XIV

Als Sos den Fuß des Berges erreicht hatte, war es Mittsommer. Es war eine merkwürdige Anhäufung aus Lava und Schlacke, die sich über der Ebene erhob. Der Berg war vom Weltenbrand geformt worden, war aber strahlungsfrei. Bis zum Fuß des Berges reichten Sträucher und verkümmerte Bäume. An den Hängen gab es nur mehr Unkraut und Flechten.

Sos blickte bergan, konnte aber den Gipfel nicht sehen. Ein paar hundert Meter vor ihm wurde die Sicht von großen Gebilden aus metallischen, asymmetrischen und häßlichen Blöcken versperrt. Im Dunst über ihm kreisten Raubvögel und beobachteten ihn.

Auf dem Berg wehte ein Wind, der schaurig um die schroffen Zacken heulte. Der Himmel war bedeckt und leuchtete fahl.

Das war also der Berg des Todes. Den Namen konnte niemand mißverstehen.

Sos griff nach seiner Schulter und hob Dummerchen hoch. Hübsch war der Vogel nie gewesen. Seine gefleckten braunen Federn hatten immer zerzaust gewirkt, und die Farbverteilung war rein zufällig. Doch Sos hatte sich während der Zeit ihrer Gemeinschaft daran gewöhnt. »Weiter gehst du nicht mit, kleiner Freund! Ich steige hinauf, um nie wiederzukehren. Aber das ist nicht deine Angelegenheit. Die Geier haben es nicht auf dich abgesehen.«

Er warf den Vogel in die Luft, doch Dummerchen breitete die Flügel aus, kreiste über ihm und setzte sich wieder auf seine Schulter.

Sos zuckte die Achseln. »Ich gebe dir deine Freiheit wieder, und du nimmst sie nicht an. Dumm!«

Es hatte keine Bedeutung, aber er war gerührt. Wieviel an menschlicher Treue und Liebe war bloß Unwissenheit oder Schicksalsbestimmung?

Sos trug noch immer das Lasso, doch nicht mehr als Waffe. Er packte einen schwachen jungen Baum und streifte ihm die Zweige ab, wie Sol es getan hatte. Damit hatte er sich einen Stock für den Aufstieg geschaffen. Er rückte sein schweres Gepäck zurecht und ging weiter.

Die Vorsprünge waren aus Metall, enorme Flächen und Streben, an den Ecken geschmolzen, fest in der Hauptmasse eingebettet. Die Spalten waren mit Steinen und Schmutz gefüllt. Es sah aus, als hätten tausend Männer das Zeug zusammengeschoben und in Brand gesetzt, immer vorausgesetzt natürlich, daß Metall brannte. Vielleicht hatten sie Alkohol darübergegossen? Unsinn. Das hier war das Werk des großen Weltenbrandes.

Auch in diesem Stadium seines Lebens verließ Sos noch nicht die Neugier um das Phänomen des Brandes. Wie war er zustande gekommen? Wie hatte er so verschiedenartige Dinge hervorbringen können - die auf unsichtbare Weise gefährlichen Ödländer und den mächtigen Berg des Todes? Falls er auf irgendeine Weise von Menschen selbst ausgelöst worden war, wie die Irren behaupteten - warum hatten sich die Titanen vor der Weltenwende dazu entschlossen?

Das war das Rätsel aller Dinge, unlösbar, Titanengeheimnis. Die moderne Welt begann mit dem Brand. Was vorhergegangen war, war sagenhaft, Mythologie. Die Irren behaupteten, es hatte vorher eine merkwürdige Gesellschaftsordnung bestanden, eine Welt voll unglaublicher Maschinen, voll Luxus und Wissen und titanischer Gewalt. Von all dem war wenig übriggeblieben. Während Sos diesen Mythen doch Glauben schenkte - die ehrwürdigen Texte waren immerhin ein überzeugender Beweis -, so tat sein nüchterner Sinn doch alles als unbewiesen ab.

Anderen gegenüber hatte er die Geschichte der Vergangenheit als Tatsache hingestellt. Es war aber genauso realistisch, zu glauben, daß die Bücher selbst - zusammen mit den Menschen und der Landschaft - in einem einzigen Augenblick aus dem Nichts durch den Brand geschaffen worden waren.

Sos schob den Aufstieg unnötig hinaus. Wenn er ihn überhaupt unternehmen wollte, so war jetzt die richtige Zeit dafür. Wenn Angst ihn davon abhielt, hätte er es zugeben sollen, statt so zu tun, als philosophiere er. So oder so - Handeln tat not.

