weiter östlich am Dorf vorbei zur Küste führen.
Sie setzten sich wieder in Bewegung und erreichten nach einer weiteren halben Stunde den Kamm. Hier endete der Weg abrupt vor einer Felswand.
„Blast!“, entfuhr es Rod. „Und wo geht es jetzt lang?“ Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Was für eine Affenhitze!“
Ondragon sah zur Sonne, die schon deutlich dem Horizont entgegengesunken war.
In knapp eineinhalb Stunden würde sie untergehen, dachte er. Bis dahin hätten sie die Mine hoffentlich erreicht.
Die Madame konsultierte derweil angestrengt die Wegbeschreibung. „Ich glaube, wir müssen dort lang“, sagte sie und wies auf zwei fast identisch runde Felsen.
„Sie glauben?“, fragte Ondragon gereizt. Es stank ihm ganz gewaltig, dass nur die Madame den Weg zur Mine kannte. Obwohl kennen auch etwas zu optimistisch ausgedrückt war.
Sie rollte mit den Augen. „Dass Sie aber auch jedes Wort auf die Goldwaage legen müssen! Ich meinte, ich bin mir sicher, dass es dort langgeht. Die Beschreibung lautete, man sollte zwischen den Marassa Pierres hindurchgehen, dahinter soll es einen nur schwer erkennbaren Pfad geben, der den Grat entlang nach Norden führt. Und die beiden Felsen dort sehen doch aus wie steinerne Zwillinge, oder nicht?“
Ondragon nickte mit finsterer Miene und ging voran. Vorsichtig in alle Richtungen spähend stieg er zwischen den beiden mannshohen Felsen hindurch und blickte auf der anderen Seite in den Abgrund eines Canyons. Ein schmaler Sims führte an der Felswand des Grates entlang. Das war der Weg. Ondragon pfiff, damit die anderen ihm folgten.
In einem quälend langsamen Gänsemarsch hangelten sie sich den gefährlich schmalen Pfad entlang – zu ihrer Rechten die Felswand und zu ihrer Linken der steil abfallende Hang zum Flusstal. In der Ferne erhob sich der blaugraue Rücken des gezackten Bergmassivs, der sich in der Dämmerung allmählich violett zu färben begann. Sie würden sich ranhalten müssen, wenn sie die Nacht nicht hier auf dem Sims verbringen wollten.
Erschöpft gelangten sie an das Ende des Saumpfades und blickten auf eine baumbestandene Senke, die sich einige hundert Fuß unter ihnen auftat. Ondragon sah erneut hinauf in den Himmel. Die Geier waren verschwunden. Er griff zu seinem Fernglas und suchte das Gelände ab. Er erkannte die viereckige Konstruktion des hohen Stahlzauns, eine Wellblechhütte, in der vermutlich ein Generator stand, angrenzend daran zwei große Treibstofftanks, einen abgeknickten Sendemast, eine Lichtung mit einem Hubschrauberlandeplatz und weiter rechts schimmerten die weißen Metallschachteln der Wohncontainer zwischen den Bäumen hindurch. Daneben konnte Ondragon zusammengestürzte Gebäudeteile im dichten Grün des Waldes ausmachen. Das musste der gesprengte Eingang zur Mine sein. Das umzäunte Gelände wirkte verlassen, trotzdem wollte er es mit der nötigen Vorsicht betreten.
Er gab Signal und machte sich daran, den anderen beiden voran den Hang hinabzusteigen. Nach wenigen Yards empfing sie die erfrischend grüne Vegetation der Senke und es wurde spürbar kühler und dunkler. Das lag aber nicht nur am dichten Blätterdach des Waldes … Ondragon sah auf die Uhr. Es war 18.12 Uhr. In wenigen Minuten würde auch die Sonne verschwinden und die tropische Nacht buchstäblich über sie hereinbrechen. Er beeilte sich, einen Weg durch das Unterholz zum Zaun zu finden.
Plötzlich stoppte er.
Der Geruch, der ihm in die Nase wehte, war unmissverständlich.
In der Nähe verweste irgendetwas vor sich hin.
