XVII

Bob, ein großer, aggressiver Mann, war der Führer der Berggruppe. »Ich habe gehört, daß du lesen kannst«, sagte er. »Wie kommt das?«

Sos erklärte, wo er seine Ausbildung erhalten hatte.

»Zu schade!« Sos erwartete eine Erklärung.

»Zu schade, daß der nächste nicht lesen kann. Wir hätten dein Talent hier gut brauchen können!«

Sos wartete noch immer. Es war wie vor einem Duell gegen eine unbekannte Waffe im Ring. Bob besaß zwar nicht die spezifische Art des »Todesengels« Tom, doch hatte er einen ebenso merkwürdigen Namen und schien ein ebenso rücksichtsloser Mann zu sein. Ob dieser Wesenszug unter den Geretteten oft anzutreffen war? Wahrscheinlich war er typisch für sie.

Er hatte es selbst erlebt, wie sich die Art und Persönlichkeit eines Anführers auf die Gruppe übertrug. Sos hatte Sols Reich mit einer straffen Organisation, aber auch mit einem Hauch von Fröhlichkeit geformt. Er hatte erreicht, daß die Männer den Punktewettkampf mit Vergnügen austrugen, als ihre Meisterschaft zunahm. Nach seinem Weggehen hatte Tyl geherrscht und es nur noch mit Disziplin ohne Fröhlichkeit geschafft. Die Lager waren todernste Übungsstätten geworden. Merkwürdig, daß ihm das erst jetzt zum Bewusstsein gekommen war!

»Wir haben für dich eine besondere und bemerkenswerte Aufgabe«, fuhr Bob fort. »Ein einzigartiges Unternehmen!«

Da Sos nicht weiter darauf einging, verbreitete sich Bob über Einzelheiten. »Was sich auf der Oberfläche abspielt, ist uns nicht ganz unbekannt. Unkenntnis könnten wir uns auch nicht leisten. Unsere Informationen stammen natürlich zum größten Teil aus zweiter Hand. Unsere Fernsehanlagen reichen nicht weit über den Helikon hinaus. Dennoch haben wir eine bessere Gesamtübersicht als ihr Wilden. Dort oben ist ein Reich im Entstehen! Wir müssen es schleunigst zerstören.«

Offenbar hatte der so großartige Gesamtüberblick Sos' Stellung in dem System dieses Reiches trotzdem nicht enthüllt. Um so mehr war Sos jetzt überzeugt, daß es besser wäre, wenn sie hier nie bekannt würde. Dem Strategen eines solchen Reiches blühte sicher der Flammenwerfer, während ein uneingeweihter, wenn auch gebildeter Wilder sicher war.

»Du hast also noch nichts davon gehört?«

Die Verachtung war versteckt und vielleicht unbewusst. Daß ein Neuankömmling mehr wissen sollte als er, darauf war Bob scheinbar noch nicht gekommen. Die Frage bewies, daß er jeden Verdacht, den er gegen Sos gehegt haben mochte, für unbegründet hielt, wodurch er sich in seinem Vorhaben bestärkt sah.

»Das Reich wird von einem gewissen Sol geleitet und hat sich im vorigen Jahr enorm ausgeweitet. Einige unserer Neuen haben davon gehört. Sogar vom südamerikanischen Block haben wir davon erfahren.«

»Südamerika?« Sos hatte über diesen Kontinent aus der Zeit vor dem großen Brand gelesen. Auch über Afrika und Asien. Er hatte jedoch nicht gewusst, daß er noch existierte.