Er warf das Seil um ein balkenartiges Gebilde und zog sich hoch. Wahrscheinlich gab es eine leichtere Art aufzusteigen, da die vielen Menschen, die den Weg vor ihm gegangen waren, weder Seile besessen hatten noch wussten, wie diese zu gebrauchen waren. Doch er war nicht hierhergekommen, um einem leichten Weg zu folgen.

Sos kletterte auf die Balkenfläche und zog das Seil nach. Dummerchen, der während der Kletterei weggeflattert war, stürzte hierbei und streifte mit einem Flügel sein rechtes Ohr. Immer die rechte Schulter, nie die linke! Aber nicht für lange. Dieser Überhang war nur der erste von vielen - vertikal und horizontal, gewinkelt, groß, klein und unbestimmbar, gerade, gebogen und verdreht . . . Das würde eine ermüdende und nervenaufreibende Kletterei werden!

Am Abend zog er wärmere Sachen aus seinem Gepäck und verzehrte das feste Brot, das in der letzten Herberge für die Bergsteiger vorrätig war. Eigenartig von den Irren, den Stoff des Lebens für diejenigen bereitzustellen, die den Tod suchten!

Er hatte sich in der Herberge alles angesehen, weil er wusste, er würde dazu nie wieder eine Gelegenheit bekommen. Sogar das Fernsehen. Es war dieselbe stumme, sinnlose Pantomime wie immer. Männer und Frauen, gekleidet wie Irre, die sich in unverhohlener Offenheit bekämpften und küssten, aber nie eine ordentliche Waffe benützten oder handfest der Liebe pflogen. Wenn man sich anstrengte, war es möglich, sich eine Geschichte daraus zusammenzureimen. Doch jedesmal, wenn sich ein Sinn zu ergeben schien, änderte sich die Szene. Andere Typen erschienen und hielten Gläser hoch, in denen eine Flüssigkeit schäumte, oder sie steckten sich dünne zylindrische Stäbchen in den Mund und verbrannten sie. Kein Wunder, daß sich das kein Mensch mehr ansah. Einmal hatte er Dr. Jones über das Fernsehen befragt, doch der Direktor hatte nur gelächelt und gesagt, daß die Verwaltung dieser Technik nicht in seine Abteilung fiele. Alles wurde von irgendwelchen Bändern ausgestrahlt, die noch aus der Zeit vor dem Brand stammten, hatte Jones ihm erklärt.

Sos schob solche Albernheiten beiseite. Er mußte jetzt praktische Dinge überlegen. Er hatte sein Gepäck sorgfältig zusammengestellt, da er wusste, daß ein Mensch überall verhungern konnte, wenn er nicht die nötigen Vorbereitungen traf. Der Berg war ein Vermächtnis, das man nicht mit gewöhnlichem Hunger oder Durst in Zusammenhang bringen konnte. Die Flasche mit dem Stärkungsmittel hatte er schon geleert. Er wusste, in der Höhe würde es eßbaren Schnee geben. Was immer auf ihn lauern mochte - Unterernährung würde es nicht sein.

Was lauerte aber dann auf ihn? Das hatte ihm niemand sagen können, da es sich um eine Reise ohne Wiederkehr handelte und die Bücher darüber merkwürdig zurückhaltend waren. Die Bücher schienen alle kurz vor dem Brand aufzuhören, nur einige Handbücher, die die Irren benutzten, reichten auch in die Zeit nachher. Das konnte ein Beweis dafür sein, daß die Bücher wirklich aus der Zeit vor dem Brande stammten. Sonst waren sie kaum glaubwürdig, da sich keines auf die wirkliche Welt bezog. Bücher und Fernsehen waren Bestandteile der künstlichen und mythischen Sagenwelt, deren Existenz er an einem Tag glaubte und am nächsten wieder leugnete. Der Berg war vielleicht ein neuer Aspekt davon.

Da Sos seine Gedanken von dem Thema nicht losreißen konnte, gab es einen sehr praktischen Weg, sich davon zu befreien. Er wollte den Berg besteigen und selbst nachsehen. Wenigstens der Tod konnte doch nicht aus zweiter Hand stammen.