Er bedeutete den anderen, auszuschwärmen und nach der Quelle des Gestanks zu suchen.
Die Madame fand sie schließlich und machte Ondragon und Rod mit einem erstickten Laut darauf aufmerksam. Mit einer Hand vor dem Mund und der anderen auf einen Busch zeigend, stand sie da. Tränen standen in ihren Augen, als Ondragon neben sie trat und die Zweige des Busches zur Seite bog.
„Na, da hätten wir Mitglied Nummer zwei der Expedition“, sagte er trocken und beugte sich zu dem verstümmelten Leichnam hinab, dem die Geier mit chirurgischer Präzision längst sämtliche Weichteile entfernt hatten. Leere Augenhöhlen starrten ihn an, aber Gesicht und Körper waren definitiv weiblich. „Die Mutter oder die Priesterin?“
Die Madame wagte einen kurzen Blick. „Der Kleidung nach die Mambo!“, stieß sie hinter der vorgehaltenen Hand hervor und wandte sich schnell wieder ab.
„Die gleichen Wunden, wie bei dem Jungen“, stellte Rod sachlich fest.
Es stimmte. Mehrere Schnitte übersäten die Arme der Toten, doch tödlich war vermutlich der tiefe Spalt gewesen, der zwischen ihrem Hals und der Schulter klaffte.
„What a mess! Muss ein mächtiger Hieb gewesen sein. Außerdem fehlt der Frau die halbe rechte Hand. Der Schlag kam bestimmt von vorn und sie hat versucht, ihn abzuwenden. Ich tippe auf Machete, für eine Axt sind die Schnitte zu lang.“
Ondragon nickte. Er kannte all die Arten von Verletzungen, die eine Machete verursachen konnte.
Aus Afrika.
Lang vergessene Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Ein niedergebranntes Dorf, zerhackte Körper von Männern und Frauen, die sich geweigert hatten, ihre Kinder für den unseligen Krieg der Rebellen herzugeben. Bei seinen Jobs für DeForce hatte er so einiges gesehen. Manches hatte ihn nicht tangiert, manches doch. Deshalb hatte er damals begonnen, den Rest seiner Gefühle ins Gefrierfach zu verlagern.
„Wie lange liegt sie dort schon tot?“, hörte er die Madame in seine Gedanken hinein fragen.
„Hmm.“ Rod lehnte sich vor und stieß die Leiche mit der Gewehrmündung an. Der Körper war längst nicht mehr steif. „Mindestens vier Tage, schätze ich.“
„Und was machen wir jetzt?“ Der Madame war ihre Beklommenheit deutlich anzusehen. Blässe hatte sich über ihre dunkle Gesichtshaut gelegt.
„Wir machen weiter wie geplant, suchen den Zaun und sehen uns danach auf dem Gelände um“, antwortete Ondragon. „Ich will mir einen ersten Eindruck verschaffen, um für morgen einen Plan zu entwickeln. Wenn alles klar ist, ziehen wir uns an den Berghang zurück und errichten unser Lager an einer Stelle, von der aus wir einen guten Überblick über das Terrain haben. Und jetzt los, wir haben nicht mehr viel Zeit, bis es dunkel wird. Ich gehe vorweg. Und Rod, du sicherst nach hinten.“
„Aye!“
Sie setzten sich in Bewegung und schlichen weiter durch den dschungelartigen Wald. Schon nach wenigen Minuten versperrte ihnen ein zehn Fuß hohes Stahlgebilde den Weg.
„Das ist aber mal ein Sicherheitszaun!“, sagte Rod ehrfurchtsvoll und mit gedämpfter Stimme. „Aber wo ist das Loch, das meine Mailmen hineingeschnitten haben?“
„An der östlichen Seite, so stand es im Bericht“, flüsterte Ondragon.
„All right. Let’s go!“
Plötzlich knackte es hinter ihnen im Gebüsch.
Ondragon und Rod fuhren gleichzeitig herum und zielten mit ihren Sturmgewehren auf das undurchdringliche Grün. Auch die Madame lauschte gebannt und mit geblähten Nasenflügeln, die Hand an der Desert Eagle im Holster.