»Hast du gedacht, wir wären die einzige Einrichtung dieser Art auf der Welt? Auf jedem Kontinent gibt es einen oder mehrere Helikons. Wir sind untereinander verbunden. Einmal haben wir auch Personal ausgetauscht, trotz der Sprachschwierigkeiten. Südamerika ist besser entwickelt als wir. Die sind im Krieg auch nicht so arg mitgenommen worden. Wir haben einen spanischen Funker, und einige von den Südamerikanern sprechen Englisch. Also klappt die Verständigung. Doch das ist alles sehr weit weg. Wenn nun schon diese Leute dort von einem Reich bei uns wissen, dann ist es höchste Zeit, daß wir etwas dagegen unternehmen.«

»Warum?«

»Was glaubst du denn? Was geschieht mit dem friedlichen Gleichgewichtsstatus der Welt, wenn die Wilden wirklich anfingen, sich zu organisieren? Wenn sie ihre eigenen Waffen und Lebensmittel erzeugen? Dann verlieren wir jede Gewalt über sie!«

Sos merkte, daß weitere Fragen sich nur als gefährlich erweisen konnten. »Warum ausgerechnet ich?«

»Weil du der größte und härteste Wilde bist, der sich seit langem zu uns hochgekämpft hat! Du hast dich von den Strapazen des Berges in Rekordzeit erholt. Wenn jemand diese Aufgabe übernehmen kann, dann bist du es! Wir brauchen dafür einen robusten Mann - und das bist du!«

»Wofür«

»Um ins Leben zurückzukehren und das Reich zu übernehmen!«

Falls Bob ihn hatte schockieren wollen, war es ihm jetzt gelungen. Ins Leben zurück! Zurückkehren . . .

»Ich bin nicht euer Mann. Ich habe nämlich geschworen, nie wieder eine Waffe zu tragen!« Das stimmte zwar nicht ganz. Wenn man aber von ihm erwartete, Sol wieder mit der Waffe entgegenzutreten, dann stimmte es. Er wollte nie wieder Sol im Ring gegenüberstehen. Ungeachtet anderer Umstände, wollte er sich an die Abmachung ihrer letzten Begegnung halten. Das war Ehrensache - im Leben oder im Tod.

»Du nimmst einen Eid wirklich ernst?« Bobs Verachtung schwand, als er Sos ansah. »Und was ist, wenn wir dich dazu ausbilden, ohne Waffe zu kämpfen?«

»Ohne Waffe - im Ring?«

»Mit bloßen Händen! So wie dein kleines Mädchen. Dann werden deine kostbaren Gelübde nicht verletzt. Warum zögerst du? Bist du dir nicht bewusst, was das für dich bedeuten kann? Du wirst ein Reich haben!«

Ton und Tragweite des Vorgebrachten hatten Sos aufgebracht. Er durfte sich jedoch nicht weiter sträuben, wollte er nicht Verdacht erregen.

»Und wenn ich ablehne? Ich habe den Berg erstiegen, weil ich sterben wollte!«

»Ich glaube, du weißt bereits, daß es bei uns keine Weigerung gibt! Wenn persönliche Druckmittel oder Schmerz dir nichts ausmachen, wie ich annehme, dann gibt es noch andere Methoden. Im Augenblick sagen dir meine Worte vielleicht noch nichts, aber später würdest du draufkommen.« Und Bob erzählte ihm jetzt Dinge, welche Sos' ersten Eindruck von diesem Mann vollkommen bestätigen.

Sos fühlte sich plötzlich zu dieser neuen Aufgabe geradezu verpflichtet - aber nicht aus dem Grund, den der Herr der Unterwelt vermutete.

»Ins Leben?« fragte Sosa ungläubig, als er ihr davon erzählte. »Dorthin ist noch niemand zurückgekehrt!«

»Ich werde der erste sein. Und ich werde es anonym tun.«

»Aber wenn du zurück willst - warum bist du dann hierher gekommen?«

»Ich will nicht zurück. Ich muß!«

»Aber . . .« Ihr fehlten die Worte. »Hat Bob dich bedroht? Du hättest nicht . . .«