Dummerchen flatterte herum und suchte nach Insekten. »Flieg zurück, Vogelhirn«, riet ihm Sos. »Hier ist kein Plätzchen für dich.«

Der Vogel schien zu gehorchen, denn er flog außer Sichtweite. Sos gab sich seinen Tagträumen hin: Fernsehbilder, Eisenstangen, Solas düsteres Antlitz. Dann kam wieder die nebelhafte Ungewißheit über die Natur der Auslöschung, die er suchte.

Doch am kalten Morgen war Dummerchen wieder da. Sos hatte es geahnt.

Der zweite Tag des Aufstieges war leichter als der erste. Er , legte die dreifache Strecke zurück. Das monströs geformte Metall wich gepreßtem Schutt, der von Unkraut bewachsen war. Riesige Partien in Auflösung begriffenen Gummis, längliche Metallflächen, Teile uralter Stiefel, gebackene Tonfragmente, Plastiktassen und Hunderte von Bronze- und Silbermünzen. Das mußten Geräte der Vor-Brand-Zivilisation sein, wenn man den Büchern traute. Er konnte sich nicht vorstellen, wozu die monströsen Gummigebilde gedient hatten, doch alles andere erinnerte an die Gegenstände, die in den Herbergen aufbewahrt wurden. Von den Münzen nahm man an, daß sie Statussymbole gewesen waren. Besaß man viel davon, war das mit einem Sieg im Ring zu vergleichen.

Wenn man den Büchern trauen durfte!

Am Spätnachmittag fing es zu regnen an. Sos grub eine Tasse aus dem Boden, klopfte den Schmutz heraus und sammelte damit Regenwasser. Er war durstig, und der Schnee war noch weiter entfernt als erwartet. Dummerchen hockte auf seiner Schulter und ließ sich nur ungern naß regnen. Schließlich rückte Sos sein Gepäck so zurecht, daß der Vogel geschützt war.

Am Abend schwirrten viele Insekten herum, als hätte die Nässe sie ins Freie gezwungen. Sos trug ein Mittel gegen Moskitos auf, während Dummerchen emporschoß und sich für magere Zeiten schadlos hielt.

Sos hatte seine Gedanken auf sein Ziel konzentriert, doch jetzt, da der Berg den Reiz des völlig Neuen eingebüßt hatte, kehrten seine Gedanken zu den erregendsten Episoden seines Lebens zurück. Er dachte an die erste Begegnung mit Sol. Beide waren sie damals im Ring noch Neulinge gewesen. Beide wollten sie die Welt erkunden und tasteten sich vorsichtig auf dem Weg voran, den das Herkommen vorschrieb. Offenbar hatte Sol alle seine Waffen in sportlichen Wettkämpfen erprobt, bis er seiner sicher war. Nach ihrer abendlichen Diskussion hatte Sol seinen Weg des Aufstieges gesehen. Für beide war es danach kein Spiel mehr. Ihre Füße waren bereits der unsichtbaren Spur gefolgt, die den einen zur Macht führten und den anderen - zum Berg.

Er dachte an Sola, die damals ein unschuldiges Mädchen gewesen war - süß und eifrig darauf bedacht, sich durch einen Armreif zu bestätigen. Sie hatte sich bestätigt - aber nicht durch den Armreif, den sie trug. Das - mehr als alles andere - hatte ihn hierhergeführt.

Merkwürdig, daß sich alle drei gleichzeitig begegnen mußten! Wären nur die beiden Männer zusammengetroffen, hätte das Reich sie vielleicht - sogar jetzt noch - vereint. Wäre das Mädchen vorher oder später aufgetaucht, hätte Sos sie vielleicht für eine Nacht genommen, wäre dann weitergezogen und hätte sie nie vermißt. Aber es war eben ein Dreiertreffen gewesen, und das Reich des Mannes war in seiner Entstehung mit dem weiblichen Samenkorn der Zerstörung befruchtet worden. Es war nicht das Mädchen als solches gewesen, das dabei eine Rolle gespielt hatte. Sie war ein Element gewesen, das den Anfang beeinflußte. Warum war sie ausgerechnet in diesem Augenblick aufgetaucht!

Er schloß die Augen und sah vor sich die Stange - blendend, schnell, wie sie ihn blockierte, ihn traf, ihm begegnete, wohin er sich auch wenden mochte; kein Verteidigungsinstrument, sondern eine grausame Angriffswaffe.

Und jetzt der Berg, die einzige ehrenhafte Alternative. Er hatte gegen den Besseren verloren.