Doch das Geräusch kam nicht wieder.
„Verdammt!“, knurrte Ondragon. „Was immer das auch war … wir gehen jetzt leise den Zaun entlang bis zu dem Loch. Haltet eure Stirnlampen bereit, es wird gleich stockdunkel sein.“
Er pirschte den Zaun entlang, bis zur nächsten Ecke, wo er innehielt und den Weg ausspähte. Die Schatten um sie herum wuchsen in die Länge und leckten mit ihren schwarzen Zungen nach ihnen. Aber es waren statische Schatten, keiner von ihnen bewegte sich in dem nun schnell schwinden Tageslicht.
Geduckt schlich Ondragon weiter. Noch ließ er die Stirnlampe ausgeschaltet und verließ sich ganz auf seine sensiblen Sinne. Seine Pupillen weiteten sich und ließen ihn die verschiedenen Schattierungen des Dschungels erkennen. Er fühlte die Temperatur auf seiner Haut sinken und roch die erdigen Gerüche der Nacht, die vom Boden her aufstiegen. Die verhaltenen Schritte seiner Begleiter waren die einzigen Geräusche, die sein Gehör aus der Dichte der Dunkelheit herausfiltern konnte.
Das Loch im Zaun war nicht besonders groß, aber man konnte bequem hindurchschlüpfen.
„Lampen an!“, flüsterte Ondragon auf der anderen Seite seinen beiden Begleitern zu.
Rod und die Madame nickten und drehten ihre Stirnlampen auf die hellste Stufe. Wie kleine Suchscheinwerfer durchkreuzten die hellen Strahlen die Nacht. Binnen einer halben Stunde hatten sie das dunkle Gelände und die Wohncontainer abgesucht, und noch einmal 15 Minuten brauchte Ondragon, um den gesprengten Eingang genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die Mailmen hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Erde und zerschmetterte Teile aus Beton und Stahl hatten sich im Schacht zu einer abweisenden Masse verkeilt. Ohne Bagger – no Chance. Hier würden sie nie durch die Trümmer in das Labor gelangen. Sie würden tatsächlich den zweiten Schacht benutzen müssen. Aber den konnten sie erst morgen in Augenschein nehmen.
Ondragon gab Zeichen abzuziehen. Sie verließen das Gelände durch das Loch und kehrten so schnell, wie es die Vorsicht zuließ, auf die vegetationsfreie Hangschulter zurück, wo sie nach einer Weile eine sandige Mulde entdeckten, die annähernd eben war und einen guten Ausblick in alle Richtungen bot. Erschöpft und mit angespannten Nerven luden sie ihr Gepäck ab. Rod und die Madame begannen mit der Zubereitung eines kleinen Abendessens, während Ondragon sich mit seinem Handy und dem Notizblock ein wenig abseits setzte. Er brauchte etwas Ruhe, um seine Gedanken zu sammeln, und das leise Gespräch der anderen beiden störte ihn dabei nur.
Er schaltete sein Handy an und wählte Charlizes Nummer.
„Chef? Alles klar bei euch?“, meldete sich die vertraute Stimme seiner Assistentin.
„So weit ja, wir sind an der Mine angekommen, werden morgen hoffentlich ins Labor vorstoßen und uns dann wieder auf den Rückweg machen, sofern nichts dazwischenkommt. Und? Hast du schon etwas herausgefunden?“
„Bisher nur ein paar nette Skandälchen. Ich habe dir die Daten per E-Mail geschickt. Ansonsten bin ich noch nicht weitergekommen. Werde morgen versuchen, Kontakt zu den Mitarbeitern aufzunehmen. Wird nicht einfach werden, das Betriebsgelände rund um die Darwin-Laboratorien ist schwer gesichert. Da komme ich mit meinen üblichen Tricks nicht rein. Aber ich werde mir schon etwas einfallen lassen. Es sei denn, ich bin bis dahin erfroren, brrr. Was für ein Scheißwetter hier. Temperauren um den Gefrierpunkt und Neuschnee!“
„Tja, hier ist es auch nicht besser. Viel zu heiß und kein Pool in Sicht! Aber Scherz beiseite, hast du etwas Verdächtiges bemerkt? Ist dir jemand gefolgt?“ Ondragon machte sich Sorgen, dass seine Entführer sich an Charlizes Fersen geheftet hatten.