»Das war ein zu großes Risiko, das ich nicht auf mich nehmen konnte.«

Sie sah ihn besorgt an. »Wäre sonst ihr - der Frau, die du ... etwas passiert?«

»Ich vermute etwas von dieser Art.«

»Und wenn du gehst, gewinnst du sie zurück?«

Nach seinem Erlebnis auf dem Beobachtungsdeck war sich Sos bewusst, daß alles, was er sagte oder tat, vielleicht beobachtet wurde. Er konnte Sosa nicht mehr sagen, als ihm Bob gesagt hatte. »Da draußen ist ein Reich im Entstehen. Ich muß gehen und seinen Führer vernichten. Bis dahin dauert es noch ein Jahr, Sosa. Ich werde noch lange nicht dazu imstande sein. Zuerst muß ich noch viel lernen.«

Bob war vielleicht der Meinung, die Aussicht auf ein Reich hätte ihn umgestimmt. Bob dürfte nie erfahren, wo Sos' wahre Treue lag! Wenn man gegen Sol jemanden ausschickte, dann war es besser, wenn es ein Freund von Sol war . . .

»Darf ich deinen Armreif behalten - das Jahr über?«

»Behalte ihn für immer, Sosa! Du wirst meine Ausbildung übernehmen!«

Sie sah ihn traurig an. »Unsere Begegnung war kein bloßer Zufall. Bob wusste bereits, wozu du bestimmt warst, bevor wir dich hereingeschafft haben. Er hat alles vorausgeplant.«

»So!«

»Zum Henker mit ihm!« weinte sie. »Es war grausam von ihm!«

»Nach seinen Überlegungen und seiner Überzeugung war das eben notwendig. Und Bob hat den geeignetsten Weg gewählt, um das zu tun, was getan werden mußte. Du und ich - wir sind eben nur Werkzeuge, die zufällig am besten geeignet sind. So leid es mir tut, Sosa . . .«

»Dir tut es leid!« murmelte sie. Dann aber lächelte sie und versuchte, aus der Situation das Beste herauszuholen. »Wenigstens wissen wir, woran wir sind!«

Sosa übernahm also seine Ausbildung. Sie lehrte ihn Hiebe und Griffe, die sie in der Kindheit von einem Stamme gelernt hatte, der seinen Frauen die Selbstverteidigung beibrachte - und die Unfruchtbaren verstieß. Männer verachteten natürlich die waffenlosen Techniken. Aber ebenso fanden sie es verächtlich, eine Frau zu nehmen, die eine leichte Beute darstellte. Deswegen wurde das Wissen von der Mutter auf die Tochter weitergegeben, wie man einen Mann besiegt.

Sos wusste nicht, welche Mittel Bob hatte anwenden müssen, um Sosa zu bewegen, diese Praktiken an einen Mann preiszugeben. Er fragte auch nicht weiter danach.

Sie zeigte ihm, wie man mit der bloßen Hand Holz spaltet, wie man bloße Füße, Ellbogen und Kopf als Waffe verwendet. Sie zeigte ihm die verwundbaren Punkte des menschlichen Körpers - Stellen, wo ein einziger Hieb betäuben, verletzen oder töten konnte. Sie ließ ihn in angriffslustigem Zorn auf sich losgehen und brachte ihn immer wieder zu Fall. Er mußte sie würgen. Sie brach seinen Griff, als hätte er in seinen zwei Daumen nicht mehr Kraft als sie in zwei Händen! Sie brachte die natürlichen Waffen des Körpers zur Geltung, die so einfach waren, daß die Menschen sie fast schon vergessen hatten: Zähne, Nägel, ausgestreckte Finger, Schädel und sogar die Stimme.

Als er diese grundlegenden Dinge meisterte, lehrte sie ihn zu kämpfen, wenn einzelne Teile des Körpers behindert sind - ein Arm, beide Arme, die Beine, die Augen. Er griff sie blindlings an, mit zusammengebundenen Füßen, mit Gewichten an den Gliedern, nach Genuß einer Droge, die ihn schwindlig machte. Er erkletterte die Hängeleiter, während seine Arme in einer Zwangsjacke steckten. Er schwang sich durch die Stangen, während ein Arm mit einem Fuß zusammengebunden war.

