III

»Seht doch!« rief Sola aus und wies auf den Abhang jenseits des Tales.

Es war Mittag. Sols Zustand hatte sich nicht gebessert. Sie hatten versucht, ihn zu füttern, doch Sols Kehle war wie gelähmt. Sie fürchteten, er würde beim Wassertrinken ersticken. Sos hatte ihn ins Zelt gelegt und gegen die Sonne und die unverschämt lästigen Fliegen abgeschirmt. Er war über seine Hilflosigkeit und das Unvermögen, mehr für Sol tun zu können, wütend. Den albernen Versuch des Mädchens, ihn ablenken zu wollen, beachtete er nicht weiter.

Ihre Probleme hatten leider erst begonnen, »Sos — so seht doch!« wiederholte Sola und faßte ihn am Arm.

»Laß mich«, brummte er, blickte aber auf.

Ein grauer Teppich breitete sich langsam über dem Hügel aus und rollte auf das Tal zu, als ob jemand aus einem riesigen Krug verdorbenes Öl über die Landschaft gieße.

»Was ist das?« fragte Sola mit einem Nachdruck, der ihm lästig war. Er merkte, daß sie offenbar seinen Rat schätzengelernt hatte. »Sind das etwa Röntgen?«

Er schirmte die Augen mit der Hand ab und versuchte, Einzelheiten wahrzunehmen. Offensichtlich war das Zeug dort kein Öl. »Ich fürchte, das dort ist die Ursache, warum es hier kein Wild gibt.« Seine unausgesprochene Angst hatte sich also schrecklich bewahrheitet.

Er ging an Sols Karren und zog zwei schlanke Stockrapiere heraus - hell glänzende Stäbe, sechzig Zentimeter lang, drei Zentimeter im Durchmesser, an den Enden abgerundet. Sie waren aus einer Holzimitation angefertigt und sehr hart. »Sola, nimm die zwei Stöcke. Wir müssen uns irgendwie zur Wehr setzen. Mit diesen Stöcken wird es dir wohl am besten gelingen.«

Sola nahm die Stöcke entgegen, obwohl sie in diese Waffen kein Vertrauen setzte, und blickte unverwandt auf die sich nähernde graue Flut.

Sos nahm eine Keule zur Hand - eine Waffe, die nicht länger als ein Stockrapier war, aus ähnlichem Material gefertigt, aber viel wuchtiger. Hinter dem schlanken Griff wurde die Waffe zu einem tropfenförmigen Gebilde. An der breitesten Stelle maß sie zwanzig Zentimeter im Durchmesser. Der Schwerpunkt der Waffe lag in dem wulstigen Ende, ihr Gewicht betrug etwa sechs Pfund. Nur ein kräftiger Mann konnte die Waffe mit Geschick handhaben. Mit voller Wucht geführt, hatte sie die Wirkung eines Schmiedehammers. Im Vergleich zu anderen Waffen war die Keule plump, doch ein einziger, wohlgezielter Schlag damit genügte meistens, um einen Kampf zu beenden. Deswegen wurde sie von vielen Kriegern gefürchtet.

Sos war nicht ganz wohl dabei, als er die Keule zur Hand nahm. Erstens war es nicht seine eigene Waffe, zweitens war er durch einen Eid gebunden, nie wieder bewaffnet in den Ring zu treten. Er verdrängte diesen Gedanken und schüttelte den Kopf. Schließlich benützte er die Keule nicht als Waffe im Zweikampf. Er hatte auch nicht die Absicht, damit den Ring zu betreten. Er brauchte nur ein wirksames Verteidigungsmittel, um einer merkwürdigen, unbekannten Gefahr entgegenzutreten. Gleichgültig ob ehrenhaft oder unehrenhaft, ob Keule oder Bogen: Diese Waffe war das beste zur Verfügung stehende Gerät, um ein sich näherndes Unheil abzuwehren.

»Wenn es da ist, schlag einfach zu«, befahl er Sola.

»Sos, das Zeug ist ja lebendig!«

»Das habe ich befürchtet. Kleine Tiere. Millionen, die den Boden verwüsten und jedes Lebewesen aus Fleisch und Blut verzehren. Sieht aus wie eine Ameisenarmee.«

»Ameisen!« sagte sie und blickte auf ihre zwei Stöcke.

»Wie Ameisen - nur größer.«

Der lebendige Teppich hatte das Plateau erreicht und näherte sich ihnen mit abscheulichem Gewimmel. Schon war die Vorhut so nahe, daß man Einzelheiten erkennen konnte.

»Mäuse!« rief Sola erleichtert aus. »Winzige Mäuse!«

»Möglich. Sie gehören zu den kleinsten Säugetieren und vermehren sich am raschesten. Säugetiere sind die gefährlichsten und vielseitigsten Wirbeltiere der Erde. Ich schätze, daß diese Tiere Fleischfresser sind, was immer sie sonst noch sein mögen.«

»Mäuse? Aber wie kommen sie dazu . . .«

»Die Strahlung. Sie wirkt auf die Nachkommenschaft ein und verursacht Mutationen. Die sind meist negativ. Aber die besten Mutanten setzen sich durch, und die Gattung selbst wird stärker als vorher. In den Büchern wird behauptet, daß sich der Mensch auf diese Art entwickelt hat.« - »Aber Mäuse!«

Die Vorhut wimmelte bereits vor ihren Füßen. Sos kam es albern vor, gegen diesen Feind, mit der Keule vorzugehen.

»Spitzmäuse, fürchte ich. Sie waren ursprünglich Insektenfresser. Wenn die Strahlung außer den Insekten alle Lebewesen vernichtet hat, dann sind die Mäuse die ersten Säugetiere, die wieder in das verseuchte Gebiet einrücken.« Sos hob ein Tier mit der handschuhgeschützten Rechten auf und zeigte es ihr. Sola sah nicht hin, nur Dummerchen beäugte die Maus und machte dabei einen kläglichen Eindruck. »Das kleinste, aber gefährlichste Säugetier! Fünf Zentimeter lang, scharfe Zähne, tödliches Nervengift - obwohl die Spitzmaus nicht genug davon produziert, um einen Menschen damit töten zu können. Dieses Tier greift alles Lebendige an und verzehrt pro Tag eine Fleischmenge, die seinem doppelten Gewicht entspricht.«

Sola tänzelte herum und versuchte den angreifenden Zwergen auszuweichen. Sie schien sich nicht, wie andere Frauen, vor Mäusen hysterisch zu fürchten, wollte sie aber auch nicht an ihren Körper herankommen lassen. »Seht!« schrie sie. »Sie . . .«

Er hatte es bereits bemerkt. Ein Dutzend der kleinen Tiere kroch eben ins Zelt, kletterte über Sol hinweg und suchte nach der günstigsten Stelle zum Anbeißen.

Sos war mit einem Satz zur Stelle und bearbeitete den Boden wild mit der Keule, während Sola die Stöcke schwang. Doch die Horde war bereits in voller Stärke da. Für jede Maus, die sie erledigten, war ein Dutzend als Ersatz zur Stelle. Winzige Zähne suchten nach Beute. Die Körper der Verletzten wurden von den anderen Mäusen sofort zerfetzt und verzehrt. Die Angreifer waren winzig, doch es war ein Kampf auf Leben und Tod.

»Wir können sie nicht mehr abwehren!« keuchte Sos. »Rasch ins Wasser!«

Sie öffneten das Zelt, zogen Sol an den Armen heraus und sprangen ins Wasser. Sos watete bis zur Brust hinein und schüttelte die zu allem entschlossenen hartnäckigen kleinen Ungeheuer ab. Er sah, daß er an den Armen aus zahlreichen Winzigen Wunden blutete. Er hoffte, er hatte sich geirrt, als er vorhin das Gift erwähnte. Er und Sola hatten schon so viele Bisse abbekommen, daß auch winzige Giftmengen jetzt lebensgefährlich werden konnten.

Die kleinen Kreaturen machten am Saum des Wassers halt. Einen Augenblick glaubte Sos schon, sein Manöver sei erfolgreich gewesen. Dann plumpsten die mutigsten Mäuse in das Wasser und durchschwammen den Fluß, die Knopfaugen immer auf ihr Ziel gerichtet. Danach sprangen immer mehr Mäuse hinein, bis die Wasseroberfläche vor pelzigen Leibern nur so wimmelte.

»Wir müssen ihnen entkommen!« rief Sos. »Schwimm los!« Dummerchen war bereits ans andere Ufer geflogen und kauerte ängstlich auf einem Busch. Jetzt war es kein Geheimnis mehr, warum das Ödland von anderen Säugetieren gemieden wurde. »Aber die Zelte und die Vorräte . . .!«

Sie hatte recht. Ein Zelt brauchten sie unbedingt, sonst waren sie während der Nacht den Faltern hilflos ausgeliefert. Die Spitzmausarmee war durch ihre gewaltige Anzahl nicht gefährdet - größere, hoch organisierte Lebewesen waren ihr nicht gewachsen. »Ich hole sie nach!« rief er, legte seinen Unterarm unter Sols Kinn und schwamm mit kräftigen Stößen auf das andere Ufer zu. Die Keule hatte er unterwegs weggeworfen. Sie war ohnehin nutzlos geworden.

Sie ließen die Tiere weit hinter sich und taumelten an Land. Sola kümmerte sich so gut um den Kranken, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, während Sos wieder ins Wasser sprang und ans andere Ufer zurückschwamm. Er durchquerte den Fluß - viel schneller als vorhin, weil er keine Last zu befördern hatte -, doch vor dem Ufer mußte er erst die wimmelnde Flut von Fleischfressern überwinden. Mit dem Gesicht befand er sich jetzt auf gleicher Höhe mit ihnen.

Er holte tief Luft und tauchte unter. Unter Wasser schwamm er so weit als möglich, bis er wieder hoch mußte, um Atem zu holen. Er stemmte die Beine gegen den Grund und ließ sich in einem ganz bestimmten Winkel nach oben schnellen. Er durchstieß die Wasseroberfläche, drängte dabei die Spitzmäuse in alle Richtungen auseinander, holte durch die zusammengepreßten Zähne Luft und tauchte abermals.

Am Ufer kroch er heraus, trat auf quietschendes, strampelndes Pelzwerk, erhaschte den nächstliegenden Sack und riss das Zelt aus seinen Verankerungen. Hätten sie die Zelte doch bloß zusammengefaltet und verstaut! Aber Sols Krankheit hatte eben vor allen anderen Verrichtungen Vorrang gehabt.

Die Tierchen waren überall, krabbelten über und im Sack und durch die Falten des zusammengeknüllten Zeltes. Die spitzen Schnauzen schnupperten in seinem Gesicht, die nadelscharfen Zähne suchten Beute, als er das Gepäck an seine Brust drückte. Er versuchte, sie schüttelnd abzuwehren, und wagte nicht, im Laufen innezuhalten. Sie hingen an ihm, peinigten ihn und sprangen nach seinen Augen, wenn er stehenbleiben wollte.

Mit geschlossenen Augen sprang er ins Wasser, spürte dabei die lebende Schicht, auf der er landete, und stieß wild mit den Füßen um sich. Diesmal konnte er nicht tauchen. Die Ausrüstung war sinksicher, das Zelt enthielt Luft, und beide Arme waren belastet. Noch immer wimmelten die kleinen Teufel auf der Zeltplane, krallten sich in seine Lippen und seine Nase und waren nicht abzuschütteln. Er hielt die Augen geschlossen und paddelte verzweifelt, immer hoffend, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben, während die Bestien über seinen Kopf kletterten, an seinen Ohren nagten und in seine Nasenlöcher zu kriechen versuchten. Er hörte Dummerchens heiseren Schrei und wusste, daß der Vogel ihm entgegenflog. Auch er war auf der Flucht. Wenigstens während des Fluges konnte ihm nichts passieren. Sos hielt die Zähne zusammengepreßt und saugte so Luft ein, damit die kleinen Angreifer ihm nicht in den Mund dringen konnten. »Sos! Hierher!«

Sola lenkte ihn durch Zuruf. Dankbar richtete er sich nach ihrer Stimme. Und dann hatte er endlich die wimmelnde Brühe hinter sich und durchschwamm klares Wasser. Wieder war er ihnen entwischt!

Das Wasser war in die Ausrüstung und das Zelt gedrungen und hatte dadurch deren Schwimmfähigkeit zunichte gemacht. Sos konnte jetzt mit dem Kopf untertauchen und die Augen unter Wasser öffnen, während die Spitzmäuse von der Strömung weggetragen wurden.

Vor ihm waren Solas Beine und wiesen ihm den Weg. Noch nie hatte er etwas Verlockenderes zu Gesicht bekommen.

Bald darauf lag er ausgestreckt am Ufer. Sola streifte die noch an ihm haftenden Mäuse ab und zertrat sie am Boden.

»Weiter!« schrie sie ihm ins Ohr. »Die Biester haben bereits den Fluß zur Hälfte durchschwommen!«

Es gab für ihn keine Atempause, keine Ruhe, obwohl er unbeschreiblich müde war. Sos kämpfte sich auf die Beine und schüttelte sich wie ein großer zottiger Hund. Sein Gesicht brannte, die Armmuskeln waren verkrampft. Irgendwie bekam er Sols Körper vom Boden hoch, warf ihn über die Schulter und erklomm den steilen Abhang. Er keuchte, obwohl er sich nur zentimeterweise vorwärts bewegte.

»Weiter!« rief ihre dünne Stimme immer wieder. »Weiter, weiter, weiter!« Er sah sie vor sich. Sie trug den Sack mit der Ausrüstung. Das Zelt war hastig hineingestopft. Das Wasser lief Sola über den Rücken. Fabelhaftes Hinterteil, dachte Sos bei sich und versuchte, seine Aufmerksamkeit darauf und nicht auf das zentnerschwere Gewicht auf seinen Schultern zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht ganz.

Die Flucht schien ewig zu dauern. Sie war ein Alptraum der Qualen und Mattigkeit. Seine Beine machten sinnlose Bewegungen. Seine Füße bohrten sich in den Boden. Er fiel hin, wurde von Solas unbarmherzigen Zurufen aufgerüttelt, taumelte ein paar Meter weiter und fiel wieder hin. Das wiederholte sich endlos. Pelzige Schnauzen mit schimmernden blutigen Zähnen knabberten an seinen Augen, an seinen Nasenlöchern, an seiner Zunge. Warme Leiber knirschten und quiekten unter seinen Füßen. Unmengen von Blut und Knorpeln. Phantastische, beinbleiche Schwingen wirbelten jetzt um ihn herum wie Schneeflocken, wohin er auch blickte.

Es wurde dunkel. Sos fror auf dem feuchten Boden. Neben ihm lag ein Toter. Er wälzte sich hin und her und fragte sich, warum der Tod noch nicht zu ihm gekommen war. Da, auf einmal ein Geflatter! Braune Flügel mit gelben Flecken - Dummerchen saß auf seinem Kopf.

»Gott sei Dank«, flüsterte er. Die Falter würden ihm heute nichts anhaben können. Das war der letzte Gedanke, bevor er in einen dunklen Abgrund fiel.