„Nein, bisher ist mir niemand gefolgt, und ja, Paul-san, ich werde vorsichtig sein. Jetzt schone aber mal deinen Akku. Ich melde mich per SMS wieder, wenn ich was Neues habe. O-yasuminasai!“
„Dir auch eine gute Nacht, Charlize.“ Er legte auf, ging in seine Mailbox und öffnete die Datei. Schnell überflog er den Inhalt und schaltete das Handy wieder aus. Der Akku reichte noch einen Tag. Er musste sparsam damit umgehen. Mit der Stirnlampe auf die niedrigste Stufe gestellt begann er, das soeben Gelesene in seinen Notizblock zu übertragen.
Es waren vier Zeitungsartikel aus dem Internet. Der eine behandelte einen Skandal aus den siebziger Jahren, bei dem eine Tochterfirma von Darwin Inc., ein bekanntes Chemie-Unternehmen, in einer kleinen Stadt in Oklahoma ihre PCB-verseuchten Abfälle in einer privaten Tongrube entsorgt hatte. Das Gift gelangte in das Trinkwasser und viele der Einwohner wurden schwer krank oder starben gar an den Folgen. Die geschädigten Familien reichten Jahre später eine Sammelklage ein. Der Prozess zog sich über zwei Dekaden, aber am Ende wurde Darwin Inc. schuldig gesprochen. Dem Konzern konnte nachgewiesen werden, dass er jahrelang von der Toxizität von PCB gewusst, es aber weiterhin bequem in der Grube entsorgt hatte. Zähneknirschend zahlte Darwin Inc. die über 300 Millionen US-Dollar Schadensersatz an die Opfer. Bis heute waren die Produktionsstätten in Oklahoma mit PCB kontaminiert.
Ondragon ließ seinen Kugelschreiber klicken.
Tja, die Grundstücke gibt es dort jetzt bestimmt im Dutzend billiger, dachte er ironisch. Bitter für die Menschen, die dort lebten, aber einen PCB-oder Dioxin-Skandal gab es mittlerweile bei jeder dritten oder vierten größeren Firma und war daher kaum etwas Besonderes.
Klick.
Er rekapitulierte den zweiten schon etwas interessanteren Artikel, in dem es hieß, dass sich 2009 sieben Landwirte aus Deutschland mit dem bekannten und weltweit genutzten Herbizid „Weedsweep“ von Darwin Inc. vergiftet hätten. Die Bauern hätten das Pflanzenschutzmittel eingeatmet und dadurch eine Schädigung des zentralen Nervensystems davongetragen. Alle Sieben wurden arbeitsunfähig und zogen vor Gericht. Ihr gemeinsamer Anwalt warf Darwin Inc. vor, die Gefährlichkeit des Herbizids, an dem der Konzern Milliarden verdient, systematisch zu verschweigen. Er forderte, das Produkt vom Markt zu nehmen. Ein Fall, der natürlich weltweites Aufsehen erregte, denn es war der erste, in dem direkt nachgewiesen werden sollte, dass Weedsweep krank mache. Im Laufe des Verfahrens wurde das Herbizid auf seine Inhaltsstoffe geprüft und es kam heraus, dass es tatsächlich bedenkliche Lösungsmittel enthielt. Seitdem erwägten einige Länder ein Verbot von Weedsweep, was derbe Einbußen für Darwin Inc. bedeuten würde. Bislang konnte aber keine Verknüpfung der Inhaltsstoffe des Darwin-Produktes mit der gesundheitlichen Schädigung der Landwirte hergestellt werden.
Klick.
Kein Wunder, dachte Ondragon zynisch. War ja irgendwie klar gewesen. Auch, dass Gutachten und Gegengutachten noch immer die Experten beschäftigten, und der Prozess sich deshalb bis heute hinzog. Eine eindeutige Verzögerungstaktik, gegen die niemand etwas unternehmen konnte. Zusätzlich kündigte ein Sprecher des Biotech-Giganten auch noch an, dass Darwin Inc. erwog, eine Gegenklage wegen Ruf-und Geschäftsschädigung einzureichen.
Klick.
Ondragon lachte bitter. Das war das übliche Säbelrasseln der Großen und mit Sicherheit auch das Ende des Verfahrens, denn gegen die gewieften Anwälte der Konzerne waren Normalbürger machtlos. Die Welt war ein Tank voll mit Scheiße, und man musste nur wissen, wie man sein eigenes Boot über Wasser hielt, damit man den anderen dann getrost dabei zuschauen konnte, wie sie darin ersoffen.
Klick.
Ondragon strich sich nachdenklich über das Kinn. Gab es hier einen ersten Zusammenhang mit Gentechnik und dem Labor in der Mine? Weedsweep war der Verkaufsschlager Nummer eins von Darwin Inc. Die Firma hatte einen genialen Coup gelandet, in dem es Nutzpflanzen designt hatte, die gegen ihr hauseigenes Pflanzenschutzmittel resistent waren. Das bedeutete, die Bauern brauchten nur das Saatgut von Darwin Inc. auszusäen und nachher das dazugehörige Herbizid auf die Anbaufläche aufzutragen. Weedsweep vernichtete alles, außer den Pflanzen made by Darwin Inc. Das war zwar nicht ganz billig für die Bauern, denn Darwin Inc. ließ sich seine grüne Technologie gut bezahlen, aber dennoch eine saubere Sache, die sich am Ende in der Jahresbilanz eines Agrarbetriebs bezahlt machte. Natürlich waren die herbizidresistenten Nutzpflanzen und das Pflanzenschutzmittel patentrechtlich geschützt, und beides bescherte Darwin Inc. jedes Jahr einen konstanten Geldregen. Es war nicht verwunderlich, wenn der Konzern diese Einnahmequelle mit Klauen und Zähnen zu schützen versuchte, dachte Ondragon. Er spürte, wie die Zentrifuge kurz ins Rucken kam.
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Wollte sie ihm etwas mitteilen?
Klick.
Eine Vermutung, die langsam Gestalt annahm?
Klick, klick.
Die nächsten beiden Artikel befassten sich mit einer jener Sorte gentechnisch veränderter Pflanzen, die aus den Darwin-Laboren stammte, genauer gesagt mit der Maissorte DWIN 411. Darwin Inc. hatte diesen Mais nicht nur resistent gegen Weedsweep gemacht, er war zusätzlich auch noch immun gegen jeglichen Befall von Schädlingen. Laut eines euphorischen Firmenberichtes von 2002 war es den Darwin-Biotechnikern gelungen, Gene eines bestimmten Organismus‘ in das Mais-Genom einzuschleusen, der sämtliche Schadinsekten binnen kürzester Zeit abtötete. Um welchen Organismus es sich dabei handelte, hielt Darwin Inc. als Betriebsgeheimnis unter Verschluss – um Konkurrenten nicht zur Nachahmung zu animieren, solange der Mais sich noch in der Testphase befände, wie es hieß.
Klick.
Das würde zwar zu dem passen, was Rod erzählt hatte, dachte Ondragon, klang aber wie eine gezielte Verharmlosung. Genau wie die anderen Statements des Konzerns: das neu entworfene Produkt sei für den Menschen auf jeden Fall ungefährlich, es wirke lediglich im Verdauungstrakt von Insektenlarven tödlich und sei ein Segen für Menschen und Umwelt, denn neben einer Ertragssteigerung beschere der Mais der Umwelt eine geringere Belastung mit Pestiziden, blablabla. Das übliche Gesülze. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Klick.
2005 waren die Fütterungsstudien für DWIN 411 an Versuchstieren abgeschlossen, und die Maissorte wurde vom US-Landwirtschaftsministerium als unbedenklich eingestuft. Kurz darauf erhielt sie ihre Zulassung in den USA. Es folgten Mexiko, Brasilien, Indien und die EU. Soweit, so gut, DWIN 411 gelangte auf die Felder, und der Rubel rollte in die Tasche von Darwin Inc. … wäre da nicht wieder Deutschland gewesen.
Damit befasste sich der letzte Artikel. Die Bevölkerung Deutschlands schien nicht gerade tolerant gegenüber Gentechnik im Allgemeinen und im Besonderen den daraus produzierten Lebensmitteln zu sein. Im Gegensatz zu den USA, wo die Anbaufläche von genmanipulierten Nutzpflanzen bereits haarsträubende 67 Millionen Hektar betrug, gab es in Deutschland keinen nennenswerten kommerziellen Anbau. Kaum war die Wunderwaffe DWIN 411 im Jahre 2005 auf dem Markt, verbot der deutsche Landwirtschaftsminister kurzfristig den Verkauf des Saatgutes. Grund dafür war, dass der Mais angeblich nicht nur schädliche Insekten kille, sondern auch nutzbringende Arten wie Bienen, Schmetterlinge und Käfer – also alles andere Krabbelviehzeugs. Darwin Inc. klagte natürlich gegen das Verbot, verlor aber überraschend den Prozess. Denn tatsächlich konnte ein Rückgang der allgemeinen Biodiversität und nutzbringenden Insekten in der Nähe von DWIN 411-Feldern nachgewiesen werden. Ob das nun aber an dem Mais lag oder anderen Parametern, war jedoch nicht ganz klar. Den Deutschen reichte dieses Ergebnis jedenfalls aus, und daraufhin erneuerte die Bundesrepublik 2006 das Verbot, DWIN 411 auf deutschen Agrarflächen anzubauen, zum großen Ärger von Darwin Inc. Dem Beispiel folgten wenig später Frankreich, Dänemark und Österreich – ein gefährlicher Trend für Darwin Inc., das ein frühzeitiges Aus für seine neueste Erfindung fürchtete und nun mit Hochdruck an einer Verbesserung seines Produktes arbeitete.
Klick.
Nachdenklich kaute Ondragon auf dem Ende des Kugelschreibers herum. Nach was war in dem Labor hier auf Haiti geforscht worden? War es etwas Hochansteckendes für den Menschen oder etwas Gefährliches für die Umwelt? Warum diese Sicherheitsmaßnahmen? Und was war hier so Geheimes im Gange gewesen, dass man dafür sogar die Mailmen beseitigt hatte? War es Darwin Inc. selbst gewesen oder hatte der Konzern nur den Auftrag dazu erteilt, so wie es zuvor DeForce einen Auftrag erteilt hatte?
Unschlüssig schwebte der Stift über dem Block, aber es gab nichts mehr zu notieren. Ondragon wusste es einfach nicht. Auch sah er sich nicht in der Lage, Rod seine Vermutungen mittzuteilen. Er fürchtete, der Brite könne sich persönlich angegriffen fühlen und zu einem unüberlegten Gegenschlag ansetzen – was nicht gut für ihn ausgehen würde, denn bei allem, was Ondragon bereits über Darwin Inc. herausgefunden hatte, war es nicht ratsam, sich mit dem Biotech-Kraken anzulegen.
Klick, klick.
Er steckte den Notizblock weg und kehrte zu den anderen beiden zurück, die mittlerweile ihr spärliches Mahl, bestehend aus kalt angerührtem Kartoffelpüree, einer Hartwurst mit Bacongeschmack und einer in Folie verpackten Eierwaffel, längst vertilgt hatten und nun stumm und mit aufgerissenen Augen auf ihren Schlafsäcken saßen.
„Was ist? Warum schaut ihr, als hättet ihr den Geist von Elvis gesehen?“
„Hast du das nicht gehört?“, flüsterte Rod.
„Nein. Was?“
Kaum hatte er das ausgesprochen, hörte er auch schon ein langgezogenes Heulen von der Senke heraufschallen.