Dann war es damit vorbei. Er mußte in den Operationssaal und sich den Narkosemitteln und Skalpellen ausliefern. Der Chirurg brachte unter der Bauch- und Rückenhaut biegsame Plastikplatten an, die stark genug waren, eine Messer- oder Schwertklinge abzuhalten. Um den Hals bekam er einen Kragen, der sich mit einem Schlüssel öffnen ließ. Arme und Beine wurden mit Metallschienen verstärkt. Das Gesicht wurde umgeformt, die Nase verstärkt, die Wangen mit Nylongewebe ausgefüllt. Kein Teil blieb, wie es war. Er war nicht mehr als Sos zu erkennen. Statt dessen konnte er sich nur schwerfällig, wie ein Roboter, fortbewegen und mußte gegen die Schmerzen der häßlichen Wiedergeburt ankämpfen.

Dann nahm Sos das Training wieder auf. Er arbeitete an den Geräten, die ihm bereits vertrauter waren als sein neuer Körper. Er erklomm die Leiter, turnte an den Stangen, hob Gewichte. Er übte sich im Gehen und härtete seine Hände und Füße ab. Mit der Zeit bildeten sich daran dicke Schwielen. Jetzt konnte Sosa mit voller Kraft - selbst mit einer Stange - Hiebe gegen seinen Magen, Nacken oder Kopf austeilen. Er lachte bloß dazu.

Dann entriss er ihr die Waffe und bog sie mit einem einzigen Griff zu einem S.

»Verdammter Gorilla«, beklagte sie sich. »Du hast ja Schwielen über deinen Schmerzpunkten!«

»Nylonschwielen«, sagte er trocken. »Ich könnte jetzt einen Gorilla zerreißen.« Seine Stimme klang rauh. Der Halskragen verhinderte alle sanfteren Töne.

»Du bist ein großes, häßliches Ungeheuer«, sagte sie und grub ihre Zähne in seine Ohrläppchen.

»Häßlich wie der Teufel«, mußte er ihr recht geben und entzog sich ihr.

»Gräßlicher Geschmack«, flüsterte sie, als sie sein Ohr losließ. »Ich liebe dich!«

Sie preßte die Lippen gegen sein Gesicht und küsste ihn wild. »Sos, bring mich in unser Zimmer. Ich möchte spüren, daß man mich braucht!«

Er gehorchte, doch das Ergebnis war nicht ganz harmonisch.

»Du denkst immer noch an sie«, beschuldigte sie ihn. »Auch wenn wir . . .«

»Das ist vorbei«, sagte er. Es klang nicht sehr überzeugend.

»Es ist nicht vorbei! Es hat noch nicht einmal angefangen. Du liebst sie immer noch, und du wirst zurückkehren!«

»Es ist ein Auftrag. Das weißt du.«

»Sie ist nicht der Auftrag. Jetzt wird es bald Zeit für dich, und ich werde dich nie wiedersehen. Und du sagst mir nicht einmal, daß du mich liebst!«

»Ich liebe dich wirklich.«

»Aber nicht so sehr wie sie.«

»Sosa, man kann sie kaum mit dir vergleichen! Du bist ein warmes, wunderbares Mädchen, und ich würde dich mit der Zeit noch viel mehr lieben. Ich kehre in die Welt zurück, möchte aber, daß du meinen Armreif behältst. Wie soll ich dich sonst überzeugen?«

Sie schmiegte sich an ihn. »Ich weiß, Sos. Ich bin eine eifersüchtige Gans, weil ich dich für immer verliere. Wie werde ich es aushalten? Den Rest des Lebens ohne dich . . .«

»Vielleicht schicke ich dir Ersatz.« Als er das aussprach, klang es gar nicht mehr komisch.

Jetzt erhellte sich ihre Miene. »Tun wir es noch einmal. Jede Minute zählt!«

»Halt ein, Weib! So ein Supermann bin ich auch wieder nicht!«

»Doch, das bist du«, sagte sie. Und sie bewies, daß sie recht hatte.