Er schlief mit dem Bewusstsein ein, daß nicht einmal sein Sieg eine Lösung gebrachte hätte.

Am dritten Tag fing der Schnee an. Sos umhüllte sich mit dem letzten schützenden Kleidungsstück und ging weiter. Dummerchen war bei ihm geblieben und schien sich nicht einmal schlecht zu fühlen. Sos schöpfte mit der Hand das weiße Pulver und stopfte es als Wasserersatz in den Mund. Das Zeug zerschmolz zu nichts und machte Wangen und Mund gefühllos. Als es Nacht wurde, stapfte er durch hohe Schneewächten und mußte sich vorsehen, um nicht in tückische Spalten zu tappen, die unter der glatten Oberfläche verborgen waren.

Er konnte keine geschützte Stelle mehr finden. Er legte sich auf die Seite, drehte dem Wind den Rücken zu und fühlte sich in seiner Vermummung ganz wohl. Dummerchen hockte zitternd neben seinem Gesicht. Plötzlich wurde ihm klar, daß der Vogel hier keine Nahrung mehr fand. Nicht hier im Schnee. Hier gab es keine lebenden Insekten mehr.

Er grub eine Handvoll Brot aus dem Proviant und hielt einen Krümel an Dummerchens Schnabel. Das Tier zeigte keine Reaktion. »Du wirst verhungern«, sagte Sos besorgt. Er sah, daß das Gefieder des Vogels bebte. Schließlich zog er den linken Handschuh aus, nahm den Vogel auf die nackte warme Handfläche und schützte ihn mit der rechten, behandschuhten Hand. Im Schlaf mußte er achtgeben, um den zarten Körper nicht zu zerdrücken.

Er wachte ein paar mal auf, als ihm kalte Windstöße ins Gesicht bliesen und durch seine Kleider drangen. Seine Linke blieb unbeweglich.

Am Morgen schien Dummerchen wohlauf zu sein, aber Sos wusste, das konnte nicht von langer Dauer sein. Der Vogel war nicht für Schnee und Kälte geschaffen. Sogar seine Färbung passte nicht dazu. »Flieg wieder hinunter«, mahnte er ihn. »Hinunter! Dort ist es warm. Insekten!« Er schleuderte den kleinen Körper in die Luft - ohne Erfolg. Dummerchen breitete die Flügel aus, kämpfte heldenhaft gegen die kalte Luft und flog weiter bergauf.

Als Sos den Vogel wieder in die Hand nahm und sich zum Weiterklettern anschickte, fragte er sich, ob diese irregeleitete Treue nicht närrischer war als Sols Entschluß, eine Tochter, die er nicht gezeugt hatte, zu behalten. Eine Tochter? Oder war es nur ein stures Beharren auf einem alten Ehrenkodex, der bereits grausam verletzt worden war? Menschen waren irrationale Geschöpfe. Warum nicht auch Vögel? Wenn die Trennung zu schwer war, würden sie eben gemeinsam sterben.

Am vierten Tag kam Sturm auf. Sos ging weiter. Sein Gesicht war fast starr vor Kälte. Sos hatte eine Schneebrille, die er jetzt aufsetzte; doch Nase und Mund blieben unbedeckt. Als er die Hand ausstreckte, entdeckte er statt seines natürlichen Bartes einen Eisbart. Er versuchte ihn abzubrechen, wusste aber, daß es umsonst war. Es würde sich sofort ein neuer bilden.

Der Wind drang schneidend bis auf seine Haut. Vor kurzem noch hatte er geschwitzt und warme Sachen als lästig empfunden. Jetzt schien sich die Feuchtigkeit sofort in Eis zu verwandeln und an seinem Körper zu haften. Er hatte offenbar einen Fehler gemacht. Er hätte Kleidung und Tempo so abstimmen müssen, daß er gar nicht erst in Schweiß geraten wäre. Die Feuchtigkeit hatte nicht entweichen können und gefror natürlich. Diese Lektion kam zu spät.

Das war also der Tod des Berges. In den oberen Regionen im Schneesturm erfrieren oder in eine versteckte Spalte stürzen ... Er hatte zwar den Boden immer genau beobachtet, war aber bereits mehrere Male ausgerutscht und hingefallen. Bis jetzt hatte er dabei Glück gehabt. Die Kälte kroch ihm durch die Kleider und sog ihm die Lebenskraft aus den Poren. Wie das enden würde, war klar. Wenn man den Geschichten Glauben schenken konnte, war noch keiner vom Berg zurückgekehrt. Noch nie hatte man einen Körper gefunden oder gar gerettet. Kein Wunder!

Doch war das nicht der Berg, wie er sich ihn nach den Berichten vorgestellt hatte. Nach dem Metallkonglomerat am Fuße - vor wie vielen Tagen? - hatte er nichts Auffälliges mehr gesehen: Keine scharfen Kanten mehr, keine nackten Felsen oder trügerische Eisbrücken. Bei klarem Himmel hatte er auch keine anderen Bergketten oder Pässe entdecken können. Diese Bergflanke hatte, stetig ansteigend, aufwärts geführt. Sie erinnerte ihn an eine umgestülpte Schale. Nur die Kälte stellte eine echte Gefahr dar.

Auf keinen Fall gab es hier ein Hindernis für denjenigen, der sich entschloß, wieder kehrtzumachen. Es hatte doch bestimmt Leute gegeben, die aufgegeben hatten und an den Fuß des Berges zurückgekehrt waren. Leute, die sich entschlossen, weiterzuleben oder einen weniger mühsamen Weg einzuschlagen. Er selbst konnte doch auch kehrtmachen ...

Er nahm den stillgewordenen Vogel von der Schulter. Nur mühsam konnte er seine Krallen lösen. »Wie war's? Haben wir nicht schon genug von der Reise?«

Keine Antwort. Der kleine Körper war steif.

Sos hielt ihn nahe ans Gesicht und wollte seinen Augen nicht glauben. Er spreizte sanft mit den Fingern einen Flügel - er blieb steif. Das Tier war lieber gestorben, als seinen Gefährten zu verlassen. Und Sos hatte nicht einmal den Eintritt des Todes bemerkt. Wahre Freundschaft . . .

Er legte den gefiederten Leichnam in den Schnee und bedeckte ihn. Er fühlte einen Klumpen in der Kehle. »Tut mir leid, kleiner Freund«, sagte er. »Ein Mensch stirbt schwerer als ein Vogel.« Mehr brachte er nicht heraus.

Er sah bergan und stapfte weiter.

Jetzt war die Welt ein öder Ort für ihn geworden. Er hatte den Vogel wie eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Sein plötzlicher Verlust brachte ihn völlig aus dem Gleichgewicht. Jetzt blieb ihm nichts übrig, als durchzuhalten. Er hatte einen treuen Freund getötet. In seiner Brust war eine Wunde, die nicht heilen wollte.

Es war nicht das erste Mal, daß seine Torheit einem anderen geschadet hatte. Sol hatte nur Freundschaft verlangt. Statt ihm diese zu versprechen, hatte Sos ihn in den Ring gezwungen. Warum hatte er bloß seinen Ehrbegriff so hartnäckig vertreten? Warum hatte er Sols letztes Angebot so entschlossen zurückgewiesen? Deswegen, weil er sich auf ein engherziges Ehrkonzept gestützt hatte, um seine eigenen, selbstsüchtigen Ziele rücksichtslos voranzutreiben? Egal, wer dabei geopfert wurde? Und weil er sein Ziel nicht erreicht hatte - mußte er da gleich alles zerstören, was ihm noch geblieben war? Er dachte wieder an den kleinen Vogel und hatte jetzt eine Antwort.

Der Berg wurde steiler. Der Sturm nahm zu. Soll es doch kommen, dachte er. Deswegen war er ja da. Er konnte nicht mehr unterscheiden, ob es Tag oder Nacht war. Seine Brille war eisverkrustet, wenn er sie überhaupt noch auf hatte. Es kümmerte ihn nicht. Überall wirbelndes Weiß. Er keuchte. Seine Lungen brannten. Er konnte nicht mehr genug Luft bekommen. Die steile Schneelandschaft vor ihm dehnte sich endlos.

Erst, als er fast im Schnee erstickte, merkte er, daß er hingefallen war. Er versuchte aufzustehen. Seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr richtig.

»Komm!« hörte er Sola rufen, und er lauschte, obwohl er wußte, daß ihre Stimme nur eine Täuschung war. Er bewegte sich weiter, jetzt auf sichere Art - auf allen vieren.

Darin kroch er auf dem Bauch dahin, erstarrt bis auf den Schmerz in seinem Herzen.

Schließlich löschte eine angenehme Mattigkeit auch das